Montag, 17. November 2014

Was trennt sie wirklich: die Zen-Linien Sôtô und Rinzai?

(Yudo J. Seggelke)

Sicher hätten sich die großen Meister Rinzai (in Chinesisch Lin-chi) und Dôgen gewundert, dass spätere Generationen viele Jahrhunderte lang die trennenden Unterschiede beider Zen-Linien z. T. dogmatisch vertreten würden, anstatt sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren und sich zu ergänzen. Schließlich geht der Zen-Buddhismus gemeinsam auf Gautama Buddha, Nâgârjuna, Bodhidharma und Hui neng (Daikan Enô) zurück. Bestenfalls könnte man eigentlich zugestehen, dass es verschiedene Wege gibt, wie sich der wahre Buddhismus in China, Japan, Korea und heute im Westen entwickelt hat und für welche Menschen welche Linie auf dem Buddha-Weg am besten geeignet ist. Warum also die immer wieder zu beobachtende Abgrenzung? Gerade Dôgen lehnte die Trennung verschiedener buddhistischer Schulen radikal ab (vgl. Kap. 49 des Shôbôgenzô).

Um in dieser zentralen Frage weiterzukommen, müssen wir die Grundlagen heranziehen. Was sind also die wesentlichen Basistexte des Zen-Buddhismus? Zweifellos sind die folgenden chinesischen Kôan-Sammlungen einschließlich ihrer Kommentare und Interpretationen zu nennen:
Mumonkan, Die torlose Schranke,
Bi-Yan-Lu, Aufzeichnungen vor smaragdener Felswand und
Cong-Rong-Lu, Aufzeichnungen aus der Klause der Gelassenheit
Sie umfassen jeweils bis zu einhundert Kôans.

Erst kürzlich wurde dabei die wichtige Kôan-Sammlung Cong-Rong-Lu kompetent ins Deutsche übersetzt und kommentiert. Diese drei Texte werden im allgemeinen wesentlich der Rinzai-Linie zugeordnet. Sie wurden im 12.ten und 13.ten Jahrhundert zusammengestellt und beziehen sich auf die Lehre der sogenannten Alten des wahren Buddhismus der Tang-Zeit, an die in China später in der Song-Zeit wieder angeknüpft wurde, nachdem es Verfolgungen des Buddhismus gegeben hatte. Besonders bedauerlich ist es zudem, dass die Aufzeichnungen vor smaragdener Felswand, Bi-Yan-Lu, von 1128 schon bald nach dem Druck radikal verfolgt und vernichtet wurden, sodass auch der hölzerne Druckstock verloren ging.

Über die Motive der Verbrennungen dieser äußerst wertvollen Basistextes kann heute nur spekuliert werden. Vermutlich wollte ein namhafter Meister verhindern, dass die Schüler die Kôan-Interpretationen auswendig lernten, anstatt sie selbst existentiell durch eigene Erfahrungen und eigene Praxis zu klären und für sich zu erarbeiten. Denn nur mit einer solchen eigenen Arbeit haben sie wirkliche Kraft und sind wertvolle Hilfen für den eigenen Weg zur Befreiung.

Etwa 200 Jahre später wurde aus einer geretteten Version die neue Publikation des Bi-Yan-Lu in China erarbeitet und fand in der folgenden Zeit weite Verbreitung in vielen Zen-Klöstern in China. Auf diese Version gehen in China und Japan spätere Kopien und Kommentare zurück; sie sind seitdem die maßgebliche Textquelle für die Rinzai-Linie und den sog. Kôan-Zen.

Neue Quellen-Forschungen haben nach D. Roloff das erstaunliche fast sensationelle Ergebnis ergeben, dass Meister Dôgen im 13. Jahrhundert die Abschrift von einem geretteten und noch verfügbaren Exemplar des Bi-Yan-Lu auf seiner China Reise (1223 - 1227) aufspürte, kopierte und mit nach Japan brachte. Sie gilt gemäß heutiger philologischer Forschung sogar als authentischer als die in China später verwendete Fassung. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil sie älter und damit näher am Urtext ist. Dôgen nahm diese Kôan-Sammlung also mit nach Japan; sie wurde im Zentraltempel der Sôtô-Linie, Eiheiji, aufbewahrt, erst in neuerer Zeit wieder entdeckt und in die buddhistische Forschung eingebracht. Die Bezeichnung dieser Fassung: „Kopie einer Nacht“ deutet darauf hin, dass Dôgen dieses umfassende Werk in großer Eile vor seiner Abreise nach Japan abgeschrieben hat, wobei es wohl utopisch ist, dass dies in einer Nacht durchführbar war. Dôgen muss also den hohen Wert dieser geretteten Version des Bi-Yan-Lu erkannt haben, denn er hat damals sicher gründlich nach verlässlichen Quellen in China recherchiert.

Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?
Aus meiner Sicht ergibt sich dadurch eindeutig, dass Dôgen die Texte des Bi-Yan-Lu als wesentliche Grundlage für seine eigene Arbeit verwendet hat, und dass diese Fassung also Grundlage seines großen Werkes Shôbôgenzô, die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges gewesen ist. Das Shôbôgenzô ist aber wie bekannt die wesentliche Grundlage der Sôtô-Linie in Japan, die inzwischen auch im Westen weite Verbreitung gefunden hat. Es ist also unsinnig zu sagen, dass Dôgen die chinesischen Kôans nicht kannte und nicht benutzte, das Gegenteil ist richtig.

Wir wissen im Übrigen aus seiner persönlichen Lebensgeschichte, dass er mehrere Jahre mit Kôans unter dem ersten Zen-Meister in Japan, Eisai, gearbeitet hat und sie deshalb nicht nur als Text kannte, sondern mit ihnen intensiv gearbeitet und gerungen hat. So verwundert es auch nicht, dass er selbst eine Zusammenstellung von 301 Kôans herausgegeben hat, die heute die Bezeichnung Shinji Shôbôgenzô (oder Samyakuzoku), tragen. Nishijima Roshi hat sie im Übrigen sehr prägnant übersetzt und interpretiert; sie liegen in englischer und deutscher Sprache (mit Doko Waskönig) vor.

Das Shôbôgenzô enthält in den 95 Kapiteln insgesamt 74 Kôans; es gibt eine beachtlich und unübersehbare Überschneidung mit den Kôans der oben genannten Basistexte. Zum Beispiel behandelt und analysiert Dôgen das Kôan des wilden Fuchses von Meister Hyakujô, das im Mumonkan als Zweites direkt nach dem Kôan Mu und im Cong-Rong-Lu als achtes aufgeführt ist. Er untersucht es detailliert in zwei ganz wichtigen Kapiteln: Kap. 76, "Die große Praxis" und Kap. 89 "Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung"; es ist auch in Shinji Shôbôgenzô enthalten.

Nishijima Roshi hält das Kapitel "Die große Praxis" mit diesem Kôan für zentral im gesamten Shôbôgenzô, da es eine fulminante Verbindung mit allen wichtigen Kapiteln des Shôbôgenzô herstellt. Zum Beispiel mit den Themen: Streben nach der Wahrheit, Zazen-Meditation, die wesentlichen Dimensionen der Wirklichkeit, Geist ist Buddha hier und jetzt, Sein-Zeit des Augenblicks, buddhistische Ethik, Handeln in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt, Erwachen und Erleuchtung und nicht zuletzt Buddha-Natur, die für Dôgen persönlich von existentieller Wichtigkeit war.

Er behandelt in diesem Kapitel nicht zuletzt das wichtige buddhistische Gesetz von Ursache und Wirkung, ohne allerdings explizit auf die Wiedergeburt einzugehen. Aber es gibt Verbindungen zu den Kapiteln: „Tiefer Glaube an das Gesetz von Ursache undWirkung“ und „Karma in den drei Zeiten“ in denen er nachweist, dass die von den Ursachen ausgehenden Wirkungen auch sehr viel später präzise auftreten können. Ich folge dabei dem Sinologen Dietrich Roloff, der betont, dass die Frage der Wiedergeburt im Zen keine primäre Bedeutung hat, anders als in einigen Übertragungslinien des indischen und tibetischen Buddhismus, vor allem aber in der Religion der Upanishaden und im Brahmamismus, also vor dem Wirken Gautama Buddhas. Eine solche Einschätzung ist einleuchtend, da im Zen-Buddhismus die Wirklichkeit des konkreten Hier und Jetzt also die Bedeutung der existentiellen Zeit des Augenblicks im Mittelpunkt steht und nicht eine oft spekulative Zukunft. Schon Buddha hatte gewarnt, sich mit den Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten der Fragen "Was war ich früher" und "Was werde ich sein" zu verzetteln.

