Montag, 26. Mai 2014

Der Dalai Lama: Modernisierung des tibetischen Buddhismus


(Yudo J. Seggelke, wörtliche Zitate des Dalai Lama)

Die fruchtbare Wechselwirkung des Buddhismus mit westlicher Forschung und Wissenschaft ist für den Dalai Lama ein zentrales Anliegen. Er sagt:

„Das Vertrauen, das ich in diesen Dialog (Forschung-Buddhismus) setze, beruht auf meiner grundlegenden Überzeugung, wonach das Verständnis der Wirklichkeit in den Naturwissenschaften genau wie im Buddhismus durch kritische Untersuchungen gewonnen wird. Sollte die Wissenschaft abschließend nachweisen können, dass gewissen Behauptungen des Buddhismus falsch sind, müssen wir die Erkenntnisse der Wissenschaft annehmen und überholte Anschauungen revidieren.“

Er vertraut also wesentlich auf unseren geschulten Logos und unsere westliche Fähigkeit der gründlichen Analyse in Bezug auf Realitäten, z. B. auch der Gehirnforschung und Evolutionstheorie usw..

„Schon bevor ich ins Exil ging, war mir und vielen Tibetern bewusst geworden, dass eine der grundlegenden Ursachen der politischen Tragödie Tibets in dem Unvermögen bestand sich der Modernisierung zu öffnen.“

Die Staatsform einschließlich des tradierten Buddhismus konnte die Tibet-Tragödie also nicht verhindern, nicht zuletzt weil Tibet sich der Modernisierung gegenüber verschlossen habe. Genau diese Modernisierung muss jetzt geschehen und wir im Westen sind aufgefordert, dabei mitzuhelfen, da der Buddhismus eine große Bereicherung für die Moderne ist.

„Als sich mein Verständnis der Wissenschaften vertiefte, wurde mir nach und nach bewusst, dass viele Bereiche des traditionellen buddhistischen Denkens, so weit sie das Verständnis der materiellen Welt betreffen, im Vergleich zu den modernen Wissenschaften nur lückenhafte Erklärungen und Theorien hatten.“

Das sehe ich ähnlich: es wurden materielle Kenntnisse vernachlässigt, die bereits im Westen vorhanden waren, z. B. Medizin, Straßenbau, Sozialsystem usw.

„Indem ich die Geschichte meiner persönlichen Entdeckungsreise erzähle, möchte ich aber auch gegenüber Millionen von Mitbuddhisten weltweit die Notwendigkeit betonen, die Wissenschaften ernst zu nehmen und ihre grundlegenden Entdeckungen in die buddhistische Weltanschauung zu integrieren“.

Das ist genau das von mir selbst verfolgte Ziel für den Buddhismus, den ich nun seit 44 Jahren studiere und in der Meditation praktiziere. Buddhismus, Forschung und Wissenschaft ist kein Gegensatz, wie z. T. bei anderen Religionen.

„Ganz sicher jedoch müssen gewisse Aspekte des buddhistischen Denkens – seine alten kosmologischen Theorien zum Beispiel aber auch seine unausgereifte Physik - im Lichte zeitgenössischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse neu formuliert werden.“

Gerade die Kosmologie benötigt eine grundlegende Analyse, sie ist heute nicht mehr naiv und materiell-konkretistisch sondern eher gleichnishaft und symbolhaft zu verstehen. Dadurch werden viel tiefere Bedeutungsschichten lebendig. Bekanntlich gibt es im MMK von Meister Nagarjuna keine übernatürlichen Wunder, sondern nur „Zauberer“, die Unwirkliches zaubern, das sich dann weiter vermehrt. Das soll gerade vermieden werden.

„Historisch gesehen hat sich der Buddhismus als eine Religion mit einem spezifischen Kanon von Schriften und Ritualen entwickelt, doch genau genommen hat die Erkenntnis, die aus der Vernunft und aus der Erfahrung gewonnen wird, im Buddhismus ein stärkeres Gewicht als die Autorität der Schriften“.

Das ist ein fundamentaler ganz moderner Ansatz. Wir sind also bei jeder überlieferten Aussage aufgefordert, die Vernunft, das Wissen, die wissenschaftlichen Methoden und die heutige Erfahrung einzubringen. Dabei sind die Interpretationen der historischen Schriften von nicht zu überschätzendem Wert, aber nicht absolut bindend. Dies gilt natürlich besonders für grundlegende und schwierige Texte wie z. B. Nagarjunas Mittlerer Weg, MMK.

„Wenn wir einen Tatbestand untersuchen und genügend Gründe und Beweise vorliegen, müssen wir ihn als Wirklichkeit anerkennen; selbst wenn dies einer wörtlichen Auslegung der Schriften, die über Jahrhunderte Gültigkeit besaßen oder einer tiefen Überzeugung oder (historischen) Sichtweise widerspricht.“

Das scheint mir besonders wichtig: die traditionellen Überzeugungen und Sichtweisen müssen gründlich überprüft werden. Das gilt selbstverständlich gerade und besonders für das MMK und die zeitgemäße Systemtheorie aber auch für das Verständnis von pratitya samutpada, das wechsel-wirkende Entstehen. Gläubiges Übernehmen des Tradierten reicht nicht aus und wird dem großen Wert der ursprünglichen buddhistischen Wahrheiten nicht gerecht. Das gilt für mich besonders bei Nagarjuna, in dessen direkter ununterbrochener Linie der Dharma-Nachfolge ich ja selbst stehe. Daher meine besondere Verantwortung gegenüber seinem genialen Werk.

