Sonntag, 28. Dezember 2014

Empathie und Mitgefühl im Buddhismus


Empathie wird definiert: Die Fähigkeit wahrzunehmen, was in einem anderen vorgeht.

Empathie ist sicher die Voraussetzung, dass Menschen achtsam miteinander umgehen und einander unterstützen und helfen. Ohne Empathie kann Helfen, Mitfühlen und Therapie kaum erfolgreich sein, um das Leiden der Patienten zu lindern oder zu heilen.

Was kann der Buddhismus hierzu beitragen? Gautama Buddha und Meister Nâgârjuna stellen die wechselseitige Vernetzung und das Zusammen-Wirken der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Lebensphilosophie und nennen dies pratitya samutpada. Auf dieser Wirklichkeit basiert ihre ganz praktische Lehre zur Befreiung vom Leiden; oder allgemeiner wie es im Buddhismus heißt: zum Erwachen oder zur Erleuchtung. Daher ist es sinnvoll, zunächst diese Wirklichkeit genauer zu untersuchen, so wie sie ist und wie wir sie verstehen: Wir sind Teil eines wunderbaren lebenden Netzwerkes des Kosmos, das durch Entstehung, Wachsen und Wechselwirkung gekennzeichnet ist. Ohne eine solche Erfahrung der praktizierten psychischen und geistigen Vernetzung kann ein sinnvolles Leben kaum gelingen.

Weiter sagt uns die Evolutionslehre, dass die jetzige Vielfalt unserer Tiere, Pflanzen und der gesamten Ökologie aus primitiven Anfängen entstanden ist und sich immer weiter als ein Gesamtes, also in permanenter Wechselwirkung miteinander , entwickelt hat. Wenn wir diese grundlegende Fakten der Wirklichkeit, in der wir Menschen leben, vernachlässigen, gibt es unausweichlich schwere ökologische Gefahren, Fehlentwicklungen oder sogar Katastrophen, weil wir die Wirklichkeit falsch einschätzen: naiv oder durch Gier getrieben.

Ich finde es fast sensationell, dass bereits Gautama Buddha vor 2.500 Jahren und etwa 600 Jahre später Meister Nâgârjuna diese Vernetzung der Wirklichkeit erkannt und zur Grundlage ihrer Lehre gemacht haben. Wir hatten in der westlichen Welt mit unserer Philosophie diese Fakten nicht richtig erkannt oder zumindest viel zu wenig beachtet: Eine stimmige wissenschaftliche Theorie der Empathie und soziale Vernetzung, insbesondere eine soziale Systemtheorie, gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten. 

Bei den Vorsokratigern der griechischen Philosophie muss fast als Ausnahme Heraklit genannt werden, dessen Arbeiten sich auf Prozesse und Veränderungen bezogen ("Alles fließt"). Soweit bekannt hatte er aber keine Schüler und hat in der Folge auch keine philosophische Schule begründet. Demgegenüber ging der Philosoph Parmenides von dem eher statischen Sein in der Welt aus und hat die westliche Philosophie wesentlich geprägt.

In den früheren archaischen oder mythischen Kulturen wurden göttliche oder dämonische Kräfte monokausal für viele Phänomene der Welt verantwortlich gemacht und als Ursachen für Fehlentwicklungen und Katastrophen verstanden. Mythische Rituale, Zeremonien und Beschwörungen sollten die göttlichen und dämonischen Kräfte günstig beeinflussen, um das Leben erträglicher zu machen und Leiden so weit möglich zu lindern.

Ein ähnliches spirituelles Verhalten können wir bekanntlich auch für das Mittelalter feststellen: die biologischen und katastrophalen hygienischen Ursachen für todbringende Krankheiten wie Pest, Cholera, Typhus, Syphilis und dergleichen waren unbekannt, und der hygienischen Standard, der in der Antike und im Orient durchaus auf hohem Stand war, wurde vernachlässigt oder ganz vergessen. Die reale Wirkung und Vernetzung des ganz konkreten Handelns der Menschen und Lebewesen waren weitgehend unbekannt, oft mit katastrophalen Folgen. Stattdessen wurde an vermeintliche religiöse Sünden der Menschen als Verursachung der Katastrophen geglaubt: die vernetzten Zusammenhänge der Wirklichkeit waren verborgen und eindimensionaler religiöser Idealismus beherrschte den Geist der Menschen.

