Samstag, 10. Dezember 2022

Die Schönheit und Wirklichkeit der Berge und Wasser

 

Berge sind etwas Festes wie die Erde, und Wasser ist das Element des Flüssigen. Auf poetische Weise beschreibt Dōgen die Wirklichkeit der Berge und Wasser, der Wolken und des Himmels: „Denkt daran, dass diese (Aussage) ‚Der Ostberg bewegt sich auf dem Wasser‘ die Knochen und das Mark der buddhistischen Vorfahren ist. Die Wasser werden am Fuß des Ostberges verwirklicht; darauf reiten Berge die Wolken und wandern durch den Himmel. Die Kronen der Wasser sind die Berge, deren Wandern aufwärts und abwärts immer auf dem Wasser ist.“[i]

Das Wasser bewegt sich in flüssiger Form in Bächen, Strömen und Flüssen und füllt die großen Ozeane dieser Erde. Die Berge sind darüber und bauen sozusagen auf den Wassern auf. Die Wasser sind die Füße der Berge. Wasser steigt außerdem als Dampf in die Wolken, und es ist wieder Wasser, wenn es auf der Erde angekommen ist. Indem Dōgen die Berge auch als Kronen der Wasser bezeichnet, bringt er die fundamentale Beziehung zwischen beiden zum Ausdruck.

Wenn wir unser erlerntes Wissen und unsere scheinbare Sicherheit, dass Berge unbeweglich sind, hinter uns lassen, die Natur genau sehen und mit ihr in Wechselwirkung kommen, ist es nicht zu entscheiden, ob sich die Berge oder die Wasser bewegen. Die Wolken oberhalb der Berge bewegen sich ebenfalls, aber auch hier entsteht der Eindruck, dass die Berge gegen die Wolken wandern und dass Wolken und Berge beide in Bewegung sind. Ein solches ganzheitliches Verständnis der Bewegung in der Natur realisiert sich auf der Ebene des Sehens und geht darüber hinaus. Dann ist nichts mehr starr und nichts verharrt unbeweglich an seinem Platz. Wir erfahren die Berge und Wasser nicht als außerhalb von uns selbst und als bloße Objekte der Beobachtung. Dadurch entsteht eine neue befreiende Beweglichkeit des eigenen Selbst. Daher kann man die Bewegung der Berge als Gleichnis für die Bewegung der eigenen Psyche und des eigenen Geistes verstehen. Alte und scheinbar unumstößliche Blockaden im Menschen können sich auflösen, und es ereignet sich ein befreiendes, natürliches Fließen. Die Worte sind nach Nishijima Roshi damit die Wirklichkeit selbst, und dies ist genau der Sinn der oben zitierten Kōan-Geschichte vom Ostberg.

Nun zitiert Dōgen eine Aussage, die Meister Nangaku zugeschrieben wird: „Weil die Zehen der Berge über alle Arten von Wasser wandern können und die Wasser zum Tanzen bringen, ist das Wandern frei in allen Richtungen, und die Praxis-und-Erfahrung ist nicht Nicht-Leben (es gibt sie also wirklich!).“ Das bedeutet, dass die Ganzheit von Praxis und Erfahrung ganz real und die Wirklichkeit selbst ist.[ii] Die Formulierung, dass die Fußzehen der Berge auf den Wassern wandern, beruht auf der Beobachtung, dass Flüsse, welche die Berghänge hinabfließen, die Hänge so unterteilen, dass es aussieht, als hätten die Berge Zehen. Unten vereinigen sich die einzelnen Bergflüsse dann zu größeren Strömen, auf denen die Berge sozusagen schwimmen. Durch diese Ganzheit und Wechselwirkung mit den Bergen werden die Wasser dazu gebracht werden, zu tanzen. Dies beschreibt auch die Leichtigkeit und Freude, die sich durch die wechselwirkende Ganzheit des Menschen mit der Natur einstellen.

 

Die Eigenschaften des Wassers

Nachdem Dōgen bisher die Berge und ihre Beziehung zum Wasser in den Mittelpunkt gestellt hat, schildert er nun detailliert die Eigenschaften des Wassers:

„(Das Wasser) ist weder stark noch schwach, weder nass noch trocken, es bewegt sich nicht und ist nicht still, es ist weder kalt noch warm, weder existent noch nicht-existent, weder Täuschung noch Verwirklichung. Wenn es fest ist, ist es härter als Diamant. Wer könnte es brechen? Wenn es geschmolzen ist, ist es weicher als verdünnte Milch. Wer könnte es brechen? (Da) dies so ist, ist es unmöglich, an den wirklichen Tugenden des Wassers zu zweifeln, die es besitzt.“

Wasser kann verschiedene Formen annehmen: hart gefroren, flüssig, dampfförmig und sichtbar wie die Wolken und der Nebel, aber auch unsichtbar in Form der Luftfeuchtigkeit, wenn ein bestimmter Sättigungsgrad des Wassers in der Luft unterschritten wird. Während es uns bei den Bergen nicht unmittelbar einleuchtet, dass sie sich teilen und dauernd in Bewegung befinden, wird uns die Vielfältigkeit und Beweglichkeit des Wassers klar ersichtlich. Es ist ein Grundstoff des Lebens und der Welt überhaupt. Dies wird heute immer deutlicher angesichts der Tatsache, dass weite Teile der Erde versteppen und zu Wüsten werden, weil sich die jährlichen Niederschlagsmengen verringern. Ein Teil der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem, trinkbarem Wasser. Es ist also ein sehr wertvoller Rohstoff.

Dōgen unterscheidet zwischen unseren meist subjektiven Bewertungen und dem Wasser selbst, das als Teil der Natur wirklich und frei von Bewertungen da ist. Er will uns auf den Weg zur Wirklichkeit führen, damit wir einen unmittelbaren Zugang zum So-Sein des Wassers finden. Was ereignet sich genau in dem Augenblick, wenn wir das Wasser in der Vielfalt und Realität der Welt ansehen? Auf diese Weise wird eine persönliche Entwicklung vollzogen, sich der Wirklichkeit dieses Elements zu nähern. Darüber hinaus ist es „ein Lernen in der Praxis des Wassers, (das) das Wasser sieht“. Eine solche Formulierung verwendet Dōgen häufiger, um das wirkliche offene Sehen des Wassers zu beschreiben. Er bittet uns, bei der genauen Untersuchung der sogenannten externen Welt kraftvoll voranzuschreiten, sie „auszuschöpfen“ und dabei in die Freiheit zu springen. Einfacher ausgedrückt sieht er für uns die große Hoffnung, dass wir in der engen Verbindung mit der Natur, hier in Form des Wassers, Vorurteile, Täuschungen und Doktrinen, aber auch falsche Emotionen und negative Affekte über Bord werfen und dadurch auf dem Weg in die Freiheit vorankommen. Erwachte Menschen sehen das Wasser wirklich als Wasser: „Was daher (subjektiv) gesehen wird, unterscheidet sich in der Tat nach Art des Wesens (das sieht).“

Außerdem betont Dōgen, dass die verschiedenen Arten des Wassers nicht vom Geist, nicht vom Körper, nicht vom Karma, nicht vom Selbst und nicht von anderen abhängig sind: „(Die verschiedenen Arten des Wassers) haben den befreiten Zustand der direkten Beziehung zum Wasser selbst.“ Es geht also um das Wasser, das unabhängig ist von den menschlichen Emotionen, Vorurteilen und erlerntem Wissen. Wasser ist genau Wasser und kein Feuer, kein Wind, kein Raum und kein Bewusstsein.

Dagegen bedeutet Abhängigkeit nach Dōgen, „mit einer begrenzten Sichtweise auf der Basis von Annahmen zu spekulieren“. Die Wirklichkeit der Dharmas, der Dinge und Phänomene, sei auf diese Weise nicht zu erfassen und zu erleben; die Wirklichkeit könne sich dann in der Welt und im Universum überhaupt nicht entfalten. Es sei falsch, sich die Dharmas als etwas nur materiell Konkretes, also in Form von Entitäten, vorzustellen. Hierzu zitiert er Gautama Buddha: „Alle Dharmas sind im höchsten Maße befreit. Sie sind ohne (dauerhaften) Aufenthalt.“ Dōgen erläutert, dass es eigentlich keine künstlichen Fesseln für die Dharmas gibt, also für die Dinge, Phänomene und Prozesse der Wirklichkeit, und dass sie jeweils ihren richtigen Platz im Universum haben, aber diesen dürfen wir uns nicht starr und fixiert vorstellen.

Die Verbindung mit dem Wasser drückt Dōgen kraftvoll aus: „Wo immer große buddhistische Meister gehen, geht das Wasser. Und wo immer Wasser geht, verwirklichen sich die großen buddhistischen Meister.“ In der Ganzheit von Körper-und-Geist, die den Zustand der großen Meister ausmacht, ist die Wirklichkeit mit dem Wasser unauflösbar verbunden. „Ferner sollten wir in der Praxis lernen, ob es in den Häusern der buddhistischen Vorfahren im Dharma Wasser gibt, oder ob es kein Wasser gibt“, so beschreibt er die buddhistische Wirklichkeit des Wassers und macht deutlich, dass eine romantische, idealistische und doktrinäre Betrachtungsweise gerade nicht gemeint ist. Nicht zufällig spricht Dōgen in diesem Zusammenhang davon, wie die großen Meister das Wasser praktisch nutzten, wie es also Teil ihres verwirklichten Lebens war: „Es ist Erleuchtung, im Alltag Wasser zu schöpfen.“

 Link: Neuer Film, English,  mit acht awards (!)



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 194ff.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 81ff.; Bd. 2, S. 29ff.; Bd. 3, S. 260ff.

Dienstag, 29. November 2022

Die Wirklichkeit von Raum und Offenheit für unser Leben


Der japanische Titel dieses Kapitels, „Kokū“, setzt sich aus zwei Wörtern zusammen: Ko bedeutet „leer“ oder „ohne etwas“, und heißt „Raum“, „Luft“ oder auch „Leerheit“. Kokū lässt sich also übersetzen mit „Raum“, „leerer Raum“ oder, wie ich es hier genannt habe, „Wirklichkeit des Raumes“.[i] Die Bezeichnung Kokū wird im Zen-Buddhismus häufig verwendet und hat immer wieder Anlass zu Missverständnissen und esoterischen Spekulationen gegeben – ähnlich wie der Begriff mu oder in dem bekannten Kōan der Rinzai-Linie, der die Bedeutung „nichts dergleichen“ hat. Wie bei Nāgārjuna müssen wir daher auch hier zwischen den Bedeutungen von materiellem Raum, Leerheit und dem Nichts klar unterscheiden und dürfen keine metaphysischen und absolutistischen Spekulationen ins Spiel bringen.

Raum und Zeit haben seit dem Beginn der menschlichen Kultur immer wieder Philosophen und große Denker angeregt, und es wurden vielfältige Theorien und philosophische Erklärungen hierfür entwickelt und gelehrt. Auch in China wurde dieses Thema aufgegriffen und an alte chinesische Traditionen des Daoismus angeknüpft. Nishijima Roshi hat zu diesem Kapitel erläutert, dass Dōgen den Raum hier überwiegend anhand der Lebensphilosophie des Materiellen beschreibt. Wir würden dies heute als naturwissenschaftliche Dimension und Teilwirklichkeit bezeichnen. Nach Aussage von Nishijima Roshi behandelt Dōgen die buddhistischen Themen meist aus den verschiedenen Perspektiven der vier Lebensphilosophien, hier vor allem aus der Perspektive der materiellen Elemente. In diesem Kapitel überwiegt zwar die materielle Sichtweise, aber sie bezieht sich immer wieder auf den höchsten dem Menschen zugänglichen Zustand der umfassenden Wirklichkeit des Buddhismus, also das Erwachen bzw. die Erleuchtung. Damit überschreitet Dōgen die einseitige materielle Sichtweise unserer sinnlichen Wahrnehmung, zum Beispiel des Sehens und Hörens. Im Westen glauben wir bekanntlich an einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Materiellem und Ideellem, und es gibt den alten Streit in der Philosophie zwischen Empirismus und Rationalismus.

Dōgen bearbeitet das Thema des Raumes sehr tiefgründig und direkt auf die Wirklichkeit bezogen. Damit eröffnet er im Zen-Buddhismus für diese Frage eine neue fruchtbare Dimension. Dabei greift er auf verschiedene Kōan-Geschichten und Dialoge berühmter Meister zurück. Im Shinji Shōbōgenzō wird ein viel gerühmtes Kōan-Gespräch zwischen Meister Rinzai und Meister Fuke zitiert, das hier kurz wiedergegeben werden soll und die Thematik dieses Kapitels in besonderer Weise beleuchtet. Rinzai neigte eher zu einem theoretischen und zum Teil spekulativen Verständnis des Buddhismus, während Fuke oft radikal die Wirklichkeit des Hier und Jetzt sowie des Materiellen ins Zentrum rückte.

Rinzai fragte: „In den Sūtras heißt es, dass ein Haar den großen Ozean verschlingt und ein Mohnkorn den Berg Sumeru umfasst. Sind dies auch Beispiele ‚mystischer Fähigkeiten’ oder ‚glänzender Leistungen’ oder sind sie nur wirkliche Tatsachen wie sie sind?“ Fuke stieß daraufhin mit einem Ruck den gedeckten Tisch um, an dem er und Rinzai als Gäste zusammen mit den vornehmen Gastgebern Platz genommen hatten, und sagte: „Dies ist ein Ort, wo etwas Unfassbares da ist.“

Fuke wollte damit zum Ausdruck bringen, dass Rinzais Überlegung viel zu theoretisch und spekulativ ist, und handelte abrupt und sicher auch nicht gerade höflich, als er den Tisch umwarf. Offensichtlich ärgerte er sich über Rinzais abstrakte Gedankengänge und wollte ohne viele Worte durch direktes Handeln in der konkreten Gegenwart aus den theoretischen „Denknestern“ herauskommen. Seine Feststellung „Dies ist ein Ort, wo etwas Unfassbares da ist“ enthält mehrere bedeutsame Teilaussagen. Mit der Formulierung „dies ist ein Ort“ unterstreicht Fuke, dass dieser Ort ganz wirklich, konkret und auch materiell vorhanden ist. Er sagt dann, dass wir an dem Ort „da sind“, und auch hierfür gilt, dass er das wirkliche Leben des Menschen bestätigt und darauf aufbaut.

Es geht nicht um die von Nāgārjuna kritisierte unveränderliche doktrinäre und materielle Existenz, sondern um wirkliches Handeln und prozesshaftes Erleben. Fuke behauptet also nicht, dass es zum Beispiel nur einen nicht-materiellen Geist gebe und dieser die eigentliche Wirklichkeit sei oder dass der Mensch nur ein Traumgebilde sei, dem keine Wirklichkeit zukomme. Demgegenüber wird im Buddhismus in einigen Strömungen nur dem Geist die Qualität der Wirklichkeit zugestanden, und die materielle Wirklichkeit der Welt wird abgelehnt oder als unwesentlich beiseitegeschoben. Entsprechend oft wird infolgedessen die Leerheit als leer vom Materiellen gründlich missverstanden. Danach gäbe es das Materielle nicht wirklich.

Im zweiten Teil des Satzes sagt Fuke, dass an dem Ort „etwas Unfassbares da ist“. Er spricht damit unmissverständlich die Begrenztheit des Denkens und der Wahrnehmung der Menschen an. Die Wirklichkeit des hiesigen Ortes übersteigt das, was wir denken, sagen und wahrnehmen können, und wir sollten uns dessen in Klarheit und Bescheidenheit bewusst sein. Demgegenüber hatte Rinzai von mystischen und paradoxen Zusammenhängen des Volks-Mahāyāna gesprochen, der in der Tat ganz im Bereich des metaphysischen Denkens, der Spekulation und der Vorstellung angesiedelt ist und kaum direkt oder nur verzerrend mit der Wirklichkeit in Verbindung gebracht werden kann.

Dōgen betont in diesem Kapitel, dass es um diesen ganz konkreten Ort geht und nicht um irgendeine spekulative, esoterische Vorstellung von Leerheit und Raum. Er unterstreicht die herausragende Bedeutung dieses Zitates und fügt hinzu, dass die buddhistischen Vorfahren im Dharma durch diese Worte selbst wirklich waren. Schließlich hebt er hervor, dass quantitative Maße und abzählbare Kategorien und Charakteristika des Raumes ungeeignet seien, um dessen unfassbare Wirklichkeit ganz zu beschreiben.

Dōgen zitiert dann ein zunächst sehr eigenartig erscheinendes Kōan-Gespräch zweier großer Meister am Ende des 8. Jahrhunderts, das etwas verkürzt wie folgt ablief: Der Zen-Meister Shakkyō fragte den Mönch Seidō, der später selbst Meister wurde: „Verstehst du, wie man den Raum ergreift?“ Daraufhin machte Seidō mit seiner Hand eine Bewegung, als ob er nach dem Raum greifen, also etwas Konkretes erfassen würde: Er handelte in der materiellen Dimension. Dies überzeugte den älteren Shakkyō jedoch nicht und er äußerte unverblümt, dass Seidō es nicht verstehe, den Raum wirklich zu greifen. Dieser bat den Meister daraufhin, es ihm selbst zu zeigen. Shakkyō ergriff nun plötzlich und fest Seidōs Nase und zog kräftig daran. Dieser verspürte einen stechenden Schmerz in der Nase und schrie auf. Unter Schmerzen sagte er dem Meister: „Es ist sehr brutal, mit Gewalt an der Nase eines Menschen zu ziehen, aber ich bin direkt in der Lage, frei zu werden.“ Das war der Ausdruck seines Erwachens. Shakkyō fügte noch hinzu, dass Seidō diesen Schmerz hätte vermeiden können, wenn er von Anfang an in der Lage gewesen wäre, den Raum direkt und wirklich zu erfassen.

Im Folgenden erläutert Dōgen, dass es darum geht, ob Seidō im buddhistischen Sinne den Körper als Hände und Augen verwirklicht hat wie Shakkyō. Der Raum ist ein Teil der Wirklichkeit und wird aus der Sicht des Zen-Buddhismus in seiner natürlichen Reinheit beschmutzt, wenn man ihn durch unnötige dogmatisierte Theorie belastet, verzerrt und verändert. Auch Nāgārjuna spricht von der „Beschmutzung“ durch schlechte Doktrinen, die den wahren Buddhismus verfälschen. Die Frage, ob man den Raum ergreifen kann, bedeutet also, ob man ihn in seiner natürlichen Wirklichkeit und Reinheit direkt intuitiv versteht und gleichzeitig weiß, dass man ihn mit dem Verstand nicht erschöpfend begreifen kann, weil er unfassbar ist. Zudem suggeriert der Begriff „greifen“, dass es sich um eine isolierte Entität handelt. Daher ist direktes Handeln sinnvoll.