Es ist ein Grundpfeiler des Zen-Buddhismus, dass die umfassende Wahrheit und Wirklichkeit im nicht-dualistischen Augenblick erfahren werden kann und dass die Erinnerungen der Vergangenheit eben nur eine gewisse Ähnlichkeit mit der damaligen Wirklichkeit haben. Dasselbe gilt für Erwartungen in der Zukunft, die ebenfalls nicht den Charakter der Wirklichkeit haben. Gerade für die Zukunft sind psychische Faktoren wie Angst, Verzweiflung oder auch Optimismus, Leichtsinn und vorwärts drängende Absichten charakteristisch. Aber beides kann niemals die Wirklichkeit sein, denn alles spielt sich nur im Gehirn des Menschen ab und hat keine direkte Verbindung zur konkreten Wirklichkeit.

Die Kôans haben im Shôbôgenzô zentrale Bedeutung: Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass deren Übersetzung und Verständnis in jedem Kapitel zu den schwierigsten Aufgaben gehört. Dies weiß ich aus eigener Arbeit, weil ich bei der Übersetzung des Shôbôgenzô durch Nishijima Roshi und Gabriele Linnebach viele Jahre intensiv mitgearbeitet habe. Es ist also nicht zu weit hergeholt, wenn man sagt, dass das ganze Werk des Shôbôgenzô wesentlich auf den tiefgründigen Wahrheiten der Kôans aus China basiert. Bei deren Behandlung und Interpretation vermeidet Dôgen jede Seichtigkeit und esoterische Sentimentalität.

Außerdem muss erwähnt werden, dass das Shôbôgenzô dichterisch von hohem Rang ist und damit den authentischen oben genannten Texten ebenbürtig ist. Es geht den Autoren darum, dass die Sprache soweit wie möglich in den spirituellen Raum des Nicht-Sagbaren hineinreicht, ohne dabei die Aussagekraft der Sprache zu überschätzen und mit der Wirklichkeit zu verwechseln

 Man darf niemals Worte und Sprache mit der bezeichneten Wahrheit und Wirklichkeit verwechseln. Durch eine solche sprachliche Kraft gelingt es nämlich, den einfachen linearen Verstand zu überschreiten und durch poetische Formulierungen nicht nur den Verstand, sondern den ganzen Menschen zu erreichen, um neue Energien zur eigenen Veränderung und Befreiung freizusetzen und zu erzeugen.

Es ist also nicht übertrieben zu sagen, dass das gesamte Shôbôgenzô auch eine fulminante Sammlung zentraler Kôans und deren Interpretationen ist.

Dôgen ist ein hochkarätiger Zen-Meister, dem alles Schwafeln, Romantisieren und Fantasieren fern liegt und der die alten Kôans nicht zuletzt auf ihre Glaubwürdigkeit und Form abklopft. Er macht sich geradezu lustig über die Kôan-Geschichte des alten Fuchses von Hyakujô, indem er fragt, wie denn überhaupt die Umwandlung des alten Meisters in einen wilden Fuchs vor sich gehen könne, nachdem der alte Meister angeblich einen schweren Fehler bei der Lehre begangen hat.

Er fragt zum Beispiel, ob der wilde Fuchs sich hinter einem Busch oder hinter einem Stein schon versteckt hatte und darauf lauerte, dass der alte Meister durch seinen Fehler in ihn hinein fährt. Außerdem wird in der Kôan-Geschichte berichtet, dass der wilde Fuchs sich regelmäßig wieder in einen alten Mann verwandelt, der dann dem Dharma-Vortrag des Meisters im Kloster zuhört und danach im allgemeinen verschwindet. Damit wird klar, dass wir das Kôan nicht materiell-körperlich verstehen können; das wäre eine Falle und macht überhaupt keinen Sinn. Um so klarer unterstreicht Dôgen die Bedeutung der Zen-Praxis im Augenblick für die Entwicklung auf dem buddhistischen Weg.

Besonders feinsinnig sind Dôgens Überlegungen, woher der wilde Fuchs überhaupt wisse, dass er 500 mal wiedergeboren wurde, also 500 mal das Leben eines Fuchses zu durchleben hatte und sogar wusste, dass er in einem vorherigen Zeitalter vor langer Zeit ein Meister war, der bei der Interpretation des Gesetzes von Ursache und Wirkung Fehlerhaftes gelehrt hatte. Dies würde nämlich bedeuten, dass der Fuchs sich an seine früheren Leben erinnert. So etwas sei doch nur den voll erwachten Buddhas möglich. Die verblüffende Schlussfolgerung wäre also, dass der Fuchs voll erleuchtet gewesen sein müsse und dass dies wohl keine Bestrafung sein könne, die der alte Meister wegen seines Fehlers zu erdulden hätte: Die volle Erleuchtung als Fuchs kann nun wirklich keine Strafmaßnahme sein. Das wäre im übrigen eine ideelle Erklärung, die auf die buddhistische Theorie und Tradition fixiert ist, und auch das ist eine Falle und macht keinen Sinn.

Dôgen geht also nicht nur den Kern der Kôans mit großer spiritueller Kraft an, sondern er ermutigt uns auch immer, selbst zu überlegen und nichts einfach hinzunehmen, also keiner eindimensionale Wortgläubigkeit zu verfallen. Es geht genau um die große Praxis des Augenblicks: zwei "Menschen": Einer nicht zwei !

Bei genauerer Analyse muss daher festgestellt werden, dass es eine fundamentale Unterscheidung der Zen-Linien von Rinzai und Soto nicht gibt: sie basieren auf den selben Kôans. Dies hat auch Willigis Jäger immer wieder betont, und ich stimme ihm voll zu.

Die authentischen Basistexte der chinesischen Überlieferung, vor allem das Mumonkan und Bi-Yan-Lu, bilden also mit dem Shôbôgenzô eine Einheit, und es sind Texte der Weltliteratur von höchstem Rang. Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir heute verlässliche Übersetzungen sowohl in Englisch als auch in Deutsch besitzen und auf dieser Grundlage den jeweils eigenen Buddha-Weg der existentiellen Erfahrung und Veränderung gehen können.

Allerdings muss auch angemerkt werden, dass verlässliche Übersetzungen des Shobôgenzô erst seit kürzerer Zeit vorliegen: eine ältere Version wird in der Fachwelt eher kritisch gesehen, während die erste vollständige Fassung von Nishijima/Cross in Englisch 1999 vorgelegt wurde. Die entsprechende deutsche Fassung von Linnebach/Nishijima folgte dann mit dem vierten Band im Jahre 2008. Außerdem ist eine verlässliche englische Version unter der Leitung von Kazuaki Tanahashi im Jahre 2010 fertiggestellt worden. Diese Versionen werden in der Fachwelt allgemein anerkannt und sind ein großer Fortschritt bei der Quellenarbeit.

Die Aufarbeitung des Shôbôgenzô ist in den USA schon im vollen Gange. Dieses Werk gilt als dasjenige, das am meisten untersucht und behandelt wird. Auch in Deutschland ist allgemein in Fachkreisen unbestritten, dass Dôgens Texte eine hohe Bedeutung haben. Sie sind allerdings nicht einfach zu erfahren und zu verstehen. Daher habe ich eine Einführung zu allen Kapiteln verfasst, um den Zugang zu erleichtern: "ZEN Schatzkammer"( Bd. 1- 3). Es muss angemerkt werden, dass das Verständnis dieser fulminanten Aussagen hier erst im Anfangsstadium ist. So wurde Dogen beispielsweise auf dem kürzlichen Kongress „Meditation und Wissenschaft“ in Berlin zwar häufig erwähnt, aber meist fehlte die vertiefte Analyse der wesentlichen Eckpunkte. Dôgens Arbeiten zum Zen-Buddhismus sind unbestritten von höchster Bedeutung, sie basieren nicht zuletzt wie in der Rinzai-Linie auf den Kôan-Sammlungen der Tang- und Song-Zeit.

Résumée: Eine Abgrenzung der Zen-Linien von Rinzai und Sôtô erscheint mir künstlich, hergeholt und gefährlich, es gibt dafür keine sachlich belastbaren Fakten. Es geht viel mehr um die wechselseitigen Ergänzungen und Befruchtungen bei diesen bedeutenden Basistexten.