Sonntag, 28. September 2014

Mittlerer Weg, Gehirnforschung und Evolution der Menschheit

(Yudo J. Seggelke)

Mittlerer Weg
Nâgârjuna ist der große indische Philosoph des Mittleren Weges, er wird häufig als wichtigster Denker zur Philosophie der Leerheit angesehen. In seinem großen Werk in Form eines Lehr-Gedichtes "Weisheit des Mittleren Weges" (MMK) von 27 Kapiteln stellt er zwei tiefgründige Basis-Verse voran, die immer wieder zu Diskussionen und grundsätzlichen Fragen des Mâhâyâna-Buddhismus Anlass geben. Warum?:

Im ersten Vers werden wir aufgefordert, die fest gefahrenen Bedeutungen der im Buddhismus gebräuchlichen Begriffe und Vorstellungen beiseite zu lassen. Nâgârjuna will offensichtlich ganz neu ansetzen und in einer Zeit, in der sich der Buddhismus bereits in verschiedene z. T. eigenartige Linien und Lehr-Meinungen aufgespalten hatte, eine feste Grundlage geben. Einige Übertragungslinien bekämpften sich sogar recht drastisch untereinander. Er wollte sicher die Lehre Gautama Buddhas auf die wesentlichen Kernpunkte zurückführen und Fehlentwicklungen und Fehlinterpretationen eine radikale Absage erteilen. Dabei sollten die validen Ausdifferenzierungen durch den Mâhâyâna beibehalten werden. Dieser Grundansatz ist in der buddhistischen Forschung auch weitgehend unbestritten.

Nagarjuna negiert (!) im ersten Vers die folgenden buddhistischen Begriffs-Paare :
Vergehen und Entstehen, Abbrechen und Andauern, Einheit und Vielheit, Erscheinen und Verschwinden.

Er formuliert daher: " Nicht-Vergehen und Nicht-Entstehen " usw..
Bei oberflächlicher Betrachtung muss es verwundern, dass er diese zentralen Begriffe der buddhistischen Lehre ablehnt und die ´normalen´ Buddhisten damit vor den Kopf stoßen muss. Aber offensichtlich ist das kein Nihilismus und keine undifferenzierte Negation. Er will uns damit zweifellos auffordern, diese Grund-Begriffen neu zu durchdenken und praktisch zu realisieren: wir sollen gemeinsam mit ihm für die buddhistischen Grundlagen ganz von vorn bei Null anfangen und nicht einfache das Überkommene ohne gründliche Reflexion übernehmen. Die buddhistischen Begriffe und Vorstellungen hatten sich z. T. verselbständigt und von der Lebenswirklichkeit abgekoppelt. Sie hatten ein unwirkliches Eigenleben, eine unwirkliche Eigen-Existenz, entwickelt und waren daher inhaltsleer geworden: leere isolierte Worthülsen, die intelligent hin und her geschoben wurden; ein hoch intellektuelles Glasperlenspiel weniger Experten.

Nâgârjuna fragte beim Mittleren Weg dagegen: Was ist wirkliches Entstehen im Netz der Welt und der Mensch? Das übersteigt jeden Begriff und jede übernommene Vorstellung. Es war ja nicht mehr zu übersehen, dass sich vielfältige falsche Vorstellungen, Dogmen und damit verbunden nicht-buddhistische Weltanschauungen eingenistet hatten, die er richtig stellen wollte, um die Kraft und Frische der buddhistischen Lehre und Praxis neu zu beleben. Auf einer abgehobenen und illusionären Weltanschauung kann kein solider Befreiungsweg aufgebaut werden

Im zweiten Vers präzisiert er daher die buddhistische Lehre von der Wirklichkeit und Wahrheit der Welt und des Kosmos :

Alles entwickelt sich andauernd in Wechselwirkung, nichts ist isoliert und kann für sich allein nicht existieren. Das ist das kosmische gewaltige Netzwerk, in dem wir leben, lernen, uns entwickeln und in dem wir unser Leben gestalten.

Fehlentwicklungen führen zu menschlichem Leiden, das nach wie vor in der Welt und bei den Menschen da ist. Gautama Buddha hat mit seinen Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad einen sicheren Weg ausgewiesen, wie wir diesem Leiden entkommen, gewissermaßen aus ihm heraus-wachsen können. In Sanskrit wird diese vernetzte kreative Wirklichkeit des Lebens und der Welt pratitya samutpada genannt. Die großen westlichen Buddhisten Joanna Macy und Francisco Varela haben dieser lernenden Vernetzung der Welt und der Menschen ebenfalls zentrale Bedeutung gegeben; wie ich meine zu Recht. Denn diese Wirklichkeit ermöglicht nicht nur die Überwindung des Leidens, sondern eröffnet die Lebenswelt zur Freude, Befriedung und des Glücks, also zum Erwachen und zur Erleuchtung.

Nishijima Roshi und auch der Dalai Lama haben unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die buddhistische Lehre niemals im Gegensatz zu gesicherten Fakten der Wissenschaft stehen könne. Der Dalai Lama fügt sogar hinzu, dass die buddhistische Lehre entsprechend geändert und angepasst werden müsste, selbst wenn die tibetische Überlieferung etwas anderes sagt. Wir sind daher aufgefordert, die zentralen buddhistischen Aussagen Nâgârjunas auch mit fundierten Ergebnissen der Wissenschaft und Forschung anzugehen, zu begründen oder aber zu ändern oder abzulehnen. Welche Bereiche sind nun von besonderer Bedeutung für das wechsel-wirkende Netzwerk pratitya samutpada und die zentralen Aussagen Nâgârjunas, die er in den folgenden 27 Kapiteln im Einzelnen behandelt. Ich möchte dazu die Bereiche der Evolutionsforschung und Gehirnforschung ansprechen und hier kurz darstellen, soweit ich sie kenne.

Evolutionsforschung
Es gilt nunmehr als gesichert, dass die Erde etwa 6 Milliarden Jahre alt ist und etwa vor 3 Milliarden Jahren das Leben in allerersten Anfängen unter schwierigen Bedingungen entstand. Wir schätzen, dass die Dino-Saurier als hoch entwickelte Lebewesen mit den bekanntlich großen Ausmaßen etwa vor 250 Millionen Jahren auftauchten und etwa vor 65 Millionen Jahren verschwanden. In der Zeit der Dino-Saurier gab es bereits eine üppige Biosphäre, eine lebensnotwendige Atmosphäre mit Sauerstoff, sodass viele Pflanzen und Tierarten in 3 Milliarden Jahren entstanden waren. Die Tiere und Pflanzen bildeten bereits ein hoch vernetztes Biosystem, das durch dauernde Veränderungen und zugleich relativ stabile Gleichgewichtszustände gekennzeichnet war. Durch massive Natur-Katastrophen ergaben sich immer wieder tiefgreifende Erschütterungen der vernetzten Gleichgewichte, die aber danach wieder zu neuer Vielfalt und Vielfältigkeit führten. So wird heute angenommen, dass vor 65 Millionen Jahren ein großer Meteorit auf der Erde einschlug und die Biosphäre grundlegend erschütterte, sodass die Saurier in ihren hoch spezialisierten, vernetzten Lebens- und Sozialsystemen nicht mehr lebensfähig waren. Danach haben sich bekanntlich die Säugetiere aus kleinen Anfängen von der Größe etwa einer Maus bis in die heutige Zeit entwickelt.

Ein markantes Beispiel der Co-Evolution ist die Entwicklung der Farben auf der Erde vor etwa 120 Millionen Jahren. Sie wurde parallel, gekoppelt und vernetzt von den Pflanzen mit ihren Blüten und Früchten einerseits und den Tieren und deren farbfähige Augen andererseits entwickelt. Unsere Welt ist in der Tat ohne Farben heute nicht mehr vorstellbar: das Ergebnis einer vernetzten, co-evolutiven Entwicklung, des Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada.

Die ersten Menschen sind je nach dem wie man sie wissenschaftlich definiert vor etwa 500 Tausend Jahren aufgetaucht und haben in der Jung-Steinzeit von Zentralafrika aus die Erde besiedelt, wie wissenschaftlich ziemlich sicher anzunehmen ist. Der Forscher Gerald Hüther geht davon aus, dass sich unser Gehirn seit etwa Einhundert Tausend Jahren nicht wesentlich verändert hat, sondern dass die „Hardware“ unseres Gehirns im Wesentlichen gleich geblieben ist. Das heißt, dass sich die heutigen kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auf der Grundlage des neuronalen Netzes unserer Vorfahren ausgebildet und entwickelt haben und von Generation zu Generation übermittelt wurden.

