Mittwoch, 30. Juni 2021

Das große Erwachen ist Freude und geistige Klarheit (Daigo)

Jeder Mensch hat nach Buddha die Möglichkeit, die Voraussetzung und das Potential zum Erwachen, wie die vielen großen Meister Indiens, Chinas und Japans lehren. Sie haben das Erwachen und die Erleuchtung selbst erfahren und nicht gelesen, gehört oder abgeschrieben. Das ist Buddhas glasklare Aussage

Mein Lehrer Nishijima Roshi war einer der glücklichsten und klarsten Mensch, den ich in meinem langen Leben kennen gelernt habe. Das ist für mich der verlässliche Beweis für das Erwachen; und ich war mehrere Wochen Gast und Schüler in seinem kleinen Appartement in Tokyo, kannte ihn also recht gut. Im Zusammenleben war er erstaunlich einfach und bescheiden. Es war ein großen Glück, ihn zu kennen. Er sprach übrigens kaum von Erleuchtung, sonder von Verwirklichung, um keine unnötige Verwirrung zu erzeugen.

Die Erleuchtung (japanisch Satori) oder das Erwachen hat im Buddhismus zentrale Bedeutung. Gibt es sie wirklich, die neue Klarheit, lebendige Freude, die Milde und Empathie zu anderen Menschen und tiefe umwandelnde Verwirklichung in deinem Leben? Jeder Mensch kann sie erfahren und erleben, das kann ich Dir bestätigen! Ich kenne zwei Menschen, die ich als verwirklicht und erleuchtet bezeichnen kann. Der eine ist mein eigener Lehrer, Nishijima Roshi. Buddhistische Verwirklichung ist also keine Illusion oder Selbst-Täuschung sondern tatsächliches Leben und konkretes Handeln. Darauf kannst Du vertrauen.

Aber es ist auch bekannt, dass manche Pseudo-Lehrer und selbst ernannte Meister andere täuschen, aus welchen Motiven auch immer. Daher ist Vorsicht geboten, wenn du dich einem Lehrer anvertraust. Erleuchtung ist auch zu einem marktgängigen Produkt geworden. Und schon Dogen warnte vor falschen Meistern und  Lehrern.

Durch die Verwirklichung haben wir mehr Lebensenergie, mehr Freude, mehr Klarheit und ruhen in unserer Mitte. Mit anderen Menschen kommen wir besser aus und lassen uns nicht von Pessimismus, Fake News und Verschwörungstheorien anstecken. Das ist in der jetzigen Korona-Krise besonders wichtig. Die Erleuchtung muss nicht unbedingt der große einmalige Sprung sein, da sagt nicht zuletzt Meister Dogen überzeugend. Und es ist sicher nicht der geistige Super-Sprung zum All-Wissen, denn das gibt es für den Menschen nach meinem Wissen nicht. Auch die Neuro-Wissenschaften können bestätigen, dass es so etwa wie Allwissen in unserem Gehirn nicht geben kann. Allerdings ist die und Realität des Unbewussten und die enge Verbindung mit dem Bewussten klar nachgewiesen.

Statt des Sprungs zur großen Erleuchtung ist es vernünftiger, sich auf eine schrittweise gute Entwicklung einzustellen und sein Leben kontinuierlich zu verbessern. In der Psychologie heißt das die Selbst-Wirksamkeit. Sie geht Hand in Hand mit unserer Übungspraxis und mit menschlich positiven Kontakten und Wechsel-Wirkungen.

Dôgen sagt, dass wir vor allem durch die Zazen-Praxis zur Wirklichkeit und Wahrheit erwachen und damit ein erfülltes und kreatives Leben führen. Wer an der Zen-Meditation dran bleibt, wird sein Leben ganz sicher verbessern, je nach Stetigkeit seiner Praxis, also entsprechen mehr oder weniger. Das kann ich aus eigener Erfahrung voll bestätigen.

Aber der Begriff der Erleuchtung wird vielfach missverstanden und auch immer wieder missbraucht, so dass eine Klärung außerordentlich wichtig ist. In Japan gibt es einen zweiten wichtigen Begriff, Kenshô, der etwa „Selbst-Klarheit“ bedeutet. Marianne Wachs bezieht sich auf dabei auf Daikan Enô (Hui-neng), und fügt hinzu:

„Nach einem kenshô erweist es sich aber, dass nicht alle Begierden und Leidenschaften für immer verschwunden sind. Es wird zwar begleitet von der Vernichtung der verblendeten Ansichten und aller Zweifel an Buddha, Dharma und Sangha und an der eigenen Buddha-Natur."

Aber die vier Übel Gier, Hass, Unwissenheit und Stolz seien noch wirksam. "Es braucht noch manche Jahre des Trainings, um sich vollständig freizumachen“

Dōgen behandelt in diesem Kapitel ausführlich und in die Tiefe gehend eine solche Verwirklichung des Menschen beim Erwachen. Nishijima Roshi benutzt lieber den Begriff der Verwirklichung als Erleuchtung, weil das weniger Missverständnisse hervorruft, während Buddha bekanntlich von Erwachen sprach.

Dôgen berichtet überzeugend dazu aus seiner ganz eigenen Erfahrung und seiner eigenen Sicht: Diese große und tiefgreifende Verwirklichung erlebter er erst in China, nachdem er seinen wahren Lehrer Tendo Nyijo gefunden hatte. In Japan hatte er trotzt großer theoretischer und praktischer Anstrengung keine Erleuchtung erlangen können. Dabei war die Praxis des Zazen in China von größter Bedeutung für ihn. Er macht klar, dass man bei dieser Meditation mit Denken und Theorien allein nicht zur Befreiung vorstoßen kann, dass also die Lebensphilosophie der Gedanken und Ideen nur begrenzt dafür geeignet ist.

Aber auch eine Lebensphilosophie des Materialismus, also der nur sinnlichen Wahrnehmung bzw. des Genusses, ist ziemlich ungeeignet für die Verwirklichung. Das gilt vor allem, wenn wir glauben, dass das Glück ohne eigene ausdauernde Praxis und wie von selbst zu uns kommt. Denn eine solche Ideologie gibt es häufig bei materialistischen Menschen.

Ich möchte hier an die Erklärungen von Nishijima Roshi zur ersten und zweiten Erleuchtung im Buddhismus anknüpfen. Die erste Erleuchtung entsteht durch korrektes Sitzen im Zazen. Diese Meditation ist ohne vorgestellte Gegenstände und Themen. Nishijima Roshi sagt zudem in aller Klarheit, dass die plötzliche und die allmähliche Erleuchtung überhaupt nicht im Widerspruch zueinander stehen, wie dies im Zen-Buddhismus bisweilen kontrovers diskutiert wird. Sie kennzeichnen nur unterschiedliche zeitliche Sichtweisen der selben Wirklichkeit. Bei jedem Weg der Befreiung sei fortdauernden Praxis notwendig, also die Meditation des Zazen.

Für Meister Dōgen ist die Erleuchtung vor allem durch das Handeln aus der guten Mitte und im gegenwärtigen Augenblick ausgezeichnet. Wiegesagt, ist es ihm zunächst in Japan mit der Theorie des damaligen Buddhismus nicht gelungen, so etwas Ähnliches wie Erleuchtung selbst zu erfahren. Wir können annehmen, dass er sich selbst gegenüber sehr ehrlich war und dass ihn dies sicher von manchen sogenannten Meistern der damaligen Zeit unterschied.

Bekanntlich reiste er dann nach China, wo er durch die Zazen-Praxis des Shikantaza („Nichts als Sitzen“) das erlebte, was wir mit dem Begriff „Erleuchtung“ oder Verwirklichung bezeichnen. Dies ist im Lehrsystem von Nishijima Roshi die umfassende buddhistische Lebensphilosophie der Gesamtheit von Lehre und Praxis, also der umfassenden intuitiven Weisheit und Klarheit im Augenblick und vor allem der klaren Wirkung mit Moral und Ethik. Das rechte Handeln erläutert Dōgen in einem gesonderten Kapitel mit dem Thema „Erzeugt kein Unrecht, sondern tut die vielfältigen Arten des Rechten“.

Er fragt danach, was passiert, wenn man aus dem Zustand des Erwachens wieder heraus fällt und sich erneut in Täuschungen und Illusionen verstrickt.

Das große Erwachen ist der Alltag und das tägliche Handeln der Buddhas und Vorfahren im Dharma. Das Erwachen wird nicht durch eine Theorie des Erwachens verwirklicht oder dadurch, dass man scharfsinnig darüber nachdenkt. Die Verwirklichung ereignet sich schon gar nicht, wenn man anderen etwas vorspielt. Es ist also von fundamentaler Bedeutung, das Erwachen als Vorstellung, Begriff und Doktrin zu vergessen, es loszulassen und klar direkt zu handeln. Genauso sinnvoll wie aktiv zu handeln kann es aber sein, etwas geschehen zu lassen und gerade nicht einzugreifen, um dadurch zum Wohl des Ganzen zu handeln. Dieses Höchste der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist nach Dōgen unauflösbar mit der Zazen-Praxis und dem aktiven Leben im Alltag verbunden. Dieses Höchste sprengt den Rahmen der Vorstellung und Theorie des großen Erwachens und geht weit darüber hinaus.