Mit der Aufklärung, Rationalität und Entwicklung der Naturwissenschaft und der Instrumente der Technik änderte sich die Erkenntnis unserer Welt grundlegend: es wurden natürliche Ursachen und Fehlentwicklungen für viele Phänomene, Gefahren und nicht zuletzt für die Krankheiten der Menschen im fortlaufenden Forschungsprozess erkannt und entsprechende Medikamente und technische Geräte entwickelt.

So beträgt die Lebenserwartung in den Industrieländern gegenwärtig achtzig Jahre und mehr, während sie früher etwa dreißig Jahre betrug. Dies gilt zum Beispiel auch für die Zeit Buddhas und die Zeitenwende von Jesus Christus. Aber der Ansatz des Denkens war überwiegend einseitig: von einer Ursache zur Wirkung, also unidirektional (Joanna Macy), also ohne Rückkoppelung und Wechselwirkung

Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde die Vernetzung und Wechselwirkung von Menschen und Ökosystemen grundsätzlich erkannt und analysiert: Die sich anbahnenden Katastrophen unserer Ökosysteme konnten nicht mehr verleugnet werden.

Es ist umso erstaunlicher, was der indische Meister Nâgârjuna schon vor ca. 2000 Jahren zur Realität der Vernetzung sagte.
Er verwendete den Sanskrit-Begriff pratitya samutpada für dieses großartige Netzwerk des Lebens und der Welt: wörtlich etwa wechsel-wirkendes gemeinsames Entstehen. Zentrale Momente sind dabei also die intensive Rückkoppelung, Vernetzung und die gemeinsame Entwicklung, für den Menschen also Lernen und Wachsen in der Verbindung mit anderen Menschen. Kein Mensch kann wirklich allein existieren und auch nicht wachsen!

Der Neurobiologe Geralt Hüther kennzeichnet in diesem Sinne z. B. die kindliche Entwicklung: Verbindung und Wachsen. Vor der Geburt ist diese Verbindung offensichtlich, denn es gibt nur einen gemeinsamen Kreislauf und die biologische Verbindung von Mutter und Kind durch die Nabelschnur. Wesentliche Verbindungen bestehen selbstverständlich auch psychisch zwischen dem Kind und der Mutter. Nach der Geburt bleiben diese beiden wesentlichen Aspekte Verbindung und Wachsen weiterhin bestehen, werden aber eventuell durch gravierende Störeinwirkungen gehemmt oder verzerrt.

Hüther nennt als Beispiel, dass ein Kind in eine aggressive und egoistische Familie hineingeboren wird, in der ein rücksichtsloser Egoist herrscht. Dass ein Kind sich danach richtet und genau dies lernt, weil es selbst überleben will und muss, liegt auf der Hand. Egoismus, Rücksichtslosigkeit und die Durchsetzung des Stärkeren sind also keinesfalls biologisch oder neurobiologisch vorgegebene Strukturen, sondern werden wesentlich im sozialen Umfeld beim Wachsen erlernt und „eingebrannt“. Das ist gefährliches Lernen ohne Empathie und ohne liebevolle Zuwendung, ja ohne Liebe.

Was kann der Buddhismus zum sinnvollen Zusammenleben beitragen? Gautama Buddha lehrte, dass es anschaulich ist, den Menschen in fünf Komponenten einzuteilen, für die sich auch im Westen der Sanskrit-Begriff Skandha durchgesetzt hat. Diese fünf Skandhas sind: Form und Körper, Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte und Handeln, sowie Bewusstsein. Ähnliche Einteilungen existieren auch im westlichen Kulturkreis. Sie ergeben sich gewissermaßen aus der Natur des Menschen selbst. Gautama Buddha betont jedoch, dass wir uns diese Skandhas nicht als getrennte und getrennte existentielle Einheiten oder Entitäten vorstellen dürfen.

