Donnerstag, 20. Januar 2022

Klare Fundamente des Buddhismus, von Zen-Meister Nishijima

Wörtliche Übersetzung des Textes von Meister Nishijima

Das große Werk von Meister Dōgen, Shōbōgenzō, „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“, habe ich über sechzig Jahre lang eingehend studiert. Ich bin der festen Überzeugung, dass die von mir bearbeiteten Quellentexte auch für den Westen von unschätzbarem Wert sind. Ich unterstütze die deutschen Fassungen ausdrücklich, weil damit das Verständnis der sicher nicht einfachen Inhalte des Shōbōgenzō im deutschsprachigen Raum für viele Leser wesentlich verbessert werden kann.

Manche meinen, der Buddhismus eigne sich als Religion nur für jene Menschen, die sich aus dem beruflichen Alltag und gesellschaftlichen Leben in die Nische eines Klosters zurückgezogen haben. Sie versuchen wahrscheinlich, dort auf einer „Insel der Seligen“ ohne die Ungerechtigkeiten des normalen Alltags zu leben. Manche glauben auch, dass der Buddhismus ausgesprochen lebensfeindlich oder gar nihilistisch sei. Vor allem der Zen-Buddhismus sei, so eine verbreitete Ansicht, von lebensfeindlicher Askese und dem schmerzhaften Ringen um die große Erleuchtung (Satori, Kensho) geprägt, diese sei aber für einen „normalen“ Menschen ohnehin nicht erreichbar. Eine solche Sichtweise kann ich jedoch aus meiner praktischen Erfahrung und der in langem Studium gewachsenen Kenntnis heraus als völlig falsch bezeichnen – das Gegenteil ist richtig.

Wer sich aus der Wirklichkeit verabschiedet hat, gerät unweigerlich in einen meist ausweglosen Kreislauf von Illusionen, Leiden, Trugbildern, Ängsten und subjektiven Welten. Er kann aus diesem Leiden nur dann erlöst werden, wenn er zur Wirklichkeit und damit zur Wahrheit zurückfindet. Gautama Buddha hat dies erfahren und erkannt. Er hat uns die großartige Lehre des Buddha-Dharma geschenkt, die uns nicht zuletzt von Meister Dōgen authentisch übermittelt wurde.

Der Buddhismus lehrt nicht, dass das ganze Leben aus Leiden besteht, wie manchmal behauptet wird, sondern im Gegenteil: Er will uns praktisch gangbare Wege aufzeigen, wie wir das vorhandene oder zukünftige Leiden überwinden können. Dann können wir eindimensionale Weltanschauungen über Bord werfen, Ideologien und Verführungen schnell durchschauen und zu Gleichgewicht und Harmonie zurückfinden. Dies ist der mittlere Weg und der natürliche Zustand des Menschen, der alle Formen von Extremen vermeidet. Mit Meister Dōgen bin ich der festen Überzeugung, dass die Praxis der Meditation des Zazen in Verbindung mit der authentischen buddhistischen Lehre genau der richtige Weg ist, den wir beschreiten sollten.

Meine eigene Lehre stützt sich neben Gautama Buddha selbst auf die genialen Meister Nagārjuna, Bodhidharma und vor allem auf Meister Dōgen. Ich habe bei meinen zahlreichen Vorträgen und Gesprächen in Asien, Europa und Amerika festgestellt, dass sich die Kernpunkte der Theorie und Praxis des wahren Buddhismus in der heutigen Zeit immer klarer herauskristallisieren und besser verstanden werden. Dies betrachte ich als große Hoffnung. Es wäre von großem Wert für die gesamte Menschheit, wenn der Buddhismus im Westen neue Kraft und Klarheit erlangen könnte, und ich würde mich sehr freuen, wenn mein Schüler, der Zenmeister Prof. Dr. Yudo J. Seggelke, und ich dazu einen substanziellen Beitrag leisten könnten.

Welches sind nun die maßgeblichen Kernbereiche des Buddha-Dharma?

Lassen Sie mich dabei zunächst kurz auf das Leben und die Erfahrungen von Meister Dōgen eingehen. Er wurde 1200 n. Chr. geboren und erlebte schon in früher Jugend schwere Schicksalsschläge, weil sein Vater und seine Mutter früh starben. Er musste auf diese Weise bitter erfahren, dass unser Leben endlich ist. Dies ist sicher der Grund dafür, dass er schon in jungen Jahren nach dem Sinn und der Wahrheit des Lebens und überhaupt der menschlichen Existenz suchte. Er trat mit zwölf Jahren in ein buddhistisches Kloster ein und hatte sich auch wegen seiner überragenden Intelligenz und Beharrlichkeit schon bald die verschiedenen buddhistischen Lehren im damaligen Japan erarbeitet und sie tief durchdrungen.