Bei den Menschen gibt es beim Erwachen nach Dôgen große Unterschiede, aber alle verwirklichen es durch verdienstvolles Tun jeweils auf ihre eigene Weise und mit den ihnen eigenen Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten können auf natürliches Wissen gegründet sein, aber werden immer durch fortdauernde Übung und Anstrengung entwickelt. Sie verbinden sich in Wechselwirkung mit der körperlichen Realisierung des Erwachens und befreien sich so aus der Sackgasse von Zwängen und Dogmen des Lebens.

Dôgen sagt:

„Es gibt diejenigen, die angeborene Weisheit haben“,

die im Leben sich dann befreien. Andere beschreiten den Weg des Buddha-Dharma eher durch Lernen und Studium, er sagt:

„Dann gibt es diejenigen, die ihre Weisheit erlernen“.

Auch dieses muss mit Praxis verbunden werden. Andere verfügen schließlich bereits über das tiefe Wissen der Buddhas, das die künstliche Trennung des Pdeudo-Ich von anderen Menschen oder von Subjekt und Objekt überwunden hat. Das wär die Spaltung durch Dualität. Es gibt auch Menschen, die eine wunderbare und klare Ausstrahlung haben, ohne dass sie einen Lehrer hatten oder die buddhistischen Schriften studiert haben. Das heiß nichts anderes, als das Erwachen und die Erleuchtung im Menschen angelegt sind und durch Übung und Praxis zur Blüte kommen.

Dōgen sagt, dass es unsinnig ist, bei der Verwirklichung nach klugen und törichten Menschen zu unterscheiden, denn es geht vor allem um das Handeln und nicht um Theorie, Wissen und Bewertung. Es ist missverständlich zu sagen, dass ein Mensch dauerhaft erwacht ist oder nicht. Denn dies würde bedeuten, dass er die unveränderliche Substanz des Erwachens besitzt. Diese Eigenschaft wäre aber eine Pseudo-Substanz im Sinne von Nagarjunas, denn sie ist nur illusionäre Doktrin und massive Täuschung.

Denn im Buddhismus gilt, dass die erlangte große Wahrheit kein unveränderliches Eigentum eines Menschen ist, das wäre Substanz-Täuschung. Das wahre authentische  Handeln im Augenblick steht im Vordergrund. So ist auch die zunächst eigenartige Aussage des großen Meisters Rinzai zu verstehen, man solle nicht denken, dass es schwierig sei, in ganz China einen Menschen zu finden, der nicht erwacht ist. Nach Nishijima Roshi heißt dies, dass der erwachte Zustand zwar natürlich ist, aber erst durch Übungspraxis und Studium erarbeitet werden kann und muss. Oder anders ausgedrückt: Jeder Mensch hat die Möglichkeit und das Potential zu erwachen. Aber ohne Praxis und Ausdauer kann das Erwachen nicht verwirklicht werden.

Dôgen sagt im Shobogenzo zu Meister Rinzai, dass man nicht in theoretisches, abstraktes Denken und vor allem nicht in Dogmen abschweifen solle, um die natürlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entfalten. Er fragt sogar, ob Meister Rinzei zu sehr dem Substanz-Denken verhaftet ist und nicht klar zwischen handelnder Wirklichkeit und theoretischer Doktrin unterscheidet. Es wird im Übrigen zu Meister Rinzai berichtet, dass für ihn abstraktes Denken zunächst ein großes Hindernis war, um zum Wirklichen, Konkreten und Natürlichen vorzustoßen. In dieser Phase soll er eine gewisse intellektuelle Arroganz an den Tag gelegt haben. Diesem Meister werden im Übrigen viele Koan-Geschichten mit scheinbar paradoxen Fragestellungen und Aussagen zugeordnet. Dadurch soll gewohntes doktrinären Denken und Fühlen ausgeschaltet werden, um zum Gleichgewicht, zur Ruhe und zum eigenen Zentrum zu kommen. Es geht darum, über den dualistisch und trennend denkenden Verstand hinaus zu kommen und zum Ganzen, zur guten Wechselwirkung und zur Tiefe zu gelangen.

Dōgen zitiert einen alten Meister, der die Frage eines Mönches beantwortet, wann jemand wieder in die Täuschung zurückfällt, nachdem er das große Erwachen erfahren hatte. Der Meister sagte dazu:

„Ein zerbrochener Spiegel reflektiert nicht mehr. Heruntergefallene Blüten können nicht auf den Baum zurückklettern.

Was ist damit gemeint? In diesem Zitat wird klar gesagt, dass man Erwachen oder Erleuchtung nicht als dauernde unveränderliche Eigenschaft hat, die man einmal erlangt und dann sein ganzes Leben lang behält. Das wäre falsches Substanz-Denken, den Erleuchtung wäre in dieser Ideologie eine Pseudo-Substanz. Vielmehr kann sich der Zustand Erleuchtung von einem Augenblick zum anderen ändern. Alles wird durch das jeweilige ganzheitliche Handeln bestimmt. Oder wie Buddha sagt: Durch das wechselwirkende Entstehen beim Handeln. Genau in dem Augenblick verwirklicht sich die Erleuchtung und Erwachen oder eben nicht! Wenn der Spiegel zerbrochen ist, reflektiert er nicht. Es macht wenig Sinn, lange darüber nachzugrübeln, wie schön er im früheren Zustand reflektiert hat, als er in der Vergangenheit noch unversehrt und funktional war. Denn jetzt in der Gegenwart ist er zerbrochen, alles andere sind nur Erinnerungen und Bewertungen, die im dualistischen Denken auftauchen, aber denen keine wirkliche Qualität der Wirklichkeit im Jetzt mehr zukommt.

Wenn die Blüten von einem Baum heruntergefallen sind, wie zum Beispiel die Kirschblüten, nützt es nach Dōgen nicht viel, sich traurig oder romantisch vorzustellen, dass sie wieder oben auf den Ästen sitzen. Es ist noch unsinniger, sie dort wieder anheften zu wollen. Die Natur und das Leben sind durch dauernde Veränderungen gekennzeichnet. Tiefgreifende Erlebnisse der Erleuchtung  wirken fort, aber sie sind nicht statisch und unnveränderlich.

Die Tatsachen und das Handelns sind Realität im Hier und Jetzt. Sie haben so ihren eigenen Platz in der Welt und im Universum, und zwar genau so, wie sie gegenwärtig sind; nicht mehr und nicht weniger.

Es ist wenig sinnvoll zu behaupten, im großen Erwachen gebe es absolut keine Augenblicke der Unklarheit. Das wäre eine ungenau Idealisierung. Und die Klarheit, Reife und Reinheit des großen Erwachens können immer noch weiter entwickelt werden, wie Dôgen in einem folgenden Kapitel beschreibt. Die buddhistische Übungspraxis sollte daher über das ganze Leben hinweg fortgeführt werden. Gautama Buddha selbst betonte, dass jeder Mensch die Erleuchtung erlangen und das Leiden überwinden kann, ganz gleich, wie tief er auch in Täuschungen, Unklarheiten und falsches Handeln verstrickt ist. Gier, Hass und Verblendung als wichtigste Ursachen des Leidens können erkannt und überwunden werden. Dann eröffnet sich der Augenblick der Klarheit und Selbst-Verwirklichung. Es wird dazu berichtet, dass der bösartiger Massenmörder Angulimala sich nach der direkten Begegnung mit Gautama Buddha entschloss, sein Leben vollständig zu ändern. Er schloss sich der Sangha an und verwirklichte das große Erwachen.

Dōgen fordert uns auf, dass wir uns sehr gründlich mit verschiedenen Fragen, Möglichkeiten und Grenzen des Erwachens beschäftigen. Dazu gehört auch die Frage, wann ein Erwachter wieder in die Täuschung zurückfällt und was sich genau in diesem Augenblick ereignet. Es könnte sogar sein, dass ein solcher Mensch danach umso klarer erkennen kann, was Täuschung ist. Er kann dann anderen umso besser als Lehrer und Therapeut helfen, aus Selbstlügen, Verdrängungen, Dogmen und Illusionen herauszufinden. Und seine wieder verwirklichte Erleuchtung wäre stabiler als vorher. Denn auch nach dem Rückfall hat jeder Mensch das Potential zum Erwachen und Verwirklichung.

Wie häufig verwechseln wir in unserem Alltag den äußeren Anschein mit der Wirklichkeit! Man kann nach Dôgen sogar sagen, dass wir einen Räuber mit einem unschuldigen Kind verwechseln und dann bei dem wirklichen Raub völlig überrascht sind. Umgekehrt können wir in einem Kind einen Räuber sehen, obgleich dies völlig unsinnig ist. Wir sollten daran denken, dass sich grausame Diktatoren wie Hitler gern mit Kindern in den Medien abbilden lassen, um dem naiven Betrachter den Eindruck zu vermitteln, dass sie Kinder lieben und genauso harmlos sind wie diese. Nach buddhistischem Verständnis geht ein Kind bei umfassender Sichtweise über das weit hinaus, was wir unter dem verengten Begriff „Kind“ verstehen. Wir vergessen leicht, dass auch ein Kind mit dem dualistischen Verstand und vorgeprägten Geist nicht vollständig erfasst werden kann. Wenn wir von einem Kind abwertend reden, kann dies niemals die Lehre des Buddha-Dharma sein.