Unsere Welt und unsere Umgebung sind ohne die räumliche Dimension und damit ohne den Raum nicht vorstellbar. Alle konkreten Dinge besitzen eine räumliche Dimension und Anordnung im Universum. Wir würden in einer imaginären Scheinwelt leben, wenn es diesen konkreten dreidimensionalen Raum nicht gäbe. Dōgen erklärt, dass Seidōs Greifbewegung mit der Hand zwar einen Teil der Wirklichkeit des Raumes erfasst habe, aber nicht den Kern im Sinne der buddhistischen Lehre. Der ältere Shakkyō war in dieser Situation fest davon überzeugt, dass es keinen Sinn mache, die wirkliche Bedeutung des Raumes nur mit Worten zu erklären, sodass er unvermittelt – und für Seidō sehr schmerzhaft – direkt handelte. Dieser plötzliche Schmerz durchbrach die Mauer der bisherigen Vorstellungen und des Denkens und befreite Seidō von seinen lange bestehenden geistigen Blockaden. Dōgen fügt hinzu, dass Seidō dadurch nicht nur unmittelbar die Wirklichkeit des Raumes in der Praxis erlernt habe, sondern sich damit auch zum ersten Mal selbst wirklich begegnet sei.

Nishijima Roshi kommentiert die Kōan-Geschichte wie folgt: „Um den Raum zu greifen, erfasst Seidō die Luft mit seinen Händen. Dieses Verhalten bedeutet, dass der Raum nicht nur eine Vorstellung ist, sondern handelnd wirklich. Um den Raum zu ergreifen, sollte unser Handeln auch wirklich sein. Meister Shakkyō wandte eine Methode an, die noch direkter war: Er zog (blitzschnell) an Seidōs Nase. Und indem dieser einen gewalttätigen Akt erfuhr, verwirklichte Seidō plötzlich das, was Raum wirklich ist. Diese Geschichte sagt uns, dass die buddhistische Lehre kein ausgedachtes Konzept ist, sie verweist auf die Wirklichkeit hier und jetzt.“

Vorher hatte Seidō gedacht, dass man den Raum als ein getrenntes „Objekt“ ergreifen kann, aber plötzlich begegnete er sich selbst. Dōgen bemerkt dazu: „Gleichzeitig ist es nicht erlaubt, das Selbst zu verunreinigen: Das Selbst muss praktiziert werden.“ Allerdings ist er mit Shakkyōs Handeln nicht ganz zufrieden, weil dieser mit seiner eigenen Erfahrung noch nicht vollständig die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden habe. Der Raum ist Teil des Universums und kann deshalb nicht gesondert praktiziert werden. Dōgen bedauert, dass es in den großen fünf buddhistischen Linien nur wenige gegeben habe, die „den Raum ergründet“ hätten. Meister Shakkyō gibt er folgenden Rat: „Bevor du Seidōs Nase ergriffen hast, hättest du deine eigene Nase ergreifen sollen, wenn du den Raum ergreifen wolltest.“ Gleichwohl gesteht er ihm zu, dass er vieles davon versteht, wie durch das wahre Verhalten der Raum ergriffen wird.

Schließlich erklärt Dōgen: „Wir sollten (die Lehre) bewahren und ihr vertrauen, dass die Anstrengung der Wahrheitssuche, die Erweckung des (Bodhi-)Geistes, die Praxis-und-Erfahrung sowie die Bestätigungen und Fragen der Buddhas und Vorfahren im Dharma genau das Erfassen des Raumes sind.“ Damit spricht er den höchsten dem Menschen zugänglichen Zustand der vierten Lebensphilosophie an, nach der die Wirklichkeit mit dem Universum unauflösbar verbunden ist.

Danach zitiert Dōgen eine Zeile aus einem Gedicht seines Meisters Tendō Nyojō: „Der ganze Körper ist wie ein Mund, der im Raum hängt.“ Diese Aussage, welche die Windglocke, die im Raum hängt, mit dem Mund gleichsetzt, ist zunächst der physischen Sichtweise der Form zuzuordnen. Eine Windglocke, die in Asien häufig in der Nähe von Tempeln und Häusern aufgehängt wird, gibt wohlklingende Töne von sich, wenn sie von den Windströmungen erfasst wird. Diese nehmen wir mit den Ohren wahr. Tendō Nyojōs gleichzeitig poetische und weiterführende Formulierung von einem Mund, der wie die Windglocke im Raum hängt, kündet von der Harmonie und Großartigkeit unserer Welt. Ich erinnere mich an eine Sesshin in Südtirol, wo wir im Hof eines alten Kapuzinerklosters Zazen praktizierten und bei jedem Windhauch die Windglocke ertönte: Wir praktizierten in der Ganzheit von Raum, Zeit und Windglocke. Bei Dōgen ist die materielle Sichtweise keineswegs sinnentleert, oberflächlich und verkümmert, sondern umfasst auch und gerade die höchste Wirklichkeit in ihrer natürlichen Poesie.

Im zweiten Teil des Kapitels gibt Dōgen ein Kōan-Gespräch des großen Meisters Baso mit einem Theoretiker namens Ryō wieder, der offensichtlich noch keine eigene Erfahrung mit der Zazen-Praxis hatte. Der Meister fragte Ryō, welche Lektüre er gerade lese, und dieser antwortete, dass er das Herz-Sūtra studiere. Auf die Frage, womit er das Sūtra eigentlich vortragen würde, erwiderte Ryō: „Ich halte einen Vortrag mit dem Geist.“ Daraufhin sagte Baso: „(Es wird gesagt), der Geist ist wie ein führender Schauspieler, der Wille ist wie ein unterstützender Schauspieler, die sechs Arten des Bewusstseins sind die begleitende Besetzung: Wie sind diese in der Lage, einen Vortrag über das Sūtra zu halten?“ Ryō äußerte sich dazu wie folgt: „Wenn der Geist nicht in der Lage ist, einen Vortrag zu halten, dann ist der Raum noch weniger in der Lage, einen Vortrag zu halten, nicht wahr?“ Meister Baso antwortete jedoch: „Der Raum kann in der Tat selbst den Vortrag halten.“

Der Theoretiker Ryō schwenkte daraufhin bedeutsam seine weiten Ärmel und wollte damit offensichtlich eine gewisse Geringschätzung gegenüber Meister Baso ausdrücken und sich dann zurückziehen. Dieser rief ihn jedoch zurück und erklärte: „Von der Geburt bis zum hohen Alter ist es genau dieses!“ In diesem Augenblick erlangte Ryō die wahre Einsicht und das Erwachen. Schließlich verschwand er auf einem Berg, und man hat niemals wieder von ihm gehört.

Dōgen erläutert, dass jeder buddhistische Meister ein Sūtra-Lehrer ist und ein Sūtra-Vortrag auf jeden Fall im Raum stattfindet. Ohne Raum ist es nämlich unmöglich, Vorträge über Sūtras zu halten. Nishijima Roshi betont in seinem Kommentar zu diesem Kōan, dass es sich um einen blassen Schatten oder blutleeren Geist handelt, wenn man den Buddhismus nur mit dem Verstand versteht und so lehrt. Ryō konnte die Kritik von Baso zunächst nicht annehmen und war stolz darauf, eine bedeutende Frage an den Meister zu stellen, ob nämlich der Raum Vorträge über die Sūtras halten könne. Aber genau dies bestätigte Meister Baso und fügte noch hinzu, dass dies von der Geburt bis zum Tod genau so sei. Ohne die Wechselwirkung mit dem Raum kann es keinen Vortrag geben. Dadurch gelangte der theoretische Lehrer Ryō schließlich zur Einsicht und zur Wirklichkeit des Raumes sowie des Lebens selbst, und gleichzeitig überwand er seinen intellektuellen Hochmut und Ich-Stolz.

Es ist tatsächlich unmöglich, dass die Wirklichkeit ohne den Raum existieren kann. Dies gilt für Reden, Denken, Erfahren sowie für angeborene und erworbene Intelligenz. „Alles ist im Raum“, sagt Dōgen und ergänzt: „Das Tun, ein Buddha zu werden, und das Tun, ein Nachfolger im Dharma zu werden, müssen entsprechend im Raum sein.“ Dann zitiert er einen alten indischen Meister, der erklärte: „Der Geist ist dasselbe wie die konkrete Welt des Raumes, und er offenbart die Wirklichkeit, die dem Raum gleicht. Wenn wir in der Lage sind, den Raum zu erfahren, gibt es nicht das Richtige und nichts Falsches.“ Damit zeigt Dōgen, dass Bewertungen und Charakterisierungen wie „richtig“ und „falsch“, besonders wenn sie verabsolutiert werden, in unserer Welt durch die Menschen hinzugesetzt werden und dass es solche Bewertungen in der Natur des Raumes nicht gibt. Der Raum ist leer von Bewertungen und Doktrinen. Wenn sich der Geist im Gleichgewicht befindet, der Mensch in der Meditation die weiße Wand ansieht und die weiße Wand den Menschen ansieht, sind die Zäune und Mauern genauso wie der verdorrte Baum die wirkliche Welt des Raumes.

In einem Zitat Vasumitras, des siebten indischen Nachfolgers im Dharma, wird der Geist als wirkliche Welt des Raumes bezeichnet. Der oft im menschlichen Gehirn „eingesperrte“ unterscheidende Geist, der durch den Schädel begrenzt ist, öffnet sich und wird groß und weit wie der Raum. Er verlässt gewissermaßen den Schädel des Ego, befreit sich und durchdringt den ganzen Raum des Universums.

 Link: Ganz neuer Film, 8 awards, Zen, English



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 91ff.

Samstag, 12. November 2022

Unser neuer Film ist online, er gewann acht internationale awards (!)



Der ganz neue Film von meinem Freund Ronald und mir war auf internationalen Festivals ausgesprochen erfolgreich. Hier die englische Fassung.

Er zeigt die Krisen der Umwelt und des Krieges, um dann Schlaglichter auf die umfassende Lehre Buddhas zu werfen, die uns gerade jetzt helfen kann. Diese Lehre könnte nicht aktueller sein. Auch zu Buddhas Zeiten gab es Krisen und brutale Macht-"Eliten". Und genau da setzt seine Therapie an. In Japan entwickelt sich der Zen in ganz schweren Zeiten. Buddhismus und Zen haben sich also in Krisen entwickelt und seit 2500 Jahren bewährt. Sie sind verlässlich und erprobt.

Ich erinnere mich noch an den zweiten Weltkrieg und die schlimmen Jahre danach: Hunger, Kälte, zerbombte Städte, schwere Schicksale und Verzweiflung . Aber auch an den Wiederaufbau und den Optimismus für eine bessere Welt. Es ist unglaublich, was damals die Frauen und Mütter in Europa und in der Welt geleistet haben!

Der Film wurde auf Gomera und in Berlin gedreht. Er soll einfach, direkt, verständlich und authentisch durch eigenes Erleben sein. Wir hoffen, dass das gelungen ist. Was in der Welt zerstört wurde, soll wieder aufgebaut werden. Dazu taugt Jammern, Klagen und Resignation überhaupt nicht, sondern Realismus, Mut und Tatkraft helfen. Das ist der Kern des Zen. Und Lebensfreude gerade in schweren Zeiten macht klar, klug und kreativ.

Bei Dogen heißt es im berühmten Kapitel 3 des Shobogenzo zur Verwirklichung und zum Erwachen:

Die Wahrheit des Buddhas übersteigt ursprünglich Überfluss und Knappheit (illusionäre Bewertungen), und daher gibt es Leben und Tod, gibt es Täuschung und Verwirklichung. Und daher gibt es (gewöhnliche) Wesen und Buddhas.

Und obgleich dies so ist, fallen nur die Blüten, während sie geliebt werden, und gedeiht das Unkraut, während es ungeliebt ist.

Aber der Erwachte lebt sein Leben im Gleichgewicht hier und jetzt, er hat das Leiden überwunden und erfährt tiefes Glück.

Zazen-Meditation ist Körper und Geist fallen lassen.

Erwachen ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen

Mit besten Wünschen, Yudo

Anklicken: Zum Film, English

 

Dienstag, 8. November 2022

Die wunderbare Form der Dinge und Phänomene in unserer Welt



Die Wirklichkeit und deren erkennbare Formen im Hier und Jetzt haben im Zen eine sehr große Bedeutung für den Weg der Befreiung. Sehr markant kommt dies im 50. Kapitel des Shōbōgenzō („Shohō jissō“) zum Ausdruck.[i] Und die wahre Form ist immer wirklich, über das Materielle hinaus!

Meister Dōgen baute seine buddhistische Lehre auch auf dem Lotos-Sūtra auf, dem er im Gegensatz zum landläufigen Verständnis eine neue Bedeutung und Tiefenschärfe gab. Er interpretierte es nicht als wundergläubigen Volksbuddhismus, sondern auf der Grundlage des Chan-Buddhismus und Nāgārjunas Mittlerem Weg. Im Kapitel „Die Dharma-Blume (der Wahrheit) dreht die Blume der Dharma-Welt“ und in diesem Kapitel über die Form ist es ihm in großartiger Weise gelungen, die Wirklichkeit und das Universum selbst in Worte zu fassen, soweit dies überhaupt möglich ist. Zweifellos hatte er damit einen inneren Widerspruch zu bewältigen, weil die Wirklichkeit und Wahrheit nicht erschöpfend mit Worten beschrieben werden können, da sie über Beschreibungen hinausgehen. Aber der verbale Ausdruck ist andererseits unbedingt notwendig, um den Buddha-Dharma lehren und übermitteln zu können. Im Kapitel über das Lotos-Sūtra werden vor allem die Großartigkeit, Schönheit und Realität des Universums geschildert, und es wird erläutert, dass die Wirklichkeit dieser Welt einer wunderbaren Lotosblume gleicht. Diese Schönheit ist das, was wir als Form direkt sehen, und nicht eine weit entfernte erträumte Welt ohne reale Form. Die Welt dreht sich und ist somit in dauernder Bewegung, also keinesfalls statisch und festgelegt, und das Leben ist dauernd in Entwicklung und Bewegung. Das ist genau das Thema des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung.

Die Wirklichkeit und deren Formen 

Im Kapitel Shohō jissō beschreibt Dōgen die Wirklichkeit umfassend in einem gewaltigen Wurf, und gleichzeitig arbeitet er heraus, was er unter „Dharma“ versteht. Dieser Begriff ist für das westliche Denken nicht einfach zu fassen, denn er bedeutet sowohl die buddhistische Lehre als auch die Wirklichkeit des Lebens und Universums selbst. In diesem Sinne lässt sich Dharma übersetzen mit der Formulierung „Dinge und Phänomene“, meint also diese ganz konkrete Welt. Damit wird die unauflösbare Verbundenheit auch mit der konkreten Form hervorgehoben. Und vor Dōgen hat Nāgārjuna präzise bewiesen, dass die Dharmas nicht nach dem Substantialismus der Statik verstanden werden können.

Häufig wird der Begriff in der Pluralform verwendet – Dharmas –und bezieht sich dann genau auf die einzelnen Dinge und Phänomene der Wirklichkeit, also auf die unendliche Vielfalt der Welt und des Lebens. Seit einiger Zeit wird dies nach Luhmann auch die „unendliche Komplexität“ der Wirklichkeit genannt. Dazu gehören materielle Dinge und äußere Formen, aber auch Gedanken, Bilder, Ideen und deren prozesshafte Vernetzungen. Darüber hinaus bezeichnet der Begriff „Dharmas“ den Sinn, die Bedeutungen und die Bewertungen der Phänomene. Diese würden wir heute überwiegend dem psychischen Bereich oder der Seele zuordnen.

Der japanische Titel dieses Kapitels enthält das Wort sho, das „Vielfalt“, „alles“ und „Vielfältiges“ bedeutet. Der Begriff bezeichnet die Dharmas, also sowohl physische Dinge als auch geistige Phänomene und Prozesse. Jitsu bedeutet „wirklich“ und „real“, und das Wort heißt „Form“. Daher lautet die wörtliche Übersetzung des Titels: „Alle Dinge und Phänomene sind wirkliche Form.“ Diese wirklichen Formen gehen über die äußerliche Sichtweise der Materialisten hinaus, die nur das rein Materielle und die äußere Form als Wirklichkeit anerkennen und damit nur einen Teil der buddhistischen Realität erfassen können. In der Buddha-Lehre werden das Handeln, der Augenblick, die Veränderung und das Entstehen sowie der höchste Zustand des Erwachens als große Wirklichkeit in der Welt verstanden und gelebt. Diese umfasst alle Lebensdimensionen und übersteigt sie gleichzeitig. Dōgen beschreibt diese Wahrheiten in einem anderen großartigen Kapitel über die Verwirklichung des Universums, der Welt und des Menschen (Kapitel 3, Genjō kōan). Dort entwirft er eine groß angelegte Gesamtlehre des Buddhismus und der Wirklichkeit auf der Grundlage des von ihm durch den wahren authentischen Buddhismus neu gedeuteten Lotos-Sūtra.

Viele verstehen das Lotos-Sūtra als die Beschreibung einer wunderbaren, idealen Welt, die aus Edelsteinen, Gold, Silber, Blumen, wunderbaren Düften, schöner Musik und prachtvollen Farben besteht, zum Beispiel das erträumte Nirvāna des Volksbuddhismus. Man könnte daher glauben, dass es sich um eine idealisierte Welt ohne Hässlichkeit, Böses, ohne Abgründe, ohne Verbrechen und ohne Betrug handelt und dass diese der „bösen“ Realität gegenübergestellt wird. Dōgen versteht das Lotos-Sūtra jedoch grundlegend anders: Er sagt, dass gerade die konkrete Wirklichkeit selbst von wunderbarer Schönheit und Ausgeglichenheit ist und dass der höchste Zustand des Erwachens, also die Erleuchtung, jedem zugänglich ist. Damit sind die Schilderungen im Lotos-Sūtra keine verklärten Bilder eines jenseitigen Paradieses, hoch geschraubter Doktrinen und einer anderen idealen, gedachten und erträumten Welt, sondern sie sind die in Worte gefassten Gleichnisse unserer Wirklichkeit, unseres Universums und unseres eigenen Lebens im Hier und Jetzt. In einer solchen Realität wird der Gegensatz von äußerer Form und innerem Sinn aufgehoben, denn dieser besteht nur im Denken, in Illusionen und theoretischen Überlegungen. Form und Sinn sind unauflösbar miteinander verbunden, ohne jedoch eine triviale totale Identität oder ein depressives Nichts damit zu verknüpfen.

Dōgen setzt wie im Lotos-Sūtra die wirkliche Form mit den Dharmas, also der Vielfalt der Welt, gleich. Er beschreibt alle Dharmas als Form, Natur, Körper, Geist, Welt, Wolken und Regen und ergänzt: „so wie sie sind“. Sie sind gleichzeitig auch Handeln: Gehen, Stehen, Sitzen und Niederlegen, so wie dieses Handeln eben ist. Auch Sorge und Freude, Bewegung und Ruhe sind die wirklichen Dharmas „wie sie sind“. Das ist eine beachtliche Übereinstimmung mit Nāgārjunas Mittlerem Weg. Weiterhin gehören dazu die Gegenstände der buddhistischen Zeremonien, nämlich der Zen-Stab und der Fliegenwedel, und zwar genau so „wie sie sind“. Dōgen zählt dazu auch die sich drehenden Blumen, das lächelnde Gesicht, die Weitergabe des Dharma sowie dessen Bestätigung „so wie sie sind“. Er erwähnt weiterhin das Lernen in der Praxis und das Streben nach der Wahrheit, genau so „wie sie sind“. Schließlich fügt er die Dauerhaftigkeit der Pinien und die Reinheit des Bambus hinzu, „so wie sie sind“. Die Formulierung „so wie es ist“ oder „so wie sie sind“ heißt frei von Doktrinen und Ideologien, also „leer“.

Dōgen beschreibt unsere Welt als die Wirklichkeit der Dharmas, sowohl Dinge und materielle Gegebenheiten als auch Handlungen, psychische Bereiche wie Sorgen und Freude, Gegenstände der buddhistischen täglichen Zeremonien, aber auch die übermittelten Wahrheiten des Buddha-Dharma wie das Drehen der Dharma-Blume und das Lächeln im Gesicht der Menschen. Das Streben und die Suche nach der Wahrheit sowie das praktische Lernen und Studieren der buddhistischen Lehre sind genauso enthalten wie die wunderbare Natur der Pinien und des Bambus. Psychische Phänomene und der Sinn des Lebens besitzen bei Dōgen wie die Form also die unbestrittene Qualität der Wirklichkeit. Und dies unterscheidet die buddhistische Sichtweise fundamental vom Lebensverständnis der Materialisten und Idealisten.

Dōgen zitiert dann Shākyamuni Buddha aus dem Lotos-Sūtra: „Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können direkt vollkommen verwirklichen, dass alle Dharmas wirkliche Formen sind. Was ‚alle Dharmas’ genannt wird, sind Formen wie sie sind, die Natur wie sie ist, der Körper wie er ist, die Energie wie sie ist, das Handeln wie es ist, die Ursachen wie sie sind, die Bedingungen wie sie sind, die Wirkungen wie sie sind, die Ergebnisse wie sie sind und der höchste Zustand des Gleichgewichts, des Wesentlichen und der Einzelheit wie sie sind.“

Die Formulierung „wie es ist“ oder „wie sie sind“ soll den direkten Bezug zur Wirklichkeit herstellen und geht über Worte, Denken und Doktrinen hinaus. Dōgen zeigt mit seinen Aussagen also direkt auf diese Wirklichkeit, gerade auch die der Formen. Er schildert, dass sich der höchste Zustand des Erwachens und des Gleichgewichts als Offenbarung und Ausdruck der wahren Natur der Dharmas äußert. Sie sind dann ohne Verzerrungen und Verkürzungen als wirkliche Form klar und intuitiv erfassbar. Dabei wird nichts weggelassen und nichts hinzugefügt. Dōgens tiefes Verständnis der Form ist genau das Gegenteil eines absoluten Nichts, sei es depressiv oder schwärmerisch.

Anschließend betont Dōgen, dass die wirkliche Form aller Dharmas auch die Bedeutung der Formulierung hat, „die Buddhas (Erwachte) allein zusammen mit den Buddhas (Erwachten)“ können dies vollständig erfahren. Das heißt, dass die Buddhas und die erwachten Vorfahren im Dharma, also die großen Meister in Indien und China, für sich und zusammen dies alles und auch die Formen tiefgründig erkennen und verwirklichen. Er hebt hervor, dass wir dies nicht nur als eine Beschreibung des Materiellen verstehen sollen, sondern als die Wirklichkeit selbst. Die Form soll dabei nicht so gesehen werden, als ob sie ohne Sinn und Bedeutung sei, aber es gehe auch nicht allein um das „Wesen und die Essenz“, die formlos und unabhängig von der Materie seien: „Wir bezeichnen den Zustand, in dem alle Dharmas wirklich alle Dharmas sind, als die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas, und nennen dies den Zustand, in dem alle Dharmas genau wirkliche Formen sind.“

Damit wird die Ganzheit der Wirklichkeit, des Universums, der Welt und des Lebens mit den Buddhas ausgedrückt. Dann sei die wirkliche Form nur die wirkliche Form selbst und fei von Doktrinen. Wenn die Buddhas in dieser Welt allein und zusammen mit Buddhas erscheinen, ereignen sich das Lehren, die Praxis und die Erfahrung, dass alle Dharmas die wirklichen Formen sind. Dōgen fügt hinzu, dass dabei der Augenblick je im Hier und Jetzt die vollkommene Wirklichkeit ist: Wahre Form gibt es nur im Erleben des Augenblicks.

Kausalität, Ursache und Wirkung

Dōgen distanziert sich von der Vorstellung, dass Ursachen, Bedingungen und Wirkungen immer nur ein gedachter philosophischer Zusammenhang seien. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass häufig gerade die wirklichen Ursachen und deren Vernetzung weitgehend unklar sind und scheinrationale Ursachen in unserem Bewusstsein vorherrschen. Hier zeigen sich wichtige Zusammenhänge mit der Lehre von Sigmund Freud, der die Heilung der Psyche dadurch in Gang bringt, dass sich der Patient der ungeschminkten Wirklichkeit stellt, seine Verdrängungen auflöst und zusammen mit dem Therapeuten eine falsche Verursachung oder Verdrängung der Realität überwindet. Dabei kommen Scheinrealitäten zur Ruhe. Die tatsächlichen Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen weichen oft grundsätzlich von den Vorstellungen und subjektiven psychischen „Wahrheiten“ der Menschen ab. Dies sichert zwar laut Freud ein kurzfristiges Überleben im Alltag, bleibt aber als psychische Krankheit schädigend erhalten und muss in einem schmerzhaften Lernprozess zusammen mit dem Therapeuten bewältigt werden.

Dōgen arbeitet den Unterschied zwischen einem vorgestellten bzw. ausgedachten Zusammenhang von Ursache und Wirkung und deren Wirklichkeit heraus. In einem anderen Kapitel[ii] erklärt er, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung mit der buddhistischen Theorie des Handelns im Augenblick keinesfalls im Widerspruch steht, was allerdings von manchen Zen-Buddhisten und sogar von Lehrern leider bisweilen behauptet wurde und wird.

Weil diese Wirkungen, Formen, die Natur, der Körper und die Energie direkt miteinander verbunden sind, ist dies die wirkliche Form. Weil diese Wirkungen die Formen, die Natur, den Körper und die Energie nicht beschränken, sind sie wirkliche Formen. Die Aussage „Formen wie sie sind“ bedeutet nicht eine einzelne Form, aber auch keine abstrakte Verallgemeinerung, sondern dass dies nicht einfach zählbar ist, ohne Grenzen ist und nicht vollständig in Worten auszudrücken. Es ist die Wirklichkeit selbst. Maßeinheiten wie 100 oder 1.000 sind ebenfalls nicht brauchbar. Dōgen sagt hierzu:

„Wir sollten als Maß (nur) das Maß aller Dharmas verwenden, und wir sollten als Maß (nur) das Maß der wirklichen Form gebrauchen. Der Grund ist, dass die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas vollständig verwirklichen können, dass alle Dharmas wirkliche Form sind.“ Und er führt weiter aus: „Weil die Existenz der Wahrheit so wie diese ist, sind die Buddha-Länder der zehn Richtungen nur allein die Buddhas zusammen mit den Buddhas.“ Und dies gelte für alle und sogar für deren Hälfte, also immer und in jedem Fall.

Die Wirklichkeit des Menschen und seiner Komponenten

In diesem Kapitel geht es Dōgen in ganz besonderer Weise darum, die Wirklichkeit des Menschen und seiner fünf Komponenten, der Skandhas, selbst anzusprechen und nicht in abstrakten Überlegungen, Theorien und Worten hängen zu bleiben. Dabei wird die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben, so als ob ein „Mensch sich selbst gespiegelt im Wasser sieht und das Spiegelbild den Menschen sieht“. Das ist die Wechselwirkung der Wirklichkeit. Dōgen bezieht dann die Dharma-Übertragung und Bestätigung mit ein und stellt fest: „Die Buddhas empfangen zusammen den Dharma zum Guten für die Buddhas, die zusammen sind.“ Dies gilt für Leben-und-Sterben sowie Kommen-und-Gehen, die damit wirklich existieren.

„Auf dieser Basis existiert das Streben des Geistes, der Übung und von Leben und Nirvāna“, betont er. Dabei erfassen wir diese Wirklichkeit und halten sie fest und lassen sie ein andermal wieder los: „Mit diesem Lebensblut öffnen sich die Blumen und reifen die Früchte. Mit diesen Knochen und diesem Mark existieren Mahākāshyapa und Ānanda. Die Formen des Windes und des Regens, des Wassers und des Feuers wie sie sind, sind die vollkommene Verwirklichung von sich selbst.“

Nach Dōgen wandeln wir das Gewöhnliche und das Heilige auf der Grundlage dieser konkreten Körper-Energie um. Dies gilt auch für die ganz realen Wirkungen-und-Ursachen, die nicht voneinander getrennt werden können. Wir überschreiten dann sogar die Buddhas und Vorfahren im Dharma. Durch diese unmittelbaren Ursachen-und-Wirkungen wird der Erdboden in Gold umgewandelt. In gleicher Weise wird der Dharma übermittelt und die Robe weitergegeben.

Dōgen zitiert dann Gautama Buddha aus dem Lotos-Sūtra, der davon spricht, dass wir „das Siegel der wirklichen Form für die anderen Menschen lehren“. Damit ist das umfassende und intuitive Lehren, Zuhören und Verstehen gemeint, wenn wir „mit den Augen hören“ und mit den „Ohren sehen“. Hiermit wird auch unterstrichen, dass es nicht um das angehäufte Wissen für sich selbst geht, sondern dass die Lehre für die anderen wesentlich ist, um sie auf den Buddha-Weg zu führen.

Den höchsten Zustand und die Verwirklichung selbst setzt Dōgen mit dem Lotos-Sūtra gleich, denn in diesem Sūtra gehe es nicht um erbauliche Geschichten und märchenhafte idealisierte Welten, sondern es ermögliche den Handelnden, dass sie die „geschickten Mittel“ eines Bodhisattva zur Verfügung haben und anderen damit helfen. Dōgen zitiert Shākyamuni Buddha: „Das höchste und vollkommene Erwachen (Anuttara samyak-sambodhi) aller Bodhisattvas ist ganz mit diesem Sūtra verbunden. Dieses Sūtra öffnet das Tor der geschickten Mittel.“

Bodhisattvas sind nach Dōgen „nicht zwei Menschen, sie sind jenseits vom Selbst und von anderen. Sie sind auch keine Persönlichkeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern Buddha zu werden ist ihr Dharma-Verhalten, indem sie den Bodhisattva-Weg praktizieren.“ Er betont, dass die Buddhas und Bodhisattvas immer weiter praktizieren und sich damit von den gewöhnlichen Menschen unterscheiden. Er bezeichnet die „geschickten Mittel“ als Tor des Lernens und der Praxis des ganzen Universums und nicht als etwas Vorübergehendes und Ausgedachtes. Schließlich hält er fest: „Obgleich dieses Tor der geschickten Mittel sich so offenbart, dass es das ganze Universum der zehn Richtungen mit dem (wirklichen) Universum der zehn Richtungen abdeckt, sind jene, die sich von allen Bodhisattvas unterscheiden, nicht in deren Weltraum.“

Dōgen bedauert, dass in den vorhergehenden 200 bis 300 Jahren viele falsche Lehrer den wahren Kern des Lotos-Sūtra weder erfasst hatten noch richtig lehren konnten. Es verflachte deshalb zu einem Buch des wundergläubigen Volksbuddhismus. Oft hätten sie die Form vom Inhalt und Sinn abgetrennt und damit die wirkliche Form vollständig missverstanden. Nāgārjuna und Dōgen betonen übereinstimmend die Ganzheit und Verbundenheit von Inhalt und Form und verwerfen eine Unterscheidung, die weder dem Inhalt noch der Form gerecht werde.

Dann zitiert und kritisiert Dōgen den Zen-Meister O-an Donge, der 1163 starb, also bereits einer späten Phase des chinesischen Buddhismus angehörte. O-an Donge lehrte einen Mönch auf falsche Weise folgendermaßen:

„Wenn du auf einfache Weise (den Buddha-Dharma) verstehen willst, beobachte 24 Stunden (des Tages) lang nur den Zustand, wie der Geist erscheint und sich die Bilder bewegen.“ Weiter sagte er: „Außerdem ist dies ohne räumliche Form und Abgrenzung. Außen und Innen sind eine Einheit (…). Diejenigen, die diesen Zustand erreicht haben, heißen Menschen, die in der Wahrheit leicht und unbeschwert sind, die aufgehört haben (Kompliziertes) zu studieren, und frei in ihrem Tun sind.“

Dōgen kritisiert Meister O-an in aller Härte. Er habe sich zwar bemüht, das Wesentliche der wirklichen Form und des Buddha-Dharma auszudrücken, sei aber dabei keineswegs zum Kern vorgestoßen. Das Beobachten der kommenden und gehenden Gedanken und der aufsteigenden und vergehenden Bilder im Geist sei nicht die volle Wirklichkeit der fünf Komponenten des Menschen. Genauso sei die Formulierung „Außen und Innen“ missverständlich, da sie die umfassende Wirklichkeit nicht beschreibe. Auch die Zeitstrecke von 24 Stunden eines Tages entspräche nicht der Wirklichkeit des Augenblicks im Hier und Jetzt, sondern sie sei an Vorstellungen von der linearen Zeit und an erlernte Denkgewohnheiten gebunden. Trotzdem lobt er schließlich doch Meister O-an, da dieser im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern seines Zeitalters wenigstens einen Teil der Wirklichkeit von der wahren Form gelehrt habe.

Am Ende des Kapitels zitiert Dōgen noch ein Gedicht seines eigenen Meisters Tendō Nyojō, des „ewigen Buddha“:

„Es gibt (sanfte) Kälber heute Nacht auf dem Berg Tendō.
Gautamas goldenes Antlitz offenbart wirkliche Form.
Wie könnten wir dessen unermesslichen Wert begleichen, wenn wir es erwerben wollten?
Der Ruf des Kuckucks, darüber eine einzelne Wolke.“

 

Der Ausdruck „sanfte Kälber“ wurde für die friedlichen Mönche verwendet, die sich im Kloster von Tendō Nyojō in der wunderbaren Sommernacht versammelt hatten. Der Kuckuck ruft unmittelbar und wird von allen direkt als Wirklichkeit wahrgenommen. Er ist Teil der wirklichen Form, die beim Hören nicht auf die sinnliche Wahrnehmung der Ohren beschränkt ist.

Es folgt eine Kōan-Geschichte von Meister Gensa. Als dieser die jungen Schwalben des Klosters zwitschern hörte, sagte er: „(Dies ist) die tiefgründige Lehre und Sprache der wirklichen Form, und sie lehrt hervorragend den wahren Kern des Dharma.“ Danach stieg er von seinem Meister-Sitz herab. Aber ein Mönch erwartete noch weitere bedeutungsvolle Erklärungen von ihm und sagte: „Ich verstehe nicht.“ Der Meister antwortete: „Geh fort! Niemand glaubt dir.“

Was soll damit ausgedrückt werden? Die Aussage des Mönchs, dass er nicht verstehe, was der Meister gesagt hat, kann bedeuten, dass er im Buddha-Dharma noch nicht kundig ist, weil er die unmittelbare Schönheit und Wahrheit der Schwalben nicht „verstanden“ hat. Es könnte aber auch umgekehrt bedeuten, dass er die Grenzen des intellektuellen Verstehens und unterscheidenden Denkens bereits erfahren hat und damit einen wesentlichen Bereich des Buddha-Dharma erfasst hat. Die Reaktion des Meisters, „Geh fort!“, erscheint zunächst etwas barsch, soll aber sicher heißen, dass es keinen Sinn macht, lange darüber zu sprechen, wie die Schwalben zwitschern, sondern dass man dies am besten direkt hört, erlebt und erfährt. Es sei nicht sinnvoll, sich in dieser Situation komplizierte Gedanken zu machen und sich feinsinnig und vielleicht sogar spitzfindig darüber zu unterhalten, wenn die Wirklichkeit der zwitschernden Schwalben unmittelbar erfahren wird. Man sollte also den Schwalben genau zuhören, sich öffnen und mit ihrer Wirklichkeit verschmelzen und keine ablenkenden und störenden Unterhaltungen pflegen. Die Aufforderung „Geh fort!“ kann also auch bedeuten: „Komme zur Wirklichkeit im Hier und Jetzt der jungen zwitschernden Schwalben und dieses wunderbaren Sommertages!“

Am Ende des Kapitels fasst Dōgen die Kernpunkte zusammen: „Denkt daran, die wirkliche Form ist das wahre Lebensblut, das vom rechtmäßigen Nachfolger empfangen und an den authentischen Nachfolger weitergegeben wurde. Alle Dharmas sind der vollständig verwirklichte Zustand der Buddhas allein, zusammen mit den Buddhas. Und der Zustand der Buddhas allein, zusammen mit den Buddhas, ist die Schönheit der Form wie sie ist.“

Auch wenn Buddha die fünf Komponenten in seiner Lehre dargestellt hat, kann eine nur theoretische Unterteilung des Menschen in fünf gesonderte Komponenten die wunderbare Welt nicht annähernd beschreiben. Buddhas Lehre würde sonst zu der hohlen Hülle einer Doktrin reduziert und hätte keine verändernde und verwandelnde Kraft.



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 3, S. 116ff.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 89ff.

Donnerstag, 27. Oktober 2022

Der Dichter Toba erwacht mit der Natur

Dôgen erzählt die Geschichte eines buddhistischen Laien namens Toba, der im alten China lebte und als großer Dichter gefeiert wurde. Auch Dôgen schätzte Tobas Fähigkeiten außerordentlich und bezeichnete ihn sogar als „wahren Drachen in der Literaturwelt“. Toba war nicht nur Dichter, sondern hatte die umfangreiche Literatur des Buddhismus intensiv studiert und sich dabei vor allem auf die wirklich großen Meister konzentriert, die in China bisweilen als „Drachen und Elefanten“ bezeichnet werden. Die Geschichte berichtet, dass Toba die wegen ihrer Schönheit berühmte Landschaft von Lushan besuchte und von der großartigen Natur tief berührt war. Mit offenem Herzen hörte er den Bergstrom, der durch die Nacht floss, und verwirklichte dabei die Wahrheit. Daraufhin verfasste er die folgenden Verse:

„Die Stimmen des Flusstales sind (Buddhas) weite und lange Zunge.

Die Form des Berges nichts anderes als sein reiner Leib.

Durch die Nacht, vierundachtzigtausend Verse,

Wie kann ich sie an einem anderen Tag anderen Menschen sagen?“

Der Dichter besingt die Stimmen des Tales und das Rauschen des Flusses, indem er sie mit der Zunge Gautama Buddhas vergleicht. Dessen lange Zunge war nach der Überlieferung eines seiner 32 legendären Merkmale. Damit ist gemeint, dass Buddha den Dharma ununterbrochen lehrt, so wie in der Natur der Fluss nicht stillsteht, immer weiterfließt und das Tal mit seinem Rauschen und seinen Klängen ohne Unterbrechung erfüllt. Die Berge werden mit dem Körper Buddhas verglichen, und ihre Form zeigt sich dem Dichter in großer Klarheit und Schönheit. Der Buddha-Dharma ist die Wirklichkeit und Wahrheit selbst, und auch dies ist das Gesicht der Natur. Es heißt weiter, dass die Form der Berge und die Melodie des fließenden Baches 84.000 Versen des großen Gedichts der Natur entsprechen. Dieser Vergleich symbolisiert auch die einzigartige Vielfalt der Natur.

Am Ende des Gedichts fragt Toba, wie er seine tiefen Erlebnisse in Worte fassen kann, um andere Menschen daran teilhaben zu lassen und sie ihnen nahezubringen. Gerade weil er ein berühmter, genialer Dichter war, der hervorragend mit der Sprache umgehen konnte und über ungewöhnliche poetische Fähigkeiten verfügte, wird dadurch besonders klar, dass das tiefe Erleben bei seinem Erwachen niemals und von niemandem vollständig in Worte gefasst werden kann. Die „Verse der Natur“ sind unvergleichlich, und sie verkünden die große Wahrheit des Buddha-Dharma.

Toba legte seine Verse dem Zen-Meister Joso (1025 bis 1091) vor, der sein Erwachen bestätigte. Vor diesem Erlebnis hatte Toba bereits unter einem anderen Zen-Meister praktiziert, hatte von ihm das Dharma-Gewand erhalten und die buddhistischen Gelübde empfangen. Er war ein Laienschüler, der das Gewand immer trug, wenn er praktizierte. Dôgen vermutet, dass auch dieser enge Kontakt zu seinem vorherigen Zen-Meister dazu beigetragen hat, dass er sich plötzlich in der Nacht der tiefen Wirklichkeit der Natur öffnete. Durch dieses tief greifende Naturerlebnis verschmolz er mit der Wirklichkeit selbst.

Dôgen geht der Frage nach, was diese plötzliche Öffnung und Umwandlung Tobas bewirkt haben mag. Was war mit ihm passiert? Warum konnte er die Form der Berge davor nicht wirklich erleben und erfahren? Und warum erfasste ihn die Schönheit der Berge und Flüsse in dieser Nacht mit ganz neuer Frische, warum hörte er mit einem Male die Stimmen des Flusstales in neuer Klarheit?

„Es ist sehr bedauerlich, dass die Töne und Formen in den Bergen und Wassern (dem Laien Toba bis dahin) verborgen waren. Wir können uns aber freuen, dass es Augenblicke sowie Ursachen und Umstände gibt, in denen sich die (wirklichen) Töne und Formen in den Bergen und Wassern offenbaren. Diese Manifestation der Zunge (Buddhas) erlahmt niemals. Wie könnte die Form von (Buddhas) Körper existieren und (dann wieder) verschwinden?“

Dôgen unterstreicht die große Freude, an der wir Menschen ohne Ausnahme teilhaben können, wenn sich für uns eine solche Erleuchtung zur Wirklichkeit ereignet. Tobas Erlebnis öffnete diesem eine völlig neue Dimension des Lebens, die er vorher nicht kannte und nicht erreichen konnte, obgleich er ein begabter Dichter gewesen war. Das Erwachen zur Wirklichkeit ist also kein Märchen und keine schöne ausgedachte Geschichte, sondern eine Tatsache in dieser Welt, in diesem Universum und in unserem Leben. Der Tiefenpsychologe Erich Fromm[i] bezeichnet einen solchen Vorgang als die Umwandlung des Unbewussten in das Bewusste und damit als Befreiung von erlernten Zwängen und Begrenzungen. Dies ermöglicht ein neues Fließen der Energie und eine neue Kreativität, die selbst dem großen Dichter Toba vorher unbekannt gewesen waren.

Dôgen betont auch die physische und formgebundene Seite der Flüsse und Berge, die niemals aufhören zu bestehen und niemals träge und faul sind. Im Augenblick dieses großen Erlebnisses gibt es kein Entstehen der Existenz und kein Verschwinden der physikalischen Form und Materie. Einfach ausgedrückt berühren uns die Schönheit und Reinheit der Natur in ganz erstaunlicher Weise, obgleich wir ja eigentlich nur äußere Formen, Farben und Töne sehen und hören. So kann gerade die Natur das tiefe Erleben bewirken, das wir Erwachen oder Erleuchtung nennen. An anderer Stelle erklärt Dôgen, dass ein Erwachen durch und in der Natur niemals zurückfällt, sondern eine hohe Stabilität und Kraft besitzt.[ii] In der Natur und im wahren Erleben der Berge und Flüsse gibt es keine Illusionen, denen wir – zum Beispiel mithilfe schöner Wörter – erliegen könnten.

Nishijima Roshi fügt hinzu: Es ist sehr traurig, dass die Berge und Flüsse ihre wirkliche Form und Stimme nicht offenbaren können, weil unser eigenes vegetatives Nervensystem (und damit wir selbst) nicht im Gleichgewicht ist. Aber in der Wirklichkeit eines solchen Gleichgewichts offenbaren die Berge und Flüsse ihre (wahre) Form und ihre Stimme, sie sind überaus reich und befriedigend. Es erfüllt uns gleichzeitig mit tiefer Freude, dass es eine Zeit sowie Ursachen und Bedingungen gibt, in denen die Berge und Flüsse ihre Stimme und Form manifestieren.“

Schließlich stellt Dôgen uns einige Fragen, um das bisher Gesagte zu vertiefen und klarer werden zu lassen: Sollten wir lernen, dass wir der Zunge und dem Körper Buddhas nahe sind, wenn sie offen sichtbar sind? Dies ist die Erfahrung nach dem Erwachen Tobas zur Wirklichkeit. Oder sollten wir im Gegenteil lernen, dass wir ihnen nahe sind, wenn sie verborgen sind, wie vor dem Erwachen des Dichters Toba? Sicher nicht. Sollten wir sie als eine umfassende Einheit sehen, also idealistisch, oder sollten wir sie materiell und als Form betrachten? Diese beiden Sichtweisen wären zu eng und können jeweils nur einen Teil der Wirklichkeit und Wahrheit erkennen. Dôgen fasst zusammen:

„In den früheren (Jahreszeiten) des Frühlings und Herbstes hat (der Laie Toba) die Berge und Wasser nicht (wirklich) gesehen oder gehört, aber in (jenen) Augenblicken ist er durch die Nacht gerade in der Lage, die Berge und Wasser unverstellt zu sehen und zu hören.“

Menschen auf dem Buddha-Weg und Bodhisattvas sollten die Begebenheit von Tobas Erwachen zum Anlass nehmen, selbst zu lernen, die Berge und Flüsse wahrhaft zu sehen und zu hören.

Dôgen beschreibt das wahre Sehen und Hören zunächst mit der eigenartigen Formulierung, dass wir lernen sollen, dass die Berge fließen und das Wasser nicht fließt. Was meint er damit? Eine ähnliche Aussage findet sich im Kapitel über das Sûtra der Berge und Wasser[iii], das am Ende dieses Buches behandelt wird. Damit will Dôgen uns sagen, dass wir nicht an gewohnten, scheinbar selbstverständlichen Vorstellungen haften sollten und dass die Natur ein „Tor zum Eintritt in den Buddhismus“[iv] ist. Unsere subjektiven Wahrnehmungen sind immer relativ: Wenn wir das fließende Wasser als Basis nehmen, würden sich die Berge im Verhältnis dazu bewegen.

In der Geschichte schildert Dôgen zunächst, wie Toba am Tag vor der besagten Nacht den Zen-Meister Joso aufsuchte und ihn fragte, was die buddhistische Aussage bedeute, dass die Natur und die nicht-empfindenden Wesen den Dharma lehren. (Zu diesem Thema gibt es im Shôbôgenzô ein eigenes Kapitel[v], in dem erläutert wird, dass das Nicht-Emotionale oder Nicht-Empfindende der Natur die große Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Zum Nicht-Empfindenden gehören Bäume, Blumen und andere Pflanzen, aber auch Berge und Wasser.) Als Toba die Erklärung des Meisters hörte, war er noch nicht reif für das Erwachen und hörte sie gewissermaßen losgelöst und unabhängig von sich selbst. Als er dann aber in der Nacht die Laute des Tales vernahm, kam es zum Erlebnis der Wirklichkeit und Identität mit der Natur, also mit dem Dharma. Dôgen beschreibt dies so: „Die Wellen überschlagen sich, und die Brandung schießt hoch in den Himmel.“

Sollten wir nun den Einfluss der Worte des Meisters vom Vortag als wesentlich ansehen oder das Erlebnis im Flusstal selbst? Dôgen vermutet, dass die Äußerungen des Meisters über die Natur, die den Dharma lehrt, bei Toba nachwirkten und wie in einem Echo in ihm nachklangen. Sie vermischten sich mit dem unmittelbaren Erlebnis in der Natur und ließen die Wirklichkeit im Einklang mit ihm selbst zu einer Einheit verschmelzen.

Diese Antwort lässt sich natürlich wissenschaftlich nicht belegen, denn sie entzieht sich der Messbarkeit nach „Länge oder Volumen“. Es dürfte ebenfalls unzureichend sein, Tobas Erlebnis als überwältigende Idee zu beschreiben, die dem unendlichen Ozean gleicht. Nishijima und Cross erläutern an dieser Stelle[vi], dass weder die materialistische noch die idealistische Sichtweise ausreichend sind, um das umfassende Erlebnis des Erwachens zu beschreiben.

„Verwirklicht der Laie die Wahrheit, oder verwirklichen die Berge und Wasser die Wahrheit?“ Mit dieser abschließenden Frage Dôgens werden der Mensch, die Natur in Form der Berge und Wasser und die Wahrheit als Einssein beschrieben, ohne dass es sich um eine idealistische, gedachte Geschichte handelt. Wer die klaren Augen des Erwachens hat, sieht laut Dôgen ohne Zweifel in den Flüssen und Bergen die Offenbarung und Manifestation der langen Zunge und des reinen Körpers Gautama Buddhas.

 



[i]          Fromm, Erich; Suzuki, Daisetz Teitaro; Martino, Richard de: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Suhrkamp Verlag 1972

[ii]         Kap. 9, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 90 ff.: „Die Stimmen des Tales und die Form der Berge (Keisei sanshiki)“

[iii]         Kap. 14, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 129 ff.: „Das Sûtra der wirklichen Berge und Wasser (Sansui gyô)

[iv]         Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 16, S. 87

[v]         Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujô seppô)

[vi]         Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 20, S. 87

Dienstag, 18. Oktober 2022

Shikan erfährt jäh die Wirklichkeit des wahren Tons: BONG!


Eine im Zen-Buddhismus bekannte Geschichte handelt von dem späteren Meister Shikan, der in der goldenen Zeit des Zen-Buddhismus die Wahrheit des Buddhismus unter Zen-Meister Dai-i [i] durch einen klingenden Ton erlernte. Dai-i sagte vorher zu seinem Schüler:

„Du bist von scharfem und brillantem (Verstand) und hast ein umfassendes Verständnis (der buddhistischen Lehre). Sag mir einen Satz über den Zustand, den du hattest, bevor deine Eltern geboren waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder Kommentar zitierst.“[ii]

Es handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern um die direkte Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick. Ein solcher Augenblick ist etwas grundlegend anderes als der nicht erwachte Augenblick vorher. Insofern ist der Verweis auf die Eltern und besonders auf die Zeit vor deren Geburt fast als Falle für den Verstand anzusehen. Wenn man darauf eingeht, gerät man in intellektuell nicht aufzulösende Widersprüche, Fragen und Spekulationen, aus denen es kein Entkommen gibt. Bei der Wirklichkeit ist es nämlich unwesentlich, ob es sich um die Vergangenheit oder irgendeinen anderen Abschnitt der linearen Zeit handelt, sondern es geht allein um die unverstellte, direkte Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick, und das ist eine völlig neue tiefe Erfahrung.

Ganz falsch wäre es also bei obiger Frage zum Beispiel, sich bestimmte Gesichtszüge der Eltern vorzustellen, Bilder etwa durch archaisches, mythisches Versenken aus einer Art „Ursumpf“ oder vorgestellten „Ur-Wahrheit“ hervorzuholen und dies vielleicht mit der Lehre der Wiedergeburt zu verbinden.

Der Schüler Shikan suchte in mehreren Anläufen nach einer passenden Antwort, die seinen Meister zufriedenstellen könnte, aber es gelang ihm nicht. Er strengte seinen Körper und Geist an, so sehr es ihm überhaupt möglich war, und er versuchte, sein umfangreiches Wissen aus den Schriften und buddhistischen Sūtras auszublenden, aber ohne jeden Erfolg. Er legte den Schwur ab, dass er jeden Versuch, den Buddha-Dharma durch Theoretisieren und Denken zu ergründen, sofort und dauerhaft abbrechen würde. Mehrere Jahre lang diente er gewissenhaft als einfacher Mönch im Kloster vor allem den anderen Mönchen, indem er niedere Arbeiten ausführte. Gegenüber seinem Meister bezeichnete er sich als „töricht und dumpf im Körper und Geist und als unfähig, die Wahrheit zu sagen“. Schließlich bat er seinen Meister inständig darum, ihm dabei zu helfen, aus dieser für ihn aussichtslosen Situation herauszufinden.

Aber Meister Dai-i lehnte eine solche Hilfe entschieden ab: „Ich hätte nichts dagegen, dir etwas (Hilfreiches) zu sagen, (aber wenn ich dies täte,) würdest du vielleicht später Groll gegen mich hegen.“ Offensichtlich war er sich sicher, dass sein Schüler den notwendigen Schritt zur Wahrheit irgendwann allein bewältigen würde und dass theoretische Erklärungen dies eher verhindern statt fördern würden. Die buddhistische Wahrheit müssen wir letztlich immer selbst finden, ein Lehrer kann uns das nicht abnehmen.

Shikan verließ schließlich das Kloster und folgte den Spuren des großen Landesmeisters Daisho[iii]. Er zog sich auf einen Berg zurück und lebte dort allein und so weit wie möglich im Einklang mit der Natur und der buddhistischen Wahrheit. An dem Ort, an dem auch der legendäre Meister gelebt hatte, baute sich Shikan eine einfache Hütte mit einem Strohdach. Er pflanzte Bambus und – wie Dōgen es ausdrückt – „machte ihn zu seinem Freund“. Eines Tages geschah etwas für ihn völlig Unerwartetes: Als er seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein kleiner Kieselstein vom Boden, traf auf das Rohr des Bambus und erzeugte dabei einen Ton wie ein „Bong“. Indem Shikan jäh und unmittelbar den Ton wirklich und ohne jeden intellektuellen und doktrinären Anspruch hörte, war er direkt in der Wirklichkeit angekommen. „Bong“ – das ist die Wahrheit zu hören, das ist die Natur: einfach, direkt und unkompliziert! Und die Wahrheit der Natur ist auch im Universum und in uns selbst. So einfach und wunderbar sind das Leben und das Universum.

Shikan nahm ein erfrischendes Bad, reinigte sich gründlich, entzündete ein Räucherstäbchen und machte in tiefer Dankbarkeit Niederwerfungen in die Richtung des Berges und Klosters seines Meisters Dai-i. Schlagartig war ihm klar geworden, dass sein Meister ihm wie kein anderer geholfen hatte, nur durch die eigene Erfahrung wirklich zu hören und zur Wirklichkeit zu gelangen, die sich ihm jetzt und völlig unerwartet eröffnet hatte. Der Klang des Kieselsteins, der das Bambusrohr traf, vertrieb alle Vorstellungen und angestrebten Ziele. Weil er wirklich hörte, waren die Wirklichkeit und Shikan selbst plötzlich eine umfassende Einheit.

Gerade die enge Beziehung zur Natur und die Offenheit dafür sind eine große Chance, zur Wirklichkeit und Wahrheit zu finden. Dann wird die ichzentrierte Selbstinszenierung[iv] oder eigene narzisstische Überhöhung[v] völlig ausgeschaltet. Gerade intellektuell hochbegabte Menschen mit einem scharfen Verstand und einem hervorragenden Gedächtnis für die Lehren und Kommentare geraten besonders in Gefahr, einer Selbstüberschätzung zu erliegen. Dadurch wird jedoch der direkte Zugang zum Sehen, Hören und zur Wirklichkeit versperrt, denn diese verwirklichen sich jenseits von analytisch geprägter Kompetenz und ausgefeiltem, aber festgelegtem Reflexionsvermögen. Dōgen zitiert dazu Shikan:

„Der große Meister Shikan verfasste schließlich die folgenden Verse:

‚Bei einem einzigen Aufprall (des Kiesels) verlor ich das (alte) Erinnern,

nicht länger muss ich (starre) Selbstdisziplin üben.

Es gibt keine (negativen) Spuren (von mir) irgendwo:

(Der Zustand) ist (wahres) edles Verhalten und geht über Ton und Form hinaus.‘“

 Die verhärteten Spuren des angelernten Wissens, der passiv aufgenommenen Doktrinen und verfestigten substanzhaften Bewertungen verschwanden während der andauernden Praxis in der Natur. Die physikalischen, materiellen und idealistischen Dimensionen von Tönen und Formen wurden überschritten, und damit wurde die oft schmerzhafte dualistische und fundamentalistische Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben. Schließlich schildert Shikan in seinen Versen, dass dieser Zustand des Erwachens von allen Menschen, die ihn selbst erfahren und erlebt haben, überall in der Welt und in allen Ländern gepriesen wird.

Wenn C. G. Jung meint, dass das Erwachen für westliche Menschen praktisch nicht erreichbar ist, so irrt er nach meinem Verständnis, denn dieses Gedicht sagt etwas anderes. Gautama Buddha war ein Nachkomme der indo-europäischen Einwanderer und damit uns westlichen Menschen verwandter, als Jung meinte. Auch die von Buddha gesprochene altindische Sprache besitzt eine ähnliche grammatikalische Struktur wie unsere westlichen Sprachen. Es ist ein Kernpunkt der buddhistischen Lehre, dass jedem Menschen das Erwachen zugänglich ist und nicht auf Gautama Buddha oder bestimmte Meister im späteren China begrenzt ist. Vielleicht dachte Jung trotz allem psychologischen Verständnis zu intellektuell?


[i] Zen-Meister Dai-i lebte von 771 bis 835.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 109

[iii] Meister Daisho war Nachfolger des großen Meisters Daikan Enō, er starb 775.

[iv] Mentzos, Stavros: Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen

[v] Fromm, Erich; Suzuki, Daisetz Teitaro; Martino, Richard de: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse
Kernberg, Otto: Narzißtische Persönlichke
itsstörungen