Der junge Dōgen war nicht nur außergewöhnlich begabt, sondern auch überaus ehrlich sich selbst gegenüber. Der damals in Japan gelehrte sehr theoretische Buddhismus konnte ihn trotz besten Willens und großer Anstrengung nicht überzeugen. Er entschied sich daher, nach China in das Ursprungsland des Zen-Buddhismus zu gehen. Auch dort erlebte er zunächst Enttäuschungen, bis er schließlich und fast am Ende der Reise seinem Meister Tendō Nyojō begegnete. er stellte neben der fundierten Lehre des Buddhismus vor allem die Praxis des Zazen und das Handeln im Alltag in den Mittelpunkt des buddhistischen Lebens. Er hatte selbst viele Jahre lang einen wahren Meister gesucht, aber nicht gefunden. Solche großen Meister gab es zu jener Zeit kaum noch in China.

Zazen ist keine geistige Meditation, bei der die ganze Konzentration auf ein Meditationsobjekt, zum Beispiel auf ein Thema oder ein Bild, auf den Atem oder auch auf die paradoxe Frage eines Kōans gerichtet ist. Zazen ist genau das Gegenteil, nämlich praktisches Handeln ohne diskursives Denken in Form des Sitzens in der richtigen Zazen-Haltung. Dabei stellt sich beim Menschen ein bestimmtes Gleichgewicht ein, und alle Gedanken, Gefühle und die normale Wahrnehmung verschwinden: Sie kommen zur Ruhe! Dadurch befreit sich unser Geist. Nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt es sich dabei vor allem um das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems, wenn die Aktivität und Spannung des einen Teilsystems – Sympathikus – und die Passivität und Wahrnehmung des anderen – Parasympathikus – im Gleichgewicht sind.

Das japanische Wort „Shōbōgenzō“ bedeutet: der wesentliche Kern oder die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, also des Buddhismus. Dieser kostbare Schatz der Lehre ist aus der Sicht von Meister Dōgen zusammen mit der Praxis des Zazen die umfassende Lehre des Gautama Buddha. Er beschreibt sie in seinen Lehrreden (Sūtras), zum Beispiel den Grundlagen der Achtsamkeit, sehr genau und hat sie an seine Schüler und an uns weitergegeben, wie wir wissen und selbst erfahren.

Was sind nun die Kennzeichen der Zazen-Praxis, die Meister Dōgen sehr umfassend lehrt?

Er führt folgende vier fundamentale Bereiche auf:

(1) Das Überschreiten des üblichen unterscheidenden Denkens des Verstandes durch die besondere Art des „Nicht-Denkens“;

(2) Das regelmäßige Sitzen im Zazen in der richtigen Körperhaltung, die von Dōgen exakt beschrieben wird. Dieses Sitzen ist praktisches Tun, umfasst damit den ganzen Menschen und beschreibt wie im Yoga die körperliche Dimension als Grundlage des Handelns und des Geistes.

(3) Dōgen beschreibt das wirkliche Handeln und Erleben bei der Zazen-Praxis mit den Worten „das Fallenlassen von Körper und (intellektuell denkendem) Geist“. Er meint damit, dass wir uns von den einengenden Fesseln des Körpers und des gewöhnlichen Verstandes befreien, die uns in unserem täglichen Leben so häufig einengen und quälen. Ich interpretiere diese von Dōgen formulierte Tatsache als das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems, das durch die Zazen-Praxis erreicht wird.

(4) Die Praxis des Zazen wird durch das japanische Wort Shikantaza beschrieben, das übersetzt etwa heißt „nichts anderes tun als sitzen“. Damit will Dōgen vor allem klar machen, dass wir uns bei der Zazen-Praxis nicht auf ein vorgestelltes Objekt, also ein Thema, Ziel oder Kōan, konzentrieren sollen, sondern dass das richtige Sitzen selbst die wesentliche Übungspraxis ist. Durch das Sitzen werden Gleichgewicht und Harmonie ermöglicht, von denen wir heute wissen, dass sie die Balance des vegetativen Nervensystems ausmachen. Dieses Zazen bezeichne ich als die erste Erleuchtung. Sie kann aber nicht auftreten, wenn sich intellektuelle oder störende Gedanken im Geist festsetzen und ihn hemmen, wenn verwirrende Gefühle vorherrschen, wenn die platte Wahrnehmung dominiert oder man gierig nach irgendetwas verlangt. Das gilt auch für die Gier nach der großen eigenen Erleuchtung. Besonders schädlich ist die diese Gier nach Ruhm, Ansehen, eigener Wichtigkeit, Macht oder Profit und der damit verbundene Stolz: also kurz das aufgeblasene Ego. Daher ist es so wesentlich, durch Shikantaza nicht irgendein „großartiges“ Ergebnis wie die Erleuchtung erlangen zu wollen und sich nicht auf irgendetwas zu Spezielles zu konzentrieren. Vielmehr kommt es darauf an, die richtige körperliche Haltung einzunehmen und das Sitzen als Handeln zu verwirklichen. Nur dann kann sich die erste Erleuchtung bei der Zazen-Praxis wie von selbst ereignen.