Ein großer alter Meister wurde von einem Schüler gefragt:

„Stützt sich auch ein Mensch des gegenwärtigen Augenblicks auf das Erwachen oder nicht?“

Dieser antwortete:

„Das Erwachen ist nicht ohne Wirklichkeit, aber wie können wir vermeiden, in das (dualistische) zweite Denken zu fallen?“

Wenn man ganz im Hier und Jetzt lebt, also in der wirklichen lebendigen Sein-Zeit, lebt man genau in der Wirklichkeit und Wahrheit. Schädliche unheilsame Denkweisen und Emotionen haben keine Kraft mehr, sie können uns nicht mehr verwirren und in falsche Richtungen treiben. Dazu ist Zazen eine sehr wirkungsvolle Methode. Nach Nishijima Roshi ist man dann in der erstzen Erleuchtung erwacht. Dann sind wir nicht durch das dualistische Denken auf vergangene Zeiten fixiert und verlieren uns nicht in Spekulationen über die Zukunft. Der Mensch des wirklichen Jetzt ist unabhängig von solchen Fixierungen. Sein ganzes Leben, Handeln, Denken, Wahrnehmen und Empfinden ist von Klarheit und Lebensfreude durchdrungen und baut darauf auf. Das verwirklich sich besonders durch Empathie zu anderen Menschen. Die Abwertung anderer hat ein Ende. Aber wie kann man das tatsächlich realisieren?

Die erste Frage des Schülers in der obigen Zen-Geschichte zum Augenblick kann also mit einem einfachen Ja beantwortet werden. Der alte Meister bestätigt dies, indem er sagt, dass das Erwachen zweifellos wirklich ist und dass dies für den Menschen des klaren Jetzt gilt. Er sieht aber die Gefahr, dass man in das dualistische und doktrinär bewertende Denken zurückfallen kann und dass sich damit das Bewusstsein in ein Subjekt und ein Objekt aufspaltet. Oder dass eine rigorose Trennung in ein Ich und die anderen Menschen auftut oder das Ich vom Universum getrennt ist. Dies widerspricht Buddhas zentraler Lehre des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada. Dabei gibt es keine Trennung oder Isolation. Heute wissen wir aus der Wissenschaft, dass die Ökologie und vor Allem unser Gehirn vernetzt sind und nicht aus getrennten Bausteinen bestehen. Und Leben ist immer Wechselwirkung, wie der Gehirnforscher Spitzer betont: Hin und Zurück, nicht in eine Richtung, also uni-direktiional. Im Leben der Menschen ist doktrinäre Trennungen häufige Ursache für Leiden, Missverständnisse, Empfindlichkeiten, Verletzungen und Aggressionen. Allzu schnell und oft unbewusst betrachtet man dann den anderen als Feind und unterstellt ihm böse Absichten. Das ruft wiederum bei dem betroffenen negative Emotionen und Gegen-Reaktionen hervor. Dann bauen sich gegenseitige Aggressionen und Vorwürfe auf, und dies steuert das bösartiges gegenseitige Handeln.

Ein solches gespaltenes zweites Denken, wie es von Dôgen ausgedrückt wird, bewirkt also, dass wir aus dem Erwachen und der Erleuchtung wieder herausfallen, es sei denn, wir erkennen diese ungute Veränderung selbst in aller Klarheit. Dann können wir durch wahres buddhistisches Handeln gegensteuern und uns befreien. Wir entlasten so unseren Körper-und-Geist von den Hemmnissen auf dem Weg der Erleuchtung, die Buddha überzeugend beschrieben hat. Das betrifft vor allem die Gier nach sinnlichen Genüssen zu Lasten anderer, das Übelwollen anderen Menschen gegenüber, andauernder Zweifelsucht, aufgeregter Hektik, unruhigem Leben usw. Diese Verhalten sind die von Buddha beschriebenen Hemmnisse auf dem Weg der Befreiung.

Wenn es uns die Überwindung der Hemmnisse und geistigen blockaden nicht gelingt, ist uns wirklich die intuitive umfassende buddhistische Weisheit verloren gegangen. Wir können dann nicht mehr unmittelbar moralisch handeln, denken und fühlen.

Wie Dōgen sagt, sollten wir prüfen, ob wir uns im Handeln und Denken wirklich auf unser Erwachen stützen, also uns gründlich im Herzen und im Geist prüfen. Dann kann neue Klarheit wachsen und entstehen. Buddha bezeichnet dieses als Achtsamkeit. Es geht natürlich nicht ohne eine gewisse Anstrengungen und besonders Ausdauer und Stetigkeit. Aber dieser Aufwand lohnt sich bestimmt!

Satte geistige und körperliche Bequemlichkeit in der angeblichen Komfortzone deines Lebens führen nicht weiter. Wer denkt, das Erwachen käme von allein, der kann lange warten, denn es wird bestimmt nicht kommen, wenn man nichts tut.

Man darf sich das Erwachen nicht wie ein Ding, eine Entität oder eine unveränderliche Substanz vorstellen. Diese Wahrheit hat Meister Nagarjuna mit hoher philosophischer Präzision herausgearbeitet. Er sieht eine solche Pseudo-Substanz als wichtigste Ursache des Leidens an. Wir müssen uns also von unheilsamen Doktrinen, Vorurteilen und Dogmen entleeren, wie er sagt. Das ist der wahre Sinn der Leerheit. Das Erwachen kommt also nicht irgendwo her oder geht irgendwo hin. Auch die Frage, ob das Erwachen schon vorher vorhanden war oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung und würde nur das Denken unnütz anstacheln und uns zu Spekulationen verführen. Erwachen heißt im Hier und Jetzt erwacht handeln und erwacht denken, erwacht fühlen. Es heißt, dass wir aus einem umfassenden Geist heraus leben, ohne dualistische Spaltung. Man könnte es fast als nüchtern und pragmatisch bezeichnen, wie Nishijima Roshi es mir einmal erklärte. Und dies zeichnet den Buddhismus ja gerade aus.

Die Frage nach dem ewigen Wesen des Erwachens bringt also nichts. Jeder gute buddhistische Meister warnt uns vor solchen Illusionen. Wir sollten uns nicht solchen spekulativen Fantasien hingeben, wenn es darum geht, Befreiung und Freude in unserem zu finden und weiter zu entwickeln. Den so etwas gibt es am besten in der Wirklichkeit. Denn wahres Lernen gelingt bei Freude und ´Dran-Bleiben´ besonders gut, wie wir aus der Gehirnforschung wissen.

Wer krampfhaft nach der egoistischen eigenen Erleuchtung greift, greift ins Leere. Er greift vergeblich nach einer Schein-Doktrin und einer Schein-Wahrheit. Aber durch den Geist des Erwachens kann das gespaltene dualistische Denken von Ich und Du, von dogmatisiertem Gut und Böse, von Ich und Universum usw. aufgelöst und zur Harmonie gebracht werden. Dadurch verliert der Dualismus seinen zerstörerischen Einfluss. Auf diese Weise finden das unterscheidende Denken und das gespaltene Bewusstsein zu einem erwachten Geist also zum harmonische Ganzen. Wie Nagarjuna zusammenfasst: Das gemeinsam gute Entstehen in Wechselwirkung. Dann können unnütze Spekulationen wie „ich bin erwacht“ oder „das Erwachen ist zu mir gekommen“ zur Ruhe kommen, verlieren als zerstörerische Kraft und das Denken kann sich in Harmonie zusammenfügen.

Hans-Peter Dürr, ein theoretische Physiker, Schüler von Heisenberg, und Träger des alternativen Nobelpreises, spricht davon, dass wir ein neues, nicht dualistisches Denken brauchen. Wenn dieses neue Denken nach Dōgen aus dem Erwachen selbst entstanden ist und sich mit dem Erwachen ereignet, kann man dies ohne Frage als Erleuchtung bezeichnen. Dogen sagt dazu: Dann kann ich zum Beispiel ruhig darüber nachdenken, was ich gestern getan habe, ohne dass mein Ich von gestern wie ein anderes abgespaltenes Subjekt erscheint. Das wäre vom Jetzt getrennt. Dann kann das Ich von gestern mit dem Jetzt von Heute eine harmonische Ganzheit bilden.

Dies alles darf aber nicht nur gedacht werden, sondern sollte in der Übungspraxis und im Alltag selbst erfahren, erlebt und verwirklicht werden. Dazu ist geistige Schulung zwar unbedingt notwendig aber nicht hinreichend. Denn das praktische Handeln in Wechselwirkung mit Geist, Wahrnehmung und Gefühlen ist im Leben notwendig. Das ist auch die zentrale Lehre des großen Meisters Vasubandhu. Dieses erwachte gute Handeln, Fühlen und Denken vermeidet Extreme und kommt aus unserer starken klaren Mitte.

