Mittwoch, 21. Juli 2021

Dogens tiefe Erfahrung der Buddha-Natur (Busshō)

 



Wir wissen, dass Meister Dōgen selbst mit der Frage nach der Buddha-Natur persönlich sehr stark gerungen hat und mit den theoretischen und abstrakten Erklärungen der japanischen buddhistischen Meister in seiner überhaupt Zeit nicht zufrieden war. Wie kann es sein, so war seine Frage, dass man sich so sehr mit der Übungspraxis und den theoretischen Überlegungen zur Buddha-Natur abmühen muss, wenn sie doch bereits bei jedem von Anfang an in Vollkommenheit existiert. Dann haben wir sie schon immer, sie existiert also sofort bei der Geburt. Warum müssen wir überhaupt intensiv und ausdauernd üben, wenn wir doch die Buddha-Natur schon immer „haben“? Dann ist sie ein unveränderliches Merkmal wie eine Substanz in uns. Wir können also die Buddha-Natur wie ein Goldstück oder einen inneren Diamanten verstehen. Und in der Tat gibt es auch heute solche Vorstellung und solche Glauben, auch im Zen. Aber Dogen konnte sich mit dieser naiven Erklärung nicht zufrieden geben, denn er stieß auf zu viele innere Widersprüche. Im Kern geht es um die Behauptung, dass die Buddha-Natur eine unveränderliche, ewige Substanz ist. Das wäre aber genau die Âtman-Lehre, die Buddha radikal ablehnte. Sie führt nämlich zum Leiden. Und schon der große Nagarjuna hatte etwa eintausend Jahre früher zwingend bewiesen, dass es solche Substanzen nicht geben kann, denn es handelt sich um Pseudo-Substanzen. Dieses fundamentale buddhistische Wissen war  offensichtlich im Japan verloren gegangen.

Die ungeklärte Frage nach der Buddha-Natur war ein wesentlicher Antrieb seiner eigenen Reise nach China, wo er jedoch zunächst ebenfalls ohne Antwort blieb. Erst als er seinem Meister, Tendō Nyojō, begegnete und sein Schüler wurde, konnte er das die damaligen Täuschungen der Buddha-Natur durchdringen und seine damit zusammenhängenden Probleme lösen. Dadurch erlangte er tiefe und eindeutige Erleuchtung, wie sein Meister Tendo Nyoja bestätigte. Das Kapitel zur Buddha-Natur ist im Shōbōgenzō von zentraler Bedeutung, es ist eines der längsten und schwierigsten.

Dōgen zitiert Shākyamuni Buddha wie folgt:

„Alle Lebewesen haben vollständig die Buddha-Natur.“

Bei flüchtiger Betrachtung könnte man diese Aussage als selbstverständlich hinnehmen, und sie entspricht in der Tat dem gesunden Menschenverstand einiger Buddhisten. Allerdings ergibt sich bei genauer Untersuchung ein ernstes Problem, weil man sich fragen muss, ob es auch Menschen oder Lebewesen ohne die Buddha-Natur gibt. Denn wenn es im obigen Zitat heißt, alle haben die Buddha-Natur, müsste es auch möglich sein, sie nicht zu haben. Denn das wäre das Prinzip einer Substanz, die man entweder hat oder nicht. Und es wäre dualistisch gedacht und damit nicht wirklich, sondern eine Konstruktion des Geistes. Den Satz könnte man daher auch so verstehen, dass es sich um eine bestimmte duale Entität oder duale Eigenschaft der Lebewesen handelt, die man haben kann oder nicht. Es läge dann auch nahe, an einen substanzhaften Seelenkern, einen Wesenskern oder überhaupt an so etwas wie eine wunderbare und ewige unzerstörbare Seele zu denken, die man besitzt. Sicher haben viele Menschen große Sehnsucht nach einem solchen substanzhaften unveränderlichen Selbst. Leider handelt es sich nach Dgen un eine Täuschung und Illusion, die gefährliche Folgen hat.

Dōgen verwirft daher eine Trennung von einem Lebewesen als Subjekt und der Buddha-Natur als Objekt bzw. der Buddha-Natur als einer bestimmten unveränderliche Eigenschaft des Subjekts. Mit einer dualistischen Trennung von Subjekt und der Buddha-Natur als statische  Objekt kommen wir also nicht weiter.Besser wäre daher eine andere Übersetzung der Aussage von Shākyamuni Buddha:

„Alle Lebewesen sind die Buddha-Natur.“ Danach ist die Buddha-Natur die Wirklichkeit der Lebewesen.

Diese Übersetzung ist übrigens auch korrekt, weil das entsprechende japanische Wort beides bedeuten kann: haben und sein. Die Vorstellung einer Buddha-Natur bei allen Lebewesen hat zweifellos eine große spirituelle Anziehungskraft und gibt die positive, lebensbejahende Weltsicht des Buddhismus wieder. Aber sind Vorstellung und Wirklichkeit identische? Sie sind sicher nicht total identisch. Demnach sind die Menschen von Natur aus keine Sünder, die bestraft, diszipliniert und kontrolliert werden müssen, sondern sie entfalten sich und ihre Buddha-Natur in ihrem Leben und im Hier und Jetzt. Denn wie bei jedem Konzept und Ideal besteht bei die Gefahr, dass sie sich das Konzept verhärtet oder unbemerkt zu einer Ideologie verzerrt und sich zu Dogmen verhärtet. Dann kann die Lehre der Buddha-Natur eventuell benutzt werden, um andere zu kritisieren, herabzusetzen, ihnen vorzuwerfen, dass sie die Buddha-Natur verraten oder nicht mehr besitzen und dergleichen mehr. Das wäre wieder Pseuo-Substanz und keine Wirklichkeit. Leider gibt es hierfür ähnliche Beispiele in allen Weltreligionen. Gautama Buddha hat das Ideal eines unveränderlichen statischen Seelenkerns des alten Indien immer wieder mit Nachdruck zurückgewiesen, da diese Dogma aus der Wirklichkeit des Hier und Jetzt wegführt und damit die Menschen leiden lässt. Es wurde zudem Grundlage des politischen und religiösen Systems der isolierten Kasten, die im damaligen Indien großes Leid erzeugt at und von Buddha abgelehnt wurde.

Gemäß der buddhistischen Lehre muss man nach Dōgen die Buddha-Natur auch auf fühlende wesen und auf die Natur von Pflanzen und Bäumen und sogar auf die sogenannten unbelebten Bereiche der Welt ausgedehnt werden, wie zum Beispiel Berge, Flüsse, Ozeane, Felsen, Kiesel usw.:

„Das ganze Universum mit allen Lebewesen ist die Buddha-Natur.“

das sagt vor Allem, dass es keine Isolation und keine Dualität von Menschen und Buddha-Natur gibt. In diesem Kapitel wird der Ausspruch eines großen glaubwürdigen Meisters zitiert, die der Aussage Dōgens scheinbar widerspricht:

„Du bist ohne die Buddha-Natur, sagt der vierte zum fünften Vorfahren im Dharma.“

Dies hört sich wirklich wie das genaue Gegenteil der ersten Aussage zur Buddha-Natur an. Wie kann das erklärt werden?

Der Zen-Buddhismus zeichnet sich durch Nüchternheit, unverstellte Beobachtung und Klarheit im Hier und Jetzt aus. Und dadurch wirkt er nach meiner festen Meinung so stak und unmittelbar. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Spekulative Fantasien und Theorien ohne Bodenhaftung sind ihm vollständig fremd. Geht es in diesem Satz vielleicht um die reine Beobachtung ohne jede religiösen oder spirituellen Ideen? sicher nicht. Wenn man nämlich nur in dem Bereich der Sinne und der Wahrnehmung bleibt, also nur sieht, hört, schmeckt, tastet und riecht, kann es die Vorstellung einer Buddha-Natur in der Tat allerdings nicht geben. Denn in der Welt der Formen, der Farben, der Gerüche, des Geschmacks usw. kann man bleiben, ohne irgendwelchen spirituellen Ideen anzuhängen. Aber die Natur ist viel mehr, als eine materielle Lebensweise. Denn die entscheidende Bedeutung der Leerheit (shūnyatā) liegt darin, dass man die Abhängigkeit von den Giften, also verzerrenden Ideologien überwindet. Weder der Materialismus noch der Idealismus kann die Buddha-Natur verwirklichen. Denn beides sind Ideologien, also Verblendungen, wenn sie uns beherrschen. Es geht bei der Buddha-Natur darum, dass man zur Wirklichkeit nichts Künstliches, Gedachtes und Spekulatives hinzusetzt, aber auch nicht irgendetwas weglässt und unterdrückt. Die Wirklichkeit so zu sehen und zu erleben, wie sie ist, das ist die Wahrheit des Zen-Buddhismus.

Die Vorstellung der Buddha-Natur ist zweifellos etwas Spirituelles, das große Kraft entfalten kann, aber auch beachtliche Gefahren in sich birgt. Bei der Vorstellung oder Erwartung darf es also nicht bleiben. Sehr schnell erscheinen unter der Maske einer vorgestellten Buddha-Natur starke oder extreme Bewertungen, denen Egoismus und die Gier nach Ruhm und Profit zugrunde liegen. Dadurch wird die buddhistische Wahrheit getötet, wie Dōgen an mehreren Stellen des Shōbōgenzō hervorhebt. Die Freiheit und Leerheit von Dogmen, Spekulationen und Fantasien hat im Zen-Buddhismus eine große Bedeutung, und auf dem Weg der Leerheit müssen wir lernen, was wirklich ist, und eben nicht das, was wir zu gern wollen oder nicht wollen. Wir können nicht wünschen, was nicht wünschbar ist. Nur in der vollen Wirklichkeit und Wahrheit können wir das Leiden überwinden. Auch Sigmund Freud betonte, dass jede Flucht aus der Wirklichkeit psychisches Leiden erzeugen muss. Verdrängungen können zwar zunächst das mühsame tägliche Überleben sichern, haben aber auf Dauer schwere psychische Schäden und Leiden zur Folge, die dann aufgearbeitet und aufgelöst werden müssen. Es geht um grundlegende Lernprozesse um die drei Gift Gier, Hass und Verblendung zu überwinden, die Leiden verursachen. Die Buddha-Natur kann sich verwirklichen, wenn wir uns von den Giften entleeren.

Eine materialistische Lebensphilosophie, die allein den oberflächlichen Sinnen und ihren Genüssen gewidmet ist und keine spirituelle und idealistische Tiefe hat, führt zwangsläufig zu einer Verödung des Lebens und kann niemals aus dem Leiden hinausführen. Deshalb ist eine materialistische Lebensphilosophie ungeeignet für ein sinnvolles und erfülltes Leben.

Der große Meister Hyakujō sagt:

„Es beleidigt Buddha, wenn wir lehren, dass alle Lebewesen die (substanzhafte) Buddha-Natur haben, und es beleidigt Buddha auch, wenn wir lehren, dass sie ohne Buddha-Natur sind.“

Dieses Zitat kann so entschlüsselt werden, dass er den Glauben an die Pseudo-Substanz der Buddha-Natur radikal kritisiert, weil dies keine Wirklichkeit ist. Sowohl die eine als auch die andere Behauptung entspringt dualer Ideologie. Sie sind beide grundsätzlich falsch und einseitig verstandene Lebensphilosophien. Das kann nicht die ganze Lehre und Wahrheit des Buddhismus sein, sondern ist jeweils nur eine eingeengte bestimmte Sichtweise oder Teilphilosophie mit sehr begrenztem Wahrheitsgehalt ist. Die Dogmatisierung und Dualität führen dann direkt ins Leiden. Der Zen-Buddhismus ist nicht unvernünftig oder unlogisch, wie manche leichtfertig behaupten. Er erkennt zwar die undogmatische Teilwahrheit der idealistischen Denkweise an, aber verschließt sich auch nicht der undogmatischen materiellen Teilwahrheit. Die umfassende Lehre des Buddha-Dharma geht aber über diese dualen Sichtweisen weit hinaus. Nicht der Widerspruch und das Paradox ist also das Typische des Zen-Buddhismus, sondern eine umfassende, darüber hinausgehende Wahrheit. Sie wirk zusammen mit dem Handeln und die Zazen-Praxis. Dadurch verwirklicht man ein umfassendes, intuitives Verständnis, und zwar im Einklang mit Ethik und Moral. Dies gilt nach Nishijima Roshi für den Zustand der Erleuchtung als vierte und höchste Lebensphilosophie. Die Aussage: "Es gibt die Buddha-Natur und eben deshalb gibt es sie nicht", ist also schlichter Unsinn und verwirrt mehr als dass sie weiterführt. Das geht radikal gegen die Vernunft und Logik und bleibt in der Paradoxie hängen. Diese dualen Aussagen greifen zu kurz, denn es geht nach Nishijima Roshi um die umfassende Lebensdimension des Erwachens.

Der ehrwürdige Meister Nāgārjuna wird von Dōgen wie folgt zitiert:

„Wenn du die Buddha-Natur verwirklichen willst, musst du zuerst deinen selbstsüchtigen Stolz überwinden.“

Es ist also bei der Frage der Buddha-Natur notwendig, Selbstsucht, Egoismus und überhaupt den Stolz, der sich an ein Ich festmacht, zu erkennen und zu überwinden. Warum ist das so? Weil durch den Ich-Stolz ein Geist der Pseudo-Substanz die Oberhand gewinnt und die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung dominieren. Bevor wir diese Extreme nicht loslassen, besteht keine Chance, die Buddha-Natur zu verwirklichen und intuitiv zu erfahren. Damit wird die Wichtigkeit des ethisch richtigen Handelns unterstrichen. Dōgen sagt damit nicht mehr und nicht weniger, als dass der Ich-Stolz uns daran hindert, die Buddha-Natur überhaupt zu erleben, zu erfahren und zu erkennen. Theoretisches und intellektuelles Denken ohne Moral verhindern dann die Verwirklichung der Buddha-Natur.

Dōgen zitiert ein berühmtes Gespräch zweier großer Zen-Meister:

Meister Nansen fragte Meister Ōbaku:

„Wenn wir gleichmäßig Balance und Weisheit praktizieren, erkennen wir klar die Buddha-Natur. Wie steht es mit dieser Theorie?“

Meister Ōbaku antwortete: „(Den ganzen Tag), vierundzwanzig Stunden, haben wir sie schon erlangt, ohne von etwas abhängig zu sein.“

Es geht also vor allem um Unabhängigkeit und Freiheit von den drei Giften. Damit kommen die für Dōgen zentralen Kernpunkte bei der Wirklichkeit der Buddha-Natur zur Sprache, nämlich die Zazen-Praxis, das Handeln und das Gleichgewicht im Hier und Jetzt. Das geht über duales Denken und Reden weit hinaus. Daraus entsteht die intuitive Weisheit, die gerade über auswendig gelerntes Wissen hinausgeht. Außerdem wird die reale Lebenspraxis des ganzen Tages und damit der buddhistisch gestaltete Alltag angesprochen. Erst durch diese Praxis der Mitte und des Gleichgewichts im Zazen und im Handeln erlangt man Freiheit und Unabhängigkeit sowohl von materiellen Dingen als auch von festgelegten verblendungen. Damit werden die vielen Problemen des Alltags überwunden, indem man handelt und lebt. Dann behindert das heilsame Wissen und die sogenannte verstandesmäßige Weisheit auch nicht die Buddha-Natur, sondern ist im Gegenteil mit ihr in Wechselwirkung. In dem obigen Gespräch werden nach Dōgen keine subjektiven Ansichten oder Meinungen ausgetauscht; vielmehr geht es um Wahrheitsaussagen und Erfahrungen, die jenseits der einzelnen Personen liegen.

Dōgen geht dann genauer auf die folgende im Zen-Buddhismus berühmte Koān-Geschichte ein:

„Hat auch ein Hund die Buddha-Natur oder nicht?“

Der große Zen-Meister Jōshū antwortet einem Mönch auf diese Frage: „Nichts dergleichen. (Mu, sie ist ohne).“ Einem anderen Mönch antwortet er aber bei der fast der gleichen Frage:

"Gibt es die Buddha-Natur auch in einem Hund oder nicht?“, scheinbar genau das Gegenteil: „(Ja), es gibt sie“.

Wie kann man nun diesen Widerspruch erklären, und was ist der Sinn der Antworten von Meister Jōshū? Wir können davon ausgehen, dass beide Mönche ernsthaft und intensiv auf dem Buddha-Weg üben. Die Antworten sollen ihnen dabei helfen, sich aus dem Gefängnis ihrer eigenen fixierten Meinungen, Vorurteile, Vorstellungen, Fantasien, Äußerlichkeiten, Zielvorstellungen usw. zu befreien. Für jemanden, der zu sehr idealistischen und romantischen Fantasien anhängt, ist sicher die Antwort, „der Hund hat keine Buddha-Natur“, die klare Aufforderung, sich mit dem konkreten Hier und Jetzt zu befassen und nicht in ferne Fantasie-Welten abzuschweifen. Er muss vor allem den Glauben an die Pseudo-Substanz und Dualität überwinden. Für einen anderen Menschen, der eher materiell orientiert ist und an der äußeren Form haftet, muss der kundige Meister aber anders vorgehen. Dann ist die umgekehrte Aussage nützlich, dass es auch beim Hund die Wirklichkeit der Buddha-Natur gibt. Man darf nicht an den äußeren Wahrnehmungen der Sinne hängen bleiben, sondern muss sich intensiver mit ideellen, spirituellen und moralischen Bereichen verbinden soll. Aber es ist auch klar, dass die Wirklichkeit der Buddha-Natur über diese beiden Fragen und Antworten und deren Verblendungen  hinausgeht

Schließlich zitiert Dōgen einen bedeutenden chinesischen Mandarin bei dem Zen-Meister Chōsa:

„Ein Regenwurm wurde in zwei Teile geschnitten, und beide Teile bewegen sich . Ich frage mich, in welchem der Teile sich die Buddha-Natur befindet.“

Zunächst können wir feststellen, dass es sich hier um eine sehr theoretische und arrogante Frage handelt. Sie ist ungeeignet, der tiefen Frage nach der Buddha-Natur auch nur nahe zu kommen und beweist den Glauben an Dualität und Pseudo-Substanz des Regenwurms. Eine solche Frage ist nur arrogantes Futter für den Verstand des Mandarins. Meister Chōsa antwortete zunächst:

„Täuscht euch nicht“ und fügte hinzu:

“Wind und Feuer haben sich noch nicht aufgelöst.“

Der Meister versucht daher in zwei Anläufen, den ranghohen Mandarin von seinem abstrakten Substanz-Denken und Täuschungen, die hier zu nichts führten, auf den Boden der Tatsachen und der Wirklichkeit zurückzuholen. Er reduziert die arrogante Komplexität konkret auf das Hier und Jetzt der materiellen Elemente Wind und Feuer. Der Mandarin versteht dies überhaupt nicht, vermutlich weil er wegen seines hohen Ranges dem Meister nicht folgen will und sein aufgeblasenes Ego nicht loslassen kann. Daher kann er den für die Wirklichkeit der Buddha-Natur notwendigen ganzheitlichen und moralisch-bescheidenen Lernprozess nicht beginnen.

Dōgen führt uns hier die Unfähigkeit eines eitlen und durch seine gesellschaftliche Stellung festgelegten Menschen vor Augen, dem es nicht gelingt, sein duales Denken, seinen hohen Stand und seine großartige Position beiseite zu lassen. Er müsste dazu als Anfänger nach der Wirklichkeit suchen und in die Buddha-Lehre hineinwachsen. Dabei wäre es notwendig, beim ganz Konkreten zu beginnen, denn: „Zen-Geist ist Anfänger-Geist.“ Stattdessen gefällt er sich durch eine scheinbar intelligente Frage, die aber nur Leerlauf des unterscheidenden Denkens ist und nicht zur Wirklichkeit vordringt. sie ist von dem Glauben an Schein-Substanzen und Dualität geprägt

Zusammenfassend können wir sagen, dass es auf die Frage der Buddha-Natur keine duale Antwort gibt. Die Frage nach absoluter Existenz oder der Nicht-Existenz ist sinnlos. Sie lässt sich nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Und worauf kommt es an? Antwort: Das eigene klare Erleben und die eigene tiefe Erfahrung sind entscheident. Das ist der Unterschied, der den Unterschied macht!

Dōgen hatte im damaligen, auf abstrakter Theorie aufbauenden Buddhismus in Japan für seine bohrenden Fragen nach der Wahrheit der Buddha-Natur keine brauchbaren Antworten gefunden. Theoretisch kann diese Frage nicht beantwortet werden. Erst durch seinen chinesischen Meister fand er Verwirklichung im Streben nach der Wahrheit und der Klarheit über die Buddha-Natur. Dieser stellte die Zazen-Praxis und das verantwortungsvolle und moralische Handeln im Alltag in den Mittelpunkt des Buddha-Dharma. Es ist dabei wichtig zu erwähnen, dass Dôgen keineswegs die Theorie, das Denken und die Vernunft grundsätzlich ablehnte oder herabsetzte, wie dies leider manchmal behauptet wird. Wie wäre es sonst zu erklären, dass er selbst derartig umfangreiche und tiefgründige schriftliche Werke wie „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ (Shôbôgenzô) verfasst und an die Nachwelt und uns übermittelt hat. Darin versucht er in genialer Weise die buddhistische Philosophie mit seinem eigenen Erleben der tiefen klaren Erleuchtung zu verbinden. Soweit dies überhaupt möglich ist.

Die Buddha-Natur ist nach Nishijima Roshi die wahre Wirklichkeit des Universums und des Lebens selbst, und umfasst damit die vier nicht dualen Lebensphilosophien der Ideen, des Materiellen, des Handelns je im Augenblick und des höchsten Zustandes im Gleichgewicht, also des Erwachens. Diese Lebensphilosophien sind mit der Wirklichkeit der Buddha-Natur in Wechselwirkung. Dies Wirklichkeit ist nach Nagarjuna leer von der Ideologie der Pseudo-Substanz und des Dualismus. Davon kann die Wirklichkeit von Ursache und Wirkung und die Moral des rechten Handelns nicht getrennt werden. Das ist auch die zentrale Praxis und Philosophie Buddhas: des "gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung".

 

Mittwoch, 14. Juli 2021

Die Zazen-Praxis befreit uns und heilt unser Leiden wie die Akupunktur (Zazenshin)

 


Im alten China wurden Bambusnadeln bei der Heilmethode der Akupunktur verwendet. Sie wurden genau an der richtigen Stelle am Körper angesetzt und bewirkten eine erstaunlich gute Heilwirkung. Diese Heil-Methode ist heute auch im Westen unbestritten, sie erfordert eine gründliche fachliche Ausbildung. Es gibt auch bei uns wahre Könner der Akupunktur. Dōgen vergleicht in diesem Kapitel 27 die Meditations-Praxis des Zazen mit einer solchen erstaunlich gut wirksamen und heilenden Nadel. Diese wurde damals aus Bambus gefertigt. Er schildert damit nicht nur die großartige Heilwirkung des Zazen, sondern sagt auch, wo und wie genau die wirksame „Nadel“ gesetzt wird, also durch die Meditationshaltung. Er hält es für ausgeschlossen, dass man überhaupt Zugang zum wahren wirklich befreienden Buddhismus findet, wenn man nicht Zazen praktiziert, in Sanskrit Samādhi.

Die Zen-Meisterin Ritsunen Linnebach, mit der ich viele Jahre zusammengearbeitet habe, schreibt dazu: „Als ich dann 1982 im Zen-Zentrum von Meister Deshimaru zum ersten Mal mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken vor einer weißen Wand saß, fühlte ich intuitiv und sehr stark, dass es das war, was ich immer schon gesucht hatte“

Um richtige und wirkungsvolle Akupunktur ausführen zu können, bedarf es also einer gründlichen Ausbildung, langjähriger Erfahrung und genauer theoretischer Kenntnis der geeigneten Körperstellen. Vor allem muss großes praktisches Können hinzukommen, damit die gute Heilwirkung wirklich eintritt. Wir können beim Zazen darauf vertrauen, dass es sich um eine hervorragende und bewährte Heil-Methode handelt.


In diesem Kapitel erklärt Dōgen durch ein Gespräch zwischen dem großen Meister Yakusan und einem Mönch, dass die Praxis des Zazen etwas anderes ist als das übliche theoretische Denken und weit darüber hinausgeht. Ein Mönch fragt dabei den Meister, was er beim Zazen „im stillen-stillen Zustand denkt“. Antwort:

“Den wirklichen Zustand des Nicht-Denkens denken…Es ist Nicht-Denken.“

Dōgen fügt hinzu:

„Wir sollten in der Praxis das Berg-stille Sitzen lernen, und wir sollten die authentische Übertragung des Berg-stillen Sitzens empfangen.“

Man sitzt dabei ruhig wie ein Berg, und das übliche unterscheidende duale Denken und Fühlen sind verschwunden. Dann ereignet sich bei der Zazen-Praxis die erste Erleuchtung, wie Meister Nishijima dies nennt. Wenn man aber während des Zazen den bewussten Willen hat, etwas Großes und Bestimmtes zu erreichen, wie zum Beispiel das All-Wissen oder die absolute Seeligkeit im Alltag, und wenn man sein Denken und Fühlen gewollt in diese Ziel-Richtung treibt, kann sich die Zazen-Praxis nicht entfalten. Dann kann sich die erste Erleuchtung also gar nicht ereignen! Beim Zazen kommt es darauf an, sich nicht durch eine bewusste Denk-Anstrengung auf ein Ziel einzuengen oder dabei zu verkrampfen. Dōgen fragt uns:

„Wie kann es möglich sein, dass in dem ganz ruhigen, stillen Zustand kein Denken da ist? Und warum verstehen (die Menschen) nicht den still-stillen Zustand jenseits (von Denken und Nicht-Denken)?“

Beim stillen, ruhigen Sitzen in der Zazen-Praxis müssen wir genau auf die richtige körperliche Haltung achten und den Kopf nach oben strecken halten. Dabei sollten wir den Blick schräg nach unten richten und auf die weiße Wand vor uns schauen. Die Augen sind dabei halb geschlossen. Dann ereignet sich das nicht-dualistische umfassende intuitive Denken. Es reicht weit in das Unbewusste hinein. In der Sôtô-Tradition sitzt man vor einer weißen Wand. Dieser Zustand und dieses Handeln im Zazen überschreiten nach Dōgen sogar die reine Verstandestätigkeit eines Buddha, des gedachten Dharma. Dieses nicht theoretische Denken ist jenseits aller intellektuellen Möglichkeiten und Vorstellungen. Die richtige Energie des Zazen-Sitzens wird vor Allem durch die unmittelbare ganzheitliche Übertragung vom Meister auf den Schüler bewirkt, also des Dharma mit Körper und Geist.

Es sei aber falsch zu sagen, das bewusste Ziel des Zazen bestehe darin, eine absolute Ruhe des Geistes mit Gewalt zu erzwingen. Das wäre eine falsche Konzentration auf ein absolutes Ziel, würde zu kurz greifen und wäre ein grundsätzliches Missverständnis. Allerdings bedarf es als ersten Schritt der Entscheidung, den Befreiungsweg zu gehen. Dōgen lehnt bewussten „Konzentrations-Zen“ für die Zazen-Praxis ab. Nach meinem Verständnis stimmt Zazen mit der vierten Vertiefung der Meditation von Buddha überein: Offene Weite, ohne Gegenstände und ohne Bewertungen. Diese Meditationsübungen werden zum Beispiel im großen Sûtra der Achtsamkeit genannt. Es besteht bei der gedanklichen Verengung die Gefahr dass der Geist verkrampft würde und nur illusionäre Zustände und spekulative absolute Traumvorstellungen erzeugt werden. „Konzentrations-Zen“ ist das Gegenteil von Nicht-Denken im Sinne Dōgens und ist in Gefahr, dualistisch zu verzerren.

Es ist auch falsch es zu sagen, dass die Zazen-Praxis zwar für Anfänger und andere Schüler des Buddhismus notwendig sei, dass die Meister selbst aber nicht mehr Zazen praktizieren müssten. Bei den Meistern, so die falsche Begründung, seien alle Tätigkeiten des Alltags wie Gehen, Stehen, Liegen, Sitzen usw. bereits buddhistische Meditation. Dazu gehöre auch die Praxis, sich zu unterhalten, sich auszuruhen, sich zu bewegen usw., denn bei allen diesen Tätigkeiten fühle sich der Meister glücklich und frei, weil er ja schon erleuchtet sei. Dōgen lent das ab, weil die besondere körperlich und geistige Haltung die unglaubliche positive Wirkung und Heilung erbringt. Das ist die ganz besondere Form des Zazen-Sitzens in der seit  langem bewährten Haltung.

Zazen-Praxis bedeutet Buddha-Handeln, ohne sich mit dem bewussten Ziel anzustrengen, selbst nach einer bestimmten Vorstellung Buddha werden zu wollen. Dieses Handeln übersteigt also das vorgefasste Ziel, ein wunderbarer Buddha zu werden, so zentral ein solcher Entschluss zu Anfang sein mag. Dieses Buddha-Handeln ist bereits die verwirklichte Welt und das verwirklichte Universum. Wenn man mit Gewalt eine eigene fixe Idee von Buddha anstrebt, verstrickt man sich allzu leicht in gedankliche und emotionale „Netze und Käfige“. Die heilende Kraft des Augenblicks der Zazen-Paxis kann sich nach Dōgen dann überhaupt nicht entfalten und verschwindet.

Dōgen beschreibt hierzu ein Gespräch der beiden Meister Nangaku und Baso: Baso, ein Schüler von Meister Nangaku, wurde von diesem gefragt:

„Was möchtest du erreichen, und welches Ziel hast du, wenn du Zazen praktizierst?“

Baso antwortete, dass er durch Zazen ein Buddha werden möchte. Aber Dōgen fragt uns: Gibt es aus der tiefen eigenen Erfahrung irgendein Ziel, das höher zu bewerten ist, als der Zustand der Zazen-Praxis selbst? Sicher nicht. Er wiederholt häufig, dass Zazen keinem willentlich angestrebten Ziel dienen darf, sondern Handeln und Zustand beim Streben nach der Wahrheit für sich selbst wirksam ist, und sich selbst vollständig genügt. Das Wichtigste dabei ist, dass Gedanken, Gefühle und der Dualismus zur Ruhe kommen. Man kann sagen, dass es sich Zazen natürlich ereignet, wenn man die richtige Sitzhaltung eingenommen und die Vorstellungen von Körper und Geist „fallen gelassen“ hat.

Dōgen fragt weiter, ob es jemals einen sinnvollen Bereich der Wahrheit gegeben hat, der als Ziel angestrebt wurde aber unabhägig vom Sitzens im Zazen ist. Welches Ziel würde genau in dem Augenblick, in dem man Zazen praktiziert, überhaupt verwirklicht? Ein solches vorgestelltes Ziel und ein solches auf das Ziel fixierte Denken wären dasselbe wie das Bild eines Drachen im Verhältnis zum wirklichen Drachen. Ein derartiges angestrengtes Denken und die Verengung auf Ziele würden die unmittelbare Kraft und Fülle der Gegenwart des Zazen im Hier und Jetzt und Universum zunichte machen. Der Geist würde verkrampft oder vielleicht in weit entfernte, gedachte Räume und Zeiten wegwandern und wäre nicht mehr unmittelbar wirksam. Die fixierte idealistische Absicht, ein Buddha zu werden, würde den Menschen in sich selbst verstricken, und die wahre Zazen-Erfahrung könnte sich im gegenwärtigen Augenblick nicht ereignen, nicht entfalten und nicht verwirklichen.

Gleichwohl sollte man die Absicht des Mönchs Baso nicht gering schätzen, die im obigen Koān-Gespräch deutlich wird. Der starke Wille zur Wahrheit, der von Dōgen in dem Kapitel zum Erwecken des Bodhi-Geistes herausgearbeitet wird, und auf den Weg des Buddha-Dharma führt, hat einen zentralen Stellenwert im Shōbōgenzō. Ohne das Streben nach der Wahrheit kann man im Auf und Ab des täglichen Lebens kaum je die wahre Richtung finden und die vielen menschlichen Irrtümer erkennen. Man könnte die Sackgassen nicht vermeiden, die sich vor Allem im sozialen Zusammenleben auftun. Wir brauchen unbedingt einen solchen Kompass.

In der obigen Geschichte ergreift Meister Nangaku einen in der Nähe liegenden Ziegelstein, statt das Gespräch fortzusetzen. Er beginnt ihn an dem dortigen Felsen zu schleifen. Er erweckt damit den Eindruck, als er wolle den Ziegel ganz fein polieren. Dies ist aber materiell natürlich wenig sinnvoll. Auf die Frage des Mönchs, was der Meister mit dem Schleifen des Ziegels denn eigentlich wolle, antwortet dieser: „Ich poliere ihn, um einen Spiegel daraus zu machen“. Der Mönch Baso erlebt plötzlich und unerwartet bei diesem Schleifen und Handeln das große Erwachen! Meister Nangaku hat also keinen materiellen Spiegel geschliffen, sondern den Geist und die Psyche seines Schülers befreit. Dann konnte sich die volle Wirklichkeit und Wahrheit spiegeln und wirksam werden.

Nishijima Roshi lehrt im Sinne von Dōgen, dass die richtige Zazen-Praxis bereits selbst die erste Erleuchtung ist, und dies gilt sowohl für Anfänger, als auch für Fortgeschrittene und auch für Meister. Es bedarf also keiner weiteren fixierte4n Absichten und Ziele, wenn Körper und Geist die richtige Haltung im Zazen einnehmen. Man kann dann nichts hinzutun oder wegnehmen. Im Zazen ereignet sich bereits die erste Erleuchtung, und genau dann ist man Buddha. Dies ist die tiefe Bedeutung des absichtslosen Sitzens.

Es sei sinnlos, mit Worten über Illusion und Verwirklichung der Erleuchtung zu diskutieren. Auch das intellektuelle oder esoterische Streben nach einer vollständigen Erklärung oder logischer Zergliederung des Zazen führt nicht weiter. Dōgen schließt diesen Teil des Kapitels mit der Feststellung, dass bereits zu seiner Zeit und auch schon in früheren Zeiten nur wenige Menschen wirklich verstehen, dass Zazen eine solch großartige Übungspraxis ist. Diese Meditation ist wie eine Nadel in der Akupunktur, die große Heilwirkung erzeugt.

Für Dōgen ist die richtige Körperhaltung bei der Zazen-Praxis eine notwendige Voraussetzung für den Übungsweg des Buddha-Dharma. Er verwendet dabei das Gleichnis von einem Ochsenkarren: Alle meinen, dass man den Ochsen antreiben oder gar schlagen müsse, wenn das ganze Gefährt stehen geblieben ist und weiterfahren soll. Der Ochse ist dabei das Symbol für den Geist, der den Wagen ziehen soll. Aber sehr häufig sei der Wagen selbst das Problem und die Ursache für den Stillstand und nicht der Ochse. Der Wagen ist dabei das Symbol für den Körper. Wenn demnach der Körper die Ursache für das ganzheitliche Problem ist, nützt die Anspannung des Geistes nicht viel.

Dōgen spricht mit diesem Gleichnis die Funktion des Körpers bei der Zazen-Praxis an und kommt zu dem Schluss, dass Körper und Geist immer eine Ganzheit bilden. Diese darf nicht getrennt werden, besonders beim Zazen. Sonst bleibt unser Karren eben stehen. Bei dieser Praxis wird die einseitige Konzentration auf den Geist aufgegeben, denn sie sei eine Sackgasse. Man soll daher nicht auf den Geist „einprügeln“. Es mag zwar eigenartig erscheinen, dass man nach der obigen Geschichte den Wagen schlägt und nicht den Ochsen. Vielleicht ist es allerdings überhaupt sinnvoll, weder den Geist noch den Körper oder beide zu prügeln. Mit der Ganzheit von Körper und Geist ist das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung gemeint, die unser Leben und die gesamte Ökologie kennzeichnet.

Arroganter Stolz auf das eingebildete Beherrschen der Körperhaltung führe nicht weiter. Wer sich selbst in seiner Zazen-Haltung bewundert und meint, damit sei er ja schon als echter Buddhist ausgewiesen und sei nach Dōgen sogar Buddha, ist einem gefährlichen Irrtum aufgesessen. Wer den Lotossitz so wunderbar beherrscht und dies stolz den anderen oder sich selbst vorführt, ist tief in einen solchen Irrtum des Ego verstrickt. Ich-Stolz verhindert die Heilwirkung des Zazen. Auch der Stolz darauf, längere Sitzperioden auszuhalten zu können als die meisten, verhindert die natürliche Befreiung von Körper und Geist. Dies wäre sicher auch der falsche Weg.

Das berühmte Zazen-Gedicht von Meister Wanshi

Dōgen vergleicht bei der Interpretation von Wanshis Zazen-Gedicht die die heilende Kraft des Zazen mit der Spitze einer Akupunktur-Nadel. Er sagt damit, dass wir mit der Zen-Meditation die mit großen Aufgaben und Funktionen in diesem Leben und in dieser Welt meistern. Diese Kraft manifestiert sich bereits von Anfang an vor uns. Sie ist das wahre Verhalten und Handeln der Buddhas, die über physikalische Geräusche und materiellen Formen hinausgeht. Er verwendet die Formulierung „ein flüchtiger Blick der Zeit, bevor unsere Eltern geboren wurden“ für die Vergangenheit, deren Beginn wir nicht ermessen können. Wir leben und handeln beim Zazen befreit ganz im gegenwärtigen Augenblick.

Die Spitze dieser Zazen-Nadel würde ihrerseits die großen buddhistischen Meister achten, die Dōgen häufig ewige Buddhas nennt. Das ist die Wechselwirkung von heilender Nadel und Meditation. Beide würden niemals herabgesetzt oder beschimpft. Wichtig bei der Zazen-Praxis ist, dass wir nicht nachlässig sind und Körper und Geist nicht zu bequem schonen, nur weil wir uns nicht anstrengen möchten. Wir verlieren beim Zazen unseren früheren begrenzten Geist und unsere Erinnerung des früheren isolierten dualen Körpers. Wir lassen diesen einengenden Körper und Geist fallen und können dadurch das Tor des Friedens und der Freude zum Buddha-Dharma öffnen. Die Nadel des Zazen sei genau Gautama Buddha in seiner natürlichen Form und seiner legendären Größe.

Die zentrale heilsame Wirkung, die am Anfang des Gedichts von Meister Wanshi erwähnt wird, ist nach Dōgen die Zazen-Praxis selbst. Die großen alten Meister lehrten nicht durch abstrakte Worte, sondern durch diese Praxis. Ohne diese sei die Weitergabe des authentischen Buddha-Dharma an Schüler und Nachfolger überhaupt nicht möglich. Dabei wird die buddhistische Robe auf den Nachfolger übertragen. In dieser Zeremonie sind Meister und Schüler von Angesicht zu Angesicht anwesend und sie sind ein Ganzes. Dies gilt für jeden Einzelfall der Übertragungskette aller Vorfahren im Dharma. Nishijima Roshi führt die Zeremonie übrigens im Dunkeln durch, beleuchtet das Dokument mit einer kleinen Lampe und erinnert damit an Meister Daikan Enô (Huineng), der um Mitternacht allein mit dem Meister von Angesicht zu Angesicht die Dharma-Übertragung erhielt.

Wanshi spricht nicht von der dualen Wahrnehmung durch die Sinne, weil diese meist nur die äußere Form und die materielle Seite erfassen können. Wir wissen durch die Gehirnforschung heute sehr viel genauer, als es in Dōgens Zeit bekannt war, dass die verzerrte Wahrnehmung ungenau und fehlerhaft iswt. Gleichwohl ist sie für das praktische Leben natürlich unbedingt erforderlich und ein wichtiger Teil der Wirklichkeit. Wir sollten daher trainieren, genau und unverzerrt hinzusehen. Beim Zazen geht es auch nicht um intellektuelles Verstehen und nicht um ehrgeizigen Aktionismus. Deshalb spricht Wanshi von ganzheitlichem ungehinderten Wahrnehmen und Erfahren.

Man sollte sich nicht in der spekulativen Wahrnehmung des Universums oder in der subjektiven Selbstbetrachtung verlieren, wie es heute leider manchmal aufgrund der falsch verstandenen Achtsamkeit geschieht. Denn es geht gerade nicht um die subjektive Befindlichkeit und vor allem nicht um die Ich-zentrierte Empfindlichkeit. Es geht auch nicht darum, ob der Praktizierende eine hohe Intelligenz hat oder nicht. Im Zen-Buddhismus finden sich viele Beispiele, die vom Erwachen der sogenannten „beschränkten“ Menschen berichten. Eine übersteigerte, messerscharfe Intelligenz ist oft sogar hinderlich, um den Dualismus und das dialektische Argumentieren zu überwinden und zum Wesentlichen und Einfachen von Körper-und-Geist vorzudringen.[1]

Die Aussage Wanschis:

„Gegebenheiten nicht ablehnen, schon erleuchtet sein

bezieht sich nicht auf die gängigen idealistischen Vorstellungen von der Erleuchtung. Alle Begriffe wie Erleuchtung, Erwachen oder Leerheit können den wahren Zustand im Zazen nur ganz grob beschreiben unde darauf hindeuten. Wer keine eigene Erfahrung mit der Zazen-Praxis hat, wird sich zwangsläufig etwas Falsches darunter vorstellen. Dies umso mehr, je stärker er die Erleuchtung mit Gewalt anstrebt, aus welchen Motiven auch immer. Vorstellungen über die „spirituelle Erleuchtung“ sind nicht mit der Wirklichkeit des Zazen-Sitzens identisch.[2]

Die strahlende Klarheit des Zazen lässt keinen Raum für unterscheidende dualistische Gedanken, für verschiedensten Denkobjekte, für die Ablehnung der Umwelt und Missachtung anderer Menschen.[3] Es geht nicht um eine nachträgliche Verbindung der angeblich vorhandenen dualistischer Umstände mit der strahlenden Klarheit, denn beides bildet von Anfang an eine Ganzheit.

Wanshi fügt hinzu:

„Das ganze Universum ist niemals verborgen gewesen.“

Es ist auch nicht eine andere geheimnisvolle spirituelle Welt, die sich von unserer radikal unterscheidet und uns nicht zugänglich ist. Die Ganzheit von Meister und Universum wird in der Zen-Geschichte häufig mit Meister Fuke in Verbindung gebracht, der ein Zeitgenosse von Meister Rinzai war. Nach gewöhnlicher Vorstellung handelte Fuke fast wie ein „verrückter Heiliger“. Und es ist sicher kein Zufall, dass er als Ahnherr des Spiels mit der Bambusflöte, der Shakuhachim gilt. Deren Sinn ist es nicht, durch virtuose Musik zu beeindrucken, sondern eine Ganzheit der Wechselwirkungt und das Zusammen-Wirken von Spieler, Zuhörer, Ton, Körper-und-Geist und Universum zu realisieren.[4] Da ich selbst Shakuhachi spiele, ist mir Meister Fukes Handeln recht vertraut.

Wanshi verwendet an dieser Stelle eine für uns vielleicht merkwürdig klingende Formulierung, um die Zazen-Praxis zu beschreiben:

„Durch das Sitzen die Haut aufbrechen, die unsere Mütter geboren haben.“

Mit diesem Aufbrechen ist die Überwindung der verengten Sicht und Vorstellung von unserem Körper und Geist gemeint, indem sozusagen unsere körperliche Haut durchlässig und die Abgrenzung zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben wird. Dann kann sich eine offene Wechselwirkung entwickeln. Im erweiterten Sinn bedeutet es auch, dass die engen Vorstellungen und Traditionen unserer Herkunft, Familie oder Kultur aufgelöst werden, sodass sich die Wirklichkeit in ihrer unbegrenzten Weite zeigt und die Menschen von Fixierungen frei werden, die sie wie Ketten fesseln,.

In seinem Kommentar zu Wanshi verbindet Dōgen das Denken mit dem intuitiven klaren Erfahren und Erleben und stellt fest, dass sie nicht von äußerer Hilfe abhängig sind. Das heißt, dass der Zustand im Zazen von sich aus fein und subtil ist und keiner Hilfe von einem anderen Menschen oder einer sozialen Gruppe bedarf, schon gar nicht in einer ideologisch verengten Sekte. Denn der Zazen-Zustand ist natürlich und wird nicht im Nachhinein für getrennte angeblichen Substanzen erzeugt. Es geht nicht um unbestimmte oder gar romantische Gefühle, sondern um intuitive, klare Wahrnehmung der konkreten Form der Natur und unsere Lebens.

Die Wahrheit des Buddha-Dharma ist nach Dōgen in der Natur der Berge, Flüsse, Zäune und Kiesel gegenwärtig, denn „die Natur lehrt die Dharma-Wahrheit“.[5]

Jedes süßliche, romantisierende Gefühl für die Natur ist dem Zen-Buddhismus vollkommen fremd. Beim Zazen durchstößt man sozusagen die romantisierenden Gefühle im Zusammenhang mit der Natur und erfährt dadurch ihr wahres ungehindertes Wirken, das mit uns selbst und dem Universum untrennbar verbunden  ist. Wer es gelernt hat, die Natur genau zu beobachten, ist überrascht und fasziniert von ihrer Feinheit, Vielfalt, Schönheit und Klarheit.

Den Zustand im Zazen beschreibt Dōgen nicht nur als fein und subtil, sondern auch als kraftvoll und ausgestattet mit einer natürlichen Energie. Wir haben beim Zazen teil an der kosmischen Kraft, die uns besonders in den schwierigen und problematischen Situationen des alltäglichen Lebens stärkt, indem sie uns Klarheit und Kraft verleiht.

Nach einer chinesischen Legende werden die Fische des Gelben Flusses zu kraftvollen Drachen, wenn es ihnen gelingt, die Stromschnellen stromaufwärts zu überwinden, die als Drachentor bekannt sind. Der östliche Drache ist ein kräftiges, weises Fabeltier und unterscheidet sich grundlegend von dem bösen und mordenden Untier, das in westlichen Mythen sein Unwesen treibt. Dōgen warnt uns aber davor, uns heroischen Gedanken hinzugeben und betont, dass es irrelevant ist, wann wir zu einem Drachen werden. Dafür dürfen Berge und Flüsse uns nicht fremd sein, sondern wir müssen mit ihnen im tiefen Sinne vertraut sein. Dies bedarf einer direkten Offenheit für die Natur, die nur durch eigenes Erleben und Erfahren möglich ist, zum Beispiel indem wir uns selbst in den Bergen wandern. Eine noch so detaillierte Vorstellung von den Bergen und Flüssen reicht laut Dōgen nicht aus,

Die strahlende Klarheit[6] leuchtet beim Zazen aus sich selbst, und es gibt nicht den kleinsten getrennten Anfang, wie es in Wanshis Gedicht heißt. Die Klarheit aus sich selbst ist im Universum im kleinsten Dharma und im unvorstellbar großen Weltall vorhanden. Dies ist der natürliche Zustand, zu dem wir bei der Zazen-Praxis Zugang haben. Er ist bereits die Erleuchtung selbst! Die Wirklichkeit ist genau so, wie sie ist, es wurde niemals etwas Wirkliches hinzugefügt oder weggenommen

„Habt keinen Zweifel an den Augen, aber vertraut nicht unbedingt den Ohren.“

Die Augen bedeuten in der alten chinesischen Symbolik häufig das intuitive ganzheitliche und richtige Wahrnehmen, das unmittelbar und direkt ist. Durch die Wahrnehmung mit den Augen erhalten wir einen klaren Zugang zur Wirklichkeit, zum Beispiel zur Natur und zu anderen Menschen. Die Ohren stehen dagegen oft für ein intellektuelles und abstraktes Verständnis, das sich als isolierte Kommunikation allzu leicht von der Wirklichkeit hier und jetzt ablöst und in Suggestionen und Verführungen verirrt. Daher heißt es an anderer Stelle im Shôbôgenzô, dass wir mit den Augen hören sollen. Damit ist gemeint, dass wir uns nicht von der scheinbaren Logik und von rationalisierenden oder populistischen Aussagen einfangen lassen, sondern unmittelbar ganzheitlich verstehen sollen, um was es geht:

Es folgen die Verse:

„Das Wasser ist rein, ganz bis zum Grund. Fische schwimmen langsam, langsam.“

Der von Dōgen verwendete japanische Begriff Sui-sei für „rein“ hat verschiedene Bedeutungen: spirituell rein im Sinne des Buddhismus oder physikalisch rein, sauber und nicht durch irgendetwas verunreinigt, also durchsichtig, leer und transparent. Wenn wir in reines Wasser schauen, können wir den Grund so klar erkennen, als ob er nicht durch Wasser bedeckt wäre. Die Klarheit des Wassers ist ein Symbol für den Zustand im Zazen. Denn im Durcheinander unseres täglichen Lebens kommen wir nicht zur notwendigen Klarheit. Wir müssen uns bemühen, unsere Aufgaben „bis zum Grund“ korrekt zu erledigen. Im Japanischen bedeutet das, dass wir nicht nachlässig sind und die notwendige Ausdauer besitzen, um richtig und sachgerecht zu handeln.

Die Fische schwimmen im Wasser, ohne dass das Ufer und die Böschung für sie wie Begrenzungen wirken, denn sie sind in ihrem Element. Dies ist ihre Freiheit als handelnde Fische

„Daher gibt es niemanden, der (das Wasser) ausloten kann.“

Dōgen verbindet dann das poetische Bild der schwimmenden Fische mit der Zazen-Praxis:

„Die Tugend des Sitzens im Zazen ist wie dieses Schwimmen der Fische: Wer könnte es auf einer Skala von tausend oder zehntausend messen?

In Wanshis Gedicht heißt es zum Schluss: „Der Himmel ist weit, ohne Grenzen. Und Vögel fliegen weit, weit fort.“ Dōgen erläutert, dass hier nicht der Himmel der verengten physikalischen, materiellen Sicht gemeint ist, aber auch nicht ein abstraktes, irreal überhöhtes und jenseitiges Verständnis der Welt. Beides würde der Wirklichkeit der Zazen-Praxis nicht gerecht. Der Himmel wird hier sehr konkret als offene Weite und poetisch angesprochen.

Der weite Himmel werde nicht verborgen durch etwas, das ihn umhüllt, und zeige sich nicht durch etwas, das innen ist. Für Dōgen sind die im Himmel fliegenden Vögel die Dharma-Wahrheit, die sich in der Natur zeigt und sich mit uns verbindet. Wie bei den Fischen im Wasser ist auch bei den fliegenden Vögeln wirksam, dass und wie sie in ihrem ursprünglichen Element handeln. Dadurch leben und existieren sie wirklich. In dieser Wirklichkeit sind sie identisch mit dem Universum und nicht mit irgendwelchen Vorstellungen oder romantischen Beschreibungen. Dōgen formuliert dies pointiert:

„Fliegen im Himmel ist das ganze Universum. Weil das ganze Universum im Himmel fliegt.“

Mit dem unterscheidenden dualistische Verstand können wir nicht ermessen, was dieses Fliegen ist. Es ist auch schwer und meist nur unzureichend in Worte zu fassen. Die Formulierung „weit, weit fort“ bedeutet, dass die Vögel nicht gefesselt sind. Im alten China wurden Vögel nämlich durch Fesseln an den Füßen daran gehindert fortzufliegen. Die wörtliche Übersetzung aus dem Japanischen lautet, dass die Vögel keine Stricke unter den Füßen hätten, weil sie nicht angebunden sind.

Die zentrale Bedeutung des Fluges der Vögel ist die Zazen-Freiheit, die nicht durch Stricke von Ideologien, Dogmen und fixierten Weltanschauungen gehindert und gefesselt wird. Damit will Dōgen nach meiner Ansicht auch die Ambivalenz der Freiheit ausdrücken: Sie kann unverbindliche Weltflucht sein, ein „Ohne-mich-Standpunkt“ oder die Willens-Freiheit der Buddha-Wahrheit, die zur Überwindung des Leidens führt.

Dabei sollen die Ideen und Illusionen gerade nicht abheben und in den Himmel wuchern, sondern die große, wunderbare Wirklichkeit gibt es konkret an diesem Ort, wo wir sitzen und praktizieren. Dieses Hier und Jetzt ist die wahre Freiheit und Einheit mit dem Buddha-Dharma.

Abschließend bekräftigt Dōgen, dass keiner der großen Meister der Vergangenheit die Zazen-Praxis so genau, tiefgründig und poetisch beschrieben habe wie Meister Wanshi. Wenn „stinkende Hautsäcke“, wie Dōgen es drastisch formuliert – also gewöhnliche Menschen, woher sie auch immer stammen und wo immer sie leben mögen –, ihr ganzes Leben lang versuchen würden, etwas Gleichartiges zu verfassen. Aber das würde ihnen nicht gelingen. Dōgens eigener Meister Tendô Nyojô sprach daher in seinen formalen Dharma-Reden immer vom „ewigen Buddha Wanshi“. Niemals habe er andere Meister so bezeichnet, was seine außerordentlich hohe Wertschätzung für Wanshi beweist, die Dōgen teilt.

Dōgens eigenes Gedicht zum Zazen

In größter Hochachtung für Wanshis Verse verfasst Dōgen ein eigenes Gedicht und beschreibt darin die einzigartige Kraft und Wirksamkeit des Zazen aus seinem eigenen Erleben. Er hatte erst in China durch die Praxis des Zazen tiefe und umfassende Erleuchtung verwirklicht. Sein Gedicht hat große Ähnlichkeit mit dem von Meister Wanshi. Beide seien das Herzstück des Zen-Buddhismus und klären die einzigartige Wirkung der Zazen-Praxis auf dem buddhistischen Weg, und zwar für Anfänger, Fortgeschrittene und Meister.

Am Ende dieses Kapitels fasst Dōgen in seinen Versen also mit großer poetischer Kraft die außerordentliche Wichtigkeit zusammen, im Zazen zu sitzen und zu praktizieren. Für ihn steht fest, dass diese Art der Meditation höchste Wirksamkeit auf dem Buddha-Weg der Befreiung, Willensfreiheit, Selbststeuerung und Tatkraft der Mitte hat. Es ist nicht übertrieben, dass Zazen den Dualismus und die Substanz-Ideologie auflöst und unwirksam macht. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich die kaum glaubliche positive Wirkung bezeugen, als ich in einer sehr schwierigen Berufskrise stecken zu bleiben drohte. Nach der täglich Zazen-Praxis, morgens und abends, wurde aus dem drohenden Scheitern ein erstaunlicher Berufserfolg. Auch menschlich verdanke ich dem Zazen sehr viel.

Nach Dōgen ist Zazen das große Anliegen und das zentrale Tun der Kinder und Enkel der großen buddhistischen Meister:

„Dies ist das authentische Siegel, das empfangen und weitergegeben wird, von einem-zum-anderen.“

Zazen sei die direkte Verwirklichung und Befreiung der Menschen. Diese Praxis ist für alle machbar, ist einfach und erzeugt keine Komplikationen und Verwirrungen in unserem Leben. Sie ist nichts Künstliches, das zufällig entstanden ist, sondern sie ist natürlich und von unmittelbarer direkter Klarheit. Sie ist keine ideologische Erfindung falscher Gurus und übertreibt nicht, sondern kann ganz einfach von jedem Menschen sofort erfahren und erlebt werden. Wer keine eigenen praktischen Erfahrungen des Zazen hat, könne deshalb diese Praxis nicht einordnen, nicht beschreiben und nicht schätzen.

Bei der wahren Zazen-Praxis gab es laut Dōgen niemals Verschmutzung, wie bei vielen Dogmen, und es wird sie auch niemals geben. Da die Zazen-Praxis keine einseitige Ideologie ist, besteht dabei keinerlei geistige oder psychische Abhängigkeit von irgendetwas, auch nicht von einem Menschen. Sie ist von Anfang an frei. Es gibt eine zentrale Entscheidung und einen Anfang, der als Start auf dem Weg der Erleuchtung wirkt. Und es gibt keine vordergründige Absicht und kein falsches Erstreben des falschen Zustandes der eingebildeten Erleuchtung. Aber es ist erforderlich, sich beim Zazen anzustrengen, intensiv zu praktizieren und die genaue Sitzhaltung einzunehmen. Von großer Bedeutung ist eine natürliche Ausdauer. Also wirklich dranbleiben. So wird die lebendige Ganzheit und Wechselwirkung von Körper-und-Geist erfahren. Das ist bereits die erste Erleuchtung aus der ruhigen Mitte unseres Lebens: Nicht mehr und nicht weniger. Meister Dōgen dichtet:

 

Das wahre Tun eines jeden Buddha.

Das Tun des Wahren eines jeden Meisters.

Jenseits des Denkens: Verwirklichung,

Jenseits des Komplizierten: Verwirklichung.


Jenseits des Denkens: Verwirklichung. 

Die Verwirklichung ist natürlich und unmittelbar. 

Jenseits des Komplizierten: Verwirklichung.

Die Verwirklichung ist natürlich und bewährte Erfahrung.

 

Die Verwirklichung ist natürlich und unmittelbar.

Es gab keine Verschmutzung. 

Die Verwirklichung ist natürlich in der Erfahrung.

Es gab kein dogmatisches Richtig und da war keine trennende Distanz.


Es gab keine Verschmutzung des Unmittelbaren.

Das Unmittelbare hängt von nichts ab, es wird frei.

Es gab in der Erfahrung kein dogmatisches Richtig und keine trennende Distanz. 

Die Erfahrung ist ohne übertriebene Absicht und doch erfordert sie Anstrengung.


Das Wasser ist rein, klar und wirklich bis zum tiefen Grund. 

Die Fische schwimmen als Fische! 

Der Himmel ist weit, klar und ohne Begrenzung. 

Und die Vögel fliegen als Vögel!

 (Kôshô-hôrin Tempel, 1242)



[1] Shinji Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Nr. 22, S. 33 f.

[2] Nishijima, Gudo Wafu: Aus meinem Leben, S. 47 ff.

[3] Kap. 36, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S.103 ff.: „Die strahlende Klarheit im Buddhismus (Kômyô)

[4] Wachs, Marianne (Hrsg.): Kunst, Themenschwerpunkt. In: Form ist Leere – Leere Form. Buddhistische Themen und Lehrbegriffe 7

[5] Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujô seppô)“ und: Umwelt-Zen, S. 151 ff.

[6] Kap. 36, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 103 ff.: „Die strahlende Klarheit im Buddhismus (Kômyô)