„Der Buddhismus bedient sich also ebenfalls der Methode logischen Schließens; ähnlich dem Model Carl-Friedrich von Weizsäckers.“
Das heißt jeder einzelne Schritt muss logisch und überzeugend nachvollzogen werden: übrigens ein wesentlicher Grundsatz nicht nur in der Physik sondern auch in der Philosophie, z. B. bei Gadamer, Heidegger und Wolfgang Welsch. Der Dalai Lama sagt:

„Ein neuer Abschnitt der Auseinandersetzung mit der Wissenschaft (begann mit) der ersten der `Mind and Life` Konferenzen. Diese Begegnung hatten der chilenische Neurowissenschaftler Francisco Varela und der amerikanische Geschäftsmann A. Engle organisiert. Varela und Engle waren mit dem Vorschlag an mich herangetreten eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen zu führen, die der Idee eines Dialoges aufgeschlossen gegenüberstanden“.

Ich folge dabei dem Dalai Lama: er beschreibt recht genau den von Nishijima Roshi, Brad Warner und mir gewählten Ansatz für die Analyse und Interpretation des MMK. Damit ergänzen wir auch die tibetische Linie des Buddhismus, die wesentlich auf den Schriften Nagarjunas beruht. Er hat bekanntlich in der indo-europäischen Sprache Sanskrit gedacht und geschrieben, die der Semantik der heutigen europäischen Sprachen nach wie vor ähnlich ist, wie etwa das alte Griechisch.

Zunächst geht es bei der Neubearbeitung des MMK um eine wirklich wortgetreue Übersetzung, die dann die Grundlage für die Hermeneutik ist, etwa im Sinne von Gadamer.

Es ist in der Tat spannend zu erkennen, dass Gautama Buddha und Nagarjuna eine indo-europäische Sprache und philosophische Weltanschauung besaßen, die weitgehend ähnliche Wurzeln hat wie die der griechischen Philosophen, aber einen anderen Weg gegangen ist: Nicht das metaphysische dauerhafte Sein steht im Zentrum der Philosophie sondern die vernetzten Veränderungen (pratitya samutpada, wechselwirkendes Entstehen) und das menschliche Lernen zur Befreiung aus unnötigem Leiden.

Wir können im Westen dem Buddhismus neue wichtige Impulse geben, die sich mit den äußerst wertvollen tradierten Verständnissen und Erfahrungen z. B. aus Tibet, China, Japan und anderen ostasiatischen Kulturen ergänzen. Das wird den Buddhismus beleben und ihn weiter in die Moderne bringen.


Im Sinne des Dalai Lama geht es neben der Naturwissenschaft um den intensiven Austausch des tibetischen Buddhismus mit dem frühen Pali-Buddhismus, dem Chan und Zen, also vor Allem mit den Arbeiten des Meisters Dogen zum buddhistischen Handeln im Hier und jetzt und der Leerheits-Meditation des Zazen und nicht zuletzt um den Dialog mit der westlichen praktischen und theoretischen Philosophie. 

Montag, 19. Mai 2014

Nâgârjuna: Wahres Gehen, Philosophie der Mitte

(Yudo J. Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner)

Der große indische Meister Nâgârjuna verfasste etwa im ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende das berühmte und fundamentale Werk Zum Weg der Mitte und zur Leerheit (in Zukunft MMK genannt), das maßgebliche Grundlage des Mahâyâna-Buddhismus und nicht zuletzt des tibetischen Buddhismus wurde und auch in Ostasien in neuerer Zeit zunehmend vertieft analysiert wird. So haben G.W. Nishijima und Brad Warner kürzlich eine Übersetzung und Interpretation des MMK vorgelegt, die ganz neu ansetzt und sich von den bisherigen traditionellen Fassungen des MMK deutlich unterscheidet. Die Fachwelt hat entsprechend unterschiedlich reagiert: die Kommentare reichen von begeisterter Zustimmung bis zu heftiger Kritik.

Mit G. W. Nishijima habe ich selbst mehrere Jahre an dem Verständnis und der Übersetzung des MMK gearbeitet. Als sein Dharma-Nachfolger sehe ich es als meine Aufgabe an, diese Arbeiten fortzusetzen und mögliche Ungenauigkeiten zu beheben, weil ich überzeugt bin, dass er auf der Grundlage seiner jahrzehntelangen tiefen Erfahrung der buddhistischen Lehre und Praxis Wesentliches für das Verständnis des MMK beizutragen hat.

Da meine Sanskrit-Kenntnisse für diesen schwierigen Text des MMK nicht ausreichen, habe ich eine Zusammenarbeit mit einer erfahrenen Indologin begonnen, um sicher zu sein, dass sich bei der Übersetzung keine grammatikalischen Fehler einschleichen und die Semantik der Schlüsselbegriffe korrekt wiedergegeben wird. Bekanntlich weist Sanskrit eine für unsere Verhältnisse hohe Komplexität der Grammatik auf: Es gibt z. B. acht Fälle in der Deklination. Zudem ist die semantische Bandbreite der Sanskrit-Vokabeln ungewöhnlich weit aufgefächert, und dies erklärt sicher nicht zuletzt die große Varianz der Übersetzungen und Interpretationen des MMK. Ich folge dabei konsequent der Methode G. W. Nishijimas, der sich auf die verlässlichen Lexika des Sanskrit stützt und nicht ungeprüft die geläufigen tradierten Bedeutungen der Schlüsselbegriffe des MMK übernimmt.