Sonntag, 20. Juni 2021

Die großen Wahrheit im Hier und Jetzt und die Sein-Zeit (Uji)

 

Dieses Kapitel Dōgens über die „Sein-Zeit“ zählt zweifellos zu den wichtigsten Texten des Buddhismus, aber es ist für uns westliche Menschen nicht einfach zu verstehen.[1] Stark verkürzt besagt es, dass die Zeit untrennbar mit der Wirklichkeit, dem Leben, der Welt und der Wahrheit verbunden ist. Das Sein gibt es nur zusammen mit der Zeit, es ist ein gemeinsamer Prozess und Handeln und ist ein dynamisches Sein. Das abendländische philosophische Modell des Seins, das teilweise unabhängig von der Zeit verstanden wird, ist aus buddhistischer Sicht nicht tragfähig und entspricht nicht der Wirklichkeit. Das Sein ist keine Sache, kein Ding und keine Substanz, es hat keine wirkliche Eigen-Existenz. Das wahre Sein kann nur dynamisch als Augenblick im Prozess-Ablauf der Zeit verstanden werden. Es ist auch kein isolierter Augenblick, denn es gibt immer Wechselwirkung zur Vergangenheit und Zukunft, wie Buddha betont. Aus meiner Sicht sind dieser Zusammenhang und diese Grundprinzip des Lebens und der Welt am besten von Buddha und Nagarjuna erkannt und formuliert worden: "Gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada". Entstehen, Verändern und vernetzte Wechselwirkung können ohne dynamische Zeit überhaupt nicht vor sich gehen, ihre Wirklichkeit ist untrennbar mit Zeit verbunden. Zeit kann überhaupt nicht isoliert betrachtet und verstanden werden.

Übrigens ist diese Erkenntnis der modernen Physik und Naturwissenschaft seit den bahnbrechenden Arbeiten von Einstein und Heisenberg ganz unbestritten Der bekannter theoretische Physiker Peter Dürr sagt daher, dass der Ansatz von kleinsten unabhängigen Atomen durch die Vorstellung von elementaren Prozessen ersetzt werden muss. Er spricht dabei von Prozesschen oder von "Wirks". Der Augenblick ist untrennbar mit dem Prozess der Zeit verbunden. Diese fundamentale Wahrheit des Buddhismus wurde besonders von den großen Meistern Nagarjuna, Vasubandhu und Dogen hervorgehoben, schon viel früher als in der westlichen Naturwissenschaft. Dazu ist als Beispiel die Funktion unseres Gehirns einleuchtend: Alle Gehirnleistungen des neuronalen Netzes sind Impulse in der Zeit, es gibt keine zeitunabhängig gespeicherten Informationen im Gehirn. Und nur das lebende Gehirn kann dies leisten und die Informationen verarbeiten. Ein totes Gehirn verarbeitet keine Informationen mehr, hat keine Erinnerung und schon gar keine ethischen Leistungen. Vereinfacht gilt: Leben ist immer auch zugleich Zeit. Ohne Zeit gibt es keine Wirklichkeit, das haben der Buddhismus, die moderne Physik und Gehirnforschung unabhängig von einander geklärt. Ohne die Veränderlichkeit der Zeit kann daher das Leiden nicht zur Ruhe kommen und überwunden werden. Und ohne Zeit kann es keine heilsame Entwicklung und Befreiung in unserem Leben geben. Wer die Zeit ausklammert, erstarrt und ist eigentlich schon geistig und psychisch tot, wenn er biologisch noch lebt.

Meister F. S. Nakagawa schreibt zur Frage der Zeit: “Wenn man Zeit tief begreift, findet man das wahre Leben. So möchte ich spontan antworten auf die Frage, ob man dem Druck der Zeit entfliehen kann. Doch dann kommt sofort die Frage: Was ist überhaupt die Zeit?“

Meines Wissens haben Harada Roshi und Philip Kapleau zum ersten Mal dieses zentrale Kapitel der Sein-Zeit in eine westliche Sprache übertragen.

Dōgen erklärt, dass die Wirklichkeit aller Menschen, aller Lebewesen und überhaupt aller Dinge und Phänomene des Universums und die wirkliche Zeit unauflösbar zu einem Gesamtsystem gekoppelt und verbunden sind. Es gibt also kein Erleben, kein Handeln und nichts außerhalb der Zeit, wenn wir von der Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt ausgehen und diese in den Mittelpunkt der Erfahrung und des Denkens stellen. Das unmittelbare, volle Erleben und Handeln geschieht nur in der Gegenwart, also im Hier und Jetzt. Demgegenüber sind, wie Nishijima eindrucksvoll betont, die Vergangenheit und Zukunft nur Erinnerungen, Erwartungen, Vorstellungen, Gedanken, Bilder und Hoffnungen, aber nicht die unmittelbare Erfahrung und Handeln in der Wirklichkeit selbst. Sie sind sozusagen das Wetterleuchten in unserem Geist, aber nicht das Wetter selbst; sie „zeigen auf den Mond“, sind aber nicht der Mond.

Wie erklärt und begründet Dōgen nun diese zunächst neu erscheinende Aussage? Welche praktische Bedeutung hat eine solche Erkenntnis für unser eigenes Leben und Handeln mit all den Mühen, aber auch den Augenblicken der Freude? Wie hängen nun Augenblick, Zeitprozess, Wirklichkeit und das Sein zusammen? Bereits hier wird klar, dass es das Sein ohne Zeit und damit ohne zeitliche Veränderungen nicht geben kann. Wer also die abendländische Ontologie des Seins als Konstanz oder unveränderliche Substanz versteht, ist im fundamentalen Widerspruch zum Buddhismus. Der Mittlere Weg ist gleichzeitig ein zeitlicher Weg. Er verwirklicht die Überwindung des Leidens und führt zur Befreiung und zum Erwachen. Wer ohne Veränderung und Entwicklung lebt, ist geistig schon fast tot. Wahres Sein ist Dynamik im Augenblick oder, wie Heidegger in späten Jahren sagt Ereignis. Damit hatte er sich von der Metaphysik des Abendlandes endlich verabschiedet. Ich führe das nicht zuletzt auf den bekannten Einfluss des Zen für ihn zurück.

Wenn wir es mit der Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt ernst meinen und uns nicht in Gedanken, Spekulationen, Hoffnungen und Ängsten verlieren, findet diese Wirklichkeit nur in der Gegenwart statt. Wie Meister Nishijima betont, ist Buddhismus die Lehre und Praxis der Wirklichkeit, also des Realismus, und ist unauflösbar mit dem Handeln und mit der Zeit als Gegenwart verbunden. Jede Flucht aus der Wirklichkeit und Zeit führt letztlich zu psychischem Leiden und Verdrängungen, die zwar kurzfristig eventuell ein Überleben ermöglichen, aber langfristig große psychische Schäden anrichten werden. Diese erschweren dann die Bewältigung des Alltags oder schließen sie sogar aus. So kann man die mit Sicherheit auftretenden Probleme des Lebens nicht meistern, auf jeden Fall wird das Leben viel schwieriger und man verliert zum Beispiel durch Verdrängungen das eigene Gleichgewicht. Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, das Buddha lehrt, führt ins nicht ins Chaos, wie manche vielleicht befürchten. Und Wechselwirkung ist vernetze Dynamik des Lebens.

Sigmund Freud und andere namhafte Psychologen haben bei uns im Westen herausgearbeitet, dass man sich der Wirklichkeit stellen muss, um psychisch gesund zu werden und gut zu leben. Dieser Ansatz bildet die Grundlage wirkungsvoller Therapien, vor allem der psychoanalytisch orientierter Praxis. Dabei deckt der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten die Verdrängungen auf und macht sie bewusst. Dann beginnt die gemeinsame Bewältigung und Heilung. Dadurch wird also der psychische Heilungsprozess eingeleitet und die Erstarrung der Verdrängung kann gelöst werden.

Dōgen gelangt nun zu der klaren Schlussfolgerung, dass die Wirklichkeit, die Gegenwart als Zeit und das Handeln unauflösbar miteinander verbunden sind. Nur wenn wir dies in unserem Leben praktisch realisieren, sind wir in der Wirklichkeit und Wahrheit, und dies ist der Buddha-Dharma oder das Erwachen. Eine solche Erfahrung kann man besonders klar bei der Zazen-Praxis erleben, und ich bezeichnen dies mit Nishijima Roshi als die erste Erleuchtung. Ich praktiziere außerdem die beiden anderen Zen-Übungen des japanischen Bogeschießens, Kyudo, und der Zen-Flöte, Shakuhachi. Bei dieser Praxis werden nach meiner festen Überzeugung auch Endorphine also Glücksstoffe ausgeschüttet, die einen positiven Fluss des Lebens bewirken und den Geist erstaunlich klar machen. Diese drei Übungen sind Handeln und kein statischer oder sogar starrer Zustand. Im Westen wird dafür auch der Begriff Flow verwendet. Ohne die Zeit einzubeziehen, macht das alles überhaupt keinen Sinn.