Gautama Buddha hatte in Indien zunächst versucht, durch die damaligen bekannten Formen der Meditation und geistigen Konzentration sowie durch extreme Übungen der Askese die Befreiung und das Erwachen zu erlangen und war dabei gescheitert. Die damals in Indien gelehrte Philosophie des Idealismus, bei dem Gedanken, Ideen, Vorstellungen und Ideale vorherrschend waren, hatte nicht zum angestrebten Erwachen geführt. Aber auch die materielle Philosophie, die behauptet, allein das Materielle und dessen Wahrnehmung, Beobachtung und der sinnliche Genuss seien wirklich, hatte sich für ihn als Sackgasse erwiesen. Dasselbe gab er die harten Übungen der Askese als wertlos auf. Auch Skeptizismus und Nihilismus, die es schon damals als philosophisches Denken gab, führten nicht zum Erwachen.

Schließlich erkannte Gautama Buddha beim Zazen und dem Aufleuchten des Morgensterns, wie Meister Dōgen es ausdrückt: „Die ganze Erde und alle Lebewesen verwirklichen zusammen die Wahrheit.“ Ihm wurde plötzlich klar, dass er über das gewöhnliche unterscheidende Denken und die übliche Wahrnehmung hinausgehen musste, um die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt direkt zu erfahren und zu erleben und nicht in der Metaphysik hängen zu bleiben. Dazu benutzte er die Praxis des Zazen in der seit langem bekannten Yogahaltung des halben oder ganzen Lotossitzes.

Durch den einfachen Akt des Sitzens im Augenblick und im Hier und Jetzt verlassen wir das oft quälende dualistische Bewusstsein von Körper und Geist. Wir erfahren dann unser Leben im Einklang und in der Harmonie mit dem Universum ganzheitlich und unmittelbar intuitiv. In der wirklichen Erfahrung des Zazen können wir den Buddha-Dharma vollkommen verwirklichen, wenn wir zweimal täglich diese Übung praktizieren, wie ich immer wieder betone.

Um das Shōbōgenzō von Meister Dōgen wirklich zu „verstehen“ und sich nicht an scheinbaren Widersprüchen und Paradoxien aufzureiben, gibt es einen Schlüssel, der den großen Wert dieses Werkes besser erschließt. Ich habe ihn im Laufe meines langen Lebens entwickelt und immer mehr verfeinert. Es handelt sich dabei um die, wie ich glaube, umfassende Lehre der sogenannten vier Sichtweisen oder Lebensphilosophien, die Meister Dōgen in dem Kapitel „Das verwirklichte Leben und Universum“ (Genjō-kōan) beschreibt.

Die volle Wirklichkeit des Lebens und der Welt sind danach weder durch den Verstand noch durch die Wahrnehmung ganz zu erfassen, sondern beide ermöglichen immer nur Teilsichten und Teilwahrheiten. Sie sind durch ihre Einseitigkeit als umfassende Philosophien für das praktische Leben ungeeignet und müssen daher zwangsläufig zu verschiedenen Formen des Leidens führen.

Die beiden ersten Lebensphilosophien sind die im Westen vorherrschenden Lehren des Idealismus und Materialismus. Gautama Buddha und Meister Dōgen zufolge muss als dritter Bereich das Handeln und Erfahren im gegenwärtigen Augenblick hinzukommen, also im Hier und Jetzt,. Dann können wir die zu enge Perspektive des Subjekts überschreiten und uns dadurch wesentlich befreien. Bei der Zazen-Praxis und im Alltag eröffnet sich durch das direkte Handeln im Hier und Jetzt eine neue Wahrheit, die zum Kern der buddhistischen Lehre gehört.

Die vierte umfassende Lebensphilosophie des Buddhismus ist das Erwachen oder die Erleuchtung, also die Befreiung. Sie enthält integrierend auch die drei ersten genannten Teilbereiche. Das Erwachen geht aber über diese Bereiche hinaus und bildet den „Schlussstein“ des buddhistischen Lehrgebäudes und der Praxis. Wenn die umfassende buddhistische Lehre im Einklang mit der Zazen-Praxis und dem täglichen Handeln steht, nenne ich das die zweite Erleuchtung.

Meister Dōgen drückt dies im Kapitel Genjō-kōan wie folgt aus: „Selbst wenn dies alles so ist, fallen die Blüten, während sie geliebt werden, und wuchert das Unkraut, während es ungeliebt ist.“

Damit will er sagen, dass wir über unsere kleinen Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Erwartungen hinausgehen müssen, an die wir uns klammern. Wir müssen sie als solche erkennen und ihnen die einengende Kraft nehmen, um zur Wahrheit des Buddha-Dharma und des Lebens zu gelangen. Denn diese wirkliche Welt ist so, wie sie ist: rein, ohne Bedauern, kraftvoll und voller Dynamik. Warum sollten wir ihr entfliehen? Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den vier Lebensphilosophien den Schlüssel für die Lehren des Gautama Buddha und Meister Dōgens in der Hand halten und das großartige Werk Shōbōgenzō damit erschließen können.