Was ist das Resumée der Evolutionsforschung? Aus sehr primitiven Anfängen hat sich eine gewaltige Vielfalt von Vernetzungen der Tiere, Pflanzen, der Biosphäre, Atmosphäre und uns Menschen entwickelt. Parallel dazu haben sich hoch komplexe Moleküle, wie zum Beispiel Eiweiß entwickelt, die wesentliche Grundlage des Lebens sind. Dieses hoch komplexe Netzwerk der Erde hat sich laufend weiterentwickelt, vergrößert; es hat selbst schwere Erschütterungen nach einer gewissen Zeit ausgeglichen und zu neuer Evolutionskraft geführt.

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, das Gautama Buddha und Nâgârjuna ein intuitives Verständnis dieses evolutiven vernetzten Prozesses hatten und dass sie daraus die Grundlage der buddhistischen Philosophie, pratitya samutpada , geschaffen haben. Ich vermute weiterhin, dass diese tiefgreifende Kenntnis der hoch vernetzten Wirklichkeit in der Zeit Nâgârjunas bereits bei vielen Buddhisten nicht mehr in vollem Umfang bekannt war.

Gehirnforschung
Wir wissen heute, dass unser Gehirn aus einer sehr großen Zahl von Neuronen Zellen besteht, die miteinander vernetzt sind und dass es im Groben etwa 100 Module oder Teilsysteme gibt, die jeweils eine gewissen Spezialisierung für bestimmte Funktionen unseres Lebens haben. Der Gehirnforschen Manfred Spitzer spricht von einem modularen Aufbau unseres neuronalen Netzes, z. B. des Seh-Systems , das etwas 1/3 der Leistung des Gehirns umfasst, und des motorischen Bewegungs-Systems mit der Steuerung der Arme und Beine usw. in der gleichen Größenordnung. Hinzu kommen die weiteren anderen Gehirn-Leistungen: verbale Fähigkeiten, mathematische Fähigkeiten, ethische Steuerung und gewaltige gespeicherte Informationen. Und alle die Fähigkeiten sind eng und unauflösbar mit Emotionen gekoppelt. Das neuronale Netz umfasst etwa Einhundert Milliarden Neuronen-Zellen, mit etwa Zehntausend Vernetzungen je Zelle. Die Vernetzungs-Schnittstellen werden Synapsen genannt, sie haben biochemische und elektrische Funktionen für die Informations-Übermittelung. Dadurch ergeben sich neben unvorstellbaren Informations-Leistungen eine kaum glaubliche Lernfähigkeit: Unser neuronales Netz besitzt Modularität und Plastizität.

Dieses neuronale Netz steht selbstverständlich in permanenter lebender Wechselwirkung mit allen anderen Organen und Funktionen unseres Körpers und auch sowohl biologisch als auch sozial in dauernder Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Unsere Sprache können wir z. B. nicht allein lernen sondern nur im sozialen Kontakt mit anderen Menschen - und ohne Sprache sind wir eigentlich keine Menschen. Vereinfacht gesagt: ohne soziales Lernen sind wir keine Menschen.

Wenn wir uns fragen, wo ein Ich-Kern lokalisiert sein könnte, finden wir kein derartiges Zentrum im neuronalen Netz, das als ein solches Ich bezeichnet werden kann. Sondern wir müssen sagen: das gesamte neuronale Netz ist in Wechselwirkung mit dem Körper und der Umwelt das Ich. Etwas anders mit Nâgârjuna ausgedrückt: es gibt keine unabhängige zentrale Entität im Menschen oder im Gehirn, die als Ich bezeichnet werden kann. Das Ich ist also eine Benennung des gesamten Netzwerkes mit allen Spezifika, die bekanntlich bei den einzelnen Menschen sehr unterschiedlich sind. Es gibt Individualitäten des Menschen, deren Grundlage aber wohlgemerkt immer ein Netzwerk ist.

Das neuronale Netz ist dauernd aktiv, und es ist lebendig, leistungsfähig und lernt genau so, wie es benutzt wird, und wie es handelt, am besten in der Einheit von Körper und Geist. Neuere Forschungen haben ergeben, dass sich bei intensiven körperlichen Aktivitäten sogar neue Gehirnzellen bilden können und dass sich beim Lernen grundsätzlich neue Vernetzungen im neuronalen Verbund bilden. Bei der Übung vorhandener Fähigkeiten werden bereits vorhandene Leitungs-Verbindungen des Netzes aktiviert und verbessert. Was beim Menschen nicht benutzt wird, verliert seine Funktionsfähigkeit, sodass man sagen kann, das Gehirn ist genau das, was es macht. Das Netzwerk hat also "keine feste Verdrahtung", die wir aus der Elektronik kennen, sondern ist ein biologisch lebendes Netzwerk, das bei Benutzung funktionsfähig ist und bleibt. Es kann sich ein ganzes Leben lang verbessern und erweitern, wenn entsprechende Lernprozesse und Um-Lernprozesse stattfinden.

Wenn wir also in unserem Leben eine radikale Neuausrichtung angehen, um unnötiges Leiden zu vermeiden und neue Lebensfreude und Lebenssicherheit zu gewinnen, ist es notwendig alte eingefahrene negative Verbindungen im neuronalen Netz auslaufen zu lassen und neue bessere aufzubauen.

Der große Zen-Meister Dôgen sagt in diesem Sinne im dritten Kapitel des Shôbôgenzô zur Verwirklichung des Lebens und Universums beim Dharma-Weg:

„Buddhas Wahrheit zu erlernen bedeutet, uns selbst zu erlernen. Uns selbst zu erlernen bedeutet, uns zu vergessen. Uns zu vergessen bedeutet, von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden. Von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden bedeutet, unseren eigenen Körper und (denkenden) Geist und den Körper und Geist der äußeren Welt fallen zu lassen.“

Wenn wir von den vielen "Dharmas erfahren werden", bedeutet das nichts anderes, als dass wir uns für die unverstellte Wirklichkeit der Welt öffnen und die eigenen Fixierungen und Verengungen aufgeben, die uns bisher blockiert haben.

Es gibt in unserem Gehirn und in unserem gesamten Körper keinen unveränderlichen dauerhaften zentralen Ich-Kern, der von der Geburt bis zum Tod konstant bleibt, sich nicht verändert und unsere Individualität dauerhaft ausmacht. Für die Lehre der Reinkarnation der Upanishaden im alten Indien vor Gautama Buddha galt das Gegenteil: es gebe einen Ich-Kern, den die Inder Atman nannten, der als konstante Entität im Leben unverändert bleibt und durch verschiedene Wiedergeburten wandert. Im Lichte der modernen Gehirnforschung ist die Annahme eines solchen Ich-Kerns ausgeschlossen. Unsere wahre Existenz ist also kein dauerhafter unveränderlicher Ich-Kern, sondern ein lebendes vernetztes Ganzes, das sich dauernd verändert und entwickelt, erstaunlich lernfähig ist und durch Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt gekennzeichnet ist. Das ist so, obgleich wir vielleicht an ein unveränderliches Ich glauben. Aber dieser Glaube entspricht nicht der Wirklichkeit.

Entstehung in Wechselwirkung
Die Lebensphilosophie der lernenden Vernetzung, also des Entstehens in Wechselwirkung, wird damit durch die Evolutionsforschung und Gehirnforschung voll bestätigt: pratitya samutpada ist die Wirklichkeit selbst, genau so wie es Nâgârjuna sagt. Sie besteht nicht aus menschlichen Ich-Kernen, Atman, die unabhängig voneinander konstant und dauerhaft von Leben zu Leben wandern, sondern die Menschen sind Teil eines großen Netzwerkes, im Innen- und im Außenverhältnis.

Es geht für uns Menschen darum, innerhalb dieses Netzwerkes ein sinnvolles Leben zu führen und einen guten Lebensweg zu finden. Aus meiner Sicht ist das die Essenz der buddhistischen Lehre und Praxis, die von Gautama Buddha vor etwa 2500 Jahren selbst erfahren, erkannt, erprobt und entwickelt wurde.

Aus meiner Sicht ist der Buddhismus eine ausgesprochen optimistische und positive Weltanschauung und wenn man so will einer Religion. Es geht um Entwickeln, Lernen, Weiterentwickeln und Entstehen: in Kooperation und Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Einseitige Abhängigkeiten reduzieren die Lebenschancen und die Lebensfreude ganz erheblich und führen zu Leiden, sei es Abhängigkeiten von uns selbst, wie Gier, Hass, Neid, Angst usw. oder sei es von anderen Menschen oder Umständen. Dann kann nicht viel Neues entstehen, es gibt keinen Lebensoptimismus, sondern das Leben wird immer mehr verengt und gerät in immer größere Abhängigkeit, zum Beispiel von den obigen buddhistischen Giften, aber auch von falschen Gurus, Politikern und charismatischen machtgierigen und verführerischen Menschen:  moderne psychische Wölfe in Schafspelzen. Und es gibt auch spirituelle Wölfe in Schafspelzen!

Dann reduziert sich die Wechselwirkung des Netzwerkes auf eine unidirektionale lineare Abhängigkeit: das ist das abhängige Entstehen oder bedingte Entstehen, das aus meiner Sicht recht ungenau als zentrale Aussage des Buddhismus aufgefasst wird. Nicht das Vergehen, Absterben und die Abhängigkeit sind zentrale Aussage des Buddhismus, sondern das Entstehen, die Wechselwirkung, das Lernen und die Evolution zu größerer Vielfalt und auch Schönheit. Das ist gerade der Befreiungs-Weg zum Erwachen und zur Erleuchtung. Das Lotus-Sûtra spricht in diesem Sinne davon, dass wir unsere Buddha-Welt mit Schönheit schmücken sollen, um ein gutes und glückliches Leben zu führen. Das ist eine wichtige Aussage, die mich überzeugt. Das positive Entstehen, die Weiterentwicklung und vielfältige Lernprozesse sind die zentrale Essenz des Sanskrit-Begriffes pratitya samutpada.

Zusammenfassung
Wir können die beiden ersten Verse von Nâgârjunas Mittleren Weg (MMK) wie folgt zusammenfassen: vergesst eure bisherigen eingefahrenen Vorstellungen und Begriffe, die auf der falschen Weltanschauung eines unveränderlichen Ich-Kerns und isolierter Dinge und Entitäten basieren. Die wahre Existenz des Menschen ist ein offenes, vernetztes Selbst, das dauernd in Entwicklung ist und in dem dauernd etwas Neues entsteht. Jedes Fortschreiten von einem Augenblick zum nächsten ergibt Neuerungen und Entstehungsprozesse. Diese Veränderungen im kreativen evolutiven Netz sind unsere wahre Existenz, nicht irgendetwas Unveränderliches, Dauerhaftes, Festgelegtes und Dogmatisches, auch nicht nach einem buddhistischen Dogma.

Bei einem unveränderlichen Ich-Kern gibt es kein Entstehen sondern nur bei einem offenen lernenden Selbst, dass sich nicht isoliert, sondern im sozialen Netz und in der sozialen Verantwortung tätig ist und handelt. Verkürzt könnte man sagen: das verantwortungsvolle Handeln in der Vernetzung mit Anderen und der Umwelt ist unsere wahre Existenz. Aus meiner Sicht ist dies genau die Lebensphilosophie des Bodhisattva, die im Mahâyâna-Buddhismus zu hoher Blüte gebracht wurde und nicht zuletzt im Zen-Buddhismus bis heute existiert.

Einen unveränderlichen isolierten Ich-Kern gibt es weder geistig noch biologisch und auch nicht materiell.: Der Starke ist am schwächsten allein, er ist allerdings nicht einmal lebensfähig. Maßgeblich ist es, wie wir handeln: Wir sind, was wir machen und wir sind nicht, was wir nicht machen.
Im Zen-Buddhismus heißt es bei Dôgen:

„Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen“ und
„in der Zen-Meditation empfängt das Selbst das (wahre) Selbst“.

Dôgen hat diese zentrale Lehre und Praxis vor allem in den fulminanten Kapiteln zur Verwirklichung im Leben und Universum, zum Herz-Sûtra, zum Lotus-Sûtra und zur Buddha-Natur behandelt. Sie stimmen genau mit Buddhas und Nâgârjunas zentraler Aussage pratitya samtupada überein.

Und Buddhismus ist eine umfassende im Grundsatz positive Religion. Sie kann nicht durch den Satz „Alles ist Leiden" gekennzeichnet werden. Es gibt zweifellos die Wirklichkeit des Leidens, das wir mit dem Achtfachen Pfad überwinden können; oder anders formuliert:

Alles Leiden ist zwar Leiden", aber es kann überwunden und verlernt werden.


Sonntag, 21. September 2014

Glück und Buddhismus – Wie hängt das zusammen?

(Yudo J. Seggelke)

Selbst heute gibt es namhafte Buddhisten, die behaupten Buddha, habe gelehrt: "Alles ist Leiden". Aber das ist nicht richtig: Weder in den buddhistischen Pali-Texten gibt es diese Aussage, noch kann sie historisch-philologisch begründet werden. Sie ist m. E. eine Erfindung späterer Jahrhunderte und spiegelt den Geist übereifriger Mönche wieder. Buddhismus ist eine optimistische Religion, die Lebensfreude, Lernen und Weiterentwicklung in ihren Mittelpunkt stellt.

Übrigens wurde auch die Lehre von der Erbsünde im Christentum abschließend von Augustinus erst um 400 n. C. formuliert. Ein analoger Vorgang?

Was sagt die moderne Gehirnforschung zum Glück?
Im Folgenden möchte ich Freude und Glück synonym verwenden. Dagegen werde ich nicht von Spaß reden, obgleich der semantische Unterschied zu Freude weitgehend verschwunden ist, ebenso wenig von Vergnügen. Beide Begriffe haben sich im Sprachgebrauch zu deutlich aus einem Kontext von Spiritualität entfernt  
Vorweg in aller Klarheit: Glück und Freude zu erlernen ist tatsächlich möglich, das ist heute etwa von Seiten der Gehirnforschung völlig unbestritten. Nachhaltiges Glück erfordert allerdings einen längeren Lernprozess unseres Gehirns, also des neuronalen Netzes, das u. a. Sitz der Gedanken, des Wissens und der Gefühle ist. Unser Gehirn ist bis ins hohe Alter erstaunlich lernfähig. Diese sogenannte Neuro-Plastizität ist am besten mit Freude und positiver Geisteshaltung zu bewahren.

Übrigens kann im Gehirn kein Ich-Kern gefunden werden. Wir sind das ganze neuronale Netz, ein holistisches Ganzes: Es gibt im Gehirn keinen abgegrenzten Bereich, keinen Ich-Kern. Die Übereinstimmung mit Buddhas Lehre ist verblüffend, denn der Schlüssel zur Überwindung des Leidens liegt entsprechend seiner Lehre gerade in der Überwindung der Illusion eines solchen fixierten Ichs.

Der Gehirnforscher Manfred Spitzer sagt:
"Angst macht dumm, und Glück macht schlau"

Eine negative Religion, die Angst und Panik in den Menschen erzeugt, verhindert also wichtige Lernprozesse, insbesondere das Erlernen der Lebensfreude, des Glücks und der Geistes-Klarheit. Glück und Lernen sind unauflöslich miteinander verbunden.

Im Folgenden möchte ich einige Ergebnisse verlässlicher Gehirnforschung (nach Spitzer) zusammenstellen:


Glückszentrum
Gehirnphysiologisch gibt es ein Zentrum für das Glück, das den Stoff  Dopamin ausschüttet. Von einem anderen Zentrum werden dann die Endorphine erzeugt. Diese sind körpereigene Opiumstoffe, die starke Glücksgefühle auslösen. Insbesondere der vordere Cortex, also das Bewusstsein, wird in entsprechenden Situationen mit diesen Glücksstoffen überschwemmt. Dies ist die Grundlage für unsere Erfahrung von Glücksgefühlen und Glücksgedanken.

Das Glückszentrum ist etwa 12 sec. aktiv, also recht kurz. Nach Spitzer ist dieser Zustand im Gehirn besonders eng mit dem Lernen verbunden: In einem Zustand, in dem das Glückszentrum aktiviert ist, lernen wir ganz schnell. Für die menschliche Evolution war es von existentieller Bedeutung, gerade in Glück-Zuständen effizient zu lernen, weil sich dadurch die Überlebenschancen wesentlich verbessert haben. Diese Funktionsweise unseres Gehirns ist noch heute von fundamentaler Wichtigkeit.

Spitzer betont, dass Glück kein isolierter Zustand für sich selbst ist, sondern als Belohnung sinnvoll, um lebenslang immer wieder zu lernen.

Es gibt Glücksgefühle, wenn die Situation besser ist, als erwartet. Eine vorher angenommene gute Situation erzeugt nur neutrales Gefühl, bei negativem Ergebnis wird das als besonders deprimierend empfunden.
Glücksgefühle entstehen also dadurch, dass etwas unerwartet Positives geschieht. Glück ist aber nicht für sich selbst da, sondern ist mit dem Lernen verkoppelt. Wir haben Glücksgefühle, wenn wir lernen und es uns damit im Leben besser geht. Glück ist also nicht ein dauerhafter Zustand, sondern wird jeweils neu ausgelöst durch eine neue Erfahrung, die eine bestehende Erwartung übertrifft. Glück macht also klug und lernfähig.

Angst dagegen ist eine Reaktion auf bestehende oder vermutete Gefahren. Sie war evolutionsgeschichtlich erforderlich, um unmittelbar zu überleben. In einer Situation der Angst erfolgt sofort ohne zeitliche Verzögerung eine der beiden möglichen Reaktionen: Flucht oder Angriff. Dabei ist ein anderes Modul im Gehirn aktiv, der Mandelkern. Er erzeugt negative Gefühle und Angst, unmittelbare Reaktionen noch bevor Bewusstsein und Nachdenken einsetzen können. Er bewirkt ausschließlich schwarz-weiß-Erkennung, ebenfalls schneller als Bewusstsein und Reflexion.
Wir wissen heute, dass Angst verhindert, dass wir gründlich denken und abwägen, was tatsächlich das Beste für uns ist. Das würde zu viel Zeit beanspruchen, weil höhere Ebenen des Gehirns eingeschaltet werden. Angst erzeugt sofortige Reaktionen und verhindert Denken und Kreativität: Angst macht dumm.
Es gibt auch genetisch programmierte Angst, die in früheren Phasen der Evolution durchaus Sinn machte, z. B. Gefahren durch Spinnen, Schlangen und gefährliche Raubtiere. Diese Angstbereiche sind zwar bei uns genetisch fest verankert, aber machen in der Gegenwart unserer entwickelten Industriegesellschaft ohne unmittelbare Feinde keinen Sinn mehr. Es gibt hier keine gefährlichen Spinnen und normalerweise auch keine giftigen Schlangen. Das heißt, diese automatischen Reaktionen der Angst sind noch vorhanden, aber heute dysfunktional.

Wenn irgendetwas mühsam (weil besonders schwierig) unter Angst gelernt worden und so mit Angst zusammen im Gehirn gespeichert ist, entsteht diese Angst immer wieder von neuem, wenn das entsprechende Thema aktuell ist. Wer beispielsweise in der Schule bei Mathematik Angst hatte und die Mathematik so im Zustand der Angst gelernt hat, wird diese Angstgefühle erneut haben, wenn mathematische Fragestellungen auftauchen. Unweigerlich bleibt er wegen dieser Angst weit unter seinen mathematischen Möglichkeiten. Zudem wird seine Kreativität unterdrückt, die bekanntlich bei der Mathematik besonders wichtig ist. Angst hatte evolutionsgeschichtlich eine Funktion, um zu überleben. Heute kommt es darauf an, Angst abzubauen, um besser zu leben und besser zu lernen.

Möglich ist allerdings, mit Drogen sein Glückszentrum künstlich zu stimulieren.In einem Experiment wurde allerdings die besondere Gefährlichkeit nachgewiesen. Unter Drogeneinfluss handelt ein Mensch ähnlich wie eine Maus, die über eine Taste elektrische Impulse in ihr Glückszentrum eingeben. Sie drückte die „Glückstaste“ 2.000 mal in der Stunde und vernachlässigte alles Andere, sogar die Aufnahme von Nahrungsmitteln. Sie hat so lange scheinbares "Glück" für sich erzeugt, bis sie tot war. Das ging schließlich sehr schnell.

Damit ist die Gefährlichkeit von Drogen zur Stimulation des Glückszentrums klar beschrieben. Nach Spitzer haben Drogen nicht die Funktion, wichtige Lernprozesse des Menschen zu ermöglichen, sondern die Glücksstimulation geschieht, ohne die eigentliche Funktion des Lernens in Gang zu setzen. Das führt rasch zur Unfähigkeit, in einer sich verändernden Welt angemessen zu leben und führt mindestens geistig zum Tod.

Weitere Anstriche zur Funktion unseres Gehirns:
Der weit aus größte Teil unserer Gehirnleistung ist nicht bewusst.
Geben ist besser als nehmen und bedingt Glück und Zufriedenheit; zudem ist in Folge eine um ca. 3 bis 6 Jahre erhöhte Lebenserwartung  empirisch nachgewiesen.
Etwa ein Drittel der gesamten Gehirnleistung wird für das Sehen genutzt : Nach Umwandlung der in den Augen ankommenden Impulse wird deren Verarbeitung in diversen Schichten des Gehirns durchgeführt. Die Verknüpfung mit Bedeutung und Moral erfolgt in höheren Regionen unseres Gehirns. Insgesamt sind etwa 40 Module des Gehirns für das Sehen zuständig.
Flow: Zufriedenheit beim Handeln, z. B. Arbeiten.
Risikoangst verhindert notwendiges Handeln; Wettbewerb aktiviert zwar den Menschen, aber verringert rationales Denken und Handeln, macht also auch dümmer.
Die Motorik ist immer mit Denken und Geist verbunden, z. B. gibt es eine enge Interaktion von Worten, Symbolen und Metaphern mit dem Motorik-Teilsystem des Gehirns. Durch die Einschaltung der Motorik kann man wesentlich besser - weil ganzheitlich und holistisch - lernen.
Durch Bewusstsein und Reflexion kann den falsch gebahnten Automatismen des Gehirns gegengesteuert werden.
Religiöse überhöhte Ziele und überhöhter Idealismus machen unglücklich und lernunfähig.
Angst und Aggression sind insgesamt primitive alte Verhaltensweisen aus früheren Entwicklungsstufen der Evolution, sie ermöglichen heute keine komplexen Fähigkeiten auf höherer Ebene.
Digitale Demenz: Mehr als ½ Stunde Fernsehen für Kleinkinder reduziert den Intelligenzquotienten nach dem 7.ten Lebensjahr um ca. 30%.
Besonders wichtig bei der Frage der Zufriedenheit und des Glücks sind Vergleiche. Spitzer erläutert dies an den Menschen der DDR: als die DDR noch Teil des Ostblocks war, ging es ihnen im Verhältnis zu den anderen Ländern, insbesondere auch zur UdSSR, ganz gut, sodass sie nicht unzufrieden waren. Obgleich Viele Zugang zu Informationen aus dem Westen hatten, waren dies keine für diese Menschen relevanten Vergleichsgrößen.

Als dann die DDR Teil der Bundesrepublik wurde, veränderte sich der Bezugsrahmen: der Vergleich mit dem Westen wurde aktuell. Im Vergleich dazu standen die Menschen aus den neuen Bundesländern wirtschaftlich deutlich schlechter da. Entsprechend war die Zufriedenheit gering und die Wiedervereinigung Deutschlands wurde weniger positiv erlebt als zu vermuten war.

Vergleiche und entsprechende Bewertungen sind fast immer psychisch dysfuntional und verhindern Zufriedenheit und Glück

Ganz wesentlich ist die Empathie der Erwachsenen: Das Kind lernt nur dann, wenn der Erwachsene mit Engagement, Begeisterung und Zuwendung für das Kind redet. Spitzer empfahl daher, dass ein begeisterter Philosophie-Professor seinem Säugling durchaus schon von der Philosophie, selbst von. Platon, erzählt. Das ist die beste Voraussetzung dafür, dass das Kind die Sprache lernt. Inhaltlich wird es überhaupt nichts verstehen, aber durch die positive Empathie und Begeisterung des Vaters, die sich auf das Kind übertragen, entsteht ein optimaler Lernprozess.

Umgekehrt sind Lernprozesse ohne Freude und Begeisterung schwierig oder unmöglich. Lernprozesse verlaufen demnach am besten wenn Glücksstoffe beteiligt sind, Spitzer nennt sie daher auch Lernstoffe.

Wie hängt Glück und Geld zusammen?
Wer sehr wenig Geld zum Leben hat, bei dem hängt relativ viel vom Geld ab, damit er überhaupt sinnvoll leben kann. In USA gibt es das folgendes Phänomen: Bis etwa 20.000 $ Einkommen pro Jahr (Spitzer) steigt das Glücksgefühl steil an, ab dieser Höhe bleibt das Glücksgefühl des Lebens weitgehend konstant, selbst wenn das Einkommen steigt oder wesentlich darüber liegt. Mehr Geld erhöht nicht Zufriedenheit und Lebensglück.

Geld ausgeben.
Wer Geld für andere ausgegeben hat, ist grundsätzlich glücklicher als der Durchschnitt der Menschen, auch das ist empirisch belegt. Wer zusätzliches Geld in erheblichem Umfang für andere ausgegeben hatte, ist signifikant glücklicher, als wenn er das Geld selbst verbraucht hat. Ein ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn man Anderen hilft: dann ist man glücklicher und lebt statistisch länger. Menschen sind also noch in höherem Maße soziale Wesen als Tiere, lebendige "gebende" Gemeinschaft wirkt lebensverlängernd.

Von großer Bedeutung für ein gutes Leben ist die Effizienz von Selbst-Steuerung und Selbst-Kontrolle. Dadurch werden primitive und gesellschaftlich überholte "Automatismen" wie Aggression, Wut, Rache usw. entschärft.

Im Buddhismus geht es vor allem um nachhaltiges Glück und nicht nur um Kurz-Zeit-Happiness, so wichtig diese auch für unser Leben ist. Was sind die zentrale Lehren des Buddhismus? Das werde ich im Folgenden erläutern und dabei die Begriffe Glück und Erwachen sowie Erleuchtung weitgehend synonym verwenden.

Kern-Lehren des Buddhismus

Der Achtfache Pfad zum Glück, Aufhebung des Leidens
Nach der Überlieferung wurde der Achtfache Pfad zur Ausschaltung des Leidens und zum Erwachen zur Wirklichkeit von Gautama Buddha nach seinem Erwachen in seiner ersten Lehrrede in Vārānasī dargelegt. Dōgen behandelt den Achtfachen Pfad ausführlich in Kapitel 73 des Shōbōgenzō, „Die 37 Elemente des Erwachens“, das die Verbindung des frühen Buddhismus (Hīnayāna, Theravāda) mit dem Zen-Buddhismus auf der Grundlage des Mahāyāna darstellt.
Der erste Zweig des Pfades ist die rechte Sichtweise. Diese ergibt sich der Entscheidung, den Buddha-Weg zu gehen. Behindert wird sie durch das Nicht-Wissen und die falsche Sichtweise. Die rechte Sichtweise ist in einem umfassenden Sinn zu verstehen und beschränkt sich nicht auf die Wahrnehmung durch die Augen.

Der zweite Zweig sind die rechte Gesinnung und Zielsetzung; sie gehen über die einfache unterscheidende Denktätigkeit hinaus und nähren keine eigennützigen Absichten. Die rechte Gesinnung beinhaltet die umfassende Einheit von Körper-und-Geist, und Dōgen erläutert dazu Folgendes:

„Wenn wir das Denken in der Wirklichkeit erwecken, sind wir jenseits vom Ich und überschreiten die äußere Welt. Zur gleichen Zeit gehen wir direkt nach Vārānasī, indem wir genau im Augenblick der Gegenwart die konkreten Tatsachen denken.“

Er betont hier sowohl den gegenwärtigen Augenblick als auch die konkreten Tatsachen der Wirklichkeit, die einbezogen werden müssen.

Als dritter Zweig des Achtfachen Pfades ist die rechte Rede zu nennen, die über isolierte verbale Äußerungen hinausgeht und den gesamten Körper-und-Geist umfasst. Sie ist für die Lehre des Buddha-Dharma selbstverständlich von großer Bedeutung.

Besonders ausführlich behandelt Dōgen den vierten Zweig, das rechte Handeln. Er nutzt dafür verschiedene Kapitel des Shōbōgenzō und einige Kōan-Geschichten, die sich diesem Thema widmen. Das Nach seiner Lehre ist das Handeln die direkte, unverstellte Wirklichkeit des Soseins. Es findet in der Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick statt und verwirklicht die Welt, das Universum und das eigene Leben. Dies beschreibt er eindrucksvoll in Kapitel 3 des Shōbōgenzō, „Das verwirklichte Leben und Universum“. Großen Wert legt Dōgen auf die Tatsache, dass das Handeln im sozialen Leben selten wirklich rein ist, sondern häufig von Interessen gesteuert und besonders von Gier nach Reichtum und Ruhm angetrieben wird. Ganz schwierig sei es, bei Staatsaufgaben das wahre Handeln des Buddha-Dharma auch politisch zu verwirklichen.

Er warnt in diesem Zusammenhang insbesondere vor den sich anbiedernden falschen Meistern, die den Mächtigen und Reichen in der Politik und im Staat nach dem Munde reden und diesen verkünden, dass ihr politisches Handeln identisch mit dem Tun von Gautama Buddha und den Vorfahren im Dharma sei. Als Gegenbeispiel nennt er Buddhas berühmten Laien-Schüler Vimalakīrti, der gezeigt habe, dass auch ein Laie im sozialen Leben wahres Handeln verwirklichen kann. Vor allem kritisiert Dōgen, dass der Begriff „Leerheit“ von einigen dazu missbraucht wird, um falsches, von eigenen Interessen geleitetes Verhalten zu beschönigen. Das Handeln müsse eindeutig auf den konkreten Augenblick bezogen und zweckfrei sein.

Als fünfter Zweig gehört der rechte Lebenserwerb zum Achtfachen Pfad. Darunter versteht man den moralisch einwandfreien Erwerb für den Lebensunterhalt, dass man also von seiner eigenen Arbeit lebt.

Ohne die richtige Anstrengung und Ausdauer als sechsten Zweig kann man den buddhistischen Weg der Überwindung des Leidens nicht gehen. Dieses Bemühen gestaltet den gesamten Körper-und-Geist und verbindet im Klosterleben den Meister mit seinen Mönchen.

Der siebte Zweig ist die Achtsamkeit in ihrer umfassenden Bedeutung. Dōgen kritisiert, dass einige buddhistische Gruppen behaupten, eine solche Achtsamkeit sei überhaupt nicht erforderlich. Er bezeichnet solche Menschen als Nicht-Buddhisten und zitiert dazu Bodhidharma, der zu seinen vier Schülern sagte:

„Du hast meine Haut, mein Fleisch, meine Knochen und mein Mark erhalten, und dies ist genau die richtige Achtsamkeit des Achtfachen Pfades.“

Als letzter und achter Zweig wird der Samādhi, die Sammlung, besprochen. An anderer Stelle bezeichnet Dōgen die Zazen-Praxis als „König der Samādhis“. Mithilfe der Zazen-Praxis könne man sich von Gedanken und Vorstellungen befreien – auch von der einseitigen Abhängigkeit von den großen Meistern und buddhistischen Vorfahren im Dharma.

Der Samādhi ist die „Lebendigkeit der Nüstern“. Die Nüstern galten im alten China als Symbol für das wirkliche Leben, weil man durch die Nase die Luft ein- und ausatmet. Die Zazen-Praxis öffnet dabei sozusagen das begrenzte „Denken unseres Schädels“. In den allgemeinen Richtlinien Dōgens zum Zazen (Fukan zazengi) heißt es, dass wir aus dem „Nicht-Denken denken sollen“ und damit das übliche, dualistische und bewertende Denken überschreiten.

Die Fünf Hemmnisse der Achtsamkeit und des Erwachens zum Glück
In der großen Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit beschreibt Buddha auch die Fünf Hemmnisse des Erwachens (Übersetzung nach Peter Gäng):

1. auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen,
2. Übelwollen,
3. Erstarren und Trägsein,
4. Aufgeregtheit und Unruhe,
5. Zweifelsucht.
Diese Hindernisse und Blockaden, die sich uns auf dem Weg zum Erwachen entgegenstellen, umfassen in der Tat das ganze Spektrum menschlichen Handelns und Denkens und werden auch von Dōgen in vielen Kapiteln behandelt. Im Abschnitt über die geistigen Gegebenheiten sagt Buddha über die Fünf Hemmnisse:

„Da weilt, ihr Mönche, ein Mönch bei den geistigen Gegebenheiten in Betrachtung der geistigen Gegebenheiten, und zwar bei den fünf Hemmnissen.“

Peter Gäng hat bei seiner Übersetzung die Wiederholungen Buddhas akkurat beibehalten, obwohl der Satz für uns deshalb etwas umständlich klingt. Wir müssen aber bedenken, dass es sich um einen mündlichen Vortrag handelte und Gautama Buddha ungewöhnlich hohe pädagogische Fähigkeiten besaß, die nicht einfach zu verstehenden Inhalte rhetorisch so aufzubauen, dass sie wirklich zu tiefgreifenden Veränderungen des Lebens bei den Zuhörern führten. Dazu sind Wiederholungen unumgänglich.

Die 37 Elemente des Erwachens zum Glück
Für Dōgen gab es nur einen einzigen Buddhismus, er lehnte die Aufteilung in Mahāyāna und frühen Buddhismus, also Hīnayāna oder Theravāda, oder in sonstige Schulen und Sekten grundsätzlich ab. Da sich alle authentischen Übertragungslinien und Lehren des Buddha-Dharma nur auf Gautama Buddha selbst und seine Lehre zurückführen ließen, sei eine derartige abgrenzende Aufsplitterung überhaupt nicht gerechtfertigt. Gleichwohl hat der Buddhismus mit seiner lebendigen Verbindung zur Wirklichkeit und Wahrheit in den verschiedenen Zeitaltern und Kulturen bestimmte Färbungen angenommen und Schwerpunkte gebildet.

Aber es handelt sich immer um die einheitliche Lehre des Erwachens, der Wirklichkeit und der Überwindung des Leidens. Besonders unsinnig sind deshalb gegenseitige Vorwürfe der einzelnen buddhistischen Traditionen, da sie nicht nur dem Sinn des Buddhismus als einer toleranten, übergreifenden und verständnisvollen Lebensphilosophie und Lebenspraxis widersprechen, sondern auch im Kern falsch sind. Sicher gibt es verschiedene Wege zum Erwachen und zur Wirklichkeit, aber sie können nur auf Gautama Buddha selbst zurückgeführt werden.

Mit dem Erwachen beschäftigt sich ein  Kapitel des Shōbōgenzō mit dem Originaltitel: „Die Flügel zum Erwachen, die uns in die Luft tragen“. Hier verbindet Dōgen die älteren Lehren des Buddhismus, die zum Beispiel im Abhidharma (...) zusammengefasst sind, mit der von ihm selbst im Shōbōgenzō dargestellten umfassenden Lehre, die er die „Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ nennt. In diesem Kapitel gibt es für den Text des frühen Buddhismus etwa 50 Verweise auf einzelne Kapitel des Shōbōgenzō und 16 Verweise auf Dōgens Kōan-Sammlung, das Shinji Shōbōgenzō. Er entwickelt auf diese Weise ein enges Netzwerk zwischen den beiden Lehr-Traditionen des frühen Buddhismus und des Mahāyāna-Buddhismus..

Die 37 Elemente des Erwachens, lassen sich wiederum in sieben größere Gruppen gliedern, die jeweils vier bis acht einzelne Elemente umfassen und zur Basislehre des früheren Buddhismus gehören. Alle diese Elemente führt Dōgen auf und kommentiert sie. Damit schafft er ein beeindruckendes übergreifendes Dach für die Hauptströmungen des frühen Buddhismus, des Mahāyāna-Buddhismus und des Zen. Gleichzeitig zeugt diese Leistung von seiner umfassenden und tiefgreifenden Kenntnis der gesamten buddhistischen Lehre.

Zweifellos hat aber jede Lehre, jedes Bild oder Gleichnis und jede verbale Äußerung bestimmte Grenzen, die letztlich überschritten werden müssen, wenn man zur buddhistischen Wirklichkeit selbst, also zum Erwachen, gelangen will. Wer nur in intellektuellen und abstrakten Theorien verharrt, bleibt nach Dōgens Überzeugung in der „schwarzen Höhle des unterscheidenden Denkens“ gefangen. Er beginnt dieses Kapitel mit den folgenden Ausführungen:

„Die Wirklichkeit der ewigen Buddhas ist (immer) gegenwärtig. Sie ist insbesondere die Lehre, die Praxis und die Erfahrung der 37 Elemente des Bodhi-Erwachens. Die enge Verflechtung des Aufsteigens und Absteigens durch die Anordnung (dieser 37 Elemente) ist genau der verflochtene Zustand der Wirklichkeit, die wir die Buddhas und Vorfahren im Dharma nennen.“

Dōgen weist hier auf die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddha-Dharma hin, die zum Beispiel auch im Kapitel „Das verwirklichte Leben und Universum“ beschrieben werden, und stellt die Verbindung mit den 37 Elementen des Bodhi-Erwachens her. Die Lehre, die Praxis und die Erfahrung bilden eine unauflösbare Einheit und sind im Kern genau dasselbe wie die 37 Elemente, die als nützliche oder notwendige Hilfen für das Erwachen zu verstehen sind. Das genannte Geflecht der 37 Elemente sei die direkte Einheit mit der Wirklichkeit, in der auch Gautama Buddha, die großen Meister und Vorfahren im Dharma existieren.
Als Erstes erläutert Dōgen die vier Grundlagen der Achtsamkeit.


Die vier Arten der rechten Anstrengung
„Die Erste bedeutet, das Schlechte zu verhindern, das sich noch nicht ereignet hat.
Die Zweite bedeutet, zu bewirken, dass das Schlechte ausgelöscht wird, das bereits entstanden ist.
Die Dritte bedeutet, zu bewirken, dass sich das Gute ereignet, das sich noch nicht ereignet hat.
Die Vierte ist die Unterstützung des Guten, das sich bereits ereignet hat.“

Die vier Grundlagen der mystischen Fähigkeiten und Kräfte
„Das Erste ist das Wollen als Basis der mystischen Fähigkeit.
Das Zweite ist der Geist als Basis der mystischen Fähigkeit.
Das Dritte ist die Willenskraft als Basis der mystischen Fähigkeit.
Das Vierte ist das Denken als Basis der mystischen Fähigkeit.“

Der Geist umfasst die ganze Wirklichkeit als mystische Fähigkeit, und dazu zählt Dōgen „Zäune, Mauern, Ziegel und Kiesel“. Der Geist beinhaltet auch die „Berge, die Flüsse und die Erde“. Eine dualistische Abgrenzung von Geist und Objekten der materiellen Wirklichkeit macht es nach Dōgen unmöglich, den wirklichen Geist als mystische Fähigkeit zu erfassen.

Die Willenskraft, um auf dem Weg vorwärts zu gehen, ergibt sich dadurch, dass sich in der Welt und in unserem Leben alles bewegt und vorwärts schreitet. Dōgen zitiert an dieser Stelle den berühmten Ausspruch von Daikan Enō: „Dies ist der Ort, wo etwas Unfassbares existiert.“ Tatsächlich muss man keine übernatürlichen Legenden bemühen, um die mystischen Kräfte des wahren Lebens und der Wirklichkeit zu erahnen. Jedes Handeln im Augenblick und jedes Vorwärtsschreiten im Leben kann vom Verstand niemals vollständig erfasst oder gar mit Worten beschrieben werden. Bereits solches Handeln ist selbst die mystische Grundlage der Wirklichkeit.
Auch das Denken als Basis der mystischen Fähigkeiten wird bei Dōgen über die bewusste Gehirntätigkeit hinaus erweitert. Für ihn ist die umfassende gegenwärtige Intuition maßgeblich, da sie die gesamte Umgebung einbezieht und viel leistungsfähiger als das unterscheidende, lineare Denken ist.

Die fünf grundlegenden Kräfte (Wurzelkräfte)
Als Wurzelkräfte werden im frühen Buddhismus die wesentlichen Grundlagen bezeichnet, auf denen buddhistisches Handeln beruhen.

„Das Erste ist das Vertrauen
Das Zweite sind Fleiß und Sorgfalt
Das Dritte ist Achtsamkeit
Das Vierte ist Samādhi oder Gleichgewicht
Das Fünfte sind Wissen und Erkenntniskraft.“

Die fünf verwirklichten Kräfte
Die fünf Kräfte, die tatsächlich verwirklicht und nicht nur grundlegende Fähigkeiten sind, lassen sich in gleicher Weise wie die oben genannten Wurzelkräfte unterteilen:
„Vertrauen und Glaube als Kraft,
Fleiß und Sorgfalt,
Achtsamkeit,
Samādhi (Sammlung, Gleichgewicht),
Wissen und Erkenntniskraft.“
Vertrauen und Glaube als Kraft haben die Täuschungen und Illusionen überwunden. Dōgen sagt: „Die Übertragung des Dharma und die Übertragung der Robe werden ‚Vertrauen’ genannt.“

Bei Fleiß und Sorgfalt verdeutlicht er den Unterschied zwischen einer verbalen Erklärung und der Wirklichkeit selbst.
Bei der Beschreibung der Achtsamkeit, des Samādhi sowie des Wissens und der Erkenntniskraft als geistige Kräfte geht Dōgen ebenfalls auf die Bedeutung der Wirklichkeit ein und grenzt sie von den Theorien, Spekulationen und Fantasien ab.

Die sieben Glieder des Großen Erwachens
Dōgen behandelt hier die aus dem frühen Buddhismus bekannten sogenannten sieben Glieder des Sambodhi-Erwachens, also des Zustandes des Gleichgewichts und der Wahrheit:

„Das Erste ist das klare Unterscheiden bei den Lehren.
Das Zweite sind Fleiß und Sorgfalt.
Das Dritte ist die Freude.
Das Vierte sind die Klärung und Ruhe (wörtlich: „Gestillt-Sein“; wir sind dann nicht mit uns selbst oder mit der Außenwelt auf komplizierte Weise verstrickt).
Das Fünfte ist die Gleichmut.
Das Sechste ist der Samādhi (der sich nicht zuletzt durch Gleichgewicht und Intuition auszeichnet).
Das Siebte ist die Achtsamkeit (die Dōgen auch als „Brüllen des Löwen in seiner Höhle“ bezeichnet und die die umfassende Lehre Gautama Buddhas ist).

Schließlich erläutert Dōgen ausführlich die einzelnen Elemente des Achtfachen Pfades, der dazu beiträgt, das Leiden auszuschalten und das Erwachen zur Wirklichkeit zu erlangen. Zum Schluss unterstreicht Dōgen, dass die 37 Elemente des Erwachens nicht einzeln oder als Rangfolge zu verstehen sind, sondern in Kombination und Verflechtung miteinander: in vernetzter Wechselwirkung (pratitya samutpada).

Im tibetischen Buddhismus geht es nach Matthieu Ricard vor allem um die Schulung, Transformation und Kultivierung des Geistes, also der Gedanken und Emotionen. Die negativen Geistes-Gifte wie Hass, Zorn, Neid, Gier, Eifersucht Rache, Schadenfreude usw. sollen durch Geistestraining schon im Entstehen erkannt werden und durch geistige Gegenmaßnahmen wie liebevolle Zuwendung, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut (Himmlische Verweilungen) unschädlich gemacht werden. Das erfolgt durch die Hinwendung nach innen in der Meditation und die Abwendung vom Äußeren.


Das Ziel ist die liebevolle Zuwendung zu allen Lebewesen und das reine Gewahrsein, das Gleichgewicht, in jeder Lebenssituation des Lebens, ganz ohne die Geistes-Gifte. Dabei ist es von essentieller Bedeutung, die Illusion eines selbständigen und dauerhaften Selbst zu erkennen und zu überwinden Diese Illusion ist die Ursache für sehr viel Leiden und Negativität in unserem Leben.

Dienstag, 9. September 2014

Alles fließt: Gautama Buddha und der griechische Philosoph Heraklit


(Yudo J. Seggelke)

Wenn wir uns auf den Weg nach Indien zur Wirkungsstätte Gautama Buddhas am Ganges machen, könnten wir von Berlin aus nach etwa einem Drittel der Wegstrecke in Ephesus in der heutigen Türkei Halt machen, wo der griechische Philosoph Heraklit etwas mehr als 500 vor der Zeitenwende lebte und wirkte. Er ist also ein Zeitgenosse Gautama Buddhas und im Übrigen auch vom  chinesischen Weisen Laotse. Wir treffen in dieser Zeit auf drei Genies in drei verschiedenen Kulturbereichen, dem antiken Griechenland, Indien und China.

Heraklit und Buddha sprachen und dachten in einer sehr ähnlichen Sprache, nämlich der indo-europäischen Sprachfamilie, die damals den gesamten Kulturkreis von England bis nach Indien umfasste. Die Indo-Europäer stammen nach heutiger Forschung aus dem südlichen Russland, nördlich des Kaukasus, in der Nähe des Schwarzen Meeres. Sie wanderten etwa in der Zeit von 1800 bis 1200 vor der Zeitenwende in die verschiedenen Himmelsrichtungen aus. Der gleiche Ursprung der sich daraus entwickelnden Sprachen und deren Grammatik ist noch heute für Sprachwissenschaftler eindeutig erkennbar und nicht zu bezweifeln.

Ich vermute, dass Gautama Buddha sich noch mit Heraklit hätte verständigen können: Der Unterschied der Mundart könnte etwa so ähnlich gewesen sein, als wenn ein Bayer sich mit einem Holländer oder einem Norddeutschen auf Plattdeutsch unterhält. Vokabeln, Grammatik, Sprachaufbau waren sehr ähnlich. Wir haben es also mit dem großen Bereich indo-europäischer Kultur und deren Sprachwurzeln zu tun: der alten indischen Sprache Sanskrit und der etwas später gesprochenen Sprache Pali. Buddha ist also keineswegs für uns ein ganz fremder exotischer Denker gewesen, wie vielleicht manche vermuten: Er benutzte die leistungsfähige und komplexe indo-europäische Sprache des Sanskrit und beherrschte sie sicher in hohem Maße. Aber er überschritt m. E. dessen manchmal rigiden Grenzen des Denkens, der Sprache und der Weltanschauung, auch durch die Vereinigung mit den bereits hoch entwickelten Kulturen Indiens vor der Ankunft der Indo-Europäer. Diese waren nach unserer Kenntnis ausgesprochen pazifistische Kulturen und hatten u. a. das Yoga als leistungsfähige Meditation entwickelt: den Zugang zum spirituellen und psychischen Gleichgewicht, zur Lebensfreude und zur Stärkung des Immunsystems (!)  durch körperliche Übungen.

Heraklit ist ein eigenständiger und, wie viele sagen, nicht leicht zu verstehender Philosoph der Zeit der Vor-Sokratiker, also vor Sokrates, Platon und Aristoteles. Er blieb in der griechisch-europäischen Philosophie ein besonderer Denker und gründete keine Schule, die zum Beispiel eine direkte Verbindung zum Idealismus Platons und zur Pragmatik und Naturwissenschaft von Aristoteles führte. Heraklit galt sogar als "dunkler" und trauriger Philososph, der manchmal sogar weinend dargestellt wurde. Allerdings haben sich hervorragende westliche Philosophen in neuerer Zeit intensiv mit Heraklit beschäftigt, vor allem Nietzsche und Hegel, aber auch Heidegger hat eine tiefgründige Schrift über ihn verfasst. Das ist wirklich spannend. Warum ist Heraklit heute so aktuell?

Was ist nun das Besondere an diesem alten griechischen Philosophen? Berühmt ist ein Ausspruch, der ihm zugeschrieben wird: „Alles fließt“. Daraus wird deutlich, dass es ihm um die Veränderungen und Entwicklungen der Menschen und der Natur ging und ihn die Suche nach der Wahrheit in dieser Welt im Einklang mit präzisen Beobachtungen antrieb. Was später die Frage nach dem ewigen unveränderlichen Sein in der klassischen Philosophie wurde, war ihm eher fremd.

Heraklits Schriften sind nur in Fragmenten überliefert und bilden daher keine zusammenhängende Lehre. Er kritisierte die selbst erfundenen Weltanschauungen von Menschen, die sich naiv oder borniert als Super-Zentrum dieser Welt sehen und sich insofern für etwas ganz Besonderes halten, sie wollen nicht das Ganze sehen. Er sagt, alle Zitate nach Hans-Georg Gadamer:

„Drum tut es Not, dem gemeinsamen Geiste zu folgen. Obwohl der Sinn der Rede der des gemeinsamen Geistes ist, leben die Vielen doch, als hätte jeder seine eigene Vernunft“.

Daraus wird deutlich, dass Heraklit einen oberflächlichen Individualismus ablehnt und das Gemeinsame der Menschen aber auch des ganzen Kosmos als wesentlich ansieht. Wir wissen heute, dass ein derartiger geistiger Egoismus und eine Ich-zentrierte Weltanschauung zwangsläufig in Schwierigkeiten führen muss, das Leiden erzeugt und es geradezu anzieht. Aber wir sollten nicht dem Irrtum verfallen, voreilig an ein System von absoluten ewigen Ideen zu glauben, denen Idealisten häufig anhängen, sich damit nur allzu schnell von der Wirklichkeit entfernen und aus der konkreten Welt des Hier und Jetzt verabschieden. Genau diesem Fehler sind Buddha und die großen Zen-Meister nicht erlegen.

Ich betrachte Heraklit als wesentliches Bindeglied der griechischen Philosophie zu Gautama Buddha und möchte dazu zwei weitere Zitate anführen. Zum Fließen sagt Heraklit wörtlich:
„Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Er teilt sich und geht wieder zusammen. Es kommt heran und es geht wieder weg."
Und weiter:
„Wenn wir in denselben Strom steigen, so ist es doch immer Anderes und anderes Wasser, das da heran fließt".

In einem anderen wichtigen Zitat übersetzt Gadamer:

„In den gleichen Strom steigen wir hinein und steigen wir nicht hinein. Wir sind und wir sind nicht“.

Das hat in der Tat große Ähnlichkeiten mit einem Kôan-Ausspruch des Zen-Buddhismus in China und Japan und fordert unsere Interpretation heraus. Wie deuten Sie diese Sätze?

Zentrale Aussage Heraklits ist, dass sich der Fluss laufend verändert, aber dass wir uns auch selbst laufend verändern. Wo bleibt da das unveränderliche Selbst des Westens oder der dauerhafte Ich-Kern des Atman im alten Indien der vor-buddhistischen Zeit, den Buddha so eindeutig ablehnte?

In manchen Interpretationen wird ein festes dauerhaftes Ufer des Flusses als Gegensatz zum fließenden Wasser herausgestellt. Dies halte ich nicht für richtig. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass Heraklit nicht weit von dem Fluss des Mäander lebte, der nur wenige Kilometer von seiner Heimatstadt Ephesus entfernt lag. Dieser Fluss gab dem Mäander-Zeichen und Symbol die charakteristische Form, die von den Griechen häufig als Randverzierung verwendet wurde.

In seinem breiten fruchtbaren Tal fließt der Mäander in großen Schleifen von Ost nach West der Ägäis zu. Dabei verändert er dauernd sein Bachbett, denn gerade dadurch entstehen die ausladenden Flussschleifen, die sich manchmal auch wieder schließen, weil sie an der engsten Stelle durchbrechen und dadurch eine direkte Verbindung für den Fluss schaffen. Der Mäander ist also sicher unbestritten das Symbol für einen Flusslauf, der sich laufend verändert und laufend an seinen Böschungen und seinem Flussbett arbeitet.

Es erscheint mir ausgeschlossen, dass Heraklit dies nicht in seine Überlegungen einbezog, das heißt, dass sowohl der Fluss wandert als auch das Wasser sich laufend in Bewegung befindet und in dem sich verändernden Flussbett nach Westen fließt. Wir haben es also hier mit mindesten zwei Veränderungen zu tun, die nur zeitlich unterschiedliche Werte haben.

Als Zwanzigjähriger bin ich Anfang der 60iger Jahre in einem alten VW-Käfer von Ephesus in das Mäander Tal gefahren. Es war Frühling, alles war saftig und grün und in dem weiten Mäander Tal, das von Hügeln begrenzt ist, schimmerte das gewundene Band dieses wunderbaren Flusses. Eine ganz besondere Landschaft, die sich mir tief eingeprägt hat und die ich noch nach vielen Jahrzehnten als genaues Bild vor dem geistigen Auge habe. Dies ist die Umgebung, in der Heraklit seine tiefgehenden philosophischen Untersuchungen anstellte.

Aber auch der Mensch wandelt sich und verändert sich laufend, wie Heraklit sagt. Wenn jemand in einen Fluss steigt und wieder herauskommt, ist er schon ein anderer. Er ist zwar sich selbst ähnlich aber er ist niemals genau der selbe von vorher. Eine Interpretation, die in den Mittelpunkt stellt, dass gerade die Individualität des Menschen in dem sich verändernden Fluss identisch und unveränderlich sei, ist daher meines Erachtens unsinnig. Dies wird allerdings von westlichen Denkern manchmal etwas naiv behauptet: Der Mensch als Konstante und das Wasser als die veränderliche Umgebung.

Heraklit ist dagegen ein genauer Beobachter: er spricht davon, dass der Fluss sich auch besonders dort ändert und teilt, wo der Mensch sich aufhält, wenn er in den Fluss steigt, und dass der Fluss sich wieder zusammenbewegt, wenn der Mensch heraus gestiegen ist, also den Raum wieder ausfüllt, in dem vorher der Mensch war.

Auch diese Beschreibung zeigt, dass sich Heraklit hauptsächlich mit den Veränderungen beim Menschen und in der Natur beschäftigt. Nicht zuletzt geht es ihm um die menschliche Gesellschaft und um deren laufenden Veränderungen; wie auch Buddha lehrt: wer diese Veränderungen leugnet und verdrängt, sich ihnen also nicht stellt, wird kein gutes Leben haben. Sicher haben viele Sehnsucht nach etwas Dauerhaftem und Ewigem, so wie es philosophisch mit dem Begriff des Seins gekennzeichnet wird.

Aber ein genauer Beobachter stellt fest, dass sich die Welt laufend verändert, dass die Natur in stetem Wandel ist und dass auch wir Menschen niemals dieselben sind, wenn sich die Zeit bewegt, wir also von einem Augenblick in den nächsten gelangen. Bei Dôgen stehen daher die Wirklichkeit und Wahrheit des Augenblicks im Mittelpunkt seiner Philosophie, das Jetzt in der Veränderung. Die lineare Zeit können wir nicht aufhalten, ganz gleich welche gewaltigen psychischen Energien wir aufbringen. Diese Energien verpuffen ohne brauchbare Wirkungen für unser Leben.

Typisch für den Philosophen Heraklit ist m. E. weiterhin, dass er Gegensätze und Unterschiede akzeptiert und nicht als unvereinbar betrachtet, sondern gerade deren Beziehung zueinander bedenkt: Das Ganze braucht die Einzelheiten und die Einzelheiten brauchen das Ganze. Auf der Sprachebene gibt es in solchen Fällen viele Begriffspaare, wie hell und dunkel, hoch und tief, hart und weich, usw., sie beziehen sich aufeinander und bilden insofern auf einer höheren Ebene eine Einheit.

Spannend ist dabei im Übrigen, dass die neue Gehirnforschung festgestellt hat, dass derartige Begriffspaare nahe beieinander im Gehirn gespeichert sind, und daher in enger Wechselwirkung bewusst und nicht bewusst erlebt werden. Wenn man den einen Begriff im Bewusstsein hat, taucht im allgemeinen sehr schnell der andere auf. Es handelt sich also um gut vernetzte assoziative Verbindungen im neuronalen Netz, die in enger Wechselwirkung miteinander gespeichert, erinnert und erfahren werden, die also keineswegs logisch völlig unabhängig von einander gespeichert sind.

Ganz im Gegenteil: Wenn der eine Begriff oder der eine Gedanke auftaucht, ist der andere meistens schnell zur Stelle und schwingt als dazugehörig mit. Der Gehirnforscher Manfred Spitzer empfiehlt daher, sich derartiger Gedächtnisstützen zu bedienen, wenn uns ein Begriff mit aller Gewalt nicht einfallen will. Das Gehirn speichert also überwiegend assoziativ und nicht formal logisch nach ja und nein im Sinne des Exklusiven Oder: Denken Sie jetzt sofort an keinen rosa Elefanten! Das ist kaum zu schaffen, schon ist der rosa Elefant in unserem Geist.

Derartige Gegensätze, die in der Logik als unvereinbar definiert sind, haben also geistig und psychologisch eine ganz enge Beziehung und verweisen aufeinander. Das kann man vereinfacht als die Einheit von Unterscheidungen bezeichnen, die zum Beispiel auch in der neuen Philosophie wieder aufgegriffen wurde und intensiv bearbeitet wird (z. B. George Spencer-Brown). Es wäre also völlig falsch, Heraklit als irrational und dunklen Mystiker zu bezeichnen, der sich in unverstehbaren Paradoxien ergeht, die der menschlichen Vernunft nicht zugänglich sind. Er sagt selbst ganz im Gegenteil:

„Vernünftig Denken ist die höchste aller Tugenden, und Weisheit ist es, das Wahre zu sagen und im Handeln auf die Natur der Sache zu hören"

Daraus wird deutlich, dass er mit dem Begriff Logos etwas viel Umfassenderes versteht, als was wir in der heutigen Zeit meistens mit Logik bezeichnen. Wir sind es gewohnt als selbstverständlich anzunehmen, dass eine Aussage entweder richtig oder falsch ist und dass eine Situation eindeutig hell oder dunkel ist. Das ist aber sehr abstrakt und nicht die Realität. Etwas sich Wandelndes und Vermischtes wird dabei meistens ausgeschlossen und die Welt auf Ja-Nein-Aussagen reduziert. Dies mag für dogmatisches und auch bestimmtes naturwissenschaftliches und technisches Denken nützlich sein, ist aber für psychologische und spirituelle Bereiche wenig leistungsfähig.

Heraklit hat m. E. ein Verständnis der Vernunft und des Logos, das die wahre Wirklichkeit der Natur, des Menschen und des Kosmos mit guter Komplexität erfasst. Er bewertet die Theorie und Philosophie nicht höher als die Wirklichkeit dieser Welt; er sagt aber auch, dass die Vernunft, die er als Logos bezeichnet, in der Welt und im Kosmos wirksam ist.


Für mich sind damit große Ähnlichkeiten zur Erfahrung und Lehre Buddhas erkennbar: Das Leben und die Welt als Zusammen-Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada. Auf dieser Grundlage der Weisheit und des Handelns kann m. E. eine tragfähige realistische Lehre des menschlichen Glücks und der Überwindung des vermeidbaren Leidens entwickelt werden: Die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad. Und es kann zum Flow ohne Blockaden kommen, ein Ansatz, der in der heutigen Psychologie erhebliche Bedeutung erlangt hat. Auch dabei ist Heraklit von ganz neuer Aktualität.