Der Zen-Buddhismus legt großen Wert auf das tägliche Leben, in dem sich sowohl in der Zazen-Praxis als auch der Alltag ohne Trennung von der dynamischen Sein-Zeit als erste Erleuchtung ereignen kann. So heißt es: "Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen". Erleuchtung ist also kein erträumter Idealzustand des Geistes, der unabhängig vom Körper und der Zeit unveränderlich existiert. Wir wissen heute, dass unser neuronales Netz unaufhörlich in Bewegung ist, weil die elektrischen Impulse der Informationen sich dauernd im Netz bewegen. Nur ein totes Gehirn ist ohne Bewegung und daher ohne Speicherung und Verarbeitung von Informationen. Dann funktionieren kein Denken, Fühlen, keine Wahrnehmung, keine Empathie und keine Ethik. Deshalb konnte die Gehirnforschung erst große Fortschritte machen, als man durch die neuen Bild gebenden Verfahren dem Gehirn bei "der Arbeit zusehen" kann, wie der Gehirnforsche Manfred Spitzer sagt.

Es soll erwähnt werden, dass auch in der modernen Philosophie der Phänomenologie die Frage nach der wirklichen Zeit von ganz neuer Bedeutung ist. Martin Heidegger hat sein großes Frühwerk Sein und Zeit genannt und eine Philosophie vom Sein vertreten, die der abendländischen Geschichte und Metaphysik entspricht, und damit kaum Verbindungen zur Zen-Tradition ermöglicht. In einem seiner letzten Vorträge, "Zeit und Sein", hat er diese philosophische Einschätzung geändert und mit dem zeitlichen Ereignis verbunden. Damit wird eine größere Nähe zu Dôgens Sein-Zeit hergestellt. In der Philosophie der Gegenwart hat sich Rolf Elberfeld in seinem Buch Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, Methoden des interkulturellen Philosophierens intensiv mit diesem Thema beschäftigt. In der westlichen Welt und im westlichen Denken wird also endlich die Wirklichkeit der Zeit immer mehr in den Blick gerückt und die Statik der Metaphysik des Seins beiseite gelassen.

Ich möchte von der „linearen gedachten Zeit“ sprechen, wenn die uns meist vertraute Vorstellung gemeint ist, dass die Zeit von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft wie eine Linie verläuft. Diese lineare Zeit hat jedoch in dem diesem Kapitel von Dōgen nur eine nebengeordnete Bedeutung. Es geht nicht um abstrakte gedachte Theorien sondern um phänomenologisch erfasste Wirklichkeiten. Abstrakte Gedanken-Konstrukte nennt Vasubandhu daher "Fabrikationen" und zwar vor allem, wenn unwirkliche und unheilsame Doktrinen und Ideologien dominieren.

Nishijima Roshi unterstreicht, dass ohne das „Verstehen“ und die Erfahrung der wahren Zeit im Sinne Dōgens die Lehre und Praxis des Buddhismus unverständlich und auch unwirksam bleiben müssen.

Dōgen sagt hierzu in einem Gedicht am Anfang diese Kapitels:

Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, auf dem höchsten Berggipfel stehen.

Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, sich auf dem Grund des tiefsten Ozeans bewegen.

Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, drei Köpfe und acht Arme (des Tempelwächters).

Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, der sechzehn Fuß hohe (stehende), oder der acht Fuß hohe (sitzende) goldene Buddha.

Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, ein (konkreter) Stab oder ein Fliegenwedel (für die Zeremonien).

Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, ein äußerer Pfeiler (des Tempels) oder eine Steinlaterne.

Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, der (ganz normale) dritte Sohn des Zhang oder der vierte (Sohn) des Li.

Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, die Erde und der Raum.“

Diese Sein-Zeit wird als wahrer Augenblick des veränderlichen Lebens verstanden. Buddha und Nagarjuna verwenden für diese fundmentale Aussage: "Gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada". Dadurch wird die rückgekoppelte Vernetzung aller lebendigen Prozesse betont, die zum Beispiel typisch für Öko-Systeme und das neuronale Netz des Menschen sind.

In dem Gedicht wird die Untrennbarkeit einer solchen Sein-Zeit mit allen Bereichen in der Welt genannt: den Dingen, Phänomenen, der Bewegung, dem Handeln usw. im Leben. Dabei werden der höchste Berg und der tiefste Ozean für die materielle Welt, der Tempelwächter und das Bildnis des stehenden und liegenden Buddhas für den Weg der Befreiung genannt. Diese haben sowohl eine räumliche, konkrete Sicht als auch ideelle und spirituelle Bedeutungen im Buddhismus.

Weiterhin werden die Gegenstände der praktischen buddhistischen Zeremonien sowie die Stützpfeiler des Tempels aufgezählt, die meist außerhalb der Räume des Klosters stehen. Die genannten Steinlaternen werden meist im Garten des Klosters aufgestellt. In dem Gedicht wird auch das Alltagsleben der chinesischen Familien einbezogen, wobei die Familiennamen Zhang und Li weit verbreitet waren, wie etwa Schmidt, Müller und Schulze bei uns. Das Gedicht schließt mit Nennung der Erde und des Raumes und verallgemeinert damit die erste Zeile. Die ganze Welt, die Erde, unser Leben und überhaupt alles im Universum werden also als diese Sein-Zeit genannt. Die Wirklichkeit kann nicht von der Zeit getrennt werden. Sie ist im Verständnis des Buddhismus unauflösbar mit all diesem verbunden und in andauernder Wechselwirkung. Das eine kann ohne das andere überhaupt nicht sein, sich nicht verändern und nicht leben. Dabei geht es darum, in diesem gemeinsamen lebendigen Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, unseren Weg der Befreiung, des Gleichgewichts und der guten Entwicklung den Gang unseres Lebens zu steuern und unser Leiden zur Ruhe kommen zu lassen. Das ist der Mittlere Weg, der alle ideologischen, emotionalen und körperlich unnützen Extreme vermeidet.

Dynamische, veränderliches Sein und Zeit bilden ein großartiges gemeinsames Ganzes, das in der erfahrenen und erlebten Wirklichkeit nicht gespalten und getrennt werden kann. Eine solche Trennung würde zum fabrizierten Dualismus führen, wie der große Meister des Yogacara Vasubandhu sagt. So etwas wird nur in unserem Verstand durch doktrinäre Überlegungen und unterscheidendes Denken konstruiert. Dabei haben wir allerdings nach Buddhas Lehre und Praxis bereits die Wirklichkeit und Wahrheit verlassen. Wir kreisen dann oft sinnlos in eigenen Denk-Konstrukten und Emotions-Schleifen. Letztlich werden wir dann von den drei Giften, Gier, Hass und Verblendung, programmiert. Es ist die große Wirkung der Zazen-Praxis, aus derartigen meistens unbewussten, spekulativen und abstrakten „Denknestern“, Emotions-Schleifen und Fantasiegebilden zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt herausfinden und die Flucht aus der Realität zu beenden. Denn diese Flucht ist nach buddhistischer Lehre eine fatale Ursache des Leidens, das überwunden werden kann.

In der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt kann der Mensch nach Dōgen gut handeln und ein erfülltes und freudiges Leben führen. Dies bedeutet aber nicht, dass es verboten ist, zu denken, zu überlegen und zu planen: im Gegenteil! Wir können und sollten Klarheit erlangen, wann wir unheilsame Vorstellungen und scheinbar schöne oder erbauliche Illusionen haben, und wann wir in der Fülle der lebendigen Wirklichkeit leben, fühlen und denken. Beides dürfen wir nicht verwechseln und durch einander bringen. Wie es hier heißt: Die Wirklichkeit besteht aus den vierundzwanzig Stunden des Tages, dem goldenen Körper Buddhas und ist die Zeit als lebendige Sein-Zeit selbst. Kurz gesagt: Es gibt kein Leben unabhängig von der Zeit. Und wir sollten keine Zeit in unserem Leben verschwenden, weil wir dann das Leben selbst verschwenden.

Die Menschen zweifeln, wie Dōgen sagt, manchmal nicht an unklaren oder gar falschen Aussagen, während sie große Bedenken an wirklichen und wahren Tatsachen und Fakten haben. Traurige Beispiele sind die Verschwörungstheorien in der Corona Pandemie und der Präsidentschaft Trumps. Auch ein solches Zweifeln ist allerdings Handeln im Leben und findet nicht außerhalb der Zeit statt. Nur etwas Konstantes und Unveränderliches kann außerhalb dieser Sein-Zeit existieren, aber so etwas gibt es in der Wirklichkeit des Lebens nicht. Die Wirklichkeit  geht in Augenblicken und miteinander vernetzten Prozessen voran. Die Zen-Meisterin Ritsunen Linnebach spricht davon, dass die Wahrheit sich „Augenblick für Augenblick“ verwirklich. Mit ihr zusammen habe ich übrigens diesen Text aus dem Japanischen formuliert.

Dōgen sagt weiter:

„Weil (die wirkliche Zeit) nur dieser genaue Augenblick ist, sind alle Augenblicke der Sein-Zeit das Ganze der Zeit und alle wirklichen Dinge, und alle wirklichen Phänomene sind Zeit. Das wahre, nicht doktrinierte Sein und das ganze Universum wirken in einzelnen Augenblicken der Zeit.“

 

Dōgen erklärt hier die zentrale Bedeutung der Gegenwart und der Augenblicklichkeit bei der Zeit. Damit sind alle Phänomene, das Erleben und Handeln und die Welt nur wirklich mit der Zeit. Wenn wir ganz in der Gegenwart und ganz im jetzigen Augenblick leben und handeln, sind wir wirklich in der dynamischen Sein-Zeit und damit in der Realität. Das falsch gedachte Gegenteil kann wie folgt formuliert werden: Die Dinge und Phänomene, Dharmas, sind unveränderlich und damit unabhängig von der Zeit. Sie sind zudem von einander  isoliert und getrennt. Dieses Denken ist eine fatale Sackgasse und wurde besonders von Nagarjuna überzeugend falsifiziert. Diese abgelehnte Philosophie wird Substantialismus genannt. Es handelt sich dabei um ideologische Pseudo-Substanzen.

Die Augenblicke der Sein-Zeit behindern sich nach Dōgen nicht gegenseitig sie sind aber auch nicht isoliert von einander. Es handelt sich um eine lebende Kette und um ein Fließen der Augenblicke. Prozesse der Zeit und Augenblicke der Zeit wirken immer zusammen. Störende Erinnerungen des Geistes oder Ängste über die Zukunft gehören also nicht einer solchen Sein-Zeit an und sind damit im eigentlichen Sinne keine Wirklichkeit. Dass eine solche Lebensweise mit der vollen Wirklichkeit des Augenblicks nicht einfach zu realisieren ist und zunächst eher als Schulungsziel gelten kann, steht sicher außer Zweifel. Dies ist ein zentraler Kern der Buddha-Lehre also des gemeinsamen Entstehens in der vernetzten Wirklichkeit. Vor allem durch die Meditation und Zazen-Praxis lernen wir, im Augenblick zu handeln und zu erleben, ohne dass wir von Gedanken, Gefühlen, Ängsten, Illusionen, Fantasien usw. gestört und geschwächt werden. Daher nennt Nishijima Roshi die Meditation des Zazen die erste Erleuchtung.

Man kann nach Dōgen nicht sagen, dass die Zeit wie eine Sache kommt und geht, auftaucht und verschwindet, denn die wirkliche Zeit ist immer die Gegenwart des Handelns und Wirklichkeit selbst. Er fährt fort:

„Weil (die Zeit wirklich) Sein-Zeit ist, ist sie meine Sein-Zeit.“

Warum? Weil ich Teil der Wirklichkeit bin und nicht eine gedachte Entität. Also sind allgemeine, abstrakte Überlegungen über die Zeit nicht die dynamische Sein-Zeit des Buddhismus, die Dōgen hier beschreibt. Denn diese Sein-Zeit ist mein eigenes Erleben und Handeln, ich bin immer mit einbezogen und kann mich nicht heraushalten. Manchmal wird die lineare Zeit als eine „Kette von jeweiligen Augenblicken“ nur gedacht, aber dies ist dann abstrakte Theorie und nicht die Wirklichkeit des Erlebens. Tatsächlich gibt es die reale dynamische Sein-Zeit nur im gegenwärtigen Augenblick, wenn die abstrakte Ebene des unterscheidenden Denkens und der Überlegung verlassen wird und wir uns ganz auf die Wirklichkeit selbst einlassen.

Im Folgenden heißt es:

„Die (Sein-Zeit), die auch bewirkt, dass (die Tageszeit) des Pferdes und des Schafs so beschaffen in der Welt sind, wie sie heute sind, ist etwas Steigendes und Fallendes. Und es ist etwas Unfassbares, das an seinem Platz im Dharma verweilt.“

Hier werden die Zeiten des Tages und der Nacht angesprochen, die in China nach Tieren benannt wurden. Die Sein-Zeit kann also mit dem üblichen und intellektuellen Denken nicht vollständig erfasst werden und ist damit für den Verstand in diesem Sinne letztlich unfassbar. Die Sein-Zeit geht über das Denken, den Verstand, die Vorstellung und Wissenschaft hinaus und ereignet sich vor allem im Handeln und Erleben. Dann ist es die vollständige Verwirklichung der ganzen Zeit als ganzes Leben, und darüber hinaus kann es überhaupt nichts anderes Wirkliches geben. Wenn zu der Sein-Zeit etwas Zusätzliches hinzugedacht oder mit Worten formuliert wird, ist dies eben nur ein Zusatz und nicht die Wirklichkeit der Sein-Zeit selbst.

Nach Dōgen ist die Sein-Zeit, die zur Hälfte, also ohne fabrizierte Zusätze, verwirklicht ist, die vollständige Verwirklichung der wahren Sein-Zeit und nicht mehr und nicht weniger. Die ideelle scheinbar ganze Verwirklichung der Sein-Zeit kann nicht in der Realität erlangt werden, sie wird als Ideal, Hoffnung oder Ziel formuliert. Ideologien und unheilsame Doktrinen sind Verirrungen von der wahren Zeit und deren Wechselwirkungen. Dies gilt besonders für Doktrinen von Pseudo-Substanzen, die Ewigkeit und Unveränderlichkeit suggerieren, wie Nagarjuna nachgewiesen hat, aber nur Verblendungen und Ideologien sind. Der Mittlere Weg kann ohne Zeit nicht erlebt und erfahren werden. Das Leiden kann nur im Gang der Zeit überwunden werden, es ist in der Wirklichkeit niemals unabhängig von der Zeit und zeitlichen Veränderungen. Das Handeln ist mit der Sein-Zeit untrennbar verbunden. Das kommt im folgenden Zitat von Dōgen zum Ausdruck:

„An unserem Platz im Dharma im Zustand des kraftvollen Handelns zu sein, ist genau die dynamische Sein-Zeit“.

Diese Sein-Zeit wird also verwirklicht, ohne dass sie durch Begrenzungen und Hindernisse gestoppt wird, zum Beispiel durch Ideologien und Doktrinen, die Unveränderlichkeit versprechen. Sie kann nicht festgehalten werden, und es hat daher keinen Sinn, Vergangenes fixieren zu wollen und zu beklagen, dass es nicht mehr existiert.

Das wirkliche Erleben des Frühlings kann man nach Dōgen nicht durch den abstrakten zeitlichen Ablauf des Jahres beschreiben, bei dem der Frühling wie eine Substanz zwischen den Jahreszeiten des Winters und Sommers gedacht wird. Dies gilt umso mehr, wenn diese Jahreszeiten wie abgegrenzte Dinge oder Entitäten verstanden werden. Die Begriffe suggerieren dabei Schein-Substanzen, die vom wahren Erleben und Handeln wegführen.

Die Zeit ist kein Ding, wie übrigens auch Heidegger sagt. Derartige Gedanken von Substanzen haben einen hohen Abstraktionsgrad und sind weit von der sich dynamisch verändernden Praxis und dem wirklichen Erleben in der Gegenwart des Frühlings entfernt. Vielmehr geht es um die Gegenwart und das wahre Erleben der Blumen, der Wärme, des milden Südwindes, der Knospen, der frischen Blätter und der vollen Lebendigkeit der Natur. Ein solches Erleben im Augenblick des Frühlings eröffnet dessen Wirklichkeit unmittelbar für uns und benötigt keine abstrakten Gedanken über den vergangenen Winter und den kommenden Sommer. Solche Gedanken stören sogar das Ereignis „Frühling“. Denn uns beschleicht vielleicht die Angst, dass der schöne Frühling schon bald wieder vorbei ist. Eventuell klagen wir, der Frühling sei nur so kurz, und können ihn gar nicht mehr „genießen“. Eine abstrakte Beschreibung des Frühlings kann also niemals die Wirklichkeit ersetzen.

Dōgen rät uns schließlich, dass wir uns mit dieser Wahrheit der dynamischen Sein-Zeit immer wieder beschäftigen sollen, dass wir uns darauf fokussieren und dann wieder loslassen. Denn wir wissen aus der heutigen Gehirnforschung, dass die Schulung und Weiterentwicklung von Geist und Psyche am besten mit Freude und Wiederholung gelingt.

Wie kann man die wesentlichen Aussagen dieses zentralen Kapitels der Zeit zusammenfassen und mit den von Dogen genannten vier Zeiten im Kap. 2 zur großen umfassenden Weisheit verbinden?

Dort heißt es im Shobogenzo bei der Aufzählung der verschieden Zustände der umfassenden Weisheit:

"Ein weiterer Zustand der umfassenden Weisheit wird als gegenwärtiger Augenblick verwirklicht. Das ist der höchste rechte Zustand der Wahrheit im Gleichgewicht.

Es gibt drei weitere Zustände der umfassenden Weisheit. Sie sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft"

Die umfassende Weisheit heißt wörtlich übersetzt auch: "An das andere Ufer gelangen"

Der zentrale Unterschied ist also, dass die drei Zeiten des Geistes Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Weisheiten des Geistes sind. Der gegenwärtige Augenblick ist darüber hinaus der höchste ganzheitliche Zustand der Wahrheit des erwachten Menschen. Dieser wird im Gleichgewicht und mit der Kraft der Mitte verwirklicht und ist daneben auch in Wechselwirkung mit dem Geist, aber geht über den Geist hinaus.