Das Gesetz von Ursache und Wirkung hat im Buddhismus einen zentralen Stellenwert, und auch Meister Dōgen bekennt sich zu dieser Wahrheit. In dem Shōbōgenzō-Kapitel: „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung“ kommt dies in aller Klarheit zum Ausdruck. Es betrifft zunächst die Lebensphilosophie des Materiellen und der Naturwissenschaft, die im Buddha-Dharma als Teilwirklichkeit anerkannt wird. Auch Meister Dōgen beschreibt in verschiedenen Kapiteln die physische Welt und, wie wir heute sagen würden, die Gesetze der Naturwissenschaft. Der große Wissenszuwachs der modernen Zeit ist ja nicht zuletzt in diesem Bereich entstanden und steht nicht im Gegensatz zur buddhistischen Lehre. Besonders deutlich wird dies in den Kapiteln des Shōbōgenzō „Das verwirklichte Leben und Universum“, „Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle“ und „Die Stimmen des Tales und die Form der Berge“.

Das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt im Buddha-Dharma jedoch auch und nicht zuletzt für die Ethik und Moral des menschlichen Lebens. Es besagt, dass moralisch schlechte Taten unweigerlich auf den Urheber zurückschlagen, und zwar nach unserer festen Überzeugung noch in diesem Leben. Umgekehrt gilt dies auch für moralisch gutes Handeln, denn uns selbst kommt der „Nutzen“ daraus zugute, und wir entkommen dem Leiden: "Geben ist besser als nehmen".

Das Gesetz von Ursache und Wirkung erklärt die Zusammenhänge im Zeitablauf oder, wie wir sagen, mit dem Verständnis der linearen Zeit. Dies wird auch von Meister Dōgen im Shōbōgenzō beschrieben. Aus dem Gesetz von Ursache und Wirkung gibt es kein Entrinnen. Es ermöglicht aber, den wahren Dingen von Leiden und Freuden auf den Grund zu kommen.

Wesentliche Erfahrungen und das wahre Erleben im Hier und Jetzt finden im gegenwärtigen Augenblick statt. Dieses hat im Buddha-Dharma eine sehr große Bedeutung, weil wir im gegenwärtigen Augenblick die Wirklichkeit, das wahre Leben erfahren und die Wahrheit selbst erleben. Das Handeln findet im gegenwärtigen Augenblick statt, so dass die Augenblicklichkeit des Lebens und des Universums in der Lehre und in der Praxis des Buddhismus im Mittelpunkt stehen. Bei der Zazen-Praxis bildet das Handeln im Augenblick mit der ersten Erleuchtung eine Einheit und bedeutet, dass wir den Bodhi-Geist erwecken. Dōgen sagt hierzu: „Wer auf des Tathagatas Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und den wunderbaren Geist des Nirwana vertraut, vertraut auch dem Grundsatz der Augenblicklichkeit des Erscheinens und Vergehens aller Dinge.“

Eine solche intuitive Weisheit und Klarsicht übersteigt bei weitem das übliche verstandesmäßige Denken und intellektuelle Ideen, seien sie auch noch so anspruchsvoll, komplex und scharfsinnig. Diese intuitive Weisheit und die volle Gegenwart und Freiheit des Handelns werden im Buddhismus gelehrt und praktiziert. Dann können wir sagen, dass es uns wie „Schuppen von den Augen fällt“ und wir im Einklang mit der Welt und dem Universum handeln und leben. Wir können uns dann selbst klaren und direkter erkennen, wie wir wirklich sind und handeln. Dann handeln wir ohne Zögern und Hemmnisse unmittelbar, moralisch richtig und entschieden, so wie es die Situation gerade erfordert.

Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, hat die westliche europäische Philosophie den Endpunkt der alten Kontroverse von Idealismus und Materialismus erreicht und sucht nach neuen Wegen. Diese sind nach meinem Verständnis von den großen Meistern des Buddhismus bereits gegangen worden. Beispielhaft möchte hier das Werk des deutschen Philosophen Martin Heideggers: „Sein und Zeit“ nennen. Das Handeln im gegenwärtigen Augenblick ist Wahrheit und Wirklichkeit zugleich, es vollzieht sich hier und jetzt. Es ereignet sich in der Einheit von Subjekt und Objekt sowie von Körper und Geist. Dadurch werden wir frei und haben ein erfülltes und freudiges Leben. Dies ist die Überwindung des Leidens.

