Dienstag, 18. August 2020

Die fünf Komponenten des Menschen, Skandhas, deren Wechselwirkung und die Leerheit (Nagarjuna)



Meister Nāgārjuna betont in seinem berühmten Werk die wechselseitige Vernetzung der fünf Komponenten des Menschen, der Skandhas, Kapitel 4. Er betont gleichzeitig die unauflösbare Verbindung mit den jeweiligen Grundlagen, zum Beispiel den Elementen. Bei der Form sind dies die entsprechenden physikalischen, materiellen Elemente des Körpers:

Vers 4.4 des MMK
Wenn die Form isoliert existieren würde, ist die Grundlage der Form nicht möglich.
Wenn die Form überhaupt nicht existieren würde, wäre die Grundlage der Form nicht möglich.“

Es ist sinnlos zu sagen, dass es eine Form gibt, wenn keine Grundlage, beispielsweise die physikalischen Elemente, vorhanden ist. Dasselbe gilt umgekehrt: Es kann keine Grundlage geben, wenn die Form nicht existiert, da beide zusammenhängen und in Wechselwirkung sind. Beide bedingen sich gegenseitig: Keine Form ohne Grundlage und keine Grundlage ohne Form.

Gleichzeitig gibt es die Verbindungen und Wechselwirkungen mit den anderen Komponenten, wie den Gefühlen, dem Denken, dem Bewusstsein und den formenden Kräften. ER beweist, das man zu unsinnigen Schlussfolgerungen kommt, wenn die Skandhas als metaphysische also unveränderliche Dharmas versteht. Dann wären vor allem die Lehren Buddhas zur Befreiung nicht mehr gültig.

Nach der heutigen Gehirnforschung ist unbestritten, dass Denken und Gefühle wechselwirkend und neuronal gekoppelt sind. Dies gilt besonders für die Strukturen, Prozesse und Informationen des Gehirns, also die Nervenzellen, Nervenfasern und synaptischen Verbindungen. Diese sind wiederum mit dem Sehsystem, der Motorik und vielen anderen Teilsystemen vernetzt. Dadurch sind sie ausgesprochen leistungsfähig und von größter Bedeutung für den Weg der Befreiung und Emanzipation. Denn je leistungsfähiger diese Interaktionen sind, desto intensiver sind die vernetzten Wechselwirkungen und desto besser verlaufen die Lernprozesse. Zwischen diesen modernen Erkenntnissen sowie der Praxis und Philosophie Buddhas und Nāgārjunas besteht eine erstaunliche Übereinstimmung. Denn weder das Selbst noch die Skandhas der Dharmas können als isolierte Entitäten oder Substanzen verstanden werden sondern als wechselwirkende sich dauernd verändernden Module.

Es ist denkbar, dass Nāgārjuna mit diesem Kapitel auch den allzu naiven volksbuddhistischen Vorstellungen von der Wiedergeburt von Entitäten einen Riegel vorschieben wollte. Denn es ist eindeutig, dass weder eines der fünf Skandhas noch deren Kombination unverändert wiedergeboren werden kann, da die entsprechenden materiellen Grundlagen unlösbar mit ihnen verbunden sind. Manchmal wird auch das besondere Skandha der formenden Kräfte (samskâra) mit den Tatabsichten am Ende gleichgesetzt, die dann die Wiedergeburt und die neue Persönlichkeit bestimmen sollen. Eine solche Argumentation wird von Nāgārjuna nicht bestätigt und auch nicht erwähnt. Auch das Bewusstsein als isoliertes Skandha könne nicht einfach wiedergeboren werden. Nagarjuna sagt beispielhaft für die Form als Skandha:

Vers 4.5
Auch die Form ist ohne eine Grundlage (also isoliert) nicht möglich.
Deswegen möge man nicht willkürlich irgendwelche Gedankenkonstrukte doktrinär erzeugen, die angeblich in die Form gegangen sind.
Durch die Wechselwirkung von Form und Grundlage ergibt sich eine unauflösbare Beziehung zwischen beiden. Es lassen sich daher nicht willkürlich künstliche Unterscheidungen bei der Form finden, zum Beispiel durch Ideologien und Doktrinen, die keinen direkten Bezug zur den Grundlage haben, etwa die materiellen Elementen der Welt.. Solche Unterscheidungen wären demnach metaphysische Spekulationen des Geistes und sind in der Wirklichkeit der Form nicht zu beobachten.

Die beiden letzten Verse 4.8 und 4.9 beziehen sich meines Erachtens auf die Destruktion des Arguments eines Kontrahenten, der die von Nāgārjuna eingebrachte Leerheit nicht richtig versteht und mit dem Nichts, dem Nihilismus und der Nicht-Existenz verwechselt. Das ergäbe ohne Zweifel eine Blockade auf dem buddhistischen Weg.:

Nishijima Roshi sagt zu diesem Kapitel des MMK, dass nach buddhistischer Lehre „das Handeln im Augenblick von zentraler Bedeutung (ist), denn es ist die Grundlage unseres Lebens und Überlebens. Denken und Erinnern können wir daher eher als Hilfsfunktionen des Lebens bezeichnen. Das Bewusstsein ergibt sich vor allem aus der Kombination von Denken und Wahrnehmung.“

Man dürfe die Skandhas allerdings nicht als getrennte und isolierte Bereiche des Lebens verstehen, sondern sie bilden nach der buddhistischen Lehre und Praxis ein umfassendes zusammenwirkendes Ganzes. Auf der Ebene der buddhistischen Wirklichkeit könne es daher keine Trennung zwischen Körper, Gefühlen, Geist usw. geben. Das sei genau die Lehre des Mittleren Weges. „Wenn Form und Inhalt (fälschlich) getrennt sind, verengt sich die Sichtweise des Menschen auf die Form. Dadurch entsteht das materialistische Weltbild, das immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbildet und meist zur Verödung des spirituellen und psychischen Lebens führt“, erläutert Nishijima Roshi. Außerdem betont er: „Fehlerhafte Ideen und Doktrinen führen zu falschem und oft unmoralischem Handeln. Insofern haben derartige Ideen eine sehr begrenzte Realität, die von der wahren Wirklichkeit stark abweicht, und sie sind eine große Gefahr für die Menschen. Dann kann man nicht mehr klar die Zusammenhänge und Folgen erkennen und sogar materielle Fakten werden ideologisch verzerrt wahrgenommen“.

Vers 4.9
Wer bei einer Auseinandersetzung mit der Leerheit argumentiert und selbst die Doktrin der isolierten Substanz der skāndhas vertritt, hat die obige Wechselwirkung in Wahrheit gar nicht behandelt und daher auch nicht abgewiesen. Er muss seine eigene Doktrin beweisen und stützt in Wirklichkeit die obige überzeugende Argumentation.

Nāgārjuna kritisiert hier den Kontrahenten, der das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung ablehnt und dabei das Argument der Leerheit verwendet. Die wahre Leerheit weist der Kontrahent dabei aber in Wirklichkeit nicht ab. Diese ist nämlich das Gleiche wie das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Daher muss der Kontrahent Nāgārjunas Belehrung voll akzeptieren.

In diesem Vers geht es darum, dass der Kontrahent durch den falsch verstandenen Begriff der Leerheit etwas als richtig beweisen will, während Nāgārjuna seinerseits positiv seine wahre Argumentation erklärt und das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung und damit die Leerheit als richtig beweist. Auf diese Weise behauptet er eine metaphysische Scheinwahrheit von Ideologien und Extremen, vor allem des Substantialismus. Das ist nach Buddha und Nāgārjuna ein fundamentaler Irrtum.

Die Leerheit wäre auch für den Kontrahenten ein Weg zur Klarheit und Befreiung. Allerdings müsste er dann der vorausgegangenen Beweisführung Nāgārjunas folgen. Nur mit dessen Verständnis der Skandhas und deren Wechselwirkung ist es möglich, die metaphysische Unwissenheit zu überwinden. Wer davon abweicht oder zum Beispiel behauptet, die Leerheit sei das Nichts geht in die Irre, Er löst grundsätzlich alles Reale, alle Differenzierung und die Wirklichkeit der Form dieser Welt auf.

Nishijima Roshi versteht die Leerheit als Gleichgewicht. Ich erinnere mich, dass er selten den Begriff Leerheit verwendete, denn „Gleichgewicht“ lässt die Doktrinen verschwinden, im Sinne von „Körper und Geist fallen lassen“ bei der Zazen-Praxis. Und in aller Klarheit stellt er fest: „Wer im Gleichgewicht ist, kann seine Aufmerksamkeit aufrechterhalten und gefestigt über alles reden, ohne in Extreme zu verfallen.“ Das ist nicht anderes als die Bedeutung der Leerheit. Dann könne man mit größter Klarheit wahrnehmen, wirklich sehen und die vernetzten Prozesse, die man nicht ändern oder beeinflussen kann, in ruhiger, unaufgeregter Haltung akzeptieren. Dann lasse man sich nicht aus der Ruhe bringen und sei ohne Panik oder Euphorie auf dem Mittleren Weg. Wer selbst im Gleichgewicht sei, begehe keine gravierenden Fehler, so Nishijima. Wenn man anderen einen Rat erteile und auf wahrgenommene Fehler hinweise, müsse das frei von Egoismus, unkontrolliertem Narzissmus und grandioser Selbstdarstellung geschehen. Diesen Zustand bezeichnet Nāgārjuna als Leerheit (shūnyatā). "

Indem Nāgārjuna in diesem vierten Kapitel die Bedeutung der fünf Komponenten des Menschen (Skandhas) herausarbeitet, hat er gleichzeitig die Grundlage für die weitere Analyse der Dinge und Phänomene (Dharmas) sowie des ganzen Menschen geschaffen.


Dienstag, 11. August 2020

Leerheit bei Meister Nagarjuna, neue Übersetzung aus dem Urtext

(Aus meinem Buch: Sternstunden des Buddhismus  Band 3)

Die Leerheit ist eines der zentralen Begriffe des Buddhismus und von tiefer Weisheit. Es gibt aber kaum eine andere buddhistische Formulierung, die so häufig und fundamental missverstanden wurde, wie die Leerheit. Sie wurde vor allem von dem genialen indischen Meister Nagarjuna formuliert und mit großen Präzision analysiert. Aber seine Texte sind nicht einfach zu verstehen und wurden leider häufig falsch oder ungenau übersetzt. Damit wurden sie unpräzise in den Westen transportiert. Die Indologin Elisabeth Steinbrückner und ich haben daher eine ganz neue Übersetzung aus dem indischen Urtext erarbeitet und zur Grundlage unserer Interpretation gemacht. Dabei sind wir auf fast sensationelle Ähnlichkeiten zur aktuellen Forschung lebender Systeme und der Gehirnforschung gestoßen, die bisher nicht entdeckt wurden. So klug waren also die alten großen Meister. Denn sie haben die Menschen und ihre Lebenswege sehr genau beobachtet und ihre Weisheiten an uns weiter gegeben.

Der folgende Vers des Mittleren Weges, MMK, ist zweifellos von fundamentaler Bedeutung. Meines Erachtens ist er das Herzstück des MMK und beschreibt in großer Klarheit den Sinn, also die Bedeutung und Funktion, Sichtweise und Bezeichnung der Leerheit (shūnyatā). Leerheit ist danach der Begriff für die unverzerrte Realität der Wechselwirkung des gemeinsamen Entstehens.

MMK, Vers 24.18
Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlere Zugang (zum Buddha-Weg von Frieden und Freude).

Nāgārjunas Aussage gliedert sich zunächst in zwei Schritte und eröffnet dann den Weg zum Ziel des Buddhismus, also dem Zugang zum Mittleren Weg. Dieser Weg der Mitte führt zur Buddha-Wahrheit und zum Erwachen. Er vermeidet die Extreme von ideologischen Übertreibungen, die die Wirklichkeit nicht sachgerecht beschreiben können und damit auch keinen Ausweg aus dem Leiden eröffnen. Solche Extreme führen nicht zum Erwachen und nicht zur Erleuchtung. Ein Extrem ist zum Beispiel die Doktrin der absoluten Substanz oder Essenz.

Ausgangspunkt der Argumentation sind das gemeinsame Entstehen und die Wechselwirkung, wie es im Vers heißt: „Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat (pratitya samutpada), dieses sehen wir als Leerheit an. Das ist eine bemerkenswerte Formulierung, denn Nāgārjuna sagt hier, dass wir das Betreffende so ansehen. Es wird also eine phänomenologische Sichtweise der Wirklichkeit und nicht eine absolute Wahrheit beschrieben. Denn die Wirklichkeit kann mit dem Denken nicht vollständig erfasst werden. Nāgārjuna behauptet aber nicht, dass es überhaupt keine Wirklichkeit gäbe, denn das wäre unsinniger Nihilismus. Durch duales Denken im Sinne des absouten „Entweder-Oder“ ist überhaupt kein Zugang zur Wirklichkeit möglich, und duales Denken widerspricht grundsätzlich dem Buddha-Weg. Das heißt, dass die Wirklichkeit ohne Extreme ist. Sie ist, wie sie ist. Die Wirklichkeit ist auch von Natur aus frei und leer von einer falschen Doktrin, die Buddha nur angeblich gelehrt hat. Leerheit bedeutet die Leerheit von Unwahrheiten, Illusionen, Täuschungen und unsinnigen Doktrinen, die das Leiden gerade nicht überwinden können.

Im nächsten Schritt geht es um die Aneignung der Bezeichnung und des Begriffs der Leerheit: „Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlere Zugang (zum Buddha-Weg der Wahrheit).“ Mit dieser Bezeichnung können wir gut und wirkungsvoll kommunizieren und tiefgründiger denken, und wir überwinden damit auch den Dualismus. Aber die Leerheit ist kein Selbstzweck und nicht das Ziel des Erlösungsweges, sondern sie eröffnet die ganzheitliche Weiterentwicklung zum Erwachen, die sich auf dem Fortgang auf dem Mittleren Weg ereignet. Damit ergeben sich die folgenden Schritte:

– Erkennen der intellektuell unfassbaren Wirklichkeit, nämlich des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung,
– Erkennen der Leerheit dieser Wirklichkeit von falschem Buddha-Dharma und falschen Doktrinen,
– Benutzen der Bezeichnung „Leerheit“ zur effektiven Kommunikation für die weitere umfassende Entwicklung des Menschen,
– Eröffnung des Mittleren Weges zum Erwachen und zur Erleuchtung.

Verkürzt gesagt ist die Leerheit nicht das letzte Ziel der menschlichen Entwicklung, sondern laut Nāgārjuna die Voraussetzung und Bedingung für die kreative Weiterentwicklung. Er bezeichnet diesen Zugang zur Buddha-Wahrheit durch die Leerheit als den Weg der Mitte oder den Mittleren Weg. Dieser Weg über die Leerheit führt zur Fülle und Lebendigkeit. Das heißt, die Leerheit von hemmenden und falschen Doktrinen wie dem Substantialismus eröffnet die kreative Entwicklung des Menschen und die Verwirklichung der Buddha-Natur.

Es ist erstaunlich, dass es so viele unterschiedliche und verwirrende Kommentare von Wissenschaftlern und Autoren zur Leerheit gibt. Daher ist die wirklich exakte Übersetzung von größter Bedeutung: Die Leerheit ist die Sichtweise für das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada). Es handelt sich also nicht wie die bisher üblichen Interpretationen es darlegen um eine vollständige Identität von Leerheit und pratitya samutpada, sondern die Leerheit ist unsere Sichtweise des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung. Nāgārjuna verwendet den Begriff „Sichtweise“ also, um die Beziehung von Leerheit und Wechselwirkung zu kennzeichnen.

Außerdem hat die Abfolge von Nāgārjunas Argumentation in den vorherigen Versen große Bedeutung, denn eine davon isolierte Interpretation der Leerheit kann meines Erachtens nicht valide sein. Er beschreibt sie als den wahren Zugang der Mitte und des Gleichgewichts zum Leben, zur Wirklichkeit, zur Befreiung, Lebenskraft und zur Emanzipation. Er vermeidet also die Extreme der Ewigkeit und des Nichts genauso wie der Unveränderlichkeit und des chaotischen Wechsels. Bei derartigen dogmatisierten Verzerrungen und absoluten Negationen sprechen wir gerade nicht von Leerheit. Obgleich damit die Semantik des Begriffs Leerheit wirklich eindeutig ist, hat dieser Vers in vielen vergangenen Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein zu gravierenden Missverständnissen und Verwirrungen geführt. Manche Autoren haben seine Bedeutung sogar ganz übersehen.

Leerheit ist also unsere Sichtweise der Wechselwirkung der Wirklichkeit und auf der Wortebene der akzeptierte Begriff dafür. Und das gilt für die Wirklichkeit, soweit wir sie erkennen und wahrnehmen können.[i] Nach meinem Verständnis wird damit auch der Glaube an die mögliche Allwissenheit und Allmacht ausgeschlossen, der im Brahmanismus von zentraler Bedeutung war. Diese so bezeichnete Wirklichkeit ist keine absolute Wirklichkeit und keine absolute Wahrheit, sondern die der praktischen und kompetenten Erfahrung und eng mit der Sichtweise, also der ganzheitlichen und genauen Wahrnehmung, verbunden. Zentral ist dabei die Erfahrung der Veränderung und Bewegung. Deshalb möchte ich für diesen philosophischen Ansatz die Bezeichnung „differentiale Ontologie“ vorschlagen, denn es geht nicht um ein unveränderliches Sein, sondern vielmehr um Veränderungen bzw. um Beschleunigung oder Verlangsamung von Veränderungen. Diese zentrale Aussage ist in der westlichen Philosophie nicht ausreichend beachtet worden.

Ein wichtiges „Instrument“ dieser Praxis und Erfahrung ist die von Buddha gelehrte und erprobte Achtsamkeit der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Wir sollten daher weniger über den Begriff der Leerheit meditieren und ihn nicht verabsolutieren, als über dessen Bedeutung in der Wirklichkeit, nämlich die Freiheit von Verzerrungen, Dogmen und irrealen Annahmen wie einem substanzhaften ewigen und unveränderlichen Selbst. Nishijima Roshi verwendet deshalb statt des Begriffs der Leerheit den des Gleichgewichts in der Mitte von irrealen gefährlichen Extremen des Idealismus und Materialismus. Damit möchte er Irrtümer im Zusammenhang mit diesem Begriff vermeiden. Das Gleichgewicht wird von Buddha als einer der sieben Faktoren des Erwachens und der Erleuchtung genannt. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass ein solches Gleichgewicht von zentraler Bedeutung für unser Leben ist, und dies im besonderen Maße, wenn wir die andauernde Dynamik und Veränderung des Lebens und aller lebenden Systeme in der Wirklichkeit einbeziehen. Ohne ein solches Gleichgewicht bzw. eine solche Mitte würde sich zwangsläufig ein permanentes Chaos des Lebens ergeben, das in desaströse Extreme führt. Wenn wir uns zum Beispiel die dramatischen Fehlentwicklungen des deutschen Faschismus der Nationalsozialisten vor Augen führen, wird klar, dass Hitler, Goebbels und Göring keine Mitte und kein Gleichgewicht hatten. Ihr Handeln, Denken und ihre Ethik waren von Extremen bestimmt, die ganz Europa in ein furchtbares Chaos stürzten.

Buddha hat die Fünf Hemmnisse der Erleuchtung herausgearbeitet. Sie werden zum Beispiel durch Extreme von Körper, Gefühlen, Wahrnehmungen, Handlungswillen und Bewusstsein erzeugt. Dazu zählen beispielsweise die Abhängigkeit von Drogen oder Sex, dogmatischer Nationalismus, religiöser Fanatismus und Extremismus, Geld- und Machtgier, egoistische Rücksichtslosigkeit und in neuerer Zeit auch Internet-Sucht, Spielsucht und Abhängigkeit von sogenannten sozialen Netzwerken. Durch solche Hemmnisse wird die menschliche Entwicklung zur Klarheit und Freiheit in dramatischer Weise verhindert.

Ein Weg der Mitte, der Extreme, Extremismus und Fundamentalismus nachhaltig vermeidet, ist zentral für die von Gautama Buddha gelehrte Befreiung, Veränderung und die höchste immer weiter gehende Verwirklichung der Klarheit auch in unserem eigenen Leben (differentiale Ontologie). Wir werden dann nicht mehr von Ideologien, Dogmen, verfestigten unheilsamen Vorurteilen und Vorstellungen sowie Täuschungen und quälenden Abhängigkeiten und vor allem nicht von gefährlichen Extremen behindert und gehemmt.

Bei diesem zentralen Vers zur Leerheit ist es meines Erachtens zudem notwendig, auf die Historie des Sanskrit-Begriffs shūnyatā einzugehen. In der Zeit Nāgārjunas waren die indischen Mathematiker führend in der Welt, nicht zuletzt weil sie das dezimale Zahlensystem entwickelt hatten, das aus den zwei Bereichen der negativen und positiven Zahlen besteht. Die Mitte dieser beiden Zahlenbereiche wird durch die Null, die keinen Eigenwert hat, gekennzeichnet und ermöglicht damit die Funktionsweise der gesamten Arithmetik. Diese Null wurde von den indischen Mathematikern als shūnyatā bezeichnet. Diese Erfindung der Wissenschaftler erzeugte große Folgewirkungen auch in der Philosophie und im Buddhismus.

Vor diesem Hintergrund muss man meines Erachtens die späteren Versuche relativieren, die eine absolute Leerheit postulieren und in Gefahr sind, die Abgrenzung zum Nichts und zum Nihilismus zu verwischen. Die schwerwiegendsten Probleme bei der Interpretation dieses wichtigen Verses entstanden dadurch, dass die Interpreten nicht von einer genauen Übersetzung des Sanskrit-Textes ausgegangen sind und offensichtlich ihr Vorverständnis zur Leerheit und zum Buddhismus bewusst oder unbewusst eingebracht haben. Sowohl Kalupahana als auch Garfield übersetzen pratitya samutpada als „abhängiges Entstehen“ und sagen zudem, dass dieses Entstehen identisch und synonym mit der Leerheit sei.[ii] Eine solche Identität ist aus meiner Sicht nicht überzeugend, weil sie einerseits nicht die genaue Übersetzung aus dem Sanskrit wiedergibt und andererseits Nāgārjuna grundsätzlich eine totale Identität im Buddhismus als Extrem ablehnt. Die empirische und phänomenologische Wirklichkeit hat meines Erachtens keine totale Identität. Dies würde zum Beispiel eine Korrelation von 100 Prozent bedeuten und ist in der Wirklichkeit nicht zu finden.

Weiterhin sagen beide Autoren, dass eine dritte Identität mit dem Mittleren Weg besteht, sodass es sich bei diesem Vers um eine dreifache Identität handle: pratitya samutpada, Leerheit und Mittlerer Weg. Die genaue Übersetzung bedeutet aber, dass die Bezeichnung der Leerheit den Zugang zur Realität des Mittleren Weges als Befreiungsprozess eröffnet. Eine solche dreifache Identität birgt die Gefahr, dass ungewollt substantialistisch gedacht wird, denn die totale Identität und Differenz ist ein typisches Merkmal der substantialistischen Philosophie. Diese destruiert Nāgārjuna aber gerade im gesamten MMK.

Philosophisch betrachtet beinhaltet dieser zentrale Vers 24.18 nach meinem Verständnis die folgenden Aspekte:
– Ontologie: gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung der vernetzten Wirklichkeit,
– Bezeichnung: Leerheit,
– Funktion: Eröffnung des Mittleren Weges der Überwindung des Leidens und der Befreiung.



[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 132ff.
[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 339;
Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way (übersetzt und kommentiert von Jay L. Garfield), S. 304