Meines Wissens gibt es in der westlichen Philosophie dazu keine Analogie, denn diese konzentriert sich auf den Geist und die Weisheit und nicht auf das ganze erleuchtete Erleben.

 


[1] Vgl. auch mein Buch: "Strahlende Zeit zum Handeln"

Donnerstag, 10. Juni 2021

Erlangt die Freiheit und tut kein Unrecht! (Shoaku makusa)

 

In diesem Kapitel erläutert Dōgen, dass aus buddhistischer Sicht das Unrecht „von Natur aus“ in der Welt und im Universum ursprünglich nicht vorhanden ist, sondern vom Menschen durch unrechtes Handeln erzeugt, also hinzugefügt, wird. Das ist eine bemerkenswerte Sicht, denn in den meisten Religionen wird gelehrt, dass das Böse, zum Beispiel in Gestalt des Teufels, ein Teil dieser Welt und des Menschen ist und mit der Kraft des Guten bekämpft werden muss. In der Wirklichkeit des Buddhismus gibt es das Unrecht als eine Art böser, dauerhafter Essenz und als böses Sein überhaupt nicht, sondern es gibt nur das unrechte Tun und Handeln der Menschen, das gegen Moral und damit gegen die Gesetze des Universums verstößt. Gleichwohl ist falsches, unrechtes und verbrecherisches Handeln in der Lebenswelt der Menschen leider eine Tatsache, die man nicht wegdiskutieren und verdrängen darf. Dōgen warnt uns mehrfach im Shōbōgenzō davor, uns in Illusionen zu verlieren und über die Wirklichkeit zu täuschen.

Er betont in diesem Kapitel besonders, dass Moral und Ethik, also richtiges Handeln, untrennbar mit der buddhistischen Lehre und Praxis verbunden sind. Der Buddhismus ist also keine „wertfreie“ Philosophie oder Theorie, sondern die Einheit von Körper, Geist, Handeln und Moral. Rechtes oder unrechtes Handeln im Hier und Jetzt des Augenblicks und Ortes sind für den Buddha-Dharma ganz wesentlich.

Wenn Menschen, wie häufig zu beobachten ist, abstrakt und meist empört über das Unrecht in der Welt oder bei anderen diskutieren, ist dies daher viel zu allgemein und gehört in den Bereich der Theorie und Philosophie. Man kann zwar über Unrecht trefflich diskutieren, sich streiten und sich dann besser fühlen als andere; in Wirklichkeit hat man jedoch meistens gerade das Unrechte selbst getan, wenn man sich im Streit mit anderen in aggressiven Worten verliert, um ihn zu verletzen. Dann hat man eben gerade durch den Streit und die Verletzung des anderen gegen die sozialen Gesetze des Buddhismus gehandelt. Derartige aggressive Diskussionen verhärten sich manchmal zu einem offenen Kampf mit Worten des einen Ego gegen das andere. Dies kann aber auf keinen Fall der Buddha-Dharma sein.

Dōgen zitiert einen alten Buddha, der lehrte:

„Vielfältiges Unrecht nicht zu erzeugen,

die vielen Arten des Rechten achtungsvoll zu tun,

macht Herz und Geist auf natürliche Weise rein:

Dies lehren alle Buddhas.“

Bei der Übersetzung der deutschen Fassung von Dōgens „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ (Shōbōgenzō) haben Frau Ritsunen Linnebach und ich gründlich überlegt, ob wir die häufig verwendete Formulierung „Kein Unrecht tun“ verwenden sollten oder nicht. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die präzise Übersetzung aus dem Japanischen eher dem deutschen Begriff „erzeugen“ entspricht und dass Dōgen dies auch genau so meint. Dieser Begriff bringt besonders klar zum Ausdruck, dass das Unrecht künstlich durch die Menschen erzeugt wird und eigentlich von Natur aus im Universum gar nicht existiert.

Würde man eine andere Übersetzung wie „sich des Übels enthalten“ wählen, stünde die Vorstellung dahinter, dass das Übel in der Welt von Natur aus als Essenz bereits vorhanden ist und dass man sich davor in Acht nehmen, sich also dessen enthalten soll. Dies will Dōgen unseres Erachtens aber gerade nicht sagen.

Die Behauptung, dass man Unrechtes und Übles erst im Handeln selbst erzeugt und es in der Harmonie des Universums und der Welt sonst gar nicht vorhanden ist, mag zunächst überraschen. Wenn wir aber bedenken, dass der Buddhismus wesentlich auf das Handeln abstellt, und so dem Handeln die Qualität der Wirklichkeit und Wahrheit zumisst, nicht aber einer abstrakten Idee oder gedachten Essenz, dann hat dies für unser Leben wirklich eine sehr große Bedeutung. Es kommt einfach darauf an, dass wir nichts Unrechtes erzeugen und dass wir uns in unserem Leben und Handeln den vielen Möglichkeiten, etwas Sinnvolles und Gutes zu tun, mit Sorgfalt und Achtung widmen. Dies ist der Weg in die Unabhängigkeit und Freiheit. Unrechtes zu erzeugen macht abhängig.

Im ersten Teil dieses Kapitels betont Dōgen das aktive eigene Handeln. Aber wie er sagt, geht es auch darum, dass man das rechte Handeln geschehen lässt und das unrechte Handeln nicht zulässt. Ein eher abwartendes Verhalten des Geschehenlassens kann oft moralisch das richtige Handeln sein.

Mit unrechtem Handeln kommen wir in unserem Leben häufig in Berührung. Dies kann durch Freunde, Verwandte, aber vor allem durch Feinde und Konkurrenten geschehen. Der Buddhismus lehrt in aller Klarheit, dass es moralisch nicht korrekt ist, zuzuschauen und es zuzulassen, wenn andere Unrechtes tun. Ein solches Verhalten kann auch nicht mit dem falsch verstandenen Satz, „es ist, wie es ist“, begründet werden, um sich damit aus der Verantwortung in der Welt zu stehlen. Neben dem rechten und unrechten gibt es nach Dōgen auch neutrales Handeln, das weder Recht noch Unrecht ist.

Da das Unrecht nicht als dauerhafte, abstrakte Wirklichkeit besteht, sondern durch Handeln selbst erzeugt oder nicht erzeugt wird, kann dies nur jeweils im gegenwärtigen Augenblick geschehen. Das rechte oder unrechte Handeln existiert also nur in der Gegenwart der Sein-Zeit und nicht dauerhaft.

Aus buddhistischer Sicht ähnelt das Unrecht der Vergangenheit, an das wir uns lediglich erinnern, dem wirklichen Unrecht des Augenblicks nur im Groben, ist aber nicht mit ihm identisch. Erinnerungen können niemals dasselbe wie die Wirklichkeit der Gegenwart sein. Das Gleiche gilt für erwartetes und vorgestelltes Unrecht in der Zukunft. Die Klarheit darüber wird uns nach Dōgen durch die buddhistische Praxis, vor allem des Zazen, deutlich. Er sagt hierzu, dass sich in Bezug auf die Frage von Recht oder Unrecht die Menschen des Buddha-Dharma einerseits und die Menschen der gewöhnlichen Lebenswelt andererseits stärker unterscheiden, als es Abweichungen innerhalb des Buddhismus selbst gibt. Wie in dem Kapitel „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt“ (Uji) im Shōbōgenzō im Einzelnen behandelt wird, ist die wahre Zeit des Augenblicks untrennbar mit dem rechten oder unrechten Handeln verbunden.

Wenn man nur die Worte hört, dass man kein Unrecht erzeugen soll, verändert dies nach Dōgen meistens schon ein wenig das Verhalten und Handeln des Menschen. Wichtig ist, dass die buddhistische Praxis des Zazen hinzukommt und dass ein moralischer Vorsatz nicht auf Denken und Reden beschränkt bleibt. Denn die Kraft der Praxis ermöglicht es uns, an Klarheit zu gewinnen und unser Handeln und Verhalten umzustellen. Aus der Praxis ergibt sich eine intuitive moralische Klarheit im Augenblick, so dass es nahezu unmöglich wird, etwas Unrechtes zu tun. Da wir immer im gegenwärtigen Augenblick handeln, bedeutet dies die Klarheit und Kraft im Jetzt.

Dieser Augenblick sei so kurz, dass wir nicht mit dem Verstand über Recht und Unrecht reflektieren und gleichzeitig handeln können. Indem wir richtig handeln, kann sich an keinem Ort und zu keinem Zeitpunkt eine Eigenständigkeit des Unrechten entwickeln. Dies gilt auch, wenn wir in einer Umgebung leben und in eine Situation geraten, in der viel Unrechtes getan wird, und meinen, dass sich das Unrecht gegenüber dem Handeln verselbstständigt hat. Dann hat sich in der Tat der Gedanke oder die Idee wie eine Essenz verhärtet und beherrscht den Geist. Dōgen drückt dies wie folgt aus:

„Wenn wir unseren ganzen Geist und den ganzen Körper der Praxis (des Zazen) widmen, verwirklichen sich achtzig oder neunzig Prozent (davon, dass kein Unrecht erzeugt wird) gerade vor diesem Augenblick. Und es gibt (auch) die Tatsache, dass nach dem Augenblick (kein Unrecht) erzeugt wird“, (wörtlich:“ hinter dem Gehirn“).

Die Praxis des Zazen verwirklicht sich dabei körperlich und geistig durch das Handeln, und wir vermeiden, unser Selbst zu verunreinigen. Da bei der buddhistischen Praxis eine Einheit mit dem Universum und der Welt besteht und Abgrenzung und Dualität überwunden werden, kann man nach Dôgen sagen, dass wir auch die Berge, Flüsse, die Erde, Sonne, den Mond und die Sterne praktizieren und dass wir sie praktizieren lassen. In diesem Sinne haben die Buddhas und Vorfahren im Dharma die Praxis und Erfahrung niemals verunreinigt; sie sind dadurch frei und haben sich selbst niemals eingeschränkt. Dies bedeutet „erzeugt kein Unrecht!“.

Das Unrecht ist also nach buddhistischer Lehre als unabhängige Entität weder existent noch nicht existent, sondern es wird direkt beim Handeln erzeugt. Genauso wenig hat es eine materielle oder immaterielle Qualität, denn es geht um das Erzeugen im Augenblick als Tun. Dies darf man nicht allgemein zu abstrakt verstehen, sondern es bedeutet das reale, konkrete Handeln im Hier und Jetzt. Allzu leicht wird das Unrecht beschönigt und heruntergespielt. Dies sind jedoch Bewertungen des Menschen, die Unklarheiten zur Folge haben.

Indem wir bedauern, dass wir etwas Unrechtes getan haben, entwickelt sich nach Dōgen die Kraft und das Streben zum richtigen Handeln. Wenn man durch die Übungspraxis die nötige Energie und Klarheit gewonnen habe, sei es darüber hinaus  nicht mehr möglich, willentlich Unrechtes zu erzeugen.

In dem obigen Gedicht heißt es am Anfang, dass wir die vielen Arten des Rechten achtungsvoll ausüben. Dabei geht es konkret zum Handeln im Augenblick und die Freiheit, die wir dann haben, Gutes und Rechtes zu erzeugen. Diskussionen darüber, ob das Rechte existiert oder nicht existiert, führen also nicht weiter und erstarren zwangsläufig auf einer theoretischen Ebene, die vom Handeln im Alltag und Hier und Jetzt weit entfernt ist. Das Richtige wird in solchen Diskussionen wie ein Ding behandelt, und das ist unrichtig.

Es ist in der Tat erstaunlich zu sehen, dass manche Menschen ganz anders handeln, als sie glauben, und dass theoretische wohlklingende Moral oft damit verbunden ist, dass das Rechte gerade nicht getan wird. Überhaupt wird manches als „das Rechte“ bezeichnet, was bei genauer Untersuchung des Handelns wirklich nicht als richtiges Handeln gesehen werden kann und meist maskiert dem eigenen Vorteil dient. Dōgen betont an dieser Stelle, dass es verschiedene Wege gibt, Rechtes zu tun, zum Beispiel die Glaubenspraxis des reinen Landes und die Zazen-Praxis, die er selbst so sehr schätzt. Wichtig ist, dass man beim Rechten achtungsvoll handelt, das heißt also, Achtung vor anderen Menschen und vor ihrem Handeln hat. Wie Dōgen betont, gilt dies nicht nur für Freunde und Verwandte, sondern insbesondere auch für Konkurrenten oder Feinde. Es gilt also sowohl für das Leben in der Familie, für den Umgang mit Freunden als auch im Beruf, bei dem häufig Konkurrenzkämpfe und Positionsneid vorherrschen.

Das achtungsvolle Tun des Rechten vollzieht sich im Augenblick selbst. Wie Dōgen sagt, sollen wir die Ursachen, das Rechte zu verfehlen, nicht auf äußere Umstände und Situationen schieben, damit werden falsche Ursachen benannt. Was für das aktive Tun gilt, sei auch für das Geschehenlassen wahr, denn man kann Rechtes auch dadurch verwirklichen, dass man etwas geschehen lässt. In einem solchen Fall soll man nicht störend oder egoistisch eingreifen und damit das Unrecht erst selbst erzeugen.

Im obigen Gedicht heißt es weiter, dass sich das Herz und der Geist auf natürliche Weise öffnen und rein werden, wenn man kein Unrecht erzeugt und das Rechte achtungsvoll tut. Auch diese Aussage darf jedoch nicht in der Theorie und im begrifflichen Denken stecken bleiben, sondern muss handelnd erfahren und erforscht werden. Handelnd können wir lernen, wie die Buddhas sein sollen, sodass wir uns nach Dōgen nicht wie gewöhnliche Menschen verhalten, die sich mit dem Leiden, das durch unrechtes Handeln erzeugt wird, abfinden und nicht zum rechten Tun durchringen. So kann auch im alltäglichen Leben ganz real vermieden werden, das Unrechte zu erzeugen, und es kann möglich werden, das Rechte zu tun.

In einer bekannten Kōan-Geschichte fragte ein berühmter Dichter einen großen Meister: Was ist der große Sinn des Buddha-Dharma?“ Der Meister antwortete: „Kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun.“ Der Dichter, der auch ein bedeutender Gouverneur war, bemerkte daraufhin etwas abfällig: „Wenn das so ist, kann dies sogar ein dreijähriges Kind sagen.“ Der Meister erwiderte: „Ein dreijähriges Kind kann schon die Wahrheit sagen, aber selbst ein erfahrener Mann von achtzig Jahren kann sie nicht konkret (ganz) verwirklichen.“

Der Dichter dankte daraufhin zwar dem Meister mit einer Niederwerfung, aber den tieferen Sinn der Aussage konnte er, wie Dōgen sagt, nicht erfassen. Er war berühmt wegen seiner großen dichterischen Qualitäten und wurde im Kreise der Schriftsteller und Dichter außerordentlich verehrt. Den tieferen Sinn der Worte, dass man kein Unrecht erzeugen und das Rechte tun solle, verstand er jedoch nur als begriffliche Aussage, verharrte also auf der Wort- und Denkebene. Dies ist, wie Dōgen feststellt, nicht verwunderlich, weil er eben ein Mann des Wortes und der Dichtung und nicht ein Mann des Handelns war. Wesentlich seien die Praxis und das Handeln und diese unterscheiden sich leider häufig vom Reden und Denken.

Sein hohes dichterisches Können hatte offensichtlich für ihn zur Folge, dass er von der buddhistischen Praxis im Zazen und im Alltag noch weit entfernt war. In der Tat ist es sehr leicht zu sagen, was moralisch sinnvoll und richtig sei, nämlich kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun. Es ist sicher zutreffend, dass bereits ein Kind, das gelernt hat, vernünftige Sätze zu bilden, dies sagen kann. Die Verwirklichung dieses moralischen Vorsatzes erfordert jedoch eine ganz andere Dimension des Lebens, so dass oft die Erfahrung eines sehr langen Lebens und das Lernen auf dem Weg des Dharma nicht ausreichen, um dies vollständig zu verwirklichen.

Für diese Verwirklichung ist eine intuitive Klarheit und umfassende Kraft des Handelns im Augenblick erforderlich. Dies kann man auch mit Dōgen die „wunderbaren Ursachen und Wirkungen“ oder die „Buddha-Ursachen und Buddha-Wirkungen“ nennen. Wenn Menschen das Rechte tun, und dies kann auf vielerlei Art geschehen, verwirklichen sich ihr Wesen, ihre Form, ihr Körper und ihre positive Kraft.

Dōgen fragt, warum der Dichter das dreijährige Kind gering schätzt, indem er sagt, es könne schon solche einfachen und selbstverständlichen Aussagen über Unrecht formulieren. Er bezweifelt an dieser Stelle, dass der Dichter überhaupt weiß, was ein dreijähriges Kind wirklich ist. Denn wenn er es tastsächlich kennen würde, wäre ihm auch der Buddha-Dharma zugänglich. Er sagt hierzu:

„Wer dazu gekommen ist, ein einziges Partikel zu kennen, der kennt das ganze Universum, und wer einen wirklichen Dharma durchdrungen hat, hat die zehntausend Dharmas durchdrungen.“

Man kann nach Dōgen sogar sagen, dass ein Kind sofort nach der Geburt an dem Löwengebrüll der buddhistischen Lehre teilhat und sich auf den Weg des Buddha-Dharma begibt. Das Löwengebrüll eines Kindes versteht dieser Dichter offensichtlich nicht, und offenbar tut er das Reden des Kindes als unwichtiges Geplapper ab. Doch schon ein dreijähriges Kind kann die Wahrheit ausdrücken, und dies sollten wir gründlich erforschen und durchdringen. Ob und wann ein erfahrener Mann von achtzig Jahren die Wahrheit verwirklicht oder nicht, sollten wir genauso untersuchen. Dabei ist es sinnvoll, dass wir uns nicht von Interpretationen leiten lassen und dass wir nichts wegnehmen und nichts hinzufügen, sondern die Wirklichkeit und damit die Wahrheit so verstehen und erfahren, wie sie ist.