Es ist sicher unbestritten, dass Ethik und Moral im Buddhismus von fundamentaler Bedeutung sind und dass vor allem die Übereinstimmung von Reden, Denken und Handeln gelehrt und erlernt wird. Hierbei ist die Praxis des Zazen genauso wichtig wie das alltägliche Handeln auf dem Buddha-Weg. Aber auch die buddhistische Lehre ist unverzichtbar, die z. B. im Shôbôgenzô von Meister Dôgen ist formuliert wurde. Zazen ist die reinste Form des Handelns. Indem wir physisch im halben oder ganzen Lotossitz mit aufrechter Wirbelsäule sitzen, kommt das vegetative Nervensystem automatisch ins Gleichgewicht und zur Ruhe. Dieses geistige und körperliche Gleichgewicht gibt uns Kraft und Gelassenheit, es macht uns handlungsfähig und gesund. Es übersteigt das verstandesmäßige Denken oder die irritierenden Gefühle sowie die Genusssucht. Dieses Gleichgewicht ermöglicht intuitive Klarheit, Weisheit und Entscheidungskraft. Der Buddhismus ist die Verbindung von Lehre und Praxis, und er umfasst das ganze menschliche Leben und Universum.

Siehe auch: Dogen, Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, 4 Bände, Übersetzung R. G. Linnebach,  G. W. Nishijima

Montag, 10. Januar 2022

Vorwort zum Mittleren Weg von Zenmeisterin Doris Zöls

 

Liebe Leserinnen und Leser, dieser Text macht die Lehren Shākyamuni Buddhas mit seinen Kernaussagen, den wechselseitigen Abhängigkeiten, der Leerheit wie der Einheit und der Fähigkeit des Menschen, dazu zu erwachen, zu seinem zentralen Thema.

Im Lauf der Geschichte und auch heute noch schleichen sich immer wieder Fehlinterpretationen dieser Lehre Buddhas ein. Buddhas Aussagen sind nicht mit dem unterscheidenden Geist zu erkennen, sie stehen in großem Widerspruch zu unserer „üblichen“ Logik. Wir Menschen sehnen uns nach dem Unveränderlichen, nach einem festen unveränderlichen Wesenskern, einem beständigen Absoluten, das in unserer Existenz wirksam ist und uns trägt. Doch wir brauchen nicht tief zu schürfen, um zu erkennen, dass diese Sehnsucht eine Schimäre ist und nie erfüllt werden kann. Es gibt nichts Beständiges. Das Leben ist, wie Heraklit es ausdrückt, immer im Fließen. Halten wir Menschen dennoch an einer absoluten, unverrückbaren Wahrheit fest, sind Glaubenskämpfe unvermeidlich. Jeder meint, das Absolute erkannt zu haben, es zu begreifen und dann auch noch gegenüber anderen verteidigen und durchsetzen zu müssen. Die Komplexität des Lebens, sein unentwegter Wandel kann nicht in einem Konzept aufgehen. Ein statisches Welt- und Lebensbild ist eine Scheinsicherheit für uns Menschen, ein Selbstbetrug. Durchschauen wir nicht diese Lebenslüge, stürzt uns diese Haltung unweigerlich ins Leiden.

Zum Glück gab es auch immer wieder weise Menschen, die es sich zur Aufgabe machten, dieser irrigen Vorstellung einer Entität entgegenzutreten. Nāgārjuna war eine solche herausragende Persönlichkeit. Er interpretierte nicht nur Buddhas Worte neu, er erfasste die Wirklichkeit nicht mit dem unterscheidenden Denken, sondern erkannte sie in wechselseitiger Abhängigkeit, als Leerheit und Einheit. Nārgājuna versuchte mit dem Mittleren Weg, die irrigen Interpretationen aus ihrer Verengung herauszuführen. So wurde er einer der ganz großen Interpreten, der Buddhas Lehre durch seine präzisen Ausführungen wieder ins rechte Licht rückte. Dieses Werk ist für fast alle buddhistischen Linien des späteren Mahāyāna in Indien, des Chan in China, Korea und Japan und des tibetischen Buddhismus von entscheidender Bedeutung.

Yudo Seggelke vertiefte sich in diesen Mittleren Weg und greift Nāgārjunas Ausführungen auf. Ihm ist wichtig darzulegen, dass es Nāgārjuna wie Buddha selbst nicht um intelligente, philosophische Ideen als solche ging, sondern dass das Erleben dieser Wirklichkeit die Befreiung der Menschen bedeutet. Nāgārjuna setzt Wissen und Erleben nicht in Gegensatz. Yudo Seggelke schreibt Nāgārjunas Schriften daher eine zentrale Bedeutung zu, die Bewusstwerdung des Menschen auch bei uns im Westen zu befördern.

Wir sind heute so oft festgefahren in unseren Meinungen, kämpfen für unsere Überzeugungen und geraten immer tiefer in kriegerische Auseinandersetzungen. Die Schriften der alten Meister können uns wachrütteln. Sie verweisen auf eine Weisheit, die sich jenseits von Meinungen und Begriffen entfaltet.