Ein zentraler Begriff des Buddhismus ist zweifellos pratitya samutpada, das üblicherweise als abhängiges Entstehen übersetzt wird. Wie Joanna Macy überzeugend nachgewiesen hat, ist diese Übersetzung durchaus kritisch zu sehen, da sie eine Abhängigkeit nur in einer Richtung von einer Ursache zu einer Wirkung suggeriert, also unidirektional ist. Unter Verwendung der zeitgemäßen Systemtheorie, die z. B. in den Neurowissenschaften aber auch in der Ökologie von zentraler Bedeutung ist, plädiert sie dafür, pratitya samutpada als Wechselwirkung zu verstehen, also eine Rückkopplung zu fordern und nicht nur eine unidirektionale Wirkung zu unterstellen. Dies entspricht der ursprünglichen Bedeutung in Pali und Sanskrit. Sie nennt diese Wechselwirkung mutual causality, das in Deutsch etwa mit dem Begriff Wechselwirkung oder genauer wechsel-wirkendes Entstehen bezeichnet werden kann. Ich möchte ihrer Argumentation folgen.

In ähnlicher Weise arbeitet der Neurowissenschaftler, Systemtheoretiker und Buddhist Francisco J. Varela in seinem fundamentalen Werk „Der Mittlere Weg der Erkenntnis“ heraus, dass die moderne Systemtheorie mit den wesentlichen Aussagen des Buddhismus und insbesondere von Nâgârjuna übereinstimmt oder zumindest harmoniert. Bemerkenswert ist dabei, dass Varela eng mit dem Dalai Lama und auch mit dem deutschen Gehirnforscher Wolfgang Singer zusammenarbeitete. Er hatte zusammen mit Humberto R. Maturana vorher das Bahn brechende Buch „Der Baum der Erkenntnis“ verfasst, das wesentliche Fortschritte der Systemtheorie für lebende biologische Systeme erbrachte. Da sowohl Macy als auch Varela tief im Buddhismus verankert sind, kann ihren Arbeiten zur Modernisierung des Buddhismus durch die Neurowissenschaft und Systemtheorie hohes Vertrauen entgegen gebracht werden. Ich möchte auch anmerken, dass Joanna Macy wie ich selbst jahrzehntelang in der Ökologie und im Umweltschutz tätig war.

Nâgârjuna arbeitet im ersten Kapitel des MMK heraus, dass der Kosmos und alles uns Bekannte immer in Wechselwirkung entstehen und niemals isoliert aus sich selbst allein entstanden und erwachsen sind. Er verwendet dafür im Vorspann des MMK den Begriff pratitya samutpada also das Entstehen, Wachsen und Lernen in Wechselwirkung und in Vernetzung. Nach der buddhistischen Lehre gibt es keinen unveränderlichen „Kern“ des Menschen, der altindisch Atman genannt wurde, sondern der Mensch besteht aus fünf veränderlichen Komponenten, den Skandas: Form, Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte/Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten sind wechsel-wirkend vernetzt, also nicht isoliert und eigenständig überlebensfähig, sondern wirken im Menschen immer zusammen.

Nâgârjuna untersucht im zweiten Kapitel des MMK den scheinbar einfachen Vorgang des Gehens, wahres Gehen, und entwickelt daran grundlegende buddhistische Gedanken auf Grund praktischer Erfahrungen für sein gesamtes folgendes Werk. Daher ist es von großer Bedeutung, dieses Kapitel über wahres Gehen gründlich und sorgfältig zu analysieren und die Fundamentalaussagen der lebendigen kreativen Wechselwirkung einzubeziehen, also jede Art von unabhängigen isolierten Eigenwesen oder Selbst-Sein des Menschen zu vermeiden, in Sanskrit heißt dies svabhava. Dadurch würde die Wirklichkeit des Menschen, der Erde und des Kosmos buddhistisch und systemtheoretisch verengt, sodass wesentliche Zusammenhänge nicht mehr erkannt werden könnten und vor allem der buddhistische Erlösungsweg blockiert wäre. Daraus ergibt sich zwingend, dass der Mensch im sozialen Bereich und in seiner Umwelt ebenfalls wechselwirksam vernetzt ist, also niemals isoliert leben und überleben kann.

In der obigen Abbildung habe ich diese Zusammenhänge durch die jeweiligen Pfeile dargestellt, die sowohl von der Umwelt als auch von dem Boden/Untergrund, auf dem ein Mensch geht, in beiden Richtungen zeigen. Dafür kann man z. B. für das Körperliche eine ganz einfache Erklärung anführen: wenn man geht, braucht man einen Untergrund oder Boden, auf dem man gehen kann, sonst können wir überhaupt nicht gehen, und wenn wir gehen, müssen wir atmen, also die Luft aus der Umwelt einatmen, den Sauerstoff für unseren Körper entnehmen und die verbrauchte Luft wieder auszuatmen. Aber die Wechselwirkung mit der Umwelt geht natürlich weit darüber hinaus, insbesondere wenn wir uns neben dem Körper die anderen Komponenten/Skandas anschauen z. B. die Wahrnehmung. Wir können unseren Weg in der Welt nur finden, wenn wir sehen oder anders wahrnehmen, wie der Weg begrenzt oder markiert ist, auf dem wir gehen. Ohne Wahrnehmung also keine Bewegung, kein Gehen und kein Vorwärtskommen. Gleiches gilt natürlich für die formenden Kräfte und das Handeln beim Gehen selbst und für unser Bewusstsein, dass wir nämlich wissen und erinnern, welches der richtige Weg ist und wie wir wieder zurück finden.

