Montag, 28. März 2022

Das Sūtra der wirklichen Berge und Wasser (Dogen: Sansui gyō)

 

Im Buddhismus sind Berge und Wasser die großartige Buddha-Welt, und in dieser Natur hat sich Buddha selbst verwirklicht. Berge und Wasser sind Teil der sogenannten unbelebten Natur und des Universums. Aber sie sind in Wechselwirkung mit uns und den Tieren. Es sind lebendige wirkliche Erscheinungen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Nach dem Buddha-Dharma gehen sie über die vordergründige Wahrnehmung und äußere Form hinaus und vermitteln die Reinheit, Kraft und Schönheit der Buddha-Welt. Heute wie damals suchen die Menschen die wunderbaren Augenblicke der Naturerlebnisse in den Bergen und auf den Gewässern.

Dōgen warnt aber davor, die wirklichen Berge und das wirkliche Wasser mit den Begriffen und Vorstellungen zu verwechseln, die wir Menschen uns fast automatisch von ihnen machen, die aber das wirkliche Erleben meistens verdecken, verzerren und verändern. Wenn wir dies nicht beachten, erfahren wir die Berge und das Wasser nicht mehr als Wirklichkeit, so wie sie ist, sondern wir erfahren uns mehr oder minder getrennt von ihnen, leben in der Welt unserer eigenen Ideen und Vorstellungen und nicht zuletzt in der Welt der Bewertungen und Vorurteile. Dadurch verblasst das eigentliche Naturerlebnis. Dōgen zitiert hierzu einen ewigen Buddha:

„Berge sind Berge, Wasser ist Wasser.’ Diese Worte bedeuten nicht, dass Berge (gedachte) Berge sind, sondern dass Berge (wirkliche) Berge sind. deshalb sollten wir die (wirklichen) Berge in der Praxis meistern. Wenn wir die Berge in der Praxis meistern, ist das die Anstrengung in den (wirklichen) Bergen. Solche Berge und solches Wasser bringen auf natürliche Art die Weisen und Heiligen hervor.“

Dōgen beginnt dieses Kapitel mit kraftvollen Sätzen, in denen er die Tugend der Berge beschreibt. Wie er sagt, sind sie die wahre Freiheit. Und Ethik und Moral werden durch die Berge verwirklicht. Er stellt dazu fest:

„Da (die Berge und Wasser) schon vor dem Zeitalter der Leere existieren, sind sie kraftvolles Handeln in der Gegenwart.“

Nishijima Roshi erklärt diesen Satz so, dass die Berge und Wasser sich genau wie die Natur seit der ewigen Vergangenheit offenbaren, aber ihr kraftvolles Handeln genau im gegenwärtigen Augenblick des Hier und Jetzt verwirklichen. Dōgen betont also, dass es ohne die Sein-Zeit im Augenblick keine kraftvolle Wirklichkeit geben kann. Er zitiert dann im Folgenden die zunächst eigenartig anmutende Aussage eines alten Meisters:

„Die blauen Berge wandern ständig, die Steinfrau gebiert in der Nacht ihre Kinder.“

Dies ist in der Tat ein Kōan-Satz, der sich zunächst dem logischen Verstand zu widersetzen scheint. Nishijima Roshi interpretiert ihn so, dass die alten Meister ein intuitives Verständnis von den Bewegungen und Veränderungen in der Natur hatten, ohne dass ihnen unsere modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Verfügung standen. In der Tat wissen wir heute, dass sich die scheinbar unveränderlichen Berge über längere Zeiträume laufend verändern und „wandern“. Zum Beispiel werden die großen Kontinentalschollen ständig auf dem teigigen Untergrund der Erde bewegt und lassen neue Auffaltungen der Gebirge entstehen. Wir wissen auch, dass Felsen zu Sand zerfallen oder in der Nacht beim Wechsel der Temperaturen bersten und sich damit teilen können.

Wenn wir unser starres vorgeformtes Wissen und Denken ausschalten und die Wirklichkeit ganz genau beobachten, sind die Berge also keineswegs statisch, absolut dauerhaft und fest, sondern sie wandern unaufhörlich und verändern sich fortwährend. Bei sehr genauer Beobachtung ergeben sich daraus unerwartete und verblüffende Einzelheiten und Zusammenhänge.

Wir wissen, dass die Berge uns im Rahmen unserer eigenen Lebensspanne unbeweglich, dauerhaft und stabil erscheinen. Wenn wir aber dieses erlernte Standardwissen einmal beiseite lassen und zum Beispiel Bergspitzen und Berggipfel genau beobachten und sie zusammen mit den über ihnen ziehenden Wolken unverstellt betrachten, können wir eigentlich nicht sagen, ob sich die Berge bewegen, ob sie stillstehen oder ob sich die Wolken bewegen. Wahrscheinlich sehen wir sogar, wenn wir unser Vorwissen ausschalten und nur die Wahrnehmung gelten lassen, dass sich sowohl die Berge als auch die Wolken bewegen. Eine ähnliche Beobachtung kennen wir von der Sonne und dem Mond, wenn die Wolken vor ihnen vorbeiziehen und wir bei unverstellter, genauer Betrachtung sagen müssen, dass sich der Mond oder die Sonne gleichzeitig mit den Wolken bewegen oder dass sowohl die Gestirne als auch die Wolken wandern.

Wenn wir einen Fluss in den Bergen anschauen und uns nur auf das fließende Wasser konzentrieren, vermögen wir allein aufgrund dieser Beobachtung nicht zu sagen, ob sich das Wasser oder die Berge bewegen. Wir können die obige Aussage daher so verstehen, dass die blauen Berge unserer Beobachtung zufolge ständig wandern, wenn wir das erlernte Wissen beiseite lassen.

Wir sollten uns nach Dōgen von unserem selbstverständlichen Vorwissen befreien und genau beobachten, was vor uns ist, damit wir es wirklich sehen. Allein aus der Beobachtung können wir also sowohl ableiten, dass die Berge in Ruhe sind, als auch, dass sie sich bewegen. Dōgen empfiehlt uns mit anderen Worten, dass wir die Natur wirklich ganz genau betrachten und dass wir die Bewegungen der Berge mit unserer Sinneswahrnehmung exakt untersuchen und erfahren. Dadurch entsteht bei uns nicht zuletzt die Erfahrung, dass auch wir selbst uns bewegen, und so können wir uns aus der Starre vorgefassten Wissens befreien. Wir erlangen dann die unmittelbare „Freiheit des Anfänger-Geistes“, die nicht durch Gedachtes einzementiert ist. In einer solchen Bewegung der Natur gibt es ein wirkliches Gleichgewicht. Die Naturwissenschaft lehrt uns, dass die Balance des Universums allein durch die gewaltigen Bewegungen und Kräfte der Gestirne und Energien ermöglicht wird. Ist das nicht auch ein Gleichnis für unser eigenes Leben?

Wenn wir uns in den Bergen aufhalten, uns dort bewegen und wandern oder in einem Kloster praktizieren, ist dies nach Dōgen, als würde sich eine Blüte öffnen, es ist die Wirklichkeit des Buddha-Dharma. Wir müssen uns natürlich ganz für den Augenblick in den Bergen öffnen und „klare Augen“ haben, um die Berge wirklich zu sehen, zu erkennen, zu hören und zu erfahren. Wenn wir in den Bergen wandern und das angelernte Wissen vergessen, dass sie unbeweglich und statisch sein sollen, können wir wirklich beobachten, dass die Berge mit unseren eigenen Schritten und mit unserer eigenen Bewegung wandern. Ich habe dies selbst mehrfach ausprobiert und war überrascht, dass es stimmt. Erproben Sie es doch einmal selbst, wenn sie sich in den Bergen aufhalten!

Die Berge selbst sind nach Dōgen jenseits von Fühlen und Nicht-Fühlen, und wenn wir uns ihnen anvertrauen, befreien wir uns von beengenden und beunruhigenden Emotionen. Es gibt dauernde Bewegungen in der Welt, denn wäre sie erstarrt, so könnte auch der Buddha-Dharma nicht an uns übermittelt werden. Dōgen spricht sogar davon, dass die Berge fließen und dass es „fließende Berge“ sind. Wenn man sich vom eingefahrenen Wissen und Denken löst, kann man nach Dōgen sehen, dass die Berge über das Wasser fließen. Er kritisiert die gewöhnlichen Menschen, die nicht in der Lage sind, wirklich genau zu beobachten, und daher daran zweifeln, dass sich die blauen Berge bewegen. Der sogenannte gesunde Menschenverstand weiß, dass es fließendes Wasser gibt, aber fließende Berge erscheinen ihm wohl doch recht seltsam. Berge werden im Allgemeinen als etwas Dauerhaftes, Festes und Statisches angesehen, und man gibt ihnen auch feste, eindeutige Namen. Dann kann man über sie zwar gut sprechen, und alle meinen, sie wüssten genau, was Berge sind und dass sie unabhängig vom Zeitablauf dauerhaft und sogar ewig bestehen. Dies sind jedoch nur Worte, die nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden dürfen.

Dem setzt Dōgen seine Aussage entgegen, dass die „Bergfrau ihre Berg-Kinder gebiert“. Er sagt damit letztlich, dass die Berge leben, sich verändern, sich bewegen, sich teilen und daher auch „Kinder“ bekommen. Offensichtlich will er uns klarmachen, dass die Berge nichts Statisches und Totes sind.

Auf der anderen Seite haben wir vielleicht wunderbare Ideen und stellen uns vor, dass die Buddhas in den Bergen die Wahrheit praktizieren. Dabei können wir sicherlich auch romantische Gefühle entwickeln. Dōgen rät uns, dass wir uns nicht in solchen Träumereien verlieren, denn die Erhabenheit und Bewegung der Berge geht über alle romantischen Emotionen und subjektiven Befindlichkeiten hinaus. Es ist in der Tat oft wenig hilfreich, wenn man die Schönheit der Berge nur mit Worten, und seien sie noch so poetisch, subjektiv beschreiben will, denn eben dadurch kann man sich von der Wirklichkeit abschneiden und in Worten und Sätzen verfangen. Man klebt an ihnen, ohne sich dessen immer bewusst zu sein. Nur wenn man die Begrenztheit der Sprache erkennt, kann man daher zur Wirklichkeit und Wahrheit selbst gelangen. Dōgen sagt:

„Die blauen Berge wandern ständig“, und „der Ost-Berg bewegt sich auf dem Wasser.“

Dies sollen wir in allen Einzelheiten und in sehr genauer Beobachtung betrachten und vertiefen. Wenn die Berge vorwärts und rückwärts wandern, kann diese gegensätzliche Bewegung niemals im selben Augenblick vor sich gehen. So findet dieses Tun jeweils unabhängig in einem Augenblick statt und damit

„widersetzt sich das Vorwärtsgehen niemals dem Rückwärtsgehen und umgekehrt. Wir nennen dies die Tugend, dass die Berge fließen, und wir nennen sie die fließenden Berge.“

Im Folgenden kritisiert Dōgen in ungewöhnlicher Schärfe diejenigen, die die Lehre des Zen-Buddhismus nicht als logisch und vernünftig ansehen. Er berichtet aus dem China der Song-Zeit, es gebe dort viele Gruppen und Lehrer, die insbesondere die Aussage des „Ost-Berges, der über das Wasser geht“ als Beweis dafür anführen, dass der Zen-Buddhismus unlogisch sei, und behaupten, es sei daher überhaupt nicht sinnvoll, die überlieferten Aussagen der alten Meister mit der Vernunft zu studieren und sich zu erarbeiten. Sie seine jenseits des rationalen Verstehens. Dōgen sagt:

„Diejenigen, die so reden, sind noch niemals einem wahren Lehrer begegnet. Sie haben nicht die Augen in der Praxis zu lernen, sie sind nur kleine Hunde, die es nicht verdient habe, über sie zu diskutieren.“

Es ist sehr bedeutungsvoll, dass Dōgen gegen diejenigen zu Felde zieht, die den Zen-Buddhismus und nicht zuletzt die Kōan-Geschichten als irrational ansehen und meinen, sie seien jenseits des rationalen Denkens. In der Tat ist auch heute häufig die Meinung anzutreffen, dass insbesondere die Schriften von Meister Dōgen selbst unlogisch, widersprüchlich und mystisch seien. Dagegen verwahrt sich Dōgen mit Nachdruck.

Auch bei uns im Westen gibt es selbst ernannte Meister, die ihre angebliche Überlegenheit im Buddha-Dharma durch die scheinbaren Paradoxien der Kōan-Geschichten abstützen und uns weismachen wollen, dass sie selbst diese Paradoxien „verstünden“, aber die Schüler nicht.

Es ist sehr wichtig, dass wir die Gleichnisse und Texte der alten Meister und Zen-Buddhisten wirklich genau studieren und einen Schlüssel finden, um uns deren Aussagen und Wahrheiten zu erschließen. Nach meiner Erfahrung ist die Lehre von Nishijima Roshi von den vier Sichtweisen oder Lebensphilosophien im Buddhismus genau dieser Schlüssel zur „Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“.

Gemäß dieser Lehre werden die großen buddhistischen Themen in den einzelnen Kapiteln des Shōbōgenzō aus folgenden vier Blickwinkeln beleuchtet: erstens vom Bereich der Ideen und des Denkens her, zweitens vom Bereich der Wahrnehmung, also der Formen und Farben, her, drittens mit der Lebensphilosophie des Handelns im gegenwärtigen Augenblick. Schließlich gibt es viertens die umfassende Lebensphilosophie und Lebenspraxis des wahren Buddha-Dharma, die auch Erwachen oder Erleuchtung genannt wird. Diese bezieht die drei vorherigen Sichtweisen mit ein, ordnet diesen aber nur einen bestimmten begrenzten Stellenwert im Ganzen zu

Wenn der Buddhismus unvernünftig wäre, so wären auch die Argumente jener Buddhisten unvernünftig, die behaupten der Buddhismus sei irrational. Sie dürften demnach also gar nicht behaupten, dass ihre eigenen Aussagen richtig und vernünftig seien, wenn sie genau diesen Grundsatz der Vernunft generell für die Buddha-Lehre ablehnen. Im Übrigen ist dies derselbe unvermeidbare Widerspruch wie bei den Nihilisten, die behaupten, alles und jedes in der Welt sei unwahr, aber unbedingt darauf bestehen, dass ihre eigenen Aussagen richtig seien.

Dōgen sagt uns, dass sich alle Wasser am Fuß von Bergen verwirklichen, dass sich die Berge hoch zu den Wolken erheben und dass sie bei genauer Beobachtung in den Himmel wandern:

„Die Berge sind die Häupter aller Wasser, die sich auf dem Wasser hin und her bewegen; weil die Füße der Berge über viele Arten des Wassers fließen können und die Wasser tanzen lassen, bewegen sie sich frei im Universum.“

Wenn wir dem Wasser bestimmte Eigenschaften zuordnen, zum Beispiel wie stark oder schwach, wie nass oder trocken, wie kalt oder warm es ist, oder auch sagen, das Wasser sei existent oder nicht existent, so sind dies wertende Beschreibungen oder Abstraktionen von uns als Menschen. Wir dürfen unsere Bewertungen aber nicht mit dem Wasser selbst verwechseln. Allerdings gibt es nach Dōgen einfache Tatsachen, zum Beispiel, dass das Wasser dampfförmig, flüssig oder fest wie Eis ist. Dies sind also wirkliche Gegebenheiten des Wassers und nicht menschliche Bewertungen. Durch unser scheinbares Vorwissen und unsere Bewertungen wird demnach die Wirklichkeit der Berge und Wasser oft verdeckt. Um das auszudrücken, benutzt Dōgen Aussagen wie:

„Das Wasser sieht das Wasser, das Wasser begegnet dem Wasser, das Wasser ist sich selbst genug und begrenzt sich auf sich selbst, das Wasser folgt dem Wasser usw.“

Er will damit die Gedanken und Vorstellungen, die wir vom Wasser haben, von dessen Wirklichkeit abgrenzen. Wir sollten also unsere subjektive Sicht des Wassers nicht als allein richtig annehmen, sondern uns bemühen, auch die Sicht und Erfahrungswelt anderer Lebewesen in Bezug auf das Wasser nachzuvollziehen. Diese mögen das Wasser als etwas ganz anderes sehen und erleben als wir Menschen. Dōgen zufolge sollten wir auch versuchen zu erfahren, wie die Buddhas und Vorfahren im Dharma das Wasser sehen und benutzen. Er sagt wörtlich:

„Ferner sollten wir in der Praxis erlernen, ob es Wasser in den Häusern der Buddhas und Vorfahren im Dharma gibt oder nicht.“

Im Folgenden untersucht er vertieft die Berge und deren Bedeutung im Buddha-Dharma. Die Heiligen und großen Meister sind meistens in die Berge gegangen und haben dort Zazen praktiziert. So lagen die Klöster im alten China überwiegend auf Bergen oder in Hochtälern, und auch Gautama Buddha selbst wanderte zu den Hängen des Himalaja im heutigen Nepal, nachdem er sein wohlhabendes und bequemes Zuhause verlassen hatte.

Die Klarheit und Unmittelbarkeit der Natur in den Bergen entfaltet immer eine besondere Kraft für die Menschen, die auf der Suche nach der Wahrheit sind und ein Gespür für die wunderbare, großartige Schönheit der Bergwelt haben. Die Berge haben nach Dōgen also wesentlichen Anteil daran, dass heilige und große Meister dort zur Wirklichkeit und Wahrheit erwacht sind.

Das unmittelbare Erleben in den Bergen selbst unterscheidet sich vollständig von der Vorstellung und den Bildern, die wir von den Bergen haben, wenn wir in Städten und Dörfern auf dem flachen Land wohnen. Von dort aus können wir auch nicht direkt beobachten, dass „die Berge fließen“, weil wir sie in ihrer Ursprünglichkeit nicht sehen. Und dann denken wir, die Berge seien statisch und fest stehend, so wie sie in unserer Erinnerung und Vorstellung „abgespeichert“ sind. In den Bergen selbst handeln wir im gegenwärtigen Augenblick mit besonderer Klarheit und beobachten die wunderbare Natur unmittelbar und ohne Denkschleier. Wir können dort lernen, uns von festgefahrenen Vorstellungen zu befreien und unmittelbar in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt zu sein. Dies kann man nicht von außerhalb tun, sondern nur in den Bergen selbst praktisch erfahren und erforschen.

Wenn wir sagen, dass die Berge zu einen bestimmten Land gehören, zum Beispiel der Fujiyama zu Japan oder der Mont Blanc zu Frankreich, so ist dies nach Dōgen eine vordergründige und oberflächliche Sicht. Denn die Berge gehören zu den Menschen und Tieren, die sie lieben und mit denen sie eng verbunden sind. So kann man wirklich davon als einer Tatsache sprechen, dass auch die Berge die heiligen, ehrlichen und moralisch reinen Menschen lieben und eins mit ihnen sind.

In China gibt es viele Beispiele, dass Kaiser und Könige zu den heiligen und großen Meistern in die Berge gingen, um dort Rat zu holen und Klarheit zu erlangen. Dort konnten sie die weltlichen, oft erstarrten Umgangsformen und Konventionen beiseite lassen und als einfache Menschen handeln. So ist die wunderbare Ganzheit der Berge weder mit dem unterscheidenden und fixierenden Verstand noch mit der ungenauen und oberflächlichen Wahrnehmung des Menschen zu erfassen. Dōgen sagt hierzu:

„Wer könnte jemals das Fließen und das Nicht-Fließen der Berge und ihr übriges Handeln bezweifeln, auch wenn dies nicht mit dem Fließen in der Welt der Menschen vergleichbar ist?“

Auch am Wasser lebten Weise und Heilige, und sie „fischten“ dort die Wahrheit, sie fischten dort Menschen, die ihre Schüler wurden und die Zufriedenheit und die Freude des Erwachens erfuhren. Sie lebten an Seen, Flüssen und am Meer, und das Kommen und Gehen der Jahreszeiten, das Hoch- und Niedrigwasser oder Ebbe und Flut waren Teil von ihnen und unauflösbar mit ihnen verbunden. Sie fischten nicht nach Fischen, sondern in Wirklichkeit nach sich selbst, und fanden ihre Klarheit, Einfachheit und Bescheidenheit, wo vorher Ich-Bezug, Eitelkeit und die falsche Gier nach Ruhm und Profit gewesen waren.

Im Buddhismus gibt es die Welt der nicht empfindenden Wesen und der materiellen Elemente, wie Wasser, Wind, Feuer und Erde. Diese sind gleichzeitig die Welten der Buddhas, der großen Meister und der Vorfahren im Dharma. In diesem Zusammenhang geht es beim Wasser nicht mehr um die Begriffe und Vorstellungen des Fließens oder Nicht-Fließens, nicht um das Herunterfallen als Regen oder das Aufsteigen in die Wolken, denn diese Vorstellungen und Worte sind zu begrenzt und können letztlich weder dem Wasser noch den Bergen gerecht werden. Im Buddha-Dharma ist das Wasser genau die Wahrheit und Wirklichkeit des Wassers selbst, nicht mehr und nicht weniger, und dies gilt auch für die Berge. Das Wasser ist nicht nur in den Flüssen, Seen und Meeren, sondern auch in einem einzigen Wassertropfen oder in einem Tautropfen.

Genauso wie das Wasser können wir die Wahrheit, Reinheit und Tugend der Berge erfahren und erforschen. Der in ihnen verborgene Schatz öffnet sich für uns unvermutet je im Augenblick. Daher sagt ein alter Buddha:

„Berge sind Berge, Wasser ist Wasser.“

Dies heißt nichts anderes, als dass Berge nicht gedachte oder gesagte Berge sind, sondern die Berge selbst, und das Gleiche gilt für das Wasser. Denn

„solche Berge und Wasser bringen auf natürliche Art die Weisen und Heiligen hervor“.

Sonntag, 20. März 2022

Die große tiefe Weisheit, die das gespaltene duale Denken überschreitet

 

Meister Dōgen beschreibt im zweiten Kapitel des Shōbōgenzō (Makahannya haramitsu) die große umfassende Weisheit des Buddhismus, Pāramitā, die das übliche oft duale Denken und den gespaltenen Geist überschreitet. Sie lässt also solche Doktrinen weit hinter sich. Dieses letztlich eindimensionale Denken hat auch große Bereiche des westlichen Philosophie und Wissenschaft verengt und aus meiner Sicht zu den Problemen des europäischen Denkens maßgeblich beigetragen. Buddha und Meister Nagarjuna haben das erkannt und die buddhistische Praxis und Theorie erarbeitet, um dieser geistigen Falle zu entgehen. Wie im Gesang des Mittleren Weges, MMK, dem großen Lehrgedicht Nagarjunas herausgearbeitet wird, geht es dabei um die Falsifizierung der beiden extremen Doktrinen der ewigen Unveränderlichkeit oder zeitliche Zerstückelung in der Welt, Das hat Ähnlichkeit mit dem falsch verstandenen Sein und Seiendem nach westlicher Philosophie, also der Substantivismus und Momentanismus. Ich habe sie zusammen mit Dogens Weisheiten des Shobogenzoin den Büchern "Sternstunden des Buddhismus" genauer untersucht.

In Japanisch heißt das hier behandelte Kapitel Dogens (Makahannya haramitsu), das auch die Kernaussage des Herz-Sūtra ist. Er stellt dieses berühmte Sūtra an den Anfang seiner umfassenden Lehre des Buddhismus. Maßgeblich sind dafür die Begriffe Form und Leerheit. Auch Peter Gäng bezeichnet prajñā in seinem Buch über den Buddhismus als eine Weisheit, die über das übliche Denken hinausgeht. Das Herz-Sūtra ist eines der kürzesten und wohl auch aussagekräftigste aus einer Reihe von ca. vierzig Sūtras zu diesem Thema. Es wird in den buddhistischen Gruppen der meisten ostasiatischen und westlichen Traditionen auch heute regelmäßig rezitiert.

Pāramitā bedeutet das „Erreichen des anderen Ufers“, also das Erwachen und Überschreiten des üblichen Denkens und der gewöhnlichen Wahrnehmung. Dabei sind Geist und Wahrnehmung im Normalfall meistens mit mehr oder minder stark steuernden Emotionen beeinflusst. Prajñā wird auch oft mit dem Begriff der Leerheit (shūnyatā) verbunden, der vor allem von Meister Nāgārjuna tiefgründig interpretiert wurde. Der Begriff der Leerheit hat allerdings nicht selten zu gravierenden Missverständnissen geführt, weil oft die Vorstellung von Nihilismus und Ablehnung von Vernunft und Logik damit verbunden wird. Dies ist aber nicht richtig. Verkürzt bedeutet Leerheit: "Ohne die Gifte Gier, Hass und Verblendung", also besonders auch frei von verzerrenden Ideologien und Dogmen.

Prajñā bedeutet also die Weisheit, die das normale verzerrte und verengte Denken überschreitet, somit kennzeichnet sie also Qualitäten unseres Geistes, die beim linearen Denken und der Trennung von Subjekt und Objekt nicht zum Zuge kommen. Wichtig dabei sind nicht zuletzt geistige Leistungen, die wir als Intuition bezeichnen. Ich selbst habe das Herz-Sūtra immer wieder rezitiert und hatte zunächst erhebliche Mühe, überhaupt dessen Sinn zu erfassen, weil es am Schluss heißt, dass dieses Sūtra mit seiner Kraft „alles Leiden wegnimmt“. Wie kann man das Leiden überwinden, wenn es heißt, „Form ist Leere, und Leere ist Form“? Das war mir in der Tat völlig unklar.

Nishijima Roshi sagt zu diesem Kapitel:„Prajñā wird intuitiv und unmittelbar erfahren, wenn Körper und Geist im Zustand des Gleichgewichts sind. Und Zazen ist die Übungspraxis, durch die Körper und Geist in diesen Zustand gelangen. So ist die Pāramitā der großen Weisheit die Essenz des Zazen.“

Er verwendet für den Begriff der Leerheit häufig den Zustand des ganzheitlichen Gleichgewichts von Körper und Geist, also des ganzen Menschen und auf keinen Fall nur seines Intellektes.

Dōgen beginnt dieses Kapitel wie folgt:„Währen der Bodhisattva Avalokiteshvara die tiefgründige Prajñā-Pāramitā praktiziert, spiegelt der ganze Körper wider, dass die fünf Komponenten des Menschen (Skandhas) vollständig leer sind.“ Das bedeutet verkürzt, dass die Skandhas "von Natur aus" ohne die Gifte Gier, Hass und Verblendung sind, und das ist besonders wichtig für Denken, Fühlen und Wahrnehmung.

Nishijima Roshi erläutert hierzu sein erstes Grundprinzip, das man bei der Zazen-Praxis erfährt: „Das ganze Universum ist so, wie es ist“. Die fünf Komponenten des Menschen und der Welt, Skandhas, sind nach seiner Deutung Körper (Form), Sinne (Wahrnehmung), Denken, Handeln und Bewusstsein. Beim Zazen werden das verengte Denken und verzerrte Wahrnehmung überschritten, sodass sich das Bewusstsein ganz für das Hier und Jetzt öffnet. Es schüttelt den Stress, die Gedanken und aufgeladenen Gefühle einfach ab. Dies wird also auch mit dem Begriff „Leerheit“ bezeichnet: Wir sind dann leer von den beengten Gedanken und Gefühlen. Damit hat der Begriff „Leerheit“ eine ähnliche Bedeutung wie bei uns im Westen der Begriff der „Freiheit“, allerdings in einem umfassenden spirituellen Sinn. Nishijima Roshi erklärt hierzu, dass sich in diesem Zustand das vegetative, also autonome Nervensystem im Gleichgewicht des Zazen befindet und dass sich dadurch Ausgeglichenheit und Ruhe einstellen. Es gibt dann im Bewusstsein und Geist keine Störungen mehr, und dadurch wird die Welt und das Universum genau so erfahren, wie es ist. Damit ergibt sich eine Gleichheit von Leerheit und dem Zustand in der Zazen-Praxis. Gleichgewicht und Soheit. Ritsunen Linnebach verwendet dafür gern die Formulierung:„es ist, wie es ist“. Dôgen sagt folgerichtig zu den Begriffen von Form und Leerheit über das obige Zitat hinaus, dass die Form auch die Form und die Leerheit auch die Leerheit ist. Dadurch wird die Soheit von beiden besonders betont.

Ich hoffe, dass diese Ausführungen nicht allzu verwirrend sind; wichtig ist dabei, dass es sich um die übergreifende Weisheit jenseits des gewöhnlichen Denkens handelt. Sie ereignet sich nach der Lehre des Buddhismus in der Zazen-Praxis beim Menschen unmittelbar im Hier und Jetzt. Im frühen Buddhismus ist das die vierte Vertiefung: Ohne gegenständliche Denken, Zeit und Raum, aber wohlgemerkt in der Zeit der Meditation. Danach ist man umso klarer für das Hier und Jetzt, das dann so ist wie es ist.

Die intuitive, grenzüberschreitende Prajñā-Weisheit ist auch für die Wahrnehmung wirksam. Ein erwachter Mensch haftet bei der Sinneswahrnehmung, zum Beispiel beim Sehen, nicht mehr nur an der äußeren Form und an der Trennung von Subjekt und Objekt, sondern überschreitet diese. Die Wahrnehmung wird nach altindischer Tradition mit den sechs Formen der Sinne und den jeweiligen Objekten erfasst, die aber nicht als getrennt angenommen werden.

Auch die vier edlen Wahrheiten des Gautama Buddha zur Überwindung des Leidens werden von dieser intuitiven Weisheit (Prajñā-Pāramitā) durchdrungen. Dasselbe gilt für die sechs Arten des Bodhisattva-Handelns: Freizügiges Geben, Einhalten der Gelöbnisse, Geduld, Ausdauer, Meditation und Samādhi.

Dōgen betont die Verwirklichung im gegenwärtigen Augenblick (Sein-Zeit) und fügt die drei verschiedenen Arten der linearen Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinzu. Das heiß, es gibt eine wahre und unwahre Erinnerung und eine wahre und unwahre Erwartung für die Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind also nicht von der Gegenwart abgeschnitten sondern sind in Wechselwirkung mit dem Augenblick. Eine solche Trennung würde auch den Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung widersprechen.

Die altindischen Arten der materiellen Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum sowie die vier Tätigkeiten des Alltags werden durch die große intuitive Weisheit erfasst, von ihr durchdrungen, und dadurch werden das herkömmliche Leben und Denken überschritten.

Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, sich die Herkunft des Sanskrit-Begriffes shūnyatā zu vergegenwärtigen: Peter Gäng zufolge wurde kurz vor der Zeitenwende von indischen Mathematikern, die damals führend in der Welt waren, die Null im System der positiven und negativen Zahlen entdeckt. Die Null heißt auf Sanskrit shūnyatā. Die Null ist in der Mitte zwischen den positiven und negativen Zahlen angeordnet und ermöglicht so das „Gleichgewicht“ und die Funktionsfähigkeit des gesamten Zahlensystems. Zur gleichen Zeit wurden von mehreren großen indischen Meistern die Lehren des Mahāyāna-Buddhismus ausgearbeitet und interpretiert, wobei Meister Nāgārjuna diesbezüglich einen Höhepunkt und eine „goldene Periode“ prägte. Er verwendete für die Kennzeichnung des Mittleren Weges, also des kraftvollen Gleichgewichts, vor allem den Begriff shūnyatā und hat dies im Gesang des Mittleren Weges näher beschrieben. In der älteren buddhistischen Litratur wird Nâgârjuna allerdings z. T. als Nihilist bezeichnet, der angeblich durch den Inhalt von shûnyatâ alle Logik und alles Denken außer Kraft gesetzt hat und eine Auflösung im „Nichts“ lehren würde. Manchmal haben wir den Eindruck, das Schopenhauers Verständnis des Buddhismus dem nahe kommt. Dies ist aber nach heutiger weitgehend vorherrschender Sicht unrichtig, denn es geht um die intuitive, das unterscheidende Denken überschreitende Weisheit, die in der Praxis des Zazen erfahren wird.

Nishijima Roshi hat zuweilen den Eindruck, dass diese intuitive Weisheit, wie auch überhaupt die Intuition, im Westen nicht für wichtig genug genommen und nicht richtig anerkannt werden. Oft wird ein scheinbarer Gegensatz von rationalem Denken und Intuition konstruiert und letztere in den Bereich der nebulösen Esoterik und der Mystik verbannt. Dies ist meines Erachtens jedoch unsinnig. Eine intuitive Klarheit ist im Gleichgewicht des Zazen und beim täglichen Handeln möglich und führt auch in existenziellen komplexen Lebenssituationen zu ganz klaren schnellen Entscheidungen, die vom verengten linearen Verstand niemals geleistet werden könnten.

Dōgen zitiert einen Mönch aus dem Orden von Shâkyamuni Buddha, …

„… der für sich allein dachte: Stets werde ich mich in Verehrung vor dem tiefen Prajñā-Pāramitā verneigen“.

Nishijima Roshi erläutert dieses Zitat in dem Sinne, dass das aufrichtige Handeln des Mönchs die Weisheit Prajñā selbst sei und dass diese sich in seiner achtungsvollen und ehrlichen Verbeugung verwirklicht. Dieses Verhalten sei äußerlich allerdings nicht immer klar erkennbar.

Dōgen sagt: „Denn genau in diesem Augenblick der Verneigung verwirklicht sich (die Weisheit) Prajñā, die durch die Gelöbnisse, das Gleichgewicht und die Weisheit bis hin zur Erlösung aller Wesen erklärt und verstanden werden kann.“

Er spricht in diesem Zusammenhang auch ganz einfach davon, dass „so es ist, wie es ist“, und meint damit die Soheit ohne irgendwelche Verzerrungen und Zusätze, also die Wirklichkeit der Welt und des Universums selbst.

Dôgen führt für die Untersuchung der Prajñā-Pāramitā das Gleichnis des Raumes an und lässt den Schüler Buddhas zum Gott Indra sagen:

„Hochverehrter Indra, wenn die Bodhisattva Mahasattvas die tiefe Prajñā-Pāramitā erforschen wollen, sollen sie es wie den Raum erforschen.“

Der Raum ist im jetzigen Augenblick allgegenwärtig, und in gleicher Weise existiert Prajñā im ganzen Universum. So kann die Vorstellung des Raumes das intuitive Verstehen von Prajñā erleichtern, und dies ist möglich, wenn wir im gegenwärtigen Augenblick das Gleichgewicht verwirklichen und erleben.

Auf die Frage Indras, wie man die intuitive Weisheit beschützen könne, antwortet der Mönch Subhuti: Die Prajñā-Pāramitā werde beschützt, wenn die Menschen sie leben und lehren. Und Nishijima Roshi fügt hinzu:„Daher kann ein Mensch Buddha genannt werden, der immer den Zustand des Gleichgewichts aufrechterhält.“

Im Buddhismus wird nach Dōgen Prajñā empfangen, bewahrt, gelesen und rezitiert. Er sagt weiter, dass man „mit Einsicht (tiefer) darüber nachdenken soll“. Schließlich zitiert Meister Dōgen Shâkyamuni Buddha, der zu seinem Schüler Shāriputra sagt:

„Die höchstverehrten Buddhas sind Prajñā-Pāramitā. Warum sage ich dies? Ich sage es, Shāriputra, weil der richtige, wahre und ausgeglichene Zustand der Wahrheit, den alle Tathāgatas (Buddhas) haben, sich immer durch die Tugend des Prajñā-Pāramitā offenbart.“

Wenn die Formen und das Materielle mit der intuitiven Weisheit gesehen und erfahren werden, können sie im Zustand des Gleichgewichts als leer von allen Ideologien und Begierden bezeichnet werden. Sie sind dann so, wie sie sind. Dies kann zum Verständnis der Aussage, „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“ beitragen. Es darf sich jedoch nicht allein auf das intellektuelle Denken verengen, denn es geht um die große intuitive Weisheit.

 

Donnerstag, 3. März 2022

Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit! (Shoaku makusa)

In diesem Kapitel[i] erläutert Dōgen, dass es das Unrecht aus buddhistischer Sicht in der Welt und im Universum „von Natur aus“ gar nicht gibt, sondern dass es vom Menschen durch unrechtes Handeln selbst erzeugt, also hinzugefügt wird.[ii] Das ist eine sehr bemerkenswerte Aussage, denn in den meisten Religionen wird gelehrt, dass das Böse, zum Beispiel in Gestalt des Teufels, ein Teil dieser Welt und damit des Menschen ist und durch die Kraft des Guten und vor allem mit Gottes Hilfe bekämpft werden muss. In der Wirklichkeit des Buddhismus gibt es aber das Unrecht als eine Art böser, dauerhafter Essenz und als böse Entität nicht, sondern es gibt nur das unrechte Handeln der Menschen. Dieses verstößt gegen die Ethik und Moral und damit gegen die Gesetze des Lebens und Universums. Gleichwohl ist falsches, unrechtes und verbrecherisches Handeln in der Lebenswelt der Menschen leider eine traurige Tatsache, die man nicht wegdiskutieren und verdrängen darf. Und so warnt Dōgen mehrfach im Shōbōgenzō davor, sich in Illusionen zu verlieren und über die Wirklichkeit zu täuschen.

Der japanische Titel dieses Kapitels – das zehnte im Shōbōgenzō – lautet Shoaku makusa. Dabei bedeutet sho „viel“ oder „Vielfältiges“, aku heißt „falsch“ oder „schlecht“. Maku lässt sich übersetzen mit „nicht“ oder „tue nicht“ und sa mit „tun“, „handeln“, „machen“ und „erzeugen“. Daher lautet die wörtliche Übersetzung dieses Titels „Nichts vielfältiges Falsches tun“. Das japanische Wort sa hat in diesem Fall auch die Bedeutung von „erzeugen“ und „generieren“.

Bei der Übersetzung der deutschen Fassung von Dōgens Shōbōgenzō – „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ – haben Frau Ritsunen Linnebach und ich gründlich überlegt, ob wir die häufig verwendete Formulierung „Kein Unrecht tun“ übernehmen sollten oder nicht. Wir sind jedoch zu dem Schluss gekommen, dass die präzise Übersetzung aus dem Japanischen eher den deutschen Begriffen „erzeugen“ oder „begehen“ entspricht und dass Dōgen dies auch genau so meint. Beide Begriffe bringen besonders klar zum Ausdruck, dass das Unrecht und Falsche allein durch die Menschen erzeugt wird und eigentlich von Natur aus im Universum und in unserem Leben nicht existiert und dem Universum sogar zuwiderläuft. Deshalb kann die Überschrift auch bedeuten: „Erzeugt kein vielfältiges Unrecht“.

Würde man eine andere Übersetzung wählen, zum Beispiel „sich des Übels enthalten“, stünde die Vorstellung dahinter, dass das Übel in der Welt von Natur aus als Essenz bereits vorhanden ist und dass man sich davor in Acht nehmen, sich also dessen enthalten soll. Dies will Dōgen unseres Erachtens aber gerade nicht sagen.

Zum einen umfasst also die Formulierung des Titels den ethischen Imperativ: Tut nichts Falsches! Und sie kann das buddhistische, ethische Ideal bedeuten, das Ziel und die Absicht zu haben, nichts Falsches und kein Unrecht zu erzeugen. Aber zum anderen bezeichnet sie den für Dōgen wichtigen Punkt des konkreten Handelns im Augenblick, nämlich genau dann nichts Unrechtes zu tun oder zu erzeugen. Ethik ist laut Dōgen demnach ein Problem und eine Frage des Tuns oder Unterlassens im Jetzt. In diesem Sinne möchte ich die Formulierung „Erzeugt kein Unrecht“ verstanden wissen.

 

Unrechtes zu tun, ist nicht natürlich

Der zentrale Satz dieses Kapitels ist ein kurzes Sūtra, das Dōgen nun zitiert:

„Tue nichts Falsches, tue das Richtige, dann wird unser Geist auf natürliche Weise rein. Dies ist die Lehre der vielen Buddhas.“[iii]

Wichtig ist hier der Ausdruck „auf natürliche Weise“, denn das heißt, dass beim richtigen Handeln sich unsere wahre Natur, unser wahres Wesen und das des Universums verwirklichen. Es geht nicht darum, durch Handeln ohne „Sünde“ die ansonsten fälligen Strafen zu vermeiden, sondern darum, durch richtiges Handeln im Einklang mit dem Natürlichen zu sein.

Dōgen betont besonders, dass Ethik, also richtiges Handeln, untrennbar mit der buddhistischen Lehre und Praxis verbunden ist. Der Buddhismus ist keine wertfreie, indifferente Philosophie ohne Bezug zum ethischen praktischen Handeln, sondern die Einheit von Körper, Geist, Handeln und Ethik. Rechtes oder unrechtes Handeln im Hier und Jetzt des Augenblicks und Ortes sind für den Buddha-Dharma ganz wesentlich. Nishijima und Cross fassen dies so zusammen: „Moral ist, genau das Rechte tun und nicht das Falsche tun.“[iv] Bei Fehlern steht nicht die Bestrafung durch Gott oder andere Menschen im Vordergrund, denn wenn man gegen seine eigene Natur verstößt, schadet man in erster Linie sich selbst.

Dieses Kapitel lehrt die buddhistische Theorie der Moral, ohne die es überhaupt keinen Buddhismus geben kann. Ein zentrales Problem dabei ist, inwieweit das praktische Handeln wirklich mit der Ethik übereinstimmt und dass die eigenen subjektiven Bewertungen die moralische Wirklichkeit nicht verdecken oder verzerren. Denn dann wäre der denkende und bewertende Geist vom Handeln selbst getrennt, es gäbe keine Einheit von Geist und konkretem Handeln. Leider hat diese Trennung von Moral und Handeln in der Geschichte der Menschheit und nicht zuletzt bei den großen Religionen immer wieder viel Elend, Katastrophen und Leiden erzeugt.

Wenn Menschen abstrakt und meist empört über das Unrecht in der Welt und die Unmoral anderer Menschen diskutieren, handelt es sich häufig um psychische Abwehrmechanismen angesichts des eigenen unmoralischen Handelns, um damit von sich selbst abzulenken und das eigene Unrechte auf andere zu verlagern. Auf diese Weise soll der eigene ethische Druck bewältigt werden. Das sind aber psychische Verdrängungen, die auf Dauer nicht weiterhelfen.

Wer sich im Streit in aggressiven Worten verliert, um andere zu verletzen und zu erniedrigen, handelt gegen die sozialen und ethischen Gesetze des Buddhismus.[v] Aggressive Diskussionen zwischen den Menschen verhärten sich manchmal zu einem offenen verbalen Kampf des einen Ego gegen das andere. Dies ist aber auf keinen Fall der Buddha-Dharma. Beim Thema „Ethik und Moral“ haben wir es mit schwierigen Problemen der Theorie und Praxis zu tun, die ein hohes Maß an Ehrlichkeit und Offenheit gegenüber sich selbst erfordern.[vi] Wir können gespannt sein, was uns Dōgen dazu zu sagen hat. Im Folgenden zitiert er einen alten Buddha, der lehrte:

„Die Unrechte nicht zu erzeugen,

die vielen Arten des Rechten zu praktizieren,

reinigt natürlich den Geist.

Dies ist die Lehre der Buddhas.“

In der ersten Zeile dieses Gedichts habe ich für das japanische Wort aku analog zum Englischen die Pluralform „die Unrechte“ verwendet. Dies ist im Deutschen zwar eine ungewöhnliche Formulierung, aber sie soll aussagen, dass es die verschiedensten Formen und Inhalte des Falschen und Unrechten gibt. Dadurch wird gegenüber dem Singular „Unrecht“ oder „Falsches“ konkreter die besondere Situation des Handelns angesprochen und weniger die abstrakte moralische Idee des Unrechts. Zu beachten ist dabei, dass in der Semantik dieses Begriffes eine mentale Absicht enthalten ist, denn sehr häufig wird Unrechtes begangen, wenn eine entsprechende Absicht, die das Tun programmiert und steuert, bereits vor dem Augenblick des Tuns selbst vorhanden ist. Eine solche Absicht ist dem Betreffenden nicht immer voll bewusst und kann zum Beispiel in einer Ideologie begründet sein, die den anderen Menschen als fehlerhaft oder minderwertig ansieht. Sicher ist auch die Gier nach Ruhm, Profit und Macht als Triebfeder für unrechtes Tun von großer Bedeutung. Dadurch entstehen karmische Vorbedingungen und Energien, die dann im Augenblick des Handelns gegen die Ethik wirksam werden und die Möglichkeit der Freiheit zum richtigen moralischen Verhalten zerstören.

Die zweite Zeile des Gedichts verweist auf die vielen konkreten Formen und Arten, das Rechte zu tun und zu praktizieren. Damit wird eine psychische Situation der Bescheidenheit angesprochen und gleichzeitig eine zu große Abstraktion vermieden: Auch für das Gute und Richtige sind der konkrete Augenblick und die besondere Situation maßgeblich. Gutes Handeln verbindet Dōgen außerdem mit guter Emotion, die mit dem natürlichen ethischen Tun verknüpft ist: Gutes tun ist das, was natürlich ist. Und dies ist genau das Gegenteil vom Erzeugen des Falschen und Begehen des Unrechten, ob es nun bewusst und absichtlich geschieht oder nicht.

Die dritte Zeile enthält keine generelle Regel oder Empfehlung, ethisch zu handeln, sondern die Aussage Buddhas, dass dieses Verhalten die Reinigung des Geistes ist. Nach buddhistischer Lehre ist etwas Natürliches also moralisch rein und reinigt insbesondere den Geist, der jedoch nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern umfassend zu verstehen ist als Einheit von Körper-und-Geist. Dōgen arbeitet damit heraus, dass es um den Zustand von Geist, Herz und Körper beim Handeln geht.

In der vierten Zeile verwenden Nishijima und Cross in ihrer Übersetzung den Plural von Buddha, also „Buddhas“. Dōgen spricht im Shōbōgenzō bei den großen indischen und chinesischen Meistern oft von den „ewigen Buddhas“ und drückt damit aus, dass diese die Buddhaschaft genau wie Gautama Buddha verwirklicht haben. Denn nach der buddhistischen Lehre kann jeder Mensch erwachen und das Gleichgewicht von Körper-und-Geist erlangen, weil dies eine natürliche Fähigkeit und das wahre Wesen des Menschen ist, das durch Lehre und Praxis verwirklicht wird. Nishijima Roshi erklärt dazu: „Idealisten kennen nicht diese Lehren (der praktischen Ethik) und schätzen spirituelle Ideen. Und Materialisten leugnen die Existenz der Moral. Aber buddhistische Realisten schätzen das moralische Handeln im gegenwärtigen Augenblick sehr.“

Seine Worte sind an Prägnanz kaum zu übertreffen: Idealisten gelten zwar im Allgemeinen als besonders edel und vorbildlich, aber sie bleiben in ihren eigenen Idealen und Ideen gefangen. Aus ihrem Idealismus gewinnen sie ihr hohes Selbstwertgefühl. Materialisten halten dagegen häufig Ethik und Moral für veraltet, überflüssig und sogar für dumm. Was für sie zählt, ist der materielle Vorteil und der Erfolg, die nach ihrer Lebensphilosophie eine hohe Lebensqualität, Ansehen und damit Selbstsicherheit und sogar wahres Glück bringen. Aber hat eine solche Lebensweise Bestand? Was passiert, wenn die Materialisten von harten Lebenskrisen getroffen werden? Dann verliert der Wohlstand schlagartig an Bedeutung, denn es geht um Existenzielles.

Die Aussage, dass man das Falsche und Üble erst durch falsches Handeln selbst erzeugt, mag zunächst überraschen. Wenn wir aber bedenken, dass der Buddhismus wesentlich auf das Handeln selbst fokussiert ist und ihm die Qualität der Wirklichkeit und Wahrheit zumisst, dann verwundert das nicht. Es kommt einfach darauf an, dass wir jeweils nichts Unrechtes erzeugen und uns in unserem Leben und Handeln den vielen Möglichkeiten, etwas Sinnvolles und Gutes zu tun, mit Sorgfalt und Achtung widmen. Dies ist der Weg in die Unabhängigkeit und Freiheit.

Unrechtes zu erzeugen, macht dagegen abhängig und verkrampft. Wir müssen dann große psychische Abwehrkräfte einsetzen, um der ethischen Wahrheit auszuweichen, sie abzuwehren und zu verdecken. So verschwenden wir Energie des Geistes und Körpers. Aber wie gewinnen wir die Klarheit, was das Unrecht im konkreten Fall wirklich ist, und wie sammeln wir dann die Kraft, genau im Augenblick richtig zu handeln? Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen.

Im ersten Teil dieses Kapitels betont Dōgen das aktive eigene Handeln. Aber er fügt hinzu, dass es auch darum geht, das rechte Handeln im Gesamtsystem geschehen zu lassen und nicht durch unrechtes Handeln zu stören oder zu verhindern. Ein eher abwartendes Verhalten im Sinne des Geschehenlassens kann oft moralisch richtiger sein als hektisches Eingreifen um jeden Preis, ohne über die eventuell kontraproduktiven Folgen nachzudenken.

Die oben zitierte Lehre zum ethisch richtigen Handeln wurde laut Dōgen authentisch von einem Buddha zum anderen weitergegeben, und es sei nicht nur die Lehre der sieben legendären Buddhas, sondern von allen Buddhas, also auch der großen Meister in den authentischen Übertragungslinien bis zu Bodhidharma, Daikan Enō (Dajian Huineng) und Tendō Nyojō (Tiantong Rujing). Dōgen fordert uns auf, dieses wesentliche Grundprinzip der authentischen Übertragung gründlich zu bedenken und die Nachfolge in der ethischen Praxis zu meistern. Die direkte Weitergabe von Angesicht zu Angesicht am konkreten Ort sei unverzichtbar. Abgehobene theoretische Lehren zur Ethik reichen nicht aus, bestenfalls sind sie ein Anfang.

Die unmittelbare Nähe eines ethisch wahrhaft handelnden Lehrers ist auch nach meiner Erfahrung von herausragender Bedeutung. Allzu schnell versteigen wir uns sonst in selbstgefällige moralische Ideologien, die unser isolierter Geist scheinbar logisch abstützt. Um das zu verhindern, sind manchmal ruppig erscheinende, aber konstruktive Korrekturen durch den Meister von großem Wert, um wieder zur Klarheit auf dem buddhistischen Weg zurückzufinden und praktisch im Handeln zu verwirklichen.

Beim ethischen Handeln geht es um die Klärung der ganz realen Situation. Dazu ist es notwendig, den Augenblick transintellektuell, also intuitiv klar zu durchdringen, sich wirklich zu öffnen und sich zum Beispiel von Vorurteilen, Abneigungen und Bevorzugungen zu verabschieden und wirklich ganz im Augenblick zu sein.

In diesem Zusammenhang lässt Dōgen auch die große Bedeutung der seit Buddha überlieferten Praxis des achtsamen Einatmens und Ausatmens anklingen. Wichtig ist dabei, dass wir offen für Neues sind und uns der aktuellen Situation stellen. Wir müssen uns sozusagen aus der Schale des kleinen Ich befreien, um im Augenblick im Sinne Dōgens handeln zu können.

„Wir diskutieren jetzt das Falsche: Es liegt zwischen dem Richtigen und dem Neutralen; (und es) ist tatsächlich das Falsche (Unrichtige). Wir diskutieren es jetzt. Die Essenz (des Falschen) ist genau das Nicht-Erscheinen (des Richtigen). Das Neutrale ist weder Recht noch Unrecht. Die Essenz des Richtigen, des Neutralen usw. ist genau das Nicht-Erscheinen, (es) ist (der Zustand) ohne Übermaß und ist wirkliche Form. Gleichzeitig schließen diese drei Eigenschaften an jedem Ort unzählbare Arten von Dharmas (Dingen und Phänomenen) ein.“

Hierzu erklärt Nishijima Roshi: „Die besondere Eigenschaft des Falschen ist genau dessen Nicht-Erscheinen.“ Das bedeutet, dass auch das Falsche die wirkliche Existenz und Realität im gegenwärtigen Augenblick ist. Es ist kein Prozess in der linearen Zeit und hat daher nicht die Eigenschaften von Erscheinen und Vergehen: „Es ist ohne Verzerrungen, und daher ist es die Wirklichkeit selbst.“

Bei der Ethik kommt es besonders auf den Augenblick des Handelns an. Allgemeine Theorien und abstrakte Bewertungen können die Ethik des Augenblicks nicht erfassen, und sie sind häufig die Ursache von sachlich falschen oder völlig übertriebenen Schuldzuweisungen und Vorwürfen. Nishijima Roshi erklärt außerdem: „Richtiges, Falsches und Neutrales sind einfache charakteristische Eigenschaften im gegenwärtigen Augenblick, und insofern haben sie keine Verbindung (zum Prozess) des Erscheinens und Vergehens.“ Denn derartige Veränderungen setzen den Ablauf einer gedachten linearen Zeit voraus. Er fügt hinzu: „Und bei diesen drei Situationen (dem Richtigen, Falschen und Neutralen) gibt es überaus viele Dinge und Phänomene (Dharmas), die als Universum existieren.“ Das heißt, dass sich alles ganz konkret in dieser Welt ereignet.

Unrecht ist unrechtes Handeln im Augenblick, es hat keine andauernde und konstante Charakteristik. Der Augenblick hat auch kein Erscheinen und Vergehen, denn das wären Beschreibungen mit einer Zeitstrecke, und damit wäre es kein Augenblick. Wir können also im nächsten Augenblick Rechtes tun und uns damit vom vorherigen unrechten Handeln sofort lösen, wenn wir die Klarheit und Kraft dazu haben.[vii]

Dōgen betont, dass auch das Rechte und Neutrale immer im Augenblick und konkret im Hier und Jetzt getan werden. Das Rechte ist also identisch mit rechtem Handeln im Augenblick, und nur dann ist es Wirklichkeit. Es macht daher wenig Sinn, über das ethisch Richtige allgemein und abgehoben zu theoretisieren. Dies bleibt auf der Ebene des unterscheidenden Denkens und der Worte stehen, es hat kaum Verbindung zur Wirklichkeit des konkreten Handelns und bewirkt nicht viel.

So nehmen fast alle Ideologien für sich wie selbstverständlich in Anspruch, dass sie moralisch wertvoll und höherstehend sind im Verhältnis zu anderen Weltanschauungen. Dabei hat sich das wahre Handeln der von Ideologien gesteuerten Menschen oft fundamental von ihrer eigenen Ethik abgelöst und ist, meist unbewusst, von Egoismus, Vorteilsstreben und Gier getrieben. Wer sich viel mit Moral und Ethik beschäftigt und deshalb theoretisch weiß, dass er selbst ethisch handeln sollte, ist besonders in Gefahr, in Unklarheiten über sich selbst und seine wahren Motive zu verharren. Er hat oft große Probleme, sich selbst das eigene unmoralische Handeln einzugestehen und nüchtern zu analysieren: Er hat Schwierigkeiten damit, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Dagegen besteht bei dem wirklichen, augenblicklichen Handeln überhaupt keine Verzerrung und damit Verschmutzung durch die Trennung von Theorie und Praxis – so Nishijima Roshi –, sondern es ist die Wirklichkeit selbst. Die wahre Wirklichkeit ist im Buddhismus niemals beschmutzt.

„Das Wesentliche des Rechten und das Wesentliche des Neutralen usw. sind auch Nicht-Erscheinen und sind (der Zustand) ohne Übermaß und Schwund; sie sind wirkliche Form.“

Damit erweitert Dōgen die Augenblicklichkeit auf das Richtige und Neutrale: Es geht also um die Gegenwart im Hier und Jetzt und nicht um einen Prozess des Erscheinens oder Nicht-Erscheinens. Es geht auch nicht um abstrakte Aussagen. Die Formulierung „ohne Übermaß und Schwund“ bedeutet, dass nichts übertrieben und nichts vermindert wird und es genau so ist, wie es ist. Gleichzeitig wird die wirkliche Form erwähnt, die eine Einheit mit dem Wesentlichen beziehungsweise der Essenz bildet. Ein solches Handeln ist genau auf die Realität fokussiert, ohne etwas hinzuzusetzen oder etwas wegzunehmen.

Dōgen fügt hinzu, dass diese drei Bereiche – Rechtes, Falsches und Neutrales – an jedem konkreten Ort und zu jedem Zeitpunkt unzählige Arten von Dharmas, also Dinge und Phänomene, einschließen. Mit der Erwähnung der Dharmas weist er auf die Einzelheiten hin. Dazu gehören auch und nicht zuletzt materielle Tatsachen der Gesamtsituation, die laut Nishijima Roshi die zweite Lebensphilosophie bilden. Im ersten Teil dieses Kapitels beschreibt Dōgen vor allem die Lehre und Theorie und stellt damit die erste Lebensphilosophie des Denkens und des Idealismus in den Mittelpunkt. Da beide Dimensionen aber nicht die ganze Wirklichkeit und Wahrheit des Hier und Jetzt umfassen, bezieht er zudem die Wirklichkeit des Augenblicks ein, die ein ganz wesentlicher Teil der buddhistischen Lehre ist.

Im Folgenden erläutert er, dass es zwar Ähnlichkeiten und Unterschiede beim Unrechten in früheren und späteren Zeiten geben möge. Und solche Unterschiede gebe es beim Unrechten vielleicht auch zwischen dieser menschlichen Welt und dem Himmel über uns. Aber Dōgen unterstreicht im Gegensatz dazu die viel größeren, fundamentalen Unterschiede zwischen moralisch Rechtem, Unrechtem und Neutralem im Buddhismus und in der säkularen Welt.

 

Rechtes und Unrechtes stehen nicht außerhalb der Zeit

Als Nächstes kommt Dōgen auf die existenzielle Sein-Zeit des Augenblicks zu sprechen, die er in dem berühmten Kapitel Uji[viii] sorgfältig untersucht. Die Sein-Zeit ist für ihn die Wirklichkeit selbst, und er macht dazu eine überraschende Aussage:

„Richtig und Falsch sind Zeit; Zeit ist nicht richtig oder falsch. Richtig und Falsch sind der Dharma; der Dharma ist nicht richtig oder falsch. (Wenn) der Dharma im Gleichgewicht ist, ist das Falsche im Gleichgewicht. (Wenn) der Dharma im Gleichgewicht ist, ist das Richtige im Gleichgewicht.“

Nishijima Roshi erläutert hierzu: „Richtig und Falsch sind genau die Zeit im gegenwärtigen Augenblick, aber die Zeit selbst ist niemals richtig oder falsch“, denn sie ist ganz unabhängig von Ethik. Richtig und Falsch seien Situationen und Zustände im Universum, aber das Universum selbst hat keine bestimmten Eigenschaften und auch nicht die von richtig oder falsch. Sie sind Beschreibungen von Teilbereichen im Universum, aber das Universum selbst ist keine Beschreibung, sondern die Wirklichkeit selbst. Wenn das Universum im Gleichgewicht existiert, existieren auch das Falsche und das Richtige – als Teile des Universums – im Gleichgewicht.

Zeit ist hier als Augenblick zu verstehen, und es gibt keine Wirklichkeit, die nicht gleichzeitig in der Zeit ist. Recht und Unrecht bestehen also niemals außerhalb der Zeit als vorgestellte, abstrakte Entitäten, die unabhängig vom Tun im Augenblick sind. Wären sie außerhalb der Zeit, dann wären sie nur gedacht und damit nicht wirklich.

Mit dieser bahnbrechenden Aussage unterscheidet sich der Buddhismus radikal von der westlichen Philosophie, in der zum Beispiel das Unrecht als etwas Abstraktes und sogar als Entität verstanden wird, das unabhängig vom Menschen und von der Zeit sei. Es wäre dann eine unabhängige Größe in der Welt. Ein so verstandenes Unrecht wäre völlig unabhängig vom Augenblick, von der Zeit und vom Handeln, denn es würde immer in der hiesigen Welt existieren und sich manifestieren. Nur im ewigen Paradies als ideale jenseitige Welt gäbe es ein solches Unrecht nicht.

Dōgen betont, dass die Zeit allerdings selbstständig und unbeeinflusst von Recht und Unrecht ist, daher kann sie nicht richtig oder falsch sein. Recht oder Unrecht sind auch der Dharma, also die Wirklichkeit und buddhistische Lehre, aber das Umgekehrte gilt nicht, denn der Dharma ist niemals richtig oder falsch, sondern wirklich.

Was bedeutet nun die Aussage, dass das Unrecht im Gleichgewicht ist? Denn eigentlich müsste man doch annehmen, dass im Zustand des Gleichgewichts von Körper-und-Geist und der Welt überhaupt kein Unrecht vorhanden sein kann. Eine mögliche Interpretation: Wir können das Unrecht nur dann selbst klar erkennen, wenn wir in einem Zustand des Gleichgewichts und damit der Klarheit sind. Nur dann kann man sich selbst auf die Schliche kommen, kann man das Handeln von einem Augenblick zum anderen umstellen und nichts Unrechtes mehr erzeugen. Dōgen argumentiert ganz konkret auf den Augenblick bezogen, das heißt, er meint Klarheit und Offenheit für unrechtes Handeln genau im jetzigen Augenblick an diesem Ort. Nur bei so konkreter Sichtweise kann es gelingen, unrechtes Handeln ohne Ideologie und Vertuschungen zu erkennen und dann mit der im Zen gewonnenen Kraft abzustellen.

Nishijima Roshi und Cross[ix] erläutern in diesem Sinne, dass wir das Unrechte dann klar als solches sehen und erkennen, wenn wir im Gleichgewicht sind, also im erwachten, erleuchteten Zustand. Das bedeutet, dass ein erwachter Meister in aller Klarheit das Unrechte im Handeln genau so erkennt, wie es ist, und sich nicht durch den äußeren Schein und geschickte Rhetorik täuschen lässt. Das bedeutet auch, dass ein Erwachter beim Unrechten nicht wegsieht und es nicht verniedlicht oder romantisiert. Das ist die Voraussetzung, richtig, also ethisch, zu handeln.

An dieser Stelle hebt Dōgen hervor, dass wir den höchsten Zustand des Erwachens erlernen, wenn wir diese Lehren hören, in der Praxis üben und die entsprechende Wirkung erfahren: Dann erkennen wir das Unrechte klar und genau so, wie es ist. Die Lehren Buddhas seien „tiefgründig, weit und fein“.

„Wir hören von diesem höchsten Zustand des Bodhi (Erwachen), indem wir manchmal (guten) Lehrern folgen und manchmal den Sūtras folgen.“

Am Anfang unseres Buddha-Weges heißt es immer: „Erzeugt nicht das vielfältige Unrechte.“ Andernfalls, so Dōgen, „ist es nicht Buddhas wahrer Dharma; es mag die Lehre von Dämonen sein. Denkt daran, dass es Buddhas wahrer Dharma ist, wenn es klingt wie ‚Erzeugt nicht das vielfältige Unrechte‘.“

Besonders am Anfang unseres buddhistischen Lernprozesses sollten wir ganz genau auf diese klare ethische Aussage achten, in mündlicher Form beim Lehrer und den anderen Sangha-Mitgliedern oder in schriftlicher Form bei den verwendeten Texten. Wenn nicht klar gesagt wird, dass man kein Unrecht erzeugen soll, dann ist es sicher nicht der authentische Buddhismus, und es ist ein falscher Meister, der solche „Worte von Dämonen“ verkündet.

Darin kommt die unauflösbare Verbindung der buddhistischen Lehre und Praxis mit der Ethik unmissverständlich zum Ausdruck. Nishijima Roshi ergänzt: „Die buddhistische Lehre sollte immer zuerst lauten: ‚Erzeugt kein Unrecht‘. Wenn sich daher bestimmte Aussagen nicht so anhören, können sie niemals die wahre buddhistische Lehre sein.“ Und Dōgen erklärt:

„Diese (Lehre) ‚Erzeugt kein Unrecht‘ wurde nicht (von irgendjemand) willkürlich (in die Welt) gebracht und dann in der jetzigen Form vom gewöhnlichen Menschen beibehalten: Wenn wir die Lehre hören, die (auf natürliche Weise) die Lehre des Bodhi-Erwachens geworden worden ist, klingt es wie dies (Obige).“

Dies sei die Sprache, die den höchsten Zustand des Erwachens in Worte fasst: „Es ist schon Erleuchtungssprache, und daher sagt sie die Wahrheit.“

Dōgen schiebt hier der Vorstellung einen Riegel vor, dass die Ethik von Menschen absichtlich erfunden wurde und zum Beispiel von einem Machthaber und einer Regierung in der Gesellschaft durchgesetzt wird, damit sie herrschen können. Nach buddhistischer Lehre kann das natürliche Gesetz des Universums und unseres Lebens durch das Gleichgewicht und Erwachen erkannt und in Handeln umgesetzt werden. Das ethische Gesetz ist nach Nishijima Roshi gleichzeitig das Gesetz des Universums und des Lebens. Wer Unrecht tut, schadet nicht zuletzt sich selbst, weil er das natürliche Gesetz verletzt, was sich früher oder später gegen ihn wendet.

 

Durch richtiges Handeln verwirklichen sich Sein-Zeit und Dharma

Nun geht Dōgen noch einen Schritt weiter und spricht von den tief greifenden Veränderungen in unserem täglichen Leben, die durch diese Lehren bewirkt werden. Immer mehr verstärke sich schließlich die Tendenz, die vielfältigen Arten des Unrechten nicht zu begehen und nicht zu erzeugen. Er erwähnt die „Kraft der Praxis“, womit er vor allem die Zazen-Praxis meint, die sich aus der Lehre entwickeln muss, um unser Leben nachhaltig zu verändern und in die richtige Richtung zu bringen. Wenn wir selbst ethisch richtig handeln und im Gleichgewicht sind, habe dies ganz konkrete Auswirkungen auf die gesamte Erde und natürlich vor allem auf andere Menschen. Damit verwirklichen sich die Sein-Zeit und der Dharma. Hierzu erläutert Nishijima Roshi: „Die Worte ‚Erzeugt kein Unrecht‘ könnten in dieser Form niemals von gewöhnlichen Menschen stammen, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengen würden. Wenn man sie als Ausdruck der höchsten Wahrheit hört, dann lauten die Worte genau so: ‚Erzeugt kein Unrecht und praktiziert die vielen Arten des Guten.‘ (...) Die Ethik ist nicht eine menschliche Ethik, sondern sie ist genau das Gesetz des Universums.“ Die Lehre ‚Erzeugt kein Unrecht‘ ist laut Dōgen die natürliche Lehre des Erwachens und drückt die höchste Wahrheit und Wirklichkeit in Worten aus.

„Wenn (diese Worte) zur Lehre des höchsten Zustandes des Bodhi-Erwachens werden, und wenn wir selbst durch das Hören (der Worte) verändert werden, hoffen wir, die verschiedenen Arten des Unrechten nicht zu erzeugen. Wir fahren fort, solches Unrecht nicht entstehen zu lassen, und es wird auch weiterhin nicht begangen. Diese Verwirklichung realisiert sich im Rahmen der ganzen Erde, der ganzen Welt, in dem Ganzen der Zeit und dem Ganzen des Dharma. Und der Maßstab dieser (Verwirklichung) ist der Maßstab des Nicht-Erzeugens (des Unrechten).“

Dōgen untersucht hier genau, wie es sich auswirkt, wenn wir die Aufforderung hören, kein Unrecht zu erzeugen. Wie verändert sich dadurch unser Handeln im normalen Alltag, gerade in kritischen und schwierigen Situationen? In diesem Lernprozess fangen wir an, uns selbst genauer zu beobachten, und wir werden sensibler für rechtes und unrechtes Handeln. Aber es reicht nicht aus, nur passiv zuzuhören. Ganz wichtig ist die fortlaufende Zazen-Praxis. Ihre Kraft, Klarheit und die ethische Verwirklichung sind dabei nicht subjektiv auf den einzelnen Menschen beschränkt, sondern umfassen die ganze Erde, die Welt, die Zeit, das Ganze der Dharma-Wirklichkeit und gleichzeitig die buddhistische Lehre; damit knüpft Dōgen an verschiedene grundlegende Kapitel des Shōbōgenzō an.[x]

Die große Chance eröffnet sich, die Wirklichkeit selbst zu erlangen. Dann verlieren wir uns nicht mehr in unwirklichen Gedanken, Emotionen und Hoffnungen, die unser Leiden bewirken. Ohne ethisches Handeln und die Vermeidung des unrechten Handelns ist eine solche Verwirklichung des Menschen nicht möglich. Nur so kann sich die Buddha-Natur manifestieren.[xi]

Wenn Dōgen von der Praxis spricht, meint er sowohl Zazen als auch das Handeln im Alltag, insbesondere im sozialen Umfeld. Wenn wir in unserem praktischen Leben kein Unrecht erzeugen, existiert dieses Unrecht überhaupt nicht. Dann wirken auf die Menschen keine schlechten Einflüsse ein von denen, die an demselben Ort leben. Denn genau dort wird nichts Unrechtes erzeugt, weil dort die Kraft der Praxis wirksam ist.

„Für Menschen genau dieser Wirklichkeit, im Augenblick genau dieser Wirklichkeit, kann Unrechtes überhaupt niemals erzeugt werden. (Dies gilt) sogar, wenn sie an einem Ort leben, zu einem Ort kommen und (von ihm) fortgehen, wo sie Unrechtes erzeugen könnten. (Es gilt) auch, wenn sie mit bestimmten Umständen konfrontiert werden, in denen sie Unrecht erzeugen könnten, zum Beispiel wenn sie sich mit Freunden einlassen, die Unrecht erzeugen. Da die Kraft, das Unrecht nicht zu erzeugen, verwirklicht ist, kann sich das Unrecht gar nicht als Unrecht äußern, und es fehlen alle Varianten des Unrechten.“

Ein Mensch, der in der Wirklichkeit der konkreten Situation und in der wirklichen Sein-Zeit im Gleichgewicht lebt und handelt, kann überhaupt keine unrechten Handlungen begehen, so erläutert Nishijima Roshi die Äußerungen Dōgens. Dies gelte auch, wenn es für ihn scheinbar ganz nahe läge, solche Fehler zu machen, da die verschiedenen Arten des Unrechten nicht von selbst entstehen, sondern nur durch unrechtes Tun der Menschen. Und er fügt hinzu: „Gute buddhistische Praktizierende haben niemals die leichtfertige Tendenz, Falsches zu tun. Sie sind auf jeden Fall fähig, damit aufzuhören und das unrechte Tun (ganz einfach) zu beenden.“

Es wird also eine Kraft verwirklicht, dass Unrechtes nicht erzeugt wird: Das Unrechte kann sich dann nicht als Unrechtes ausdrücken. Die vielfältigen Verhaltensweisen und Tricks des Unrechten können sich nicht etablieren, wenn sie nicht in Gang gesetzt und erlernt worden sind. Oft entwickeln sich Ketten und Netzwerke von unrechtem Handeln dann, wenn ein erster unrechter Handlungsschritt gegangen worden ist. Diese vernetzten Handlungsstrukturen verselbstständigen sich, werden zu fixiertem Verhalten und erzeugen in der Folge immer weiteres Unrecht. Das ergibt einen sich selbst verstärkenden Prozess. Wäre der erste falsche Schritt nicht vollzogen worden, so hätten sich diese Verhaltensstrukturen überhaupt nicht ausgebildet und die Welt wäre davon verschont geblieben. Dazu sagt Dōgen:

„Es gibt die buddhistische Wahrheit, in einem Augenblick etwas aufzugreifen und in einem Augenblick etwas geschehen zu lassen. Die Wahrheit (des falschen Handelns) wird genau in diesem Augenblick erkannt, sodass das Unrechte einen Menschen nicht verletzt. (Genau im Augenblick) wird die Wahrheit geklärt, dass ein Mensch das Unrechte nicht beseitigen (muss).“

Im ersten Teil des Zitats geht es um den Augenblick selbst, in dem wir durch richtiges Handeln etwas „aufgreifen“, also aktiv dafür sorgen, dass kein Unrecht erzeugt wird und stattdessen Richtiges und Rechtes getan wird. Dafür sind die Klarheit und das intuitive Verständnis der jeweiligen Situation erforderlich: Im Augenblick muss Klarheit darüber bestehen, was die Wirkung des Handeln ist. Man kann dies vielleicht so ausdrücken, dass die Folgewirkungen im Augenblick klar und präsent sind und wie selbstverständlich einbezogen werden. Das Gesetz von Ursache und Wirkung ist daher auf den Augenblick zusammengezogen und verkürzt, sodass Ursache – hier also Handeln – und Wirkung im selben Augenblick und ohne Verzögerung durch intellektuelle Überlegung greifen. Der Mensch handelt in der Klarheit des Augenblicks richtig und überblickt die Folgewirkungen.

In anderen Situationen kann es dagegen sinnvoll sein, in den Ablauf nicht einzugreifen und genau im Augenblick das geschehen zu lassen, was richtig ist. Dadurch kann Unrecht verhindert werden – es entsteht überhaupt nicht und wird auch nicht beabsichtigt.

Im zweiten Teil des Zitats vertritt Dōgen konsequent die Auffassung, dass es das Falsche als Substanz in der Welt überhaupt nicht gibt, sondern dass es nur ein falsches Handeln durch uns selbst gibt. Das abstrakte Böse und Unrechte ist also eine Idee und keine Wirklichkeit, es ist eine Vorstellung oder Verallgemeinerung von unrechtem Handeln. Da das Unrechte in der Welt nicht aus sich selbst heraus existiert, kann es den Menschen auch nicht verletzen. Der Mensch wird nur durch das Handeln anderer verletzt, wenn sie Unrecht an ihm begehen. Dōgen stellt also vom Unrechten als einer eigenständigen Entität auf das Handeln im Augenblick um. Dies ist ein radikaler Paradigmenwechsel, der für das westliche Denken sicher nicht einfach nachzuvollziehen ist.

Wenn es das Unrechte als dinghafte Entität in der Welt und in unserem Leben nicht gibt, dann folgt aus dieser Lebensphilosophie logisch, dass es auch nicht durch einen Menschen beseitigt werden muss. Demgegenüber kann und muss jedoch unrechtes Handeln verhindert werden, indem man es nicht tut oder andere daran hindert. „Es gibt die buddhistische Wahrheit, dass eine positive Handlung genau im jetzigen Augenblick getan wird und dass eine Handlung auch genau im gegenwärtigen Augenblick beendet wird. Und genau im gegenwärtigen Augenblick ist klar und wird (intuitiv eindeutig) erkannt, dass das Falsche (als abstrakte Idee) niemals einen Menschen (wirklich) verletzt, (sondern nur das falsche Handeln). Es wird das Prinzip geklärt, dass ein Mensch nicht das Unrechte (da keine Wirklichkeit) beseitigt“, fasst Nishijima Roshi zusammen. Aber unrechtes Handeln kann und muss man, wenn irgend möglich, verhindern!

 

Handeln und Zazen bilden eine Einheit

Wenn wir uns mit dem ganzen Geist-und-Körper der Zazen-Praxis widmen, können wir 80 oder 90 Prozent davon verwirklichen, kein Unrecht zu erzeugen, betont Dōgen. Mit theoretischer Ethik und dogmatischer Moral ist es nämlich gerade nicht getan, sondern das praktische Handeln ist entscheidend. Maßgeblich ist also, ob wir die Zazen-Praxis wirklich in unseren Alltag integrieren. Dies gilt sowohl für den Augenblick des Handelns selbst, als auch für den vorherigen und nachfolgenden Augenblick.[xii] Nach dem Augenblick des Handelns, in dem wir kein Unrecht erzeugen, ist es eine einfache Tatsache, dass nicht unrecht gehandelt wurde. Ein nachträgliches Reflektieren ist aber etwas anderes als das unmittelbar richtige Handeln, das die Folgewirkung, also den späteren Augenblick, als Wirklichkeit prägt. Diese Aussage vertieft Dōgen im Kapitel über das Bodhisattva-Handeln.[xiii]

Durch die Praxis sei es möglich, unseren eigenen Körper-und-Geist wirklich zu erlangen und das Unfassbare, das jenseits vom unterscheidenden und dualistischen Denken ist, unmittelbar zu erfahren. Dann wird laut Dōgen die ganze Kraft der Praxis verwirklicht – mit den vier physikalischen Elementen und den fünf Komponenten (skandas) des Lebens. Damit bezieht er die ganze Welt und das ganze Leben ein, die nach damaliger Lehre aus den vier materiell-physikalischen Elementen und aus den geistigen, mentalen, psychischen und willensmäßigen Komponenten bestehen. Dōgen fügt hinzu, dass durch das Handeln im Jetzt diese Komponenten des Menschen nicht verunreinigt werden, dass sie also in ihrer Reinheit so existieren, wie sie im natürlichen Zustand sind: Dann „beflecken die vier Elemente und die fünf Komponenten nicht das Selbst“.

Die Praxis setzt sich im gegenwärtigen Augenblick zum nächsten fort. Nishijima und Cross[xiv] erläutern, dass damit die Einheit der buddhistischen Praxis mit den konkreten Umständen angesprochen wird. Dōgen unterstreicht die gegenseitige unauflösbare Beziehung des praktizierenden Menschen mit der Natur – den Bergen, Flüssen, der Erde, der Sonne, dem Mond und den Sternen. Dies bedeutet die Überwindung des Dualismus zwischen dem Selbst und der uns umgebenden Welt je im Augenblick, also die tiefe Erfahrung der großen Einheit. Die Umstände und das gesamte Umfeld sind nicht von dem Handelnden getrennt. Man könnte auch sagen, dass die Natur uns praktiziert, also eine Trennung von Subjekt und beobachteten Objekten der Natur nicht mehr möglich ist. Das verwirklicht sich in der Zazen-Praxis und durch diese Praxis. Dōgen formuliert sehr pointiert und poetisch:

„Die Berge, die Flüsse, die Erde, die Sonne, der Mond und die Sterne bewirken im Gegenzug, dass wir praktizieren.“

Das Erwachen, die Erleuchtung sei das „Einmal-Auge“, nicht für kurze Zeit, sondern in vielen kraftvollen Augenblicken, in denen das erwachte Auge gegenwärtig sei und die Einheit mit den Buddhas und Dharma-Vorfahren bestehe. Dann hören wir wirklich die wahren buddhistischen Lehren und machen die tiefe Erfahrung der sich daraus ergebenden Wirkung, nämlich die ungehinderte Freiheit des Lebens und des Handelns der Buddhas und erwachten Menschen. Diese sind also unauflösbar mit dem korrekten Handeln verbunden, das wiederum eine Einheit mit der Zazen-Praxis bildet.

„Die Buddhas und Dharma-Vorfahren haben die Lehre, die Praxis und die Erfahrung niemals befleckt, und daher haben die Lehre, die Praxis und Erfahrung niemals die Buddhas und Dharma-Vorfahren behindert.“

Diese Formulierung verwendet Dōgen im Shōbōgenzō häufiger, um das Sosein der Buddhas und erwachten Meister zu beschreiben und ihre Freiheit im Handeln auszudrücken. Hindernisse und Beschränkungen entstehen für den Menschen nach der buddhistischen Lehre dadurch, dass sie Unrecht erzeugen und in den Ketten der Folgewirkungen gefangen sind, dies seien Befleckungen oder Verunreinigungen. Dadurch wird die Freiheit erheblich eingeschränkt und die Harmonie mit dem Gesetz des Universums gestört. Die Begriffe „unbefleckt“ und „rein“ bedeuten, dass die buddhistische Lehre und Praxis so ist, wie sie ist, unverzerrt und ohne etwas hinzuzusetzen.

„Wenn (die Lehren, die Praxis und die Erfahrung) die großen buddhistischen Meister (kraftvoll) dazu bringen, zu praktizieren, gibt es keine Buddhas oder großen Meister, die vor den Augenblicken oder nach den Augenblick fliehen, in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.“

Die Erwachten leben im Hier und Jetzt und haben nicht das Bestreben, zeitlich oder räumlich zu entfliehen, sagt Dōgen hier, denn die Praxis, die Umstände und die Erfahrung steuern unser Selbst. Das bedeutet allerdings keine Abhängigkeit und Unfreiheit, sondern die Identität mit der Welt und dem Leben, so wie es ist.

„Im Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen sollten wir sorgfältig durch die 24 Stunden (des Tages) die Tatsache bedenken, dass wir selbst buddhistische Meister werden, wenn die Menschen Buddhas und Dharma-Vorfahren werden. (Dies gilt), obgleich dieses (Werden) den (Zustand) des buddhistischen Meisters nicht hindert, der immer zu uns gehört hat. Wenn wir ein buddhistischer Meister werden, zerstören wir kein Lebewesen, werden nicht von ihm weggezogen, verlieren es nicht, (aber) dessen ungeachtet werden wir es los.“

In diesen komplexen Aussagen beschreibt Dōgen zunächst das tägliche Leben, indem er die menschlichen Tätigkeiten aufzählt. Während unserer Verrichtungen sollten wir uns den ganzen Tag über bewusst sein, dass wir selbst ebenfalls erwachen, wenn andere Lebewesen Buddhas oder Meister werden. Damit wird die trennende Dualität in Bezug auf uns selbst aufgehoben. Umgekehrt werde der Zustand der buddhistischen Meister nicht durch unsere eigene Entwicklung und unser Werden behindert, und die Meister haben immer zu uns gehört, erklärt Dōgen.

Nishijima Roshi verdeutlicht das Zitat folgendermaßen: „Wenn gewöhnliche Menschen Buddhas oder Meister des Dharma werden, werden sie nicht durch die Tatsache gestört, dass auch (andere) gewöhnliche Menschen normalerweise das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems schon in ihrem täglichen Leben aufrechterhalten. Wenn gewöhnliche Menschen Buddhas und große Meister werden, zerstören, stehlen oder verlieren sie nicht ihre eigene Form als Menschen, sondern sie werden vollständig befreit vom Zustand als gewöhnlicher Mensch.“ Und er erläutert außerdem, dass ein buddhistischer Meister ein dauerhaftes Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems hat; ein solcher Zustand sei von jedem normalen Menschen von Zeit zu Zeit oder auch häufiger zu verwirklichen. Wir alle haben die Möglichkeit, dieses Gleichgewicht während des ganzen Tages zu realisieren, sodass alle unsere Tätigkeiten wie Gehen, Stehen, Sitzen oder Liegen aus diesem Gleichgewicht heraus eine völlig neue Qualität erhalten. Dann ergibt es sich von selbst, dass wir achtsam handeln, keine anderen Menschen verletzen und auch mit der Natur und den Tieren sorgsam umgehen.

Wenn wir selbst das Erwachen erlangen, zerstören oder quälen wir keine Lebewesen. Wir ziehen uns auch nicht aus dem Lebensalltag zurück, um unbehelligt und ohne „störende“ soziale Einflüsse zu leben. Aber wir haben uns von den einengenden oder negativen Einflüssen durch andere Menschen befreit, hält Dōgen fest:

„Wir bewirken, dass richtig-und-falsch sowie Ursache-und-Wirkung (selbst) praktizieren. Aber dies bedeutet nicht, Ursache-und-Wirkung zu stören oder absichtlich zu erzeugen. Ursache-und-Wirkung selbst lassen uns zu den Zeiten praktizieren.“

Zu bestimmten Zeiten bringen Ursache und Wirkung uns dazu, dass wir praktizieren. Wenn sich dies verwirklicht, bedeutet es, kein Unrecht zu erzeugen; das ist der Zustand im Gleichgewicht ohne falsches Handeln. Es geht hier also um das vernetzte Zusammenwirken in der gesamten Situation und das Bewirken einer solchen sinnvollen Interaktion. Das System von Handlungen und Interaktionen entfaltet dann seine volle Wirkung. Meist ist es für uns Menschen in der Realität allerdings nicht möglich, das mit uns vernetzte Gesamtsystem ruckartig zu verändern, sondern wir sollten versuchen, die Eigenentwicklung des Systems so zu beeinflussen, dass es in die richtige Richtung geht. Dadurch entstehen gute Wechselwirkungen, die das Falsche und Unrechte vermeiden.

Nishijima Roshi sagt dazu: „Sowohl Richtig und Falsch als auch Ursache und Wirkung sind die Zustände des vegetativen Nervensystems (VNS), und beide sind einfache Tatsachen im gegenwärtigen Augenblick. Daher können beide niemals unterteilt werden in Richtig und Falsch oder Ursache und Wirkung (einerseits) und die Praxis (andererseits). Alles ist immer wirkliches menschliches Handeln im gegenwärtigen Augenblick.“

Das Handeln in der Welt ist außerordentlich vielfältig. Abstrakte Generalisierungen beschreiben die wirklichen Tatsachen nur ungenau oder oft sogar falsch. Wir müssen uns also auf das wirkliche, konkrete Handeln beziehen und dürfen es nicht mit unscharfen, abgehobenen und unzureichenden Worten beschreiben. Worte können ohnehin das wirkliche Handeln nur sehr begrenzt erfassen und stehen oft sogar im Gegensatz zu dem, wie jemand wirklich handelt. Wer bewusst oder unbewusst unrecht zum eigenen Vorteil handelt, wird vielleicht schöne verbale Erklärungen und Begründungen parat haben, warum sein Handeln nicht nur richtig, sondern auch vorbildlich sei. Aber das ist nicht redlich. Die ganz genaue Beobachtung, wie jemand wirklich handelt, ist daher von zentraler Bedeutung.

Nun greift Dōgen noch einmal Ursache und Wirkung auf, die uns dazu bringen, zu praktizieren. Die dadurch entstehende Klarheit bedeute, kein Unrecht zu erzeugen. Sie sei der Zustand im Gleichgewicht, und sie sei direkter, schneller und wirkungsvoller als das diskursive Denken.

„In dem Zustand, in dem kein (Unrecht) erzeugt wird, werden die ursprünglichen (und natürlichen) Kennzeichen dieser Ursache-und-Wirkung offensichtlich. Es ist (der Zustand) ohne Erscheinen und ohne Unveränderlichkeit, es ist (der Zustand), nicht unklar zu sein und umzufallen (bei Ursache und Wirkung), weil es der Zustand ist, in dem (Körper und Geist beim Zazen) weggefallen sind.“

Der Zustand ohne Erscheinen, Vergehen und unveränderliche, starre Konstanz verwirklicht sich im Jetzt des Augenblicks, wenn die Wirklichkeit existiert und die Vorstellungen eines zeitlichen Ablaufs nicht da sind.[xv]

Dōgen behandelt in zwei Kapiteln im Shōbōgenzō[xvi] ausführlich die Frage, wie das Gesetz von Ursache und Wirkung und die Freiheit im Augenblick zusammengehören, obgleich sie zunächst wie ein unüberbrückbarer Gegensatz erscheinen. Viele Buddhisten sind der Überzeugung, dass alles vollständig durch Ursache und Wirkung festgelegt ist. Dann gäbe es keine Freiheit, im Augenblick zu handeln. Das ist aber eine mechanistische und materialistische Vorstellung. Die Gegenposition besagt, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung bei erwachten Menschen aufgehoben ist und dass gerade dadurch die Freiheit gegeben ist, zu handeln, wie es im Augenblick sinnvoll und auch ethisch geboten ist. Dōgen betont hingegen, dass er tiefes Vertrauen hat, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung gerade auch für ethisches Handeln wirksam ist. Kurz gesagt besteht im Jetzt des Augenblicks keine zeitliche Distanz zwischen Ursache und Wirkung, beide fallen also zusammen und sind im Handeln wirksam. Die Wirkung ist dadurch in der Ursache integriert und lässt sich nicht aufspalten. Das heißt also, dass im Augenblick das Handeln in voller Transparenz der Wirkung geschieht und, was hier besonders wichtig ist, dass ethisch richtig gehandelt wird.

Dieser Zustand „ohne Erscheinen und ohne Unveränderlichkeit“ entsteht laut Dōgen dadurch, dass wir Körper und Geist fallen lassen, wie es in der Anleitung zum Zazen (Fukan zazengi)[xvii] beschrieben wird. Dann sind wir nicht unklar und fallen körperlich-geistig nicht um. Ethisch richtiges Handeln ist also eng mit der Zazen-Praxis und dem Zustand des Gleichgewichts verbunden. Dōgen lehrt, dass die Zazen-Praxis ganz entscheidend für die Umsetzung der ethischen Lehre in die Praxis ist. Mit ihrer Hilfe gewinnen wir Klarheit über uns selbst und erkennen die oft zunächst verborgene Tiefe unseres Handelns und Denkens.

„Wenn wir (die Varianten) des Unrechten in diesem Sinne untersuchen, (wird uns klar), dass es bedeutet, nichts (Unrechtes) zu realisieren. Es ist genau dasselbe wie das Nicht-Erzeugen. Unterstützt durch diese reale Erfahrung können wir das Nicht-Erzeugen des Unrechten vollständig erkennen (und durchdringen).“

Dōgen macht klar, dass es ein Irrtum ist zu glauben, dass Unrecht zwangsläufig nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung entsteht. Dasselbe gilt für das Rechte, denn beides ist genau im Augenblick richtiges oder falsches Handeln. Nishijima Roshi erläutert, dass ein solches Handeln im Augenblick vollständig frei von allem ist und dass es weder im Zeitablauf erscheint noch ewig ist, dass es nicht verborgen und nicht geleugnet werden kann. Dōgen verabschiedet sich von der zu stark vereinfachenden Vorstellung, dass bestimmte Ursachen und Bedingungen zwangsläufig bestimmte unrechte Wirkungen und Ergebnisse hervorbringen würden. Wenn man auf das Handeln abstellt, ist die fast dinghafte Vorstellung von Recht und Unrecht überholt, da beide demselben Prinzip des Augenblicks gehorchen.

Nishijima Roshi kommentiert dies so: „Falsches und Unrechtes sind einfache Tatsachen im gegenwärtigen Augenblick, und sie sind genau das, was man lassen kann. Der Zustand, dass das Unrecht nicht erzeugt wird, wird nur durch unsere klare Sichtweise erkannt.“ Die Zazen-Praxis ermöglicht das klare Erkennen des unrechten Handelns und gibt uns die Kraft zum ethisch richtigen Handeln.

„Genau in diesem Augenblick, wenn die Wirklichkeit als das Nicht-Erzeugen des Unrechten realisiert wird, entsteht kein Unrecht, (und zwar) zu Beginn, in der Mitte und am Ende und nicht (zwangsläufig) durch Ursachen und Bedingungen. Es ist nichts anderes als genau (die Varianten des Unrechten) nicht zu erzeugen.“

Das heißt, dass das Unrecht nicht gemäß der gedachten Ursachen und Bedingungen entsteht oder nicht entsteht, sondern es kommt auf das ganz konkrete Handeln an: Unrechtes nicht zu tun, ist nichts anderes, als genau das Unrechte zu unterlassen. Dasselbe gilt für das ethisch Richtige, denn es ist genau das richtige Handeln.

Nishijima sagt klipp und klar: „Das Unrecht verschwindet nicht durch Ursache und Wirkung, sondern im Gegenteil, weil es nicht begangen wird.“ Das Unrechte ergibt sich nicht zwangsläufig durch bestimmte Ursachen. Wenn es nicht begangen wird, existiert unrechtes Handeln nicht. 

„Wenn das Unrechte im Gleichgewicht ist, sind die Dharmas (Dinge und Phänomene) im Gleichgewicht. Jene Menschen sind zu bedauern, die zwar erkennen, dass Unrechtes aus Ursachen und Bedingungen entsteht, aber nicht sehen, dass diese Ursachen und Bedingungen und sogar sie selbst (die Wirklichkeit) des Nicht-Erzeugens (des Unrechten) sind.“

Dieses Zitat klingt zunächst in sich widersprüchlich. Ich möchte folgende Interpretation vorschlagen: Wer nicht im Sinne des Buddhismus im Gleichgewicht ist, hat kaum eine Chance, das eigene unrechte Handeln und das anderer klar zu erkennen. Er wird auch keine Kraft haben, unrechtes Handeln im Augenblick zu vermeiden. Viele Menschen machen ihre Umgebung oder, wie es hier heißt, die „Ursachen und Bedingungen“, für Unrechtes verantwortlich. Sie suchen immer außerhalb von sich selbst nach den Gründen des Unrechten und sind fest davon überzeugt, dass sich daraus zwangsläufig das Unrechte ergeben muss. Laut Dōgen kommt es aber darauf an, selbst kein Unrecht zu erzeugen; dies sei zusammen mit den Ursachen und Randbedingungen im Augenblick auch wirklich möglich.

Nishijima Roshi ergänzt dazu, dass wir durch äußere und innere Bedingungen nicht fixiert sind, wenn wir zum Beispiel mithilfe der Zazen-Praxis ein klares Gleichgewicht verwirklichen. Wir erkennen dann, dass die Wirklichkeit kein Unrecht enthält. Dann sind die Dinge und Phänomene im Gleichgewicht, und das Unrecht wird nicht erzeugt und existiert nicht: „Falsches und Unrechtes sind einfache Tatsachen im gegenwärtigen Augenblick, und sie sind daher immer im Gleichgewicht. In ähnlicher Weise sind auch alle Dinge und Phänomene im gegenwärtigen Augenblick im Gleichgewicht. Wenn die Menschen also meinen, dass das Unrecht nur durch (unabänderliche) Ursachen und Umstände erzeugt wird, sind sie sehr bedauernswert. Wenn sie nicht erkennen, dass die Ursachen und Umstände dasselbe sind wie das Unrecht nicht zu erzeugen, und sie selbst auch (dasselbe) sind, wie das Unrecht nicht zu erzeugen (sind sie sehr bedauernswert).“

Wesentlich bei diesem Kommentar von Nishijima Roshi ist wie bei Dōgen der Ausdruck „nicht erzeugen“. Nach der buddhistischen Lehre sind wir selbst und der Kosmos im natürlichen Zustand, wenn wir im Gleichgewicht sind; wir haben dann einen klaren Geist und sind im Augenblick voll handlungsfähig. Wenn wir also natürlich handeln, erzeugen wir kein Unrecht, das zum Beispiel anderen Menschen schadet, die Natur über die Maßen ausbeutet oder sogar zerstört, und vor allem werden wir nicht von Gier, Hass und Verblendung getrieben. Die natürlichen Ursachen und Umstände widersprechen also unrechtem Handeln, und sie widersprechen nicht unserer wahren Buddha-Natur.

 

Die wahren Bedingungen sind die Buddhaschaft

In diesem Abschnitt behandelt Dōgen den Zusammenhang zwischen äußeren und inneren Bedingungen sowie der Buddhaschaft.

„Die Samen der Buddhaschaft entstehen aus (natürlichen) Bedingungen, und da dies so ist, entstehen die Bedingungen aus den Samen der Buddhaschaft.“

Hier verknüpft Dōgen die Bedingungen und die Buddhaschaft, also das Erwachen und Gleichgewicht, wechselseitig miteinander. Durch die Umkehrung in der Formulierung unterstreicht er, dass die Buddhaschaft aus den besonderen natürlichen Bedingungen entsteht und sich gleichzeitig aus der Buddhaschaft die Bedingungen ergeben. Buddhaschaft und Bedingungen können nicht voneinander abweichen und bilden eine Einheit. Die wahren Bedingungen im Universum sind immer im Einklang mit der Wirklichkeit und können als Buddhaschaft bezeichnet werden. Sie sind gleichzeitig die Ursache für richtiges Handeln im Hier und Jetzt.

„Es ist nicht so, dass das Unrechte nicht existiert. Es ist nichts anderes als Nicht-Erzeugen. Es ist nicht so, dass Unrechtes existiert, es ist nichts anderes als Nicht-Erzeugen. Die Varianten des Unrechten sind nicht immateriell, sie sind Nicht-Erzeugen. Die Varianten des Unrechten sind nicht materiell, sie sind Nicht-Erzeugen. Unrechtes ist auch nicht (der Begriff) ‚Nicht-Erzeugen‘, es ist nichts anderes als Nicht-Erzeugen (nämlich Handeln).“

Damit schiebt Dōgen der Theorie einen Riegel vor, dass Unrechtes wie eine Idee wirkliche Existenz oder Nicht-Existenz sein könnte, so wie es Idealisten meist verstehen. Begriffe oder Vorstellungen wie „Existenz“ oder „Nicht-Existenz“ sind völlig ungeeignet, um Unrechtes als Wirklichkeit, nämlich als Handeln, zu beschreiben. Unrechtes ist auch kein böser Geist, der mit oder ohne Körper und Materie in der Welt ist und angeblich sein Unwesen treibt. Solche Vorstellungen sind nach Dōgen bestenfalls gleichnishaft zu verstehen.

Besonderen Wert legt er darauf, dass Unrechtes weder materiell noch immateriell ist. Viele Marxisten neigen zu der materialistischen Vorstellung, dass es äußere konkrete materielle Ursachen dafür gibt, dass Unrecht geschieht. So argumentieren sie zum Beispiel, dass durch die materielle Ungerechtigkeit in der Industriegesellschaft notwendigerweise Unrecht geschieht. Idealisten machen dagegen meistens immaterielle Gründe dafür verantwortlich, dass Unrecht in der Welt vorhanden sei. Dōgen lehnt beide Ansichten ab, weil sie nur die halbe Wahrheit seien. Die vielen Varianten des Unrechten werden ganz einfach vermieden, indem nicht unrecht gehandelt wird: Ein vom Handeln unabhängiges Unrecht gibt es nicht. Dafür bringt er Beispiele aus der Natur:

„Kiefern im Frühling sind weder Nicht-Existenz noch Existenz, sie sind Nicht-Erzeugen (von Unrecht). Herbst-Chrysanthemen sind weder Existenz noch Nicht-Existenz, sie sind Nicht-Erzeugen (von Unrecht).“

Diese Aussagen über die Natur wirken nach westlichem Verständnis seltsam, aber im Buddhismus und vor allem bei Dōgen haben sie eine ganz besondere Bedeutung. Blumen und Bäume erzeugen in der Tat kein Unrecht, sie sind, wie sie sind. Sie fallen nicht unter eine Theorie von Existenz oder Nicht-Existenz, erklärt Dōgen, denn das wären absolute, gedachte und dauerhafte Zustände. Sie sind als Wirklichkeit im Augenblick vorhanden. Er argumentiert in diesem Teil des Kapitels damit, dass das Unrecht als solches nicht existiert, sondern allein durch Handeln erzeugt wird. Ein unrechtes Handeln gibt es aber tatsächlich nicht für Kiefern und Chrysanthemen. Überhaupt ist jede moralische Frage nach Recht oder Unrecht für die Natur irrelevant. Die Natur ist, wie sie ist.

In einem großartigen Kapitel beschreibt Dōgen, dass die Natur den Dharma lehrt, also die Wahrheit und Wirklichkeit.[xviii] Kiefern und Chrysanthemen sind ganz einfach da, sie hegen keine bösen Absichten, sie sind im Gleichgewicht und werden nicht von der Gier nach Profit, Ruhm und Macht gesteuert. So man kann sagen, dass sie kein Unrecht erzeugen und deshalb wirklich sind.

Anschließend erweitert er die Aussage auf die Buddhas, die im Gleichgewicht leben und im Augenblick handeln: Sie sind „Nicht-Erzeugen“ von Unrecht und haben daher keine von der Zeit unabhängige Existenz oder Nicht-Existenz. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie kein Unrecht erzeugen und ethisch handeln. Auch die tagtäglichen Dinge des Klosters, wie die Pfeiler der Tempel, die Steinlaternen in der Klosteranlage oder die Gegenstände der buddhistischen Zeremonien, sind keine zeitunabhängigen Entitäten, sondern werden im Handeln des Augenblicks, in der Einheit mit dem Praktizierenden zur Wirklichkeit. Ihre moralische Reinheit ergibt sich daraus, dass sie kein Unrecht erzeugen, keine von Gier gesteuerten Absichten haben und als Wirklichkeit so sind, wie sie sind.

 

Das erwachte Selbst erzeugt kein Unrecht

Nun kommt Dōgen auf unser Selbst zu sprechen, das er von dem isolierten und von Gier gesteuerten Ego unterscheidet.[xix] Er lehnt jede Vorstellung eines dauerhaft existierenden und vor allem isolierten Ich ab, denn das wäre identisch mit dem Atman des Brahmanismus. Demgegenüber bezieht sich das Selbst auf dessen Handeln in der Gegenwart des Augenblicks. Im Kapitel über das verwirklichte Universum[xx] erläutert er ausführlich seine grundlegende Lehre des Handelns im Augenblick, das die Wirklichkeit des Selbst und der Welt erschafft.

Weder subjektives Denken des Idealismus noch objektfixiertes Denken des Materialismus sind in der Lage, die volle Wirklichkeit des Lebens und Universums zu realisieren. Idealismus und Materialismus beruhen auf der Vorstellung eines Ich und der Trennung von Subjekt und Objekt, während das Selbst erwacht und offen ist. Deshalb müssen wir angelernte und fixierte Denk- und Gefühlsstrukturen vergessen und wegfallen lassen, wir müssen uns im Augenblick in der Zazen-Praxis öffnen und uns auf den Weg des Buddha-Dharma begeben. Auch theoretisches Lernen allein reicht nicht aus: Dōgen verwendet deshalb den Ausdruck „Lernen in der Praxis“. Die Sichtweise des Subjekts und Objekts kann zwar nützlich und der Ausgangspunkt weiterer Überlegungen sein, aber sie bleibt eine Teil-Perspektive:

„Das Selbst ist weder Existenz noch Nicht-Existenz. Es ist (das vielfältige Unrechte) nicht zu erzeugen. In der Praxis auf diese Weise zu lernen, ist das verwirklichte Universum, und es ist die universale Verwirklichung. Wir bedenken es von dem Standpunkt des Subjekts, und wir bedenken es von dem Standpunkt des Objekts.“

Nishijima Roshi bringt diese Ausführungen auf den Punkt: „Das Selbst übersteigt Vorstellungen von Existenz und Nicht-Existenz, und es ist genau das Nicht-Erzeugen des Unrechts im gegenwärtigen Augenblick. Wenn wir eine solche Situation erkennen, ist es genau das verwirklichte Universum, und es ist das Universum, das verwirklicht worden ist.“

Wenn wir wirklich bedauern, etwas Unrechtes erzeugt zu haben, keine Ausreden suchen oder alles vertuschen wollen, können sich daraus erhebliche psychische Energien entwickeln, um derartiges Handeln in Zukunft zu vermeiden. Dann gewinnen wir eine größere Klarheit, was im Augenblick ethisch wirklich zu tun ist. Das ist ein wichtiger Schritt zur Befreiung.

„Wenn der Zustand schon so geworden ist, ist auch das Bedauern ‚Ich habe das erzeugt, was nicht erzeugt werden musste‘ nichts anderes als die Energie, die aus der Anstrengung entsteht, (Unrechtes) nicht zu erzeugen.“

Zusammenfassend kann man sagen: Wenn wir richtig handeln, erzeugen wir kein Unrecht und sind im Einklang mit der Ethik und den Gesetzen des Universums; das ist Lernen in der Praxis und keine abgehobene Theorie oder starre Ideologie. Dann gibt es keine Dualität von Ich und Du, keine Abgrenzung gegenüber der Welt und dem Universum. Durch dieses Lernen in der Praxis verwirklicht sich das Universum.

Wenn wir absichtlich Unrecht erzeugen, könne man dieses Verhalten damit vergleichen, dass wir nach Süden gehen wollen und in Wirklichkeit nach Norden wandern, sagt Dōgen. Dann zitiert er einen tiefgründigen Vergleich, um das Unrecht und dessen Nicht-Erzeugen zu beleuchten und deren unauflösbare enge Einheit und Wechselwirkung hervorzuheben:

„(Die Beziehung zwischen) Unrechtem und dem Nicht-Erzeugen ist nicht nur so, wie wenn ein Brunnen einen Esel anschaut, (sondern auch) wie wenn der Brunnen den Brunnen anschaut, ein Esel den Esel anschaut, ein Mensch einen Menschen anschaut und ein Berg einen Berg anschaut. Weil es diese ‚Lehre des Prinzips wechselseitiger Beziehungen‘ gibt, ist Unrechtes genau dessen Nicht-Erzeugen.“

In diesem Zitat bezieht sich Dōgen auf ein berühmtes Kōan-Gespräch[xxi], in dem es heißt, dass der Esel den Brunnen ansieht und umgekehrt der Brunnen den Esel ansieht. Auf diese Weise wird die Einheit von Brunnen und Esel verdeutlicht. Die Trennung von Subjekt und Objekt ist damit überwunden. Dōgen fügt hinzu, dass ein Brunnen den Brunnen ansieht, ein Esel den Esel ansieht, ein Mensch den Menschen ansieht und ein Berg den Berg ansieht. Diese Sätze verweisen auf das Selbst, das so ist, wie es ist, und dem nichts künstlich hinzugefügt oder weggenommen werden darf. Brunnen, Esel, Mensch und Berg sind sich genug und sowohl auf sich selbst fokussiert als auch gleichzeitig völlig im Universum integriert.

Menschen neigen dazu, durch Bewertungen auszuwählen, was sie mögen, und wegzulassen, was sie nicht mögen. Das ist aber nicht die ganze Realität. Emotional gesteuerte Fantasien fügen Gedachtes, Erhofftes oder Gefürchtetes hinzu. Wenn jedoch die Wirklichkeit unverändert und unverstellt zum Zuge kommen soll, müssen diese psychischen Tätigkeiten durchschaut und entsprechende Verzerrungen ausgeschaltet werden.

 

Die Reinheit der Natur

„Buddhas wahrer Dharma-Körper
ist genau wie der Raum.
Er offenbart seine Form entsprechend den Dingen,
wie der Mond (sich) im Wasser (spiegelt).“

Hierzu erklären Nishijima und Cross, dass der Dharma-Körper das „spirituelle oder abstrakte Gesicht der Wirklichkeit“ ist, während der Raum die physikalische Dimension darstellt, als materielles Element nach der altindischen Tradition. Der Raum ist daher das materielle Gesicht der Wirklichkeit.[xxii] Damit sind die beiden wichtigen Seiten der Wirklichkeit angesprochen, nämlich die buddhistische Lehre und die konkreten materiellen Dinge.

Das Symbol des im Wasser reflektierten Mondes behandelt Dōgen ausführlich im Kapitel über die Wirklichkeit des Mondes.[xxiii] Darin beschreibt er den Mond und seine Spiegelung als Gleichnis für das Erwachen: Das Bild des Mondes teilt das Wasser nicht, wühlt es nicht auf und beeinträchtigt es auch sonst in keiner Weise.

Dōgen verknüpft das Bild des Mondes und der Natur mit dem ethisch richtigen Handeln im Augenblick, das kein Unrecht erzeugt. Er spricht vom Klatschen der Hände und meint damit genau das wahre Handeln, das nicht durch unklare oder eigennützige Absichten verfremdet ist. Ein solches Handeln findet immer an einem bestimmten Ort im Raum statt, ganz konkret im Hier und Jetzt.

Beim Bild des gespiegelten Mondes klingt noch eine andere symbolische buddhistische Bedeutung an: Das Bild des Mondes ist vom Wasser umgeben; in gleicher Weise ist ein Individuum von den objektiven Gegebenheiten der konkreten Welt umgeben. Das Wasser kann in diesem Fall als materielles Element verstanden werden, das den Mond als Symbol für das Erwachen umgibt. So ist auch der Mensch von materiellen Dingen umgeben, die mit ihm eine Einheit bilden. In der Gesamtheit des Bildes von Wasser und Mond kommt laut Nishijima und Cross[xxiv] die Einheit von Subjekt und Objekt besonders klar zum Ausdruck. So grenzen sich Wasser und Mond einerseits voneinander ab, sind aber andererseits gerade eine Einheit.

An diesem Beispiel aus der Natur wird abermals deutlich, dass es im Universum nichts Unrechtes gibt und dass die Reinheit der Natur als Wirklichkeit da ist, ohne dass sie durch unrechtes Handeln beeinträchtigt und beschmutzt wird. Trotzdem gibt es leider in der Welt der Menschen zweifellos unrechtes und sogar kriminelles Handeln.

 

Das Rechte ist nicht relativ

Dann greift Dōgen noch einmal den Inhalt der zweiten Zeile des Gedichts auf, das er zu Beginn des Kapitels zitierte: Wir sollen die vielen Arten des Rechten praktizieren. Wie erwähnt gibt es grundsätzlich die drei Bereiche des Rechten, des Unrechten und des Neutralen. Allerdings handelt es sich hierbei um recht abstrakte Begriffe. Das Rechte gibt es also ebenfalls nicht von vornherein und abstrakt als Entität, sondern es verwirklicht sich genau beim rechten Handeln im Augenblick und genau am Ort, an dem gehandelt wird:

„Es gab niemals irgendeine Art des Rechten, das vorher verwirklicht wurde und dann auf jemanden wartet, der es tut.“

Die folgende Aussage beschreibt ebenfalls überzeugend und sehr anschaulich, wie das Rechte sich im Handeln realisiert und damit Wirklichkeit wird.

„(Handeln und Form) kommen genau am Ort des Tuns schneller zusammen als Eisen und ein Magnet und mit stärkerer Kraft als die legendären Vairambhaka-Winde.“

Auch die Erde, die Berge, die Flüsse, die Welt und sogar das angesammelte Karma können laut Dōgen ein solches Zusammentreffen im Handeln nicht verhindern. Wenn man sich allerdings nur auf das gedankliche Erkennen stützt, gibt es sehr viele verschiedene Sichtweisen der Welt. In den buddhistischen Schriften wird dabei oft das Beispiel des Wassers angeführt, das die Fische als Palast, die Götter als eine Kette von Perlen, die Menschen als Wasser und die Dämonen als Blut oder Eiter ansehen. Dōgen erläutert damit, wie wir die Relativität verschiedener Sichtweisen in Bezug auf das Rechte verstehen sollen und betont, dass wir durch Denken allein dieses Problem letztlich nicht lösen können.

Was aber wirklich als Rechtes erkannt wird, kann auch mit Worten beschrieben werden, wie es zum Beispiel die Buddhas der drei Zeiten tun, wenn sie den Dharma lehren. Sie lehren einerseits einen ungeteilten Dharma der großen Einheit und andererseits den Augenblick, in dem die Wirklichkeit selbst da ist. Wie die Buddhas und die Natur den Dharma lehren, behandelt Dōgen eingehend in einem gesonderten Kapitel.[xxv] Maßgeblich dabei ist, dass keine verzerrenden, negativen oder positiven Emotionen das Gleichgewicht des Lehrenden und des Zuhörenden steuern oder beherrschen.

Im ostasiatischen Buddhismus gab und gibt es recht verschiedene Linien und Schulen, zum Beispiel die des Reinen Landes, die auf Glauben beruht, und die Zen-Schulen, die auf der Zazen-Praxis oder auf der Bearbeitung von Kōans aufbauen. Diese Schulen unterscheiden sich jedoch nur äußerlich, erklärt Dōgen, denn im Hinblick auf das richtige Handeln könne man keine Differenz feststellen. Der Unterschied zwischen dem frühen Buddhismus mit dem Erwachen der Hörer des Dharma (Shravakas) und den Gelöbnissen der Bodhisattvas sei daher ganz und gar unwesentlich. Wenn der Shravaka seine Gelöbnisse einhält, ist das rechtes Handeln, und wenn der Bodhisattva die Gelöbnisse verletzt, handelt er nicht richtig.

„Die vielen Arten des Rechten entstehen nicht aus Ursachen und Bedingungen, und sie verschwinden nicht entsprechend der Ursachen und Bedingungen. Die Varianten des Rechten sind wirkliche Dharmas, aber wirkliche Dharmas sind nicht Varianten des Rechten.“

Das Rechte ist keine relative Angelegenheit, die von bestimmten Bedingungen und Ursachen abhängig ist. Das Rechte ist die Natur dieses Universums im Augenblick des Handelns. Damit sind die Varianten des Rechten identisch mit den Dharmas, also den Dingen und Phänomenen.

Richtiges Handeln ist am Anfang, in der Mitte und am Ende korrekt. Ein schlechter Anfang mit falschem Handeln wird kaum zu einem guten Ende führen können. Deswegen ist es so wichtig, auch bereits vor dem Augenblick des Handelns das Richtige zu tun.

Dōgen unterscheidet den Menschen als Person radikal vom Tun und Handeln, also von den Aktionen. Er unterstreicht, dass beide nicht identisch sind, denn das Handeln ist als Tun die Wirklichkeit im Augenblick. Das Handeln ergibt die wesentlichen und wirklichen „Basiselemente“, aus denen wir uns den Menschen als Abstraktion denken und damit erschaffen. Der Mensch ist also eine Abstraktion, während die Handlungen wirklich sind. Es sei nicht unbedingt notwendig, dass der Mensch sich verstandesmäßig dessen voll bewusst ist, dass und wie er selbst handelt und wie andere handeln, erklärt Dōgen. Die Wirklichkeit des Handelns gibt es unabhängig vom Denken und der Reflexion.[xxvi] Man könne das richtige Handeln niemals vollständig durchschauen, denn es sei im Kern unfassbar.

Dōgen sagt über das eigene Selbst im Verhältnis zu anderen Menschen, dass im Zustand des guten und richtigen Tuns „auf diese Weise kraftvolle Augen, in der Sonne und im Mond“ existieren. Damit meint er, dass wir das Selbst und die anderen sehen und erkennen können, wenn wir richtig handeln. Daraus ergibt sich eine unauflösbare Verknüpfung mit dem Augenblick und mit dem Handeln selbst. Die Sonne und der Mond als Teile des Kosmos sind Symbole für die Natur, die sich im Gleichgewicht befindet und damit eine Einheit mit dem Dharma bildet. Dann existiert das verwirklichte Universum[xxvii], das aber „nicht eine Erzeugung des Universums ist“ und auch nicht den Charakter einer ewigen Existenz hat, sondern sich im Augenblick verwirklicht.

„Recht zu handeln, ist gutes Tun, aber es ist nichts, was verstandesmäßig ausgelotet werden kann. Gutes in der Gegenwart zu tun, ist ein kraftvolles Auge, aber es ist jenseits von intellektueller Überlegung.“

Damit arbeitet Dōgen die Begrenztheit des Denkens weiter heraus. Gerade beim Thema „Moral“ sind den verstandesmäßigen Überlegungen ganz wesentliche enge Grenzen gesetzt. Das ist den argumentierenden Menschen meist überhaupt nicht bewusst. Rechthaberei sucht nach spitzfindigen Argumenten und versucht, den anderen damit „fertigzumachen“. Die wechselseitig zugefügten Verletzungen tragen wiederum dazu bei, dass eine konkrete Klärung des ethischen Handelns überhaupt nicht mehr möglich ist. Kraftvolle erwachte Augen, welche die Wirklichkeit des ethischen Handelns klar erkennen, sind daher nicht identisch mit der Theorie des Buddhismus, sondern gehen darüber hinaus. Die Augen und das Sehen sind im Buddhismus oft eine Metapher für ganzheitliches klares Erkennen, das im Gegensatz zu linearem Denken steht.

„Die vielen Arten des Rechten sind jenseits von Existenz und Nicht-Existenz, von Materiellem und Immateriellem usw. Sie sind ganz genau nichts anderes als gutes Tun und Handeln.“

Tiefschürfende philosophische Überlegungen zur Existenz von Moral und Ethik führen demnach nicht weiter. Das Gute zeigt sich laut Dōgen direkt im Handeln und nicht in der abgehobenen Abstraktion.

Es gibt sehr vielfältige Arten und Möglichkeiten des richtigen Handelns, und dies ist das verwirklichte Universum selbst, das hat Dōgen eindrucksvoll im Shōbōgenzō herausgearbeitet.[xxviii] Da die Wirklichkeit der Augenblick des Handelns ist, sind Überlegungen zum Entstehen und Vergehen des Guten wenig hilfreich und oft sogar irreführend. Gleiches gilt für Ursachen und Bedingungen, die genau im Augenblick wirksam sind, aber als abstrakte Theorie nicht weiterführen. Dies ist bei moralischen Diskussionen ein sehr wichtiger Ansatz, denn häufig werden falsche oder übertriebene Ursachen herangezogen, und weit hergeholte Spekulationen, die vor allem die eigene Position stützen, werden mit realen Bedingungen und Ursachen verwechselt. Gerade falsche Verursachungsketten schaden der Klarheit beim ethischen Handeln, das im Buddhismus als das Natürliche erfahren wird und sich im Einklang mit der jeweiligen Situation befindet. Im Kapitel über das Bodhisattva-Handeln[xxix] hat Dōgen hierzu ungewöhnlich präzise Formulierungen gefunden.

Beim Handeln stehen die alltäglichen Angelegenheiten im Mittelpunkt, wie zum Beispiel stehen, weggehen und ankommen; damit ist gutes Tun direkt gekoppelt. Bei den vielen Arten richtigen Handelns geht es jeweils um das einzelne richtige Tun – im Einklang mit dem ganzen Dharma, dem umfassenden Körper und dem realen Land, in dem wir leben.

Genau im Augenblick gibt es auch beim Rechten die Einheit von Ursache-und-Wirkung. Die Ursachen liegen beim wahren Erleben zeitlich nicht vor den Wirkungen, denn ein zeitliches Nacheinander kann nicht erfahren werden.

Im Folgenden behandelt Dōgen noch einmal die dritte Zeile des eingangs zitierten Gedichts: Richtiges Handeln „reinigt natürlich den Geist“. Wichtig ist dabei, dass nicht der isolierte denkende Geist gemeint ist, sondern der Herz-Geist und die Einheit von Körper-und-Geist. Das Natürliche ist identisch mit dem Nicht-Erzeugen des Falschen und Unrechten. Dōgen meint dies ganz konkret, im Hier und Jetzt. Häufig versteht man im Westen den Geist, der bedeutsam denkt und reflektiert, als Gegensatz zum Natürlichen und Natur-Gegebenen. Das ist jedoch im Zen nicht der Fall. Indem wir nicht unrecht handeln, reinigen wir unseren Körper und Herz-Geist. Dann „ist der Geist gutes Tun. Was reinigt, ist gutes Tun, der (konkrete Zustand) ist gutes Tun, und was natürlich ist, ist gutes Tun“, hält Dōgen fest.

Auf der Basis seiner tiefgründigen Untersuchungen in diesem Kapitel gelingt ihm eine sehr kompakte Interpretation – eine profunde Analyse des richtigen ethischen Handelns. Moralische Empörung, zumal auf abstrakter Ebene, verfällt allzu leicht in aufgeregte Emotionen und bezichtigt andere Menschen vielleicht sogar der Sünde, also des Vergehens gegen Gott. Damit werden diese aber ausgegrenzt. Dōgens Analyse zum ethisch richtigen Handeln ist dagegen meines Erachtens außerordentlich fundiert, sachlich und überhaupt nicht aufgeregt.

Auf die vierte Zeile des Gedichts kommt er ebenfalls noch einmal zu sprechen; sie lautet: „Dies ist die Lehre der Buddhas.“ Auch bei den Buddhas steht das konkrete Handeln im Mittelpunkt, und es geht nicht um abstrakte Vorstellungen, abgehobene Lehren und generalisierte heilige, moralische Gefühle.

Dōgen erläutert, dass der indische Gott Shiva ein Buddha sein kann, wenn er wie dieser handelt, aber nicht alle Shivas seien immer Buddhas. Dasselbe gelte für die legendären Könige, die das Rad rollen: „Wir sollten Tatsachen wie diese bedenken und sie in der Praxis erlernen.“ Die Leiden unseres Lebens sollten wir nicht einfach als unabänderlich hinnehmen, sondern uns an dem Handeln der Buddhas und großen Meister orientieren. Indem wir selbst ähnlich handeln, tun wir das Rechte und erzeugen kein Unrecht. Dabei benötigen wir Geduld und Ausdauer und müssen Schwierigkeiten überstehen, die uns manchmal vielleicht sogar sinnlos erscheinen.

Am Ende dieses großartigen Abschnitts zitiert Dōgen einen markanten Zen-Satz aus einem Kōan-Gespräch zwischen Meister Chokei und Meister Reiun Shigon (Lingyun Zhiqin). Es ist auch in der Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō[xxx] enthalten.

„Nichts (Unrechtes) zu erzeugen und Gutes zu tun, ist die Angelegenheit des Esels, der nicht fortgegangen, und ist die Angelegenheit des Pferdes, das hereinkommt.“

Mit der Angelegenheit des Esels und des Pferdes ist das alltägliche Handeln im damaligen China gemeint. Die Wirklichkeit des moralischen Handelns erweist sich nämlich im täglichen Leben der Menschen – bei ihren Aufgaben, Verpflichtungen, Bindungen und Verantwortungen, kurz: im Tun und Handeln selbst.

 

Eine Kōan-Geschichte über unrechtes und rechtes Handeln

In einer bekannten Kōan-Geschichte fragte der berühmte Dichter Haku Kyo-i[xxxi], ein buddhistischer Laie, Meister Dorin: „Was ist die große Absicht des Buddha-Dharma?“

Der Meister antwortete: „Kein Unrecht zu erzeugen und die vielen Arten des Rechten zu praktizieren.“

Der Dichter, der später auch ein bedeutender Gouverneur wurde, bemerkte daraufhin etwas abfällig: „Wenn das so ist, kann dies sogar ein dreijähriges Kind sagen.“

Nun erwiderte Meister Dorin: „Ein dreijähriges Kind kann die Wahrheit sagen, aber ein alter Mann von 80 Jahren kann sie nicht (konkret) verwirklichen.“

Der Dichter dankte daraufhin zwar dem Meister mit einer Niederwerfung, aber den tieferen Sinn der Aussage konnte er, wie Dōgen sagt, nicht erfassen. Er war als Genie wegen seiner dichterischen Qualitäten berühmt und wurde im Kreise der Schriftsteller und Dichter außerordentlich verehrt. Den umfassenden Sinn der Zen-Worte, dass man in der Praxis und im Alltag kein Unrecht erzeugen und das Rechte tun solle, verstand er jedoch nur als verbale Aussage, er war also auf der Wort- und Denkebene gefangen. Dies ist, wie Dōgen feststellt, nicht verwunderlich, weil er eben ein Mann des Wortes und der Dichtung und nicht ein Mann des Handelns war: „(Der Dichter) hat keinen Fuß in den Bereich des Buddha-Dharma gesetzt. Er hat nicht die Kraft des Buddha-Dharma.“

Wesentlich seien die Praxis und das Handeln, und diese unterscheiden sich leider häufig vom Reden und Denken. Sein hohes dichterisches Können hatte offensichtlich für Haku Kyo-i zur Folge, dass er von der buddhistischen Praxis des Zazen und des Alltags noch weit entfernt war. In der Tat ist es sehr leicht zu sagen, was moralisch sinnvoll und richtig ist, und es trifft sicher zu, dass bereits ein Kind, das gelernt hat, vernünftige Sätze zu bilden, dies sagen kann. Die Verwirklichung dieses ethischen Vorsatzes durch Handeln erfordert jedoch eine ganz andere Dimension des Lebens. Selbst die Erfahrung eines sehr langen Lebens und das Lernen auf dem Weg des Dharma reichen oft nicht aus, um dies vollständig zu verwirklichen. Dafür ist eine intuitive Klarheit und umfassende Kraft des Handelns im Augenblick erforderlich.

Die Wirklichkeit, kein Unrecht zu erzeugen, ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir zum Beispiel davor warnen, vorsätzlich Unrechtes zu tun, und wenn wir jemanden ermutigen, in Klarheit das Rechte zu praktizieren. Der Buddha-Dharma, den wir beim rechten Handeln verwirklichen, ist immer derselbe, unabhängig davon, ob wir ihn unter Anleitung eines wahren Lehrers erlernt oder ihn in einem Zustand der Klarheit und des Gleichgewichts selbst erfahren haben. Wenn Menschen das Rechte tun, verwirklichen sich ihr Wesen, ihre Form, ihr Körper und ihre positive Kraft.

„(Die Wirklichkeit von) Ursache-und-Wirkung ist im Buddhismus jenseits einer Diskussion von (Theorien wie) ‚verschiedene Reifung‘ oder ‚gleiche Ströme‘.“

Hier spricht Dōgen eine bekannte Theorie an, die erklärt, dass moralisches und unmoralisches Verhalten unterschiedliche Wirkungen erzeugt; diese Theorie wird als „Reifung“ bezeichnet. Über diesen theoretischen moralischen Aspekt der Karma-Lehre geht Dōgen jedoch hinaus, indem er die Praxis durch rechtes Handeln im Augenblick integriert.

Reine Theorien, die keine Beziehung zur praktischen Ethik haben, hält Dōgen nicht für sinnvoll. Das Gesetz von Ursache und Wirkung hat dabei keinen Bezug zu Recht oder Unrecht, sondern wird als Automatismus jenseits der Ethik verstanden. Dann sind alle menschlichen Regeln ethisch gleichwertig und damit indifferent. Aber nach der buddhistischen Lehre, die Dōgen hier vorstellt, geht es ganz konkret sowohl bei den Ursachen als auch bei den Wirkungen um das rechte oder falsche Handeln im Augenblick – nicht mehr und nicht weniger.

Meister Dorin sprach zweifellos die Wahrheit, betont Dōgen. Selbst wenn das gesamte Universum immer wieder scheinbar von Unrecht durchdrungen ist, und selbst wenn „das Unrecht den ganzen Dharma (scheinbar) immer wieder verschlungen hat“, gebe es die Befreiung durch richtiges Handeln im Augenblick und dadurch, dass man unrechtes Handeln schlicht unterlässt. In jedem Augenblick kann also umgeschaltet werden: aus übermächtig erscheinendem Unrecht und Verbrechen in humanistisches, rechtes Handeln. Dieses ethische Handeln könne überhaupt nicht zerstört werden, ganz gleich wie lange das Unrecht vorgeherrscht habe.

Die vielen Varianten des Rechten seien rechtes Handeln, zu Beginn, in der Mitte und am Ende, so lautet eine Formulierung aus dem Lotos-Sūtra. Und Dōgen fügt hinzu: „Gutes Tun hat die Natur, die Form, den Körper, die Energie usw. verwirklicht, wie sie sind.“ Im Gegensatz dazu sei der Dichter Kyo-i niemals auf den Spuren des rechten Handelns und des Buddha-Dharma gegangen, und er habe nicht die Übertragung von einem wahren Meister erfahren.

Dōgen fragt dann, warum der Dichter das dreijährige Kind gering schätzt, wenn es bereits solche klaren Aussagen über Rechtes und Unrechtes machen könne. Und tatsächlich: Wer kennt wirklich ein solches Kind, wer kennt sogar ein neugeborenes Kind und wer kennt überhaupt einen Menschen, wenn er selbst im Denken, Reden und Dichten gefangen ist? Es ist einleuchtend, dass ein Dichter die Sprache über alles schätzt, aber damit löst er sich allzu leicht von der Wirklichkeit ab. Die tiefe Achtung und Bescheidenheit gegenüber der Wirklichkeit können auf der verbalen Ebene vollständig verloren gehen.

Häufig geht es bei Schriftstellern vor allem darum, beim Leser starke künstliche Emotionen zu erzeugen, die fesselnd und faszinierend sind. Das muss mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben. Gerade fantastische dramatische und nicht zuletzt abgründige Verbrechergeschichten sind bei vielen Lesern besonders beliebt. Auch im Fernsehen herrschen sie heute vor, denn sie sollen das Bewusstsein okkupieren und können von den Problemen der Menschen ablenken, die dabei jedoch ungelöst bleiben.

Wenn jemand nicht die eigene Erfahrung des Buddha-Dharma hat, nützt es nicht viel, dass er einen authentischen Meister von Angesicht zu Angesicht kennt, erläutert Dōgen im Hinblick auf den Dichter. Umgekehrt heißt es aber nicht unbedingt, dass einem der Zugang zum wahren Buddha-Dharma verwehrt ist, wenn man keinen authentischen Meister direkt erlebt hat. Denn es kommt auf das rechte Handeln im Augenblick an und darauf, dass wir kein Unrecht erzeugen. Oft haben die von der Gesellschaft hoch gerühmten und gefeierten Menschen große Schwierigkeiten, die Wahrheit und Wirklichkeit des Buddha-Dharma zu erahnen und bescheiden festzustellen, dass sie einen fundamentalen Lernprozess beginnen müssten.

„Wer dazu gekommen ist, ein einziges Atom zu kennen, der kennt das ganze Universum, und wer einen wirklichen Dharma durchdrungen hat, hat die unzähligen Dharmas durchdrungen.“

Das Kleine, das hier als einzelnes Atom bezeichnet wird, und das Große, also das Universum, bilden eine Einheit. Dieses Kleine dürfen wir nicht vernachlässigen, um das Große zu durchdringen. Wer also große fantasievolle Poesie verfasst, sollte ein dreijähriges Kind oder ein Neugeborenes nicht für unwesentlich halten. Wenn die Schüler des Buddhismus das Leben, die Wirklichkeit und die Welt bis zum Ende durchdrungen haben, so Dōgen, können sie gerade oder erst die Einzelheiten und vielfältigen Dinge und Phänomene sehen. Erst dann lernen sie die Wirklichkeit des ganzen Universums.

„Es ist sehr töricht zu denken, dass ein drei Jahre altes Kind nicht den Buddha-Dharma ausdrücken könne, und zu behaupten, was ein drei Jahre altes Kind sagt, müsse simpel sein.“

Die große Aufgabe jedes Buddhisten ist, darüber Klarheit zu gewinnen, was das Leben und was der Tod ist.[xxxii] Solche Fragen müssen uns auch und gerade dann bewegen, wenn es um ein dreijähriges Kind geht, anstatt sich von ihm abzugrenzen und sich dem eigenen Hochmut hinzugeben, wie es der Dichter in diesem Kōan tut. Schließlich zitiert Dōgen hierzu Meister Nāgārjuna:

„Genau in der Zeit deiner Geburt nahmen wir teil an dem Löwengebrüll (der buddhistischen Lehre).“

Das heißt, schon bei unserer Geburt sind wir auf dem Weg des Buddha-Dharma. Die Lehren und Vorträge von Gautama Buddha werden in der buddhistischen Literatur bisweilen als Löwengebrüll bezeichnet. Dieses Löwengebrüll eines Kindes versteht der Dichter offensichtlich nicht und bezeichnet es als unwichtiges Geplapper, weil er die Wirklichkeit des rechten Handelns nicht kennt. Wenn man am Brüllen des Löwen teil hat, „ist dies die Tugend des Tathāgata, der das Dharma-Rad dreht, oder es ist das Drehen des Dharma-Rades selbst“, erklärt Dōgen.

Der berühmte Meister Engo Kokugon (Yuanwu Keqin) bezieht diese Kōan-Geschichte direkt auf Leben-und-Sterben sowie auf Kommen-und-Gehen; sie seien der wirkliche menschliche Körper.[xxxiii] Damit sind das Handeln im Alltag und die großen Wirklichkeiten des Lebens gemeint. Es sei völlig absurd, derartige tiefgründige Wirklichkeiten als simpel abzutun, denn sie gelten bei jedem Menschen und nicht zuletzt bei einem dreijährigen Kind. Und Zen-Geist ist Anfänger-Geist.[xxxiv] Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen dem Handeln und den Motiven der Buddhas der drei Zeiten und denen eines Kindes, aber auch das Kind hat teil an der großen Wahrheit und am Löwengebrüll.

Die Stimme von Meister Dorin ist laut Dōgen lebendiger als der Donner, wenn er betont: „Auch ein Kind von drei Jahren kann (die Wahrheit) ausdrücken“. Wenn der Dichter daran zweifelt und die Aussage des Meisters abwertet, bedeutet das nichts anderes, als dass er den Meister Dorin selbst infrage stellt und sich überheblich von ihm abgrenzt. Er kann das lebendige Löwengebrüll des großen Meisters und des Kindes nicht hören, obgleich der Zen-Meister das Dharma-Rad dreht. Der Dichter verbringt wertvolle gemeinsame Zeit mit ihm, ohne in seiner Eitelkeit zu erkennen, welch großen Wert dies für sein eigenes Leben gehabt hätte.

Dōgen fordert uns auf, Dorins Aussage über das Kind gründlich zu erforschen und in der Praxis zu durchdringen. Wir sollen auch sorgfältig untersuchen, ob und wann ein erfahrener Mann von 80 Jahren die Wahrheit verwirklicht. Möglicherweise komme es dabei zu verschiedenen Interpretationen. Die Wirklichkeit des alten Mannes und des Kindes unterliegen jedoch keiner subjektiven Interpretation und keiner Einschätzung. Sie sind genau die Wirklichkeit, und sie handeln selbst direkt im Augenblick des Jetzt.



[i] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 1, S. 121 ff.; englische Fassung, Bd. 1, S. 97 ff.

[ii] Kap. 10, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 100 ff.: „Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit! (Shoaku makusa)

[iii] Shobogenzo, engl. Fassung, Bd. 1, S. 97

[iv] ebd.

[v] vgl. Kap. 5 von Teil II dieses Buches

[vi] vgl. Seggelke, Yudo J.: Erwachen und Erleuchtung im ZEN, S. 87 f.

[vii] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)

[viii] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)

[ix] Shobogenzo, engl. Fassung, Bd. 1, Fußnote S. 99

[x] Zum Beispiel Kap. 1, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 26 ff.: „Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit (Bendōwa)“; Kap. 3, ZEN Schatzkammer. Bd. 1, S. 43 ff.: „Das verwirklichte Leben und Universum(Genjō-kōan); Kap. 11, ZEN Schatzkammer. Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)

[xi] vgl. Seggelke, Yudo J.: Das Geheimnis der Buddha-Natur

[xii] vgl. Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)

[xiii] vgl. Kap. 4 von Teil II dieses Buches und Kap. 33, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 80 ff.: „Der Bodhisattva des großen Mitgefühls und des Helfens (Kannon)

[xiv] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, S. 100

[xv] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)

[xvi] Kap. 76, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 147 ff.: „Die große buddhistische Praxis und das Gesetz von Ursache und Wirkung (Dai-shugyō) und Kap. 89, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 262 ff.: „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung (Shinjin-inga)

[xvii] Nishijima, G. W.; Seggelke, Yudo J.: Die Kraft der ZEN-Meditation, S. 35 ff.

[xviii] Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujō seppō)“

[xix] vgl. Jäger, Willigis: Das Leben endet nie: Über das Ankommen im Jetzt

[xx] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das verwirklichte Leben und Universum (Genjō-kōan)

[xxi] Shinji Shobogenzo, Buch 2, Nr. 7

[xxii] Shobogenzo, engl. Fassung, Bd. 1, S. 103, Fußnote 38

[xxiii] Kap. 42, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 43 ff.: „Die Wirklichkeit des Mondes (Tsuki)

[xxiv] Shobogenzo, engl. Fassung, Bd. 1, S. 103, Fußnote 41

[xxv] Kap. 53, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujō seppō)

[xxvi] vgl. Kap. 4 von Teil II dieses Buches

[xxvii] Kap. 3, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das verwirklichte Leben und Universum (Genjō-kōan)

[xxviii] ebd.

[xxix] Kap. 33, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 80 ff.: „Der Bodhisattva des großen Mitgefühls und des Helfens (Kannon)

[xxx] Shinji-Shobogenzo, Buch 2, Nr. 56

[xxxi] Haku Kyo-i starb 864. Kyo-i war sein Künstlername als Dichter.

[xxxii] Kap. 17, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 152 ff.: „Lotos-Sūtra: Die Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke)“

[xxxiii] Kap. 50, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 213 ff.: „Die wirkliche Form aller Dharmas (Shohō jissō)

[xxxiv] Suzuki, Shunryu: Zen-Geist, Anfänger-Geist