Yudo Seggelke zeigt mit seinem Buch auf: Wir brauchen ein neues Verstehen, das über die Begrifflichkeiten, die dem unterscheidenden Geist obliegen, hinausgeht. Die Begriffe müssen für uns lebendig werden, uns erfassen und in uns wirksam werden. Dieses neue, ganzheitliche Erfassen der Wirklichkeit fordert von uns, dass wir unsere Erkenntnis, die sich auf den bewertenden und unterscheidenden Geist stützt und im Dualismus stecken bleibt, zurücknehmen und in ein „Nicht-Denken“ kommen. Dies hat nichts mit Unwissenheit oder gar Dumpfheit zu tun, im Gegenteil. Bei dem „Nicht-Denken“ geht es um ein aktives, ganz waches Erkennen dessen, was ist, ohne es durch unsere Begrifflichkeiten einzuengen. Durch diese Geisteshaltung entfaltet sich eine Weisheit, die Buddha und in seiner Nachfolge Nāgārjuna lehrten. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Erkennen kann nicht intellektuell mit dem unterscheidenden Geist geschehen, sondern es bedarf eines „Bodhicitta“, eines unmittelbaren Erwachens zu dem, was ist.

Die Entfaltung des Mittleren Weges lässt die Menschen die Dualität übersteigen, führt sie aus den unheilsamen Extremen heraus. Das Verharren bei einem „entweder – oder“ gibt es nicht mehr, stattdessen wird alles in seiner wechselseitigen Abhängigkeit und seiner Leerheit erkannt. Es ist ein „Nicht-Wissen“, das uns für diese Erkenntnis der Zusammenhänge des Lebens öffnet. Unser scheinbares Wissen ist hingegen eine Unwissenheit, die uns in Gier und Hass treibt. Um aus ihnen herauszufinden und sich zu befreien, bedarf es daher der tiefen Einsicht in die Leerheit und die wechselseitige Abhängigkeit allen Seins und Werdens. Es ist ein Bewusstwerden, das oft mit Achtsamkeit beschrieben wird. Dieses Wort ist heute in aller Munde, doch wird oft nicht wirklich verstanden, worum es dabei geht. Die Achtsamkeit, verstanden als Bewusstwerdung, besteht aus zwei Aspekten: Einerseits geht es bei ihr um die Konzentration, d.h. den Ablenkungen des Geistes nicht zu folgen, und andererseits darum, sich bewusst zu werden, was geschieht. In dieser Geisteshaltung entfaltet sich ein Verstehen der Zusammenhänge des Lebens.

Diese Achtsamkeit zu praktizieren, dafür steht die Zen-Praxis. Sie ist das bewusste Sein im Hier und Jetzt. Genau darin offenbart sich eine neue Wirklichkeit. Es ist ein unmittelbares, ganz natürliches Sosein, es ist absichtslos und erlebbar als Flow, in dem keine Vorstellungen und Erwartungen mehr Platz haben.

Durch seine Akzentuierung, die neuen Erkenntnisse der Buddhismusforschung und seine Erläuterungen zum MMK werden Yudo Seggelkes Ausführungen zu einem wichtigen Impuls für unseren Zen-Weg im Westen. Das Erwachen befreit uns von unseren Vorstellungen einer eigenständigen Entität. Wir treten in den Fluss ein, der Weg der Offenheit und Freiheit ist geebnet. Gleichzeitig wird erkannt, wie sehr alles miteinander verbunden ist und sich im Gesetz von Ursache und Wirkung vollzieht.

Yudo Seggelke greift die drängenden Sinnfragen der heutigen Zeit auf und bezieht sie auf die großen Erkenntnisse Buddhas und Nāgārjunas. Ich gratuliere ihm zu diesem Buch, das uns einen wunderbaren Einblick in den Mittleren Weg schenkt und dabei unsere Lebensfragen immer im Auge hat.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich beim Lesen dieses Buches inspirierende Stunden.

 

Doris Zölls

(Zen-Meisterin und ehemalige spirituelle Leiterin des Benediktushofes)

Sonntag, 9. Januar 2022

Die Präambel des erwachten Mittleren Weges, MMK – eine Ouvertüre

 

The Preamble of the Middle Way - Master Nagarjuna

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Die folgende inhaltliche Zusammenfassung der vier Verse der Präambel stützt sich auf Nishijima Roshi sowie den Buddhologen Kalupahana[i] und auf meine eigene Interpretation. Basis ist die präzise wörtliche Übersetzung der Indologin Elisabeth Steinbrückner, die zur Klärung der Bedeutung des MMK einen wichtigen Beitrag leistet.

Das MMK ist ein Lehrgedicht oder – wie Nishijima Roshi sagte – ein Gesang. Die wichtigen Themen werden in der Präambel wie in einer Ouvertüre kompakt vorgestellt, um später in den einzelnen Kapiteln vertieft und ausführlich behandelt zu werden. Die Präambel umreißt den Rahmen und Ausgangspunkt des Mittleren Weges. Es gab und gibt heftige Kontroversen über Inhalt und Bedeutung dieser ersten Verse. Sie lenken unseren Geist und unser Leben auf das große Anliegen Buddhas und Nāgārjunas, uns von bisherigen Begrenzungen und Hindernissen durch das Leiden zu befreien und uns auf ein erfülltes Neuland zu leiten. Dieses Vorhaben ist also in hohem Maße emanzipatorisch, therapeutisch und kreativ. Denn wenn wir das Leiden überwunden haben, können wir ein neues Leben mit Freude, Glück, innerer Ruhe und im Gleichgewicht führen. Wenn das gelingt, bezeichnet es Buddha als Erwachen, und wir nennen es heute meist Erleuchtung. Und diese Befreiung kann grundsätzlich jeder Mensch verwirklichen.