Es sind eher, um einen modernen Begriff zu verwenden, Teilsysteme des Menschen, die nur in der wechselseitigen Vernetzung existieren können. Das ist direkt einleuchtend: Die Wahrnehmung funktioniert z. B. nicht ohne den Körper und geht immer einher mit Gefühlen. Im Leben spielt das Handeln neben oder zusammen mit dem Bewusstsein, eine zentrale Rolle: kein Leben ohne Handeln in Wechselwirkung mit den anderen Skandhas.
Wie kann man diese Zusammenhänge vereinfacht grafisch darstellen?


Auf der Grundlage der Systemtheorie und des Buddhismus habe ich die Abbildung 1 gezeichnet. Sie ist eine Verbindung buddhistischer Weisheiten mit dem heutigen Forschungsstand der Systemtheorie. Es sind zwei „Personen“ A und B dargestellt, die miteinander in Wechselwirkung sind und deren Systemgrenzen eine doppelte Funktion haben: einerseits halten sie die jeweiligen Systeme A und B zusammen und ermöglichen deren inneres Funktionieren und Überleben, auf der anderen Seite sind sie offen und in Wechselwirkung mit einander und mit der vielfältigen Umwelt. Ganz wesentlich ist die Selbstorganisation der Menschen mit ihrer intensiven internen Vernetzung.

Die Umwelt möchte ich hier umfassend verstehen, etwa im Sinne von Niklas Luhmann in seiner allgemeinen Systemtheorie. Es geht also um die soziale, biologische, technische und materielle Umwelt, in die wir eingebettet sind oder besser, mit der wir in dauernder Wechselwirkung leben. Das ist für den biologisch körperlichen Bereich direkt einleuchtend: wir nehmen laufend Nahrung zu uns, um überhaupt lebensfähig zu sein, und scheiden Stoffe, die wir nicht verarbeiten können, wieder aus. Aber eine solche Wechselwirkung darf nicht auf den körperlich biologischen Bereich beschränkt sein, denn wir sind psychisch und sozial nicht lebensfähig, wenn wir isoliert sind und nicht in Wechselwirkung mit Partnern, in der Familie, im Beruf, in verschiedenen Gruppen und schließlich in der Nation und global in der Welt sind. Alle fünf buddhistischen Skandhas sind also jeweils und kombiniert in diese umfassende Vernetzung einbezogen.

Was sind nun zusammengefasst die wesentlichen Kennzeichen, die ich in Abbildung 1 wiedergegeben habe: zum einen gibt es eine Selbstorganisation des Menschen, also eine gewisse Unabhängigkeit von der Umwelt und anderen Menschen, die für die Fortsetzung des Lebens und das Wachsen und Lernen von essentieller Bedeutung ist (auch Autopoiese genannt, vgl. Maturana u. Varela)). Unser Gehirn ist dabei ein ganz typisches Organ, das sich permanent dynamisch selbst organisiert und dadurch erst die zum Überleben und Lernen notwendigen Prozesse ermöglicht.

So werden bei der Wahrnehmung z. B. Lichtstrahlen zunächst durch die Linse des Auges als Bild optisch auf die Netzhaut projiziert und dann in elektrische Impulse umgewandelt. Diese Impulse werden im Gehirn verarbeitet und ermöglichen, dass wir Dinge wiedererkennen, Zusammenhänge sehen und Nützlichkeiten und Gefahren erkennen. Das Gehirn organisiert sich in diesem Sinne mit Hilfe der eigenen Funktionen selbst, also der biologischen und elektrischen Informationsverarbeitung. Dies gilt im Übrigen auch für die Gehirnareale, die für Gefühle zuständig sind, sodass wir sagen können, dass es überhaupt keine Gehirnfunktion gibt, die nicht mit Gefühlen gekoppelt sind. Wie alle Hirnforscher betonen, gibt es immer intensive Wechselwirkungen der verschiedenen Teilsysteme im Gehirn und keine einseitigen Wirkungen nur in eine Richtung. Je höherwertig die geistigen Leistungen sind, desto intensiver ist diese interne Vernetzung. Besonders komplex ist das Handeln, weil die höchsten Ebenen von Werten und Ethik eingebunden ist: ohne Ethik gibt es kein Handeln und keine Interaktion, Handeln ist schwerer als Denken (vgl. auch Manfred Spitzer).

Was passiert nun bei fehlender oder insuffizienter Vernetzung, also deformierter pratitya samutpada?

