Montag, 26. Mai 2014

Der Dalai Lama: Modernisierung des tibetischen Buddhismus


(Yudo J. Seggelke, wörtliche Zitate des Dalai Lama)

Die fruchtbare Wechselwirkung des Buddhismus mit westlicher Forschung und Wissenschaft ist für den Dalai Lama ein zentrales Anliegen. Er sagt:

„Das Vertrauen, das ich in diesen Dialog (Forschung-Buddhismus) setze, beruht auf meiner grundlegenden Überzeugung, wonach das Verständnis der Wirklichkeit in den Naturwissenschaften genau wie im Buddhismus durch kritische Untersuchungen gewonnen wird. Sollte die Wissenschaft abschließend nachweisen können, dass gewissen Behauptungen des Buddhismus falsch sind, müssen wir die Erkenntnisse der Wissenschaft annehmen und überholte Anschauungen revidieren.“

Er vertraut also wesentlich auf unseren geschulten Logos und unsere westliche Fähigkeit der gründlichen Analyse in Bezug auf Realitäten, z. B. auch der Gehirnforschung und Evolutionstheorie usw..

„Schon bevor ich ins Exil ging, war mir und vielen Tibetern bewusst geworden, dass eine der grundlegenden Ursachen der politischen Tragödie Tibets in dem Unvermögen bestand sich der Modernisierung zu öffnen.“

Die Staatsform einschließlich des tradierten Buddhismus konnte die Tibet-Tragödie also nicht verhindern, nicht zuletzt weil Tibet sich der Modernisierung gegenüber verschlossen habe. Genau diese Modernisierung muss jetzt geschehen und wir im Westen sind aufgefordert, dabei mitzuhelfen, da der Buddhismus eine große Bereicherung für die Moderne ist.

„Als sich mein Verständnis der Wissenschaften vertiefte, wurde mir nach und nach bewusst, dass viele Bereiche des traditionellen buddhistischen Denkens, so weit sie das Verständnis der materiellen Welt betreffen, im Vergleich zu den modernen Wissenschaften nur lückenhafte Erklärungen und Theorien hatten.“

Das sehe ich ähnlich: es wurden materielle Kenntnisse vernachlässigt, die bereits im Westen vorhanden waren, z. B. Medizin, Straßenbau, Sozialsystem usw.

„Indem ich die Geschichte meiner persönlichen Entdeckungsreise erzähle, möchte ich aber auch gegenüber Millionen von Mitbuddhisten weltweit die Notwendigkeit betonen, die Wissenschaften ernst zu nehmen und ihre grundlegenden Entdeckungen in die buddhistische Weltanschauung zu integrieren“.

Das ist genau das von mir selbst verfolgte Ziel für den Buddhismus, den ich nun seit 44 Jahren studiere und in der Meditation praktiziere. Buddhismus, Forschung und Wissenschaft ist kein Gegensatz, wie z. T. bei anderen Religionen.

„Ganz sicher jedoch müssen gewisse Aspekte des buddhistischen Denkens – seine alten kosmologischen Theorien zum Beispiel aber auch seine unausgereifte Physik - im Lichte zeitgenössischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse neu formuliert werden.“

Gerade die Kosmologie benötigt eine grundlegende Analyse, sie ist heute nicht mehr naiv und materiell-konkretistisch sondern eher gleichnishaft und symbolhaft zu verstehen. Dadurch werden viel tiefere Bedeutungsschichten lebendig. Bekanntlich gibt es im MMK von Meister Nagarjuna keine übernatürlichen Wunder, sondern nur „Zauberer“, die Unwirkliches zaubern, das sich dann weiter vermehrt. Das soll gerade vermieden werden.

„Historisch gesehen hat sich der Buddhismus als eine Religion mit einem spezifischen Kanon von Schriften und Ritualen entwickelt, doch genau genommen hat die Erkenntnis, die aus der Vernunft und aus der Erfahrung gewonnen wird, im Buddhismus ein stärkeres Gewicht als die Autorität der Schriften“.

Das ist ein fundamentaler ganz moderner Ansatz. Wir sind also bei jeder überlieferten Aussage aufgefordert, die Vernunft, das Wissen, die wissenschaftlichen Methoden und die heutige Erfahrung einzubringen. Dabei sind die Interpretationen der historischen Schriften von nicht zu überschätzendem Wert, aber nicht absolut bindend. Dies gilt natürlich besonders für grundlegende und schwierige Texte wie z. B. Nagarjunas Mittlerer Weg, MMK.

„Wenn wir einen Tatbestand untersuchen und genügend Gründe und Beweise vorliegen, müssen wir ihn als Wirklichkeit anerkennen; selbst wenn dies einer wörtlichen Auslegung der Schriften, die über Jahrhunderte Gültigkeit besaßen oder einer tiefen Überzeugung oder (historischen) Sichtweise widerspricht.“

Das scheint mir besonders wichtig: die traditionellen Überzeugungen und Sichtweisen müssen gründlich überprüft werden. Das gilt selbstverständlich gerade und besonders für das MMK und die zeitgemäße Systemtheorie aber auch für das Verständnis von pratitya samutpada, das wechsel-wirkende Entstehen. Gläubiges Übernehmen des Tradierten reicht nicht aus und wird dem großen Wert der ursprünglichen buddhistischen Wahrheiten nicht gerecht. Das gilt für mich besonders bei Nagarjuna, in dessen direkter ununterbrochener Linie der Dharma-Nachfolge ich ja selbst stehe. Daher meine besondere Verantwortung gegenüber seinem genialen Werk.

„Der Buddhismus bedient sich also ebenfalls der Methode logischen Schließens; ähnlich dem Model Carl-Friedrich von Weizsäckers.“
Das heißt jeder einzelne Schritt muss logisch und überzeugend nachvollzogen werden: übrigens ein wesentlicher Grundsatz nicht nur in der Physik sondern auch in der Philosophie, z. B. bei Gadamer, Heidegger und Wolfgang Welsch. Der Dalai Lama sagt:

„Ein neuer Abschnitt der Auseinandersetzung mit der Wissenschaft (begann mit) der ersten der `Mind and Life` Konferenzen. Diese Begegnung hatten der chilenische Neurowissenschaftler Francisco Varela und der amerikanische Geschäftsmann A. Engle organisiert. Varela und Engle waren mit dem Vorschlag an mich herangetreten eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen zu führen, die der Idee eines Dialoges aufgeschlossen gegenüberstanden“.

Ich folge dabei dem Dalai Lama: er beschreibt recht genau den von Nishijima Roshi, Brad Warner und mir gewählten Ansatz für die Analyse und Interpretation des MMK. Damit ergänzen wir auch die tibetische Linie des Buddhismus, die wesentlich auf den Schriften Nagarjunas beruht. Er hat bekanntlich in der indo-europäischen Sprache Sanskrit gedacht und geschrieben, die der Semantik der heutigen europäischen Sprachen nach wie vor ähnlich ist, wie etwa das alte Griechisch.

Zunächst geht es bei der Neubearbeitung des MMK um eine wirklich wortgetreue Übersetzung, die dann die Grundlage für die Hermeneutik ist, etwa im Sinne von Gadamer.

Es ist in der Tat spannend zu erkennen, dass Gautama Buddha und Nagarjuna eine indo-europäische Sprache und philosophische Weltanschauung besaßen, die weitgehend ähnliche Wurzeln hat wie die der griechischen Philosophen, aber einen anderen Weg gegangen ist: Nicht das metaphysische dauerhafte Sein steht im Zentrum der Philosophie sondern die vernetzten Veränderungen (pratitya samutpada, wechselwirkendes Entstehen) und das menschliche Lernen zur Befreiung aus unnötigem Leiden.

Wir können im Westen dem Buddhismus neue wichtige Impulse geben, die sich mit den äußerst wertvollen tradierten Verständnissen und Erfahrungen z. B. aus Tibet, China, Japan und anderen ostasiatischen Kulturen ergänzen. Das wird den Buddhismus beleben und ihn weiter in die Moderne bringen.


Im Sinne des Dalai Lama geht es neben der Naturwissenschaft um den intensiven Austausch des tibetischen Buddhismus mit dem frühen Pali-Buddhismus, dem Chan und Zen, also vor Allem mit den Arbeiten des Meisters Dogen zum buddhistischen Handeln im Hier und jetzt und der Leerheits-Meditation des Zazen und nicht zuletzt um den Dialog mit der westlichen praktischen und theoretischen Philosophie.