Die zentrale Ursache für ein unerfülltes, leidvolles Leben ist die Fixierung auf erstarrte Ideologien, Dogmen und die Abhängigkeit von Gier, Hass und Unwissenheit. Dieser Kausalzusammenhang ist nach Buddhas Lehre und Erfahrung weitgehend durch unsere eigene Vernunft und Achtsamkeit zu erkennen und durch neue, von uns selbst gesteuerte weiterführende Impulse zu verändern. Ein begrenzter Verstand reicht im Gegensatz zur umfassenden Vernunft dafür jedoch nicht aus.[ii] Die Klarheit unseres eigenen Geistes im wechselwirkenden Zusammenhang mit sich, anderen Menschen und der Welt kann uns dabei den rechten Weg weisen, der ein kraftvoller Weg der Mitte ist, der ideologische und dogmatische Extreme vermeidet. Extreme sind nach Buddha niemals wahr. Mich überzeugt diese Praxis und Philosophie Buddhas und Nāgārjunas in hohem Maße.

Auch im Buddhismus müssen die wichtigen Begriffe laufend reflektiert und einer kritischen Analyse unterzogen werden. Das kann wie bei Nāgārjuna dadurch geleistet werden, dass sie auch zu ihrer eigenen Negation in Beziehung gesetzt werden, zum Beispiel: Entstehen und Nicht-Entstehen. Nāgārjuna möchte meines Erachtens für den authentischen Buddhismus eine neue belastbare Grundlage zurückgewinnen und gleichzeitig die seit Buddha entstandene positive Entwicklung in Indien integrieren und vital weiterführen. Die in seiner Zeit eingetretenen Fehlentwicklungen und philosophischen Verwirrungen möchte er dabei dingfest machen und einer wirklich radikalen kritischen Beurteilung unterziehen. Allerdings sind seine Texte nicht einfach zu verstehen, sie waren und sind daher vielfältigen Missverständnissen ausgesetzt. Wenn wir jedoch heutiges Wissen aus der Wissenschaft und Philosophie damit verbinden, gewinnt der Buddhismus neue Klarheit und Dynamik für unsere Gegenwart, und die menschliche Freiheit der Entscheidung für den Erleuchtungsweg und für unsere Selbstverwirklichung wird philosophisch zwingend begründet.

Im Vers 1 der Präambel werden die berühmten acht Negationen aufgeführt. Sie haben damals und heute viel geistige Verwirrung und psychologischen Unsinn erzeugt. Nach unserem Verständnis bedient sich Nāgārjuna in der Präambel und im gesamten MMK folgender philosophischer Architektur: Er stellt die Kernbegriffe und Behauptungen der Gegner zuerst ohne Bewertung an den Anfang und entwickelt dann daraus die logischen Schlussfolgerungen. Wenn sich diese als unsinnig, absurd und in sich widersprüchlich erweisen, sind die Behauptungen der Gegner damit zwingend falsifiziert.

Zuerst geht es im Vers 1 um das Nicht-Entstehen (an-utpāda) als zu falsifizierende Doktrin von isolierten Entitäten und unveränderlichen ewigen Substanzen. Denn es könnte auf diese Weise gar kein wahres Entstehen und keine Befreiung geben. Eine solche Doktrin ermöglicht bei genauer Analyse überhaupt keine Veränderung, Befreiung und Emanzipation und widerspricht damit fundamental der Kernlehre Buddhas.

 

Vers 2 der Präambel

Buddha, der vollkommen Erwachte, zeigte das wechselwirkende gemeinsame Entstehen,

das beglückende Aufhören der wegführenden Fehlentwicklungen und Verwirrungen.

Ihn, den besten der Sprechenden und Lehrenden, verehre ich.

 

Dieser Vers ist von zentraler Bedeutung für das gesamte MMK. Er dient als präziser Bezug für die von Nāgārjuna durchgeführten Analysen von Fehlentwicklungen des Buddhismus. Aus meiner Sicht wird er auch heute oft zu wenig beachtet und nicht in seiner ganzen Tiefe gewertet. Besonders der Begriff Entstehen wird zum Schlüssel für das Verständnis des MMK: wechselwirkendes gemeinsames Entstehen (pratitya samutpāda), also Ko-Entstehen und Verändern in Wechselwirkung. Nur mit diesem Verständnis kann die fortlaufende Veränderung in der vernetzten Dynamik des Lebens und der Welt sinnvoll erfasst werden. Das ist genau unsere Willensfreiheit zur guten Veränderung und entspricht der Lehre Buddhas. Und nur so machen die Vier Edlen Wahrheiten, der Achtfache Pfad und die Befreiung mit zwölf Faktoren wirklich Sinn.