Wir müssen nun die zentrale Frage stellen, ob es im wissenschaftlichen Sinne eine Systemgrenze des Menschen gibt und wie er mit seiner Umwelt wechsel-wirkend interagiert. Ich habe daher in der obigen Abbildung den Menschen symbolisch als durchbrochenen offenen Kreis dargestellt und will damit ausdrücken, dass es sowohl eine relative Abgrenzung gibt, als auch eine notwendige Offenheit und Durchlässigkeit zur Umwelt und zu anderen Menschen. Die Systemgrenze hat nach Maturana/Varela also eine doppelte Funktion, sie schützt in einem gewissen Maße die inneren interaktiven Prozesse des Lebewesens und seiner inneren Teilsysteme selbst und ist auf der anderen Seite existentiell zwingend mit der Umgebung und anderen Systemen gekoppelt. Wenn sich z. B. ein Mensch hermetisch abschließt, muss er sterben und zwar sowohl körperlich als auch sozial und psychisch. Umgekehrt ist eine völlig hemmungslose Offenheit gegenüber allen Einflüssen der Umgebung falsch und führt ebenfalls in die Katastrophe.

Es muss also ein lebendiges gutes Gleichgewicht zwischen Abgrenzung und Schutz einerseits und Offenheit und Interaktion andererseits wirksam sein, und es ist sicher nicht unsinnig, dies als Mittleren Weg und Gleichgewicht zu bezeichnen. Beide Extreme, die im Buddhismus und insbesondere bei Nâgârjuna immer wieder als falsch herausgearbeitet werden, sind unsinnig: die totale Isolation und die totale schutzlose Offenheit. Dabei wird bereits die spannende Frage angerissen, dass es für die im Buddhismus gelehrte Offenheit gegenüber Allem in der Welt und insbesondere anderen Menschen einer inneren Stärke und Ruhe bedarf, um nicht von zerstörerischen oder kriminellen Kräften fundamental geschädigt zu werden. Der buddhistische Entwicklungsweg hat also den wesentlichen Sinn durch Meditation, Selbstbeobachtung und fortlaufendes Training die eigenen menschliche Kräfte und Kapazitäten zu entwickeln, um die Offenheit, Hilfsbereitschaft zu stärken und zu ermöglichen, die notwendig sind, für den Weg der Befreiung und Unabhängigkeit.



Die genannten Zusammenhänge habe ich in der obigen Zeichnung versucht zu skizzieren. Dies mag zunächst einen naturwissenschaftlichen Anschein erwecken, geht aber m. E. über eine enge materielle Sicht weit hinaus. Die dargestellte Situation integriert die buddhistische Lehre von pratitya samutpada und den fünf Skandas mit dem heutigen Wissen der Systemtheorie, Ökologie und Neurowissenschaften, und dies ist nicht zuletzt das große Anliegen des Dalai Lama.

Wenn also ein wahres Gehen im Sinne des Buddhismus und Nâgârjunas gelingt, muss dies immer in der Einheit mit dem Boden und der Umwelt sein. Dabei wird im zweiten Kapitel des MMK mehrfach herausgearbeitet, dass die Erinnerung an früheres Gehen und zukünftiges zu erwartendes Gehen nicht so wesentlich ist, wie das Gehen genau im jetzigen Augenblick: Erinnerung und Erwartung sind gerade kein wirkliches Gehen. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass wir etwas ganz Natürliches tun, wenn wir gehen, eine natürliche Bewegung, die uns weitgehend überhaupt nicht bewusst ist.

Wir wissen aus den Neurowissenschaften, welche gewaltige Leistungen der Informationsverarbeitung für den einfachen Vorgang des Gehens erforderlich sind, nicht zuletzt weil das Gehen selbst ein Gleichgewicht ist, das nur auf unseren zwei Beinen und zwei Füßen zusammen mit dem Bewegungsablauf auch der Arme und anderer Teile des Körpers geleistet wird., Wie haben bekanntlich nicht wie bei vielen Tieren vier oder mehr Beine zur Verfügung, die eine physikalische Stabilität einfacher ermöglichen. Gehen ist in seiner Funktion selbst immer ein Gehen im Gleichgewicht, in einer Umwelt, die permanent einbezogen wird, ob wir davon wissen oder nicht. Dies ist m. E. auch ein fundamentales Gleichnis für den Buddhismus in der Praxis und Theorie selbst. Die Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit des Gehens ist analog zu verstehen, wie die unmittelbare Fähigkeit, Leid zu erkennen und anderen zu helfen, die im Bodhisattva-Ideal nicht zuletzt von Nâgârjuna selbst herausgearbeitet wurde: unmittelbares klares Handeln im Augenblick.

In der Systemtheorie wird für intelligente Systeme, die wechsel-wirkend vernetzt sind, der Begriff der Selbstorganisation verwendet. Er bedeutet, dass ein lebendes System sich genau so selbst organisiert, dass es weiter lebt, sich also selbst in seiner lebenden Art und Weise erhält. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass es im Detail immer identisch bleibt, sondern dass lediglich eine gewisse Grundstruktur da ist. Alle biochemischen und informationellen Prozesse verändern sich dauernd und sind mit einander im Austausch. Wenn man also die wissenschaftliche Dimension von pratitya samutpada betrachtet, kann man dafür auch den Begriff der Selbstorganisation sinnvoll verwenden. Im buddhistischen Sinne geht es darum, den Befreiungsweg in der Form der Selbstorganisation und dauernden Veränderung zu gehen, sich also weiterzuentwickeln, die eigenen kreativen Möglichkeiten zu entfalten und zerstörerische Extreme zu vermeiden. Wenn Lebewesen in eine Extremsituation getrieben werden, können sie sich meistens nicht regenerieren und müssen vorzeitig sterben. Selbstorganisation heißt daher auch immer im Gleichgewicht zu interagieren.


Der buddhistische Erlösungsweg der Mitte des MMK von Nâgârjuna geht über die naturwissenschaftliche Dimension hinaus, allerdings verlaufen alle natürlichen lebenden Prozesse nach meiner festen Meinung immer im Einklang mit den Naturprozessen, die zum Beispiel von der Naturwissenschaft erforscht werden. In diesem Sinne behandelt Nâgârjuna im MMK keine Wundergeschichten, die dem ganzheitlich verstandenen Logos widersprechen. Nishijima Roshi spricht in diesem Zusammenhang gern von umfassender intuitiver Intelligenz im Gegensatz zur linearen einfachen Intelligenz, auf die wir im Westen so viel Wert legen.

Dienstag, 13. Mai 2014

Sagte Gautama Buddha wirklich: Alles ist Leiden?

(Yudo J. Seggelke mit Peter Gäng)

Häufig wurde in früherer Zeit in der westlichen Welt das Charakteristische des Buddhismus durch die Formulierung: „Alles ist Leiden“ ausgedrückt. Auch heute verwenden namhafte Autoren diese Formulierung, eventuell in etwas anderer Bedeutung. Es stellt sich daher die zentrale Frage: Versteht der authentische Buddhismus das menschliche Leben insgesamt als Schmerzen und Leiden oder nicht? Wäre er damit nicht eine resignative pessimistische Religion? Daraus ergäbe sich folgerichtig, dass Freude, Zufriedenheit und Glück unseres Lebens, die auch von diesen Autoren vielleicht zugegeben werden, nur Täuschung und Schein sind.

Andere Autoren und Übersetzer folgen dieser Formulierung nicht und halten die Aussage, alles sei Leiden, semantisch für überzogen und auch wissenschaftlich nicht belegbar. Damit sei eine religionspolitische Abqualifizierung des Buddhismus intendiert: im Buddhismus werde alles Leben und alle Existenz als grundsätzlich leidhaft und schmerzenreich erklärt und unterscheide sich damit fundamental von den tatkräftigen Weltanschauungen und Religionen des Westens. Von christlicher Seite wurde darüber hinaus seit dem engeren Kontakt mit dem Buddhismus eine grundsätzliche Unterscheidung hervorgehoben, dass es im Buddhismus kein Entrinnen aus dem Leiden und Karma in dieser Welt gäbe und dass im Gegensatz dazu im Christentum die Gnade möglich sei, die ein glückliches und angstfreies Leben ohne Leiden verspricht.

Durch die immer stärker werdende Präsenz des Buddhismus im Westen z. B. in der Person des Dalai Lama, des französisch - tibetischen Mönches Mathieu Ricard und durch die  bekannten Zen-Meister Suzuki, Nishijima und Deshimaru zeigt sich nunmehr ein anderes Gesicht des Buddhismus: die buddhistischen Meister, Mönche und Laien machen einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck und scheinen mit ihrem Leben in Einklang zu sein. Man denke nur an die lächelnden Gesichter des Dalai Lama und anderer Meister. Damit ist das alte Leidens-orientierte Bild des Buddhismus in Bewegung geraten. Wird es durch die lebenden Buddhisten vielleicht ganz beiseite geschoben?

Im Folgenden möchte ich die Frage, ob der Buddhismus wirklich sagt, dass alles Leiden sei, vertieft behandeln und zwar aus wissenschaftlicher, aber auch aus religiöser oder psychotherapeutischer Sicht. Z. B. könne man behaupten, dass eine solche Aussage eine gute psychische Schockwirkung erzeugen könne, ohne wissenschaftlich richtig zu sein, um auf das eigene Leiden und das der Anderen aufmerksam zu werden und sein Leben grundsätzlich zu ändern. Ich möchte eine vorwiegend buddhologische und damit wissenschaftliche Analyse vornehmen. Entsprechend der Wissenschaftstheorie von Karl Popper lautet meine zu untersuchende Hypothese also: „Alles ist Leiden“, sie muss der Falsifizierung standhalten, sonst ist sie abzulehnen.

In dem maßgeblichen Text Gautama Buddhas, die „Grundlagen der Achtsamkeit“ heißt es zu den Vier Edlen Wahrheiten in der m. E. verlässlichen Übersetzung von Peter Gäng:

Dies ist das Leiden“.

Gautama Buddha sagt also "Dies" und nicht "Alles" ist Leiden. Außerdem heißt es, dass ein Mönch dies „der Wirklichkeit gemäß“ erkennt. 

Im Pali -Text heißt es idam dukkhan, wobei dukkham im weiteren Sinne das Leiden bedeutet und idam die Bedeutung von dieses hat. Idam kann auch in der Bedeutung „das Folgende“ verwendet werden. Wenn die Bedeutung „alles ist Leiden“ von Buddha gemeint wäre, müsste es sabbham dukkham in Pali heißen. Gautama Buddha hat sicher mit Bedacht den Begriff idam verwendet und nicht sabbham.

Es ist spannend, dass man "sarvam dukkham eigentlich in Pali nicht sagen" kann (Peter Gäng), diesen Ausdruck gibt es also gar nicht in Pali.  In Sanskrit  wäre sarvam duhkham ebenfalls problematisch. Es gibt dabei keine ähnliche Begriffe in Pali und Sanskrit, wie es sonst der Normalfall ist.

Daraus muss in aller Klarheit gefolgert werden, dass die Aussage "Alles ist Leiden", sarvam duhkha, später formuliert wurde und nicht von Buddha selbst stammen kann. 

Ich kann dabei nicht nachvollziehen, warum diese zentrale Aussage zum Leiden später verändert wurde, denn Gautama Buddha ist unzweifelhaft ein Meister des Wortes und der klaren Ausdrucksweise. Die Aussage in den Vier Edlen Wahrheiten in Pali ist also als verlässlich und authentisch anzusehen.

Ich habe in verschiedenen Texten versucht, die Sanskrit-Bezeichnung „sarvam duhkham“ zu finden. Dies ist mir jedoch bisher nicht gelungen. Es könnte allerdings sein, dass diese Formulierung irgendwo in späteren Texten in Sanskrit auftaucht. Ich halte die authentische Formulierung in Pali für maßgebend:

„Dies ist das Leiden.

In gleicher Weise schreibt der amerikanische Mönch und Autor Bhikku Bodhi, der für die Authentizität der Buddha-Reden in Pali fachlich allgemein anerkannt ist : "This is suffering" und gerade nicht "all ist suffering" oder "everything is suffering"

Dazu noch ein  kleiner Beitrag, den ich zufällig entdeckte und der mir typisch wenn auch eher grotesk erscheint: In der namhaften Untersuchung : Gautama Buddha. Die vier edlen Wahrheiten des großen Indologen Klaus Mylius (dtv klassik,1991) heißt es im Klappentextes des Verlages:

"Das Leben beruht auf Leid, heißt die erste Wahrheit". 

Das ist inhaltlich identisch mit "Alles ist Leid". 
In der Übersetzung des Autors heißt es abweichend davon und korrekt:
"Das ist das Leiden", denn idam kann statt dies auch das bedeuten. Danach folgt die Aufzählung der zwölf konkreten Arten des Leidens Buddhas, die er weiter untersucht.

Hat der Verlag nun diesen fundamentalen Fehler bewusst in den Klappentext geschrieben? Wir wissen es nicht. Es ist aber nicht auszuschließen, dass er durch die Mystifizierung des Leidens im angeblichen Buddhismus den Verkauf dieses Buches fördern wollte. Wie dem auch sei, fahren wir mit unserer Analyse fort.

Bei den Vier Edlen Wahrheiten wird wie erwähnt im Folgenden aufgezählt, welche Bereiche des Leidens es nach der Erfahrung Buddhas gibt. Es handelt sich dabei um zwölf Bereiche, die sich wie folgt gliedern. Zunächst werden vier körperlich physische Schwerpunkte des Leidens genannt: Geburt, Krankheit, Alter und Tod. Dann kommen psychische Bereiche: Kummer, Jammer, Gram, Verzweiflung und außerdem generell Schmerz. Weiterhin wird genannt die Trennung von dem, was man liebt und umgekehrt zusammen sein zu müssen, mit dem was man ablehnt und nicht liebt. Weiter heißt es, dass es Leiden macht, wenn man Erwünschtes nicht erlangt.

Wenn wir diese zwölf wichtigsten Gruppen des Leidens auf die Moderne projizieren, wird sicher keiner bezweifeln, dass auch dies heute die wesentlichen Bereiche des Leidens und der Schmerzen der Menschen sind. Umgekehrt ist natürlich zu fragen, welche Bereiche Buddha nicht genannt hat, zum Beispiel die Lebensphasen nach der Geburt, ohne Krankheit bis zum Altern. Wenn alles Leiden wäre, müssten auch diese Lebensbereiche unter die generelle Aussage fallen, dass sie immer und für alle leidvoll sind. Genau das sagt Buddha aber nicht, so dass es nahe liegt, dass er dies nicht sagen will.

Gleiches gilt für die psychischen Bereiche des Leidens, das heißt, wenn ein Mensch weder Kummer, Jammer Gram und Verzweiflung hat, ist er von der Aussage des Leidens nicht betroffen. Für die Aussagen zur sozialen Situation von Leiden gilt dasselbe, dass man von lieben Menschen und Dingen getrennt ist, oder umgekehrt mit aversiven aggressiven oder widerwärtigen Menschen zusammen sein muss. Die zwanghafte Situation mit abgelehnten Menschen zusammen zu sein, tritt bekanntlich nicht selten im Berufsleben auf. Wenn diese Situationen nicht da sind, gibt es solches Leiden nicht

Bei der genaueren Analyse der zwölf Bereiche des Leidens zeigt sich, dass nicht alle Situationen und Phasen des Lebens genannt werden und daraus ergibt sich m. E. im Umkehrschluss, dass Buddha diese nicht als Leiden bezeichnet.

In der Fachwelt ist es unbestritten, dass Buddha mit den Vier Edlen Wahrheiten keine abstrakte  Philosophie entwickeln und lehren wollte, sondern dass es sein Anliegen war, den Menschen zu helfen und konkret einen Ausweg aus dem Leiden zu zeigen. In heutiger Ausdrucksweise würde man daher sagen, dass er ein Therapeut, Arzt oder Helfer war, der eine wirkungsvolle Therapie entwickelt hatte, nachdem er die damalige Religion und Weltanschauung des Brahmanismus und insbesondere der Upanishaden zunächst gründlich studiert und dann aber als unzureichend verworfen hatte. Bekanntlich hatte er auch eine rein körperliche Lösungsmöglichkeit für psychisches, geistiges und körperliches Leiden in Form der Askese versucht, aber nach eigenen schwerwiegenden Grenz-Erfahrungen abgelehnt.

Für einen heutigen Psychotherapeuten wäre es in der Tat wenig hilfreich, wenn er zunächst seinem Patienten eröffnet: „Alles ist Leiden“. Viel mehr müsste er versuchen, das Leiden gemeinsam mit dem Patienten konkret zu erkennen, einzugrenzen, zu analysieren, um die möglichen Ursachen heraus zu finden und den Heilungsprozess danach entsprechend einzuleiten und zu unterstützen. Es ist also nicht überzeugend zu sagen, dass Buddha einerseits als Heiler und Therapeut über 40 Jahre seines Lebens gearbeitet hat und auf der anderen Seite eine Lebensphilosophie vertreten hat, dass alles Leben immer und zu jeder Zeit Leiden sei. Er müsste dann den leidenden Menschen zudem knallhart sagen, dass Glück und Zufriedenheit nur auf Illusionen und Täuschungen beruhen. Das wäre für den Heilungsprozess sicher falsch und würde eventuell sogar zum Suizid der Leidenden führen.

Gemäß der Wissenschaftstheorie von Karl Popper wird eine Hypothese bereits dann zu Fall gebracht, wenn in einem einzigen Beispiel nachgewiesen wird, dass sie falsch ist. Dieses Verfahren wird Falsifizierbarkeit von Hypothesen genannt. Dann kann die Hypothese keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit beanspruchen und kann nicht den Status einer Theorie erhalten. In unserem Fall muss die Hypothese „Alles ist Leiden“ dann zwingend abgelehnt werden.
Eine Hypothese ist also nicht bereits verlässlich, wenn sie häufiger zutrifft, und in diesen Fällen verifiziert wird, sondern sie muss jeden einzelnen Versuch der Falsifizierung überstehen, um als Theorie anerkannt zu werden. Die Verifizierung bestimmter oder mehrere Einzelfälle ist nicht auszureichend und nicht verlässlich.

Wir müssen uns daher fragen, ob es bereits einen einzigen eindeutigen Fall des Lebens gibt, der nicht als Leiden identifiziert werden kann. Das ist in der Tat nicht schwer:

Alle gemäß der buddhistischen Lehre Erwachten und Erleuchteten werden genauso charakterisiert: Sie haben das Leiden überwunden, sie sind also gemäß den Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades aus dem Leiden heraus gekommen.

Die buddhistische Lehre sagt, dass dies bereits im jetzigen Leben so ist und nicht erst im erhofften späteren Nirvana. Wie erwähnt gibt es auch in der gegenwärtigen Zeit Menschen, die man als glücklich und zufrieden erfährt, wie zum Beispiel den tibetischen französischen Mönch Ricard aber natürlich auch Nicht-Buddhisten. Ich selbst kenne zwei buddhistische Meister, die ich ohne zu zögern als erleuchtet und glücklich bezeichnen würde: Dea Poep Na Sim und meinen letzten Lehrer Nishijima Roshi. Beide haben überzeugend von sich selbst gesagt, dass sie glückliche Menschen sind und zufrieden mit ihrem erfüllten Leben. Daraus ergibt sich wissenschaftstheoretisch zweifellos, dass die Aussage „Alles ist Leiden“ therapeutisch, buddhologisch und wissenschaftstheoretisch nicht haltbar ist.

Außerdem halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die christliche Lehre der Erbsünde bewusst oder unbewusst in den Buddhismus übertragen wurde und ihm die Formulierung: „Alles ist Leiden“ fälschlich angeheftet wurde.

Aus buddhologischer Sicht ist folge ich nicht obigen der Aussage, sie ist meines Erachtens auch nicht mit dem Kern der Erlösungslehre aus dem Leiden durch eigenes Wollen, Denken und Handeln vereinbar.

Seit der Arbeiten Hans-Georg Gadamers ist in der Moderne die Hermeneutik, also die sachgerechte Arbeit mit Texten und Aussagen, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Danach ist es neben dem Verstehen und der Interpretation der alten überlieferten Texte maßgeblich, dass wir uns selbst verändern und in einen umfassenden und nicht nur intellektuellen Lernprozess eingehen. Wie wirkt wohl auf uns die Aussage: „Alles ist Leiden“? Sicher nicht ermutigend und sicher nicht förderlich, um unnötiges Leiden zu erkennen, einzugrenzen und auszuschalten.

Meines Erachtens entstehen durch diese eher resignative Aussage, wenn man sie wirklich ernst nimmt,  gerade verstärkt Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung. Das bedeutet also nichts anderes, als dass das genannte Leiden selbst verstärkt oder sogar erzeugt wird. Genau das Leid soll aber gerade durch die Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad überwunden werden. Das wäre nicht wohl ein double-bind. Selbst Feinde des Buddhismus würden das Gautama Buddha wohl nicht unterstellen.

Ich möchte noch zwei weitere eher psychologische, oder wenn man so will, pathologische Überlegungen anschließen: Es ist bekannt, dass es immer wieder einzelne Feuerwehrleute gibt, die zunächst einen Brand legen, um dann in der Funktion des rettenden Feuerwehrmannes helfen zu können. Es wird also die Situation als Helfer vorsätzlich organisiert, um Beachtung und Lob zu erwirken, ohne dass die Verursachung erkennbar ist und auch nicht erkennbar sein soll. Wer also zunächst eine psychische Situation der Resignation oder Depressivität erzeugt, könnte in analoger Weise gut als "Helfer" auftreten, um die Lösung der selbst induzierten Leiden anzubieten.

Eine eher materialistisch-marktorientierte Deutung könnte wie folgt aussehen: um das „Heilsprodukt“ an den Mann zu bringen oder sogar gegen Geld zu verkaufen (falsche Meister), wird zunächst ein Bedarf erzeugt, indem die Leidens-Aspekte des Lebens verstärkt werden, sodass sich ein lukrativer „Markt“ für das Heilmittel entwickelt, der dann bedient werden kann. In der Moderne gibt es zweifellos wegen und im Zusammenhang mit der materialistisch negativen Weltstimmung viele Ängste, Enttäuschungen und Frustrationen. Es ist natürlich kein Geheimnis, dass materielle Güter und Vorteile nur kurzfristig Lebensfreude erzeugen können, aber mittel- und langfristig den Menschen aushöhlen, weil ihm die psychische und spirituelle Mitte verloren geht.

Die Fragmentierung der modernen materiellen und medialen Scheinwelt hinterlässt selbstverständlich erhebliche negative Spuren beim Menschen. Ein Verkäufer von wohlfeilen spirituellen Heilmethoden könnte daher diese Stimmung des Zeitgeistes zunächst verstärken, um dann sein eigenes „Heilsprodukt“ besser an die Frau und an den Mann bringen zu können. Es ist sicher nicht aus der Luft gegriffen, dass selbsternannte Meister, Gurus und Heilige in großer Gefahr sind, einen solchen Weg zu gehen. Im Übrigen gibt es in der Geschichte wohl jeder Religion das Phänomen, dass zunächst die Sünden „vergrößert“ und das schlechte Karma von den Funktionsträgern stark überzeichnet wird, um daraus handfeste Vorteile zu ziehen. Diese können von psychischer Gewalt über Abhängigkeit, Machtausübung und materiellen Vorteil reichen. Ich bin sicher, dass Ihnen dazu leider auch für die Gegenwart fatale und dramatische Beispiele einfallen.

Wie der Philosoph Wolfgang Welsch richtig sagt, dürfen die Methoden des Logos der westlichen Vernunft und die für das Denken erforderlichen Fragen auch und gerade im Zusammenhang mit dem Buddhismus nicht beiseite gelassen werden. Meister Dôgen ist in seinem großen Werk Shôbôgenzô dafür ein positives Beispiel: Es gibt kein Kapitel, in dem er nicht zentrale Fragen an den Leser stellt und bittet, darüber eigenständig und gründlich nachzudenken und nachzusinnen. Wir sollten auch und gerade die fundamentale angebliche Aussage Gautama Buddhas in Frage stellen: „Alles ist Leiden“. Denn der Buddhismus basiert nicht auf naivem Glauben, sondern auf der Vernunft. Und genau darin liegt seine Heilwirkung für die Menschen dieses Zeitalters.

Mein Resümee´:
Nach meinen oben ausgeführten Analysen muss daher die Hypothese „Alles ist Leiden“ abgelehnt werden, da sie die Falsifizierung nicht übersteht. Sie ist wissenschaftstheoretisch nicht zu halten.
Im Übrigen halte ich sie auch therapeutisch für sehr bedenklich, oft kontraproduktiv und in bestimmten Fällen sogar gefährlich.
Und: sie stammt nicht von Gautama Buddha, sondern dürfte eine spätere Formulierung sein.



Beitrag: 
Alles ist Leiden? Oder nicht? Was hat der Buddha nach der Überlieferung dazu gesagt?
(Peter Gäng)

Alles – das wären im Sprachgebrauch der alten buddhistischen Texte “alle Gegebenheiten/Phänomene” (sabbe dhammā). Und die dhammas (sanskrit dharmas) werden traditionell unterteilt in die bedingten Gegebenheiten (sankhāra) und  nibbāna (Nirvana als einzige nichtbedingte Gegebenheit, wobei in manchen Traditionen noch der Raum hinzugefügt wurde).

Die bekannteste Aussage zu diesen Thema findet sich im Dhammapada, das in zahlreichen Übersetzungen vorliegt. Dort heißt es (277 ff):
“Alle bedingten Gegebenheiten sind vergänglich” - Wer dies in Weisheit sieht,
der wendet sich von dukkha ab, das ist der Weg zur Reinheit.
“Alle bedingten Gegebenheiten sind dukkha” - Wer dies in Weisheit sieht,
der wendet sich von dukkha ab, das ist der Weg zur Reinheit.
“Alle Gegebenheiten sind nicht der Wesenskern” - Wer dies in Weisheit sieht,
der wendet sich von dukkha ab, das ist der Weg zur Reinheit.

In zahlreichen Gesprächen hat der Buddha nach der Überlieferung dies Aussagen so präzisiert:
“Was meinst du, ist X beständig oder vergänglich?” - “Vergänglich, Herr.” - “Und was vergänglich ist, ist das dukkha oder sukha (Glück)?” - “Dukkha, Herr.” 

Und darauf folgt dann der Hinweis:
 “Was vergänglich ist und damit dukkha ist, dafür gilt: Das ist nicht mein, das bin nicht ich, das ist nicht mein Wesenskern”.

Dies gilt wie gesagt für alle Phänomene (ausgenommen Nirvana): Für die Bestandteile der Persönlichkeit (körperliche Form, Wahrnehmung, Gefühle, Willensregungen, Bewusstsein), für alle Sinnesorgane und Sinnesobjekte, für die 4 Elemente.

Ergänzung
(Yudo J. Seggelke)

Nach übereinstimmender Aussage der Meister Nagarjuna, Dôgen, Nishijima u. a. darf Nirvana nicht als etwas Jenseitiges, von uns Getrenntes, verstanden werden, sondern ist identisch mit dieser Welt, hier und jetzt, in der wir leben. Ich folge dieser Auffassung ausdrücklich, nach eigenem Erleben und Verständnis.
Das heißt: Es gibt zweifellos die Realität des Leidens in der Welt und in unserem Leben, aber es ist nur eine Teil-Wirklichkeit; wenn wir z. B. an etwas Veränderlichem mit aller Gewalt festhalten wollen. Wir müssen die Vergänglichkeit aber nicht als Leiden erfahren, denn es geht um die Veränderlichkeit, die auch und gerade Lernen und Kreativität umfasst, nach Buddha: lernende gemeinsame Wechselwirkung (pratitya samutpada). Wir können lernen, das Leiden zu überwinden. Das ist eine ausgesprochen positive Botschaft, die Buddha zum ersten Male in der Menschheitsgeschichte präzise erfahren und an uns weitergegeben hat.