Fehlende Vernetzung und Wechselwirkung lassen einen Menschen leiden, und dies kann vor allem mit der fehlenden Empathie und dem fehlenden Vertrauen zwischen den Menschen beschrieben werden. In Abbildung 2 ist dieser Zusammenhang schematisch dargestellt: Person A hat sich hermetisch abgeschlossen und isoliert, sodass ihre Systemgrenze für Interaktion und Empathie nicht mehr durchlässig ist. Dies ist durch den durchgezogenen dicken Kreis dargestellt. Entsprechend hat die Person A zwar eine intensive Selbstorganisation, lebt also nur ich-zentriert, fast ohne Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Lediglich „primitive“ Funktionen sind weiterhin aktiv: zum Beispiel die Nahrungsaufnahme und die Ausscheidungen.

Eine Kommunikation, Wechselwirkung und ein gemeinsames Lernen mit der Person B ist daher nicht möglich oder sehr stark eingeschränkt. Das heißt es gibt keine Wechselwirkungen von Form, Gefühl, Wahrnehmung, Handeln und Bewusstsein um die fünf Skandhas (Komponenten) nach Buddha zu nennen. Es handelt sich um einen pathologischen Zustand der Isolation und des Autismus der Person A, die damit erhebliche Probleme und großes Leiden auf sich nehmen muss.

Es gibt auch eine andere Form von fehlerhafter Empathie und Vernetzung:


Diese habe ich schematisch in der Abbildung 3 wiedergegeben. Hier geht es um die rücksichtslose Dominanz der Person A über die Person B, das heißt also, dass B einseitig beherrscht wird und keine Freiheit und Selbständigkeit mehr hat, sie ist der Willkür von A schutzlos ausgeliefert. Das heißt auch, die Ratio und das Bewusstsein von B sind soweit reduziert, dass eigenständige Überlegungen und Entscheidungen nicht mehr möglich sind. Zwischen A und B gibt es keine Empathie und nur eine deformierte Wirkung, die einseitig ist und B in lebensbedrohliche Abhängigkeit bringt: Sei es körperlich, gefühlsmäßig, handlungsmäßig. Auch die Wahrnehmung ist dann weitgehend fremd gesteuert durch die Person A. Leider ist eine solche Situation nicht zuletzt auch in Sekten und bei unfähigen oder unlauteren Gurus zu beobachten!

In dieser Situation dominieren leider die negativen menschlichen und sozialen Energien: Gier, Hass und Verblendung, also die sog. Gifte des Buddhismus. Rücksichtslose Gier erzeugt die nicht mehr steuerbaren Kräfte bei der Person A und beutet die Person B rücksichtslos aus. Ähnliches entsteht durch emotionale Überflutung mit hemmungslosem Hass.

In einem solchen Zustand sind
Empathie, Gelassenheit und spirituelles Gleichgewicht verschwunden.

Das Besondere der buddhistischen Lehre ist nun, dass nicht nur die Person B durch die Beherrschung und Ausbeutung leidet, sondern dass auch A keinesfalls ein zufriedenes, gelungenes und glückliches Leben führen kann: ganz im Gegenteil. A ist getrieben durch die eigene Gier, den eigenen Hass und die Verblendung der eigenen Vernunft, und es kommt nicht zum Wachsen in Wechselwirkung der beiden Menschen. Obgleich dies A vielleicht gar nicht bewusst ist: so lange Gier und Hass vorherrschend sind, entstehen nach Buddha nicht steuerbare Leidens-Energien, die ein zufriedenes Leben unmöglich machen und die Erwachen und Erleuchtung im buddhistischen Sinne total ausschließen. Keine Erleuchtung ohne Ethik.

Nach den Vier Edlen Wahrheiten Buddhas ist es von maßgeblicher Bedeutung, dass diese Verursachung des Leidens zumindest im Wesentlichen erkannt wird und dass die Menschen eindeutig entscheiden, ihr eigenes Leben grundsätzlich zu ändern. Dieses wird im Achtfachen Pfad beschrieben, der sich nicht auf ganz alltägliche Funktionen bezieht, wie Reden, Denken, Handeln, Arbeiten, Ausdauer, Willensfunktionen und vor allem die gründliche Selbstanalyse und Meditation. Buddhas Lehre besagt kurz gefasst: ohne gründliche und offene Selbstbeobachtung und ohne meditatives ethisches Handeln ist eine Befreiung zum glücklichen Leben und zur Überwindung des Leidens unmöglich.

Hier liegt der wesentliche Unterschied zu den Hauptströmungen der westlichen Philosophie, die dem Denken, Reden und Reflektieren allein eine zentrale Bedeutung für ein gutes und gelungenes Leben geben. Dass Reflektion, Denken und rationale Kräfte für ein befreites Leben notwendig sind, wird sicher niemand bezweifeln, diese sind notwendig, aber nicht hinreichend, um es wissenschaftlicher auszudrücken.

Wie kann schematisch nun die geistige und spirituelle Einheit zweier Menschen dargestellt werden?

Im Buddhismus gibt es das Leitbild, dass zwei Menschen nicht mehr getrennt sind, sondern eine Einheit bilden. Dies ist sicher eher spirituell, psychisch und geistig zu verstehen, denn eine totale körperliche Einheit kann es ja nur vor der Geburt und nicht danach geben. Trotzdem kommt diesem Leitbild eine große Bedeutung zu. Ich habe versucht, diese Leitbild als vereinfachte Schema in Abbildung 4 wiederzugeben. Es geht um einen berühmten Ausspruch des buddhistischen Zen-Kôans vom wilden Fuchs und dem Dialog zweier großer Meister (Hyakujo und Obaku, in der japanischen Aussprache, vgl. Shobogenzo, Kap. 76):

Es gibt „einen, nicht zwei“ (Menschen).

Meister Dôgen bezeichnet diesen Ausspruch als die große buddhistische Praxis, bei der Lehrer und Schüler jäh im Augenblick eine Einheit bilden. Der Schüler erlebt das große Erwachen spontan im selben Moment zusammen mit seinem Meister und verwirklicht damit die neue Generation von Zen-Meistern. Dôgen hat die Zen-Geschichte, die auch in zwei anderen Kôan-Sammlungen enthalten ist, in seinem tiefgründigen Verständnis des Buddhismus auf eine ganz neue Ebene gehoben und die transformierende Kraft des Handelns im Augenblick zweier Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Er nennt das die große Praxis.

Nishijima Roshi hält diese Kapital im Shôbôgenzô für zentral. Hier wird also die Empathie zur großen gemeinsamen Kraft, und die „Systemgrenzen“ der beiden Menschen werden praktisch aufgehoben. Mit diesem Schema kann man das in allen spirituellen Linien genannte große Erleben der Einheit kennzeichnen. Die Systemgrenzen zu anderen Menschen und zur Umwelt sind radikal durchlässig und haben ihre abgrenzende isolierende Wirkung verloren.

Résumé: Durch die Verbindung der großen buddhistischen Weisheiten zum Leben und zur Überwindung des Leidens mit den heutigen Erkenntnissen der Empathie und Systemtheorie ergeben sich spannende Übereinstimmungen, die sicher noch vertieft untersucht werden sollten.

Es ist erstaunlich, wie weit die intuitive Weisheit des Buddhismus mit heutigen Forschungsergebnissen übereinstimmt. Ich sehe es nämlich als Fehlentwicklung, wenn Buddhisten sich im Streben nach Erleuchtung und Freiheit nur mit sich selbst beschäftigen und glauben, dass sie sich auf diese Weise von Leiden und Problemen befreien können. Dies ist nur in der spirituellen Verbindung mit anderen Menschen und in der empathischen Wechselwirkung mit ihnen möglich, nur so kann unser Wachsen und Lernen gelingen. Es ist eine fatale Illusion, dass irgend ein Mensch überhaupt isoliert von anderen Menschen und seiner Umwelt existieren kann.

Das gilt gerade für die sogenannten Starken, die eine besondere Verantwortung für die soziale und kulturelle Umgebung haben. Wie ich es an anderer Stelle formuliert habe: „Der Starke ist am schwächsten allein“. Nur das gemeinsame Wir mit lebensfähiger Empathie kann uns weiterbringen, auch und gerade wenn wir noch nicht erleuchtet sind. Und Empathie ist eng verwandt mit Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut: die Himmlischen Verweilungen des Buddhismus.