Das Beglückende Aufhören der wegführenden Fehlentwicklungen: Wegführende Fehlentwicklungen sind Verwirrungen, verlassen die wahre Lehre und blockieren den Befreiungsweg. Wir verlieren uns dann in einem Gestrüpp unklarer Begriffe, erstarrter Vorstellungen, absoluter Dogmen und falscher Handlungen. Um diese Fehlentwicklungen beenden zu können und den Mittleren Weg zu beschreiten, brauchen wir zweifellos Klarheit in Körper und Geist und geübte Kräfte zum rechten Handeln. Dann werden die zerstörerischen und hemmenden Extreme vermieden und unsere Weiter- und Fortentwicklung wird gefördert, um Freiheit, Emanzipation und Erleuchtung zu erlangen. Der grundsätzlich richtige Weg wird also im zweiten Vers der Präambel vorgestellt und im weiteren Verlauf des MMK genauer untersucht.

Nāgārjuna betont, dass er Gautama Buddha als den „besten der Sprechenden und Lehrenden“ schätzt und hoch verehrt, und unterstreicht damit sein Vertrauen in die authentische Lehre.

Von besonderer Bedeutung ist die Klarheit darüber, was Nāgārjuna mit wechselwirkendem gemeinsamem Entstehen (pratitya samutpāda) sagen will und wie er es vom nicht gemeinsamen Entstehen (anutpāda) abgrenzt, das im ersten Vers der Präambel mithilfe der berühmten acht Negationen falsifiziert wurde. Wesentlich ist zudem der Zusammenhang von wechselwirkendem gemeinsamem Entstehen und der Leerheit. Wer die Bedeutung der Leerheit nicht aus dem MMK, sondern aus anderen, nicht zuverlässigen Texten ableitet, wird kaum Klarheit darüber gewinnen können.

Wegen der menschlichen Sehnsucht nach ewigen, absoluten Wahrheiten und den entsprechenden verborgenen Substanzen und Entitäten, die uns Sicherheit und Halt im Leben geben könnten, sind manche Menschen besonders anfällig für populistische, dogmatische oder gar extremistische Antworten. Diese führen aber noch tiefer in Unsicherheiten und stürzen diese Menschen in wegführende Fehlentwicklungen. Es ist also Vorsicht geboten! Wie zu verfahren ist, wird in den folgenden Kapiteln des MMK analysiert.

In der Präambel führen wie gesagt zwei Schlüsselbegriffe in das große Werk MMK ein: erstens das wechselwirkende gemeinsame Entstehen als konstruktive positive Aussage der buddhistischen Befreiung und zweitens das Nicht-Entstehen und Festhalten an alten, verhärtenden und leidbringenden Mustern, Prägungen und Verhaltensweisen. Solche dogmatischen erstarrten Muster verhindern die Befreiung und den Weg zur Erleuchtung. Die Weisheit und Praxis des Buddhismus können bei einer solchen substanzhaften und statischen Ideologie nicht wirksam werden. Es ist erstaunlich, dass in zwei, zur Zeit Nāgārjunas weit verbreiteten buddhistischen Schulen dieses statische Verständnis vorherrschte. Nāgārjuna enttarnt diese irrigen Scheinwahrheiten mit unnachgiebiger Präzision: Es handelt sich um die Doktrinen des Substantialismus und Momentanismus.

Der Begriff Nicht-Entstehen kann undogmatisch allerdings auch dialektisch verstanden werden.[iii] Er kann sich dann auf die Wechselwirkung beziehen und neue Einsichten ermöglichen. Beide Male verwendet Nāgārjuna daher den Sanskrit-Begriff utpada, der „Entstehen“ bedeutet: Erstens benutzt er ihn positiv in der Verbindung mit sam, was „zusammen“, „gemeinsam“ und „kombiniert“ heißt, also samutpāda – „gemeinsames Entstehen“. Zweitens verwendet er die Form der Negation von utpāda, die die fehlende Entwicklung und das Nicht-Entstehen bedeutet. Nāgārjuna verneint auf diese Weise eine verengte dinghafte und erstarrte Vorstellung und Ideologie des Entstehens und isolierten Nicht-Entstehens von Phänomenen. Bei einer solchen statischen Doktrin werden die wirklichen Veränderungen und der Prozesscharakter ausgeschlossen.

Lebendiges Entstehen gelingt nur in Wechselwirkung und nicht isoliert allein aus sich selbst heraus. Die Wechselwirkung kann nur in zeitlichen, vernetzten Prozessen ablaufen. Dies ist ein unverzichtbares Verständnis der dynamischen Wirklichkeit und des Flows in der Welt, ganz gleich wie genau man sie im Detail oder als Ganzes analysieren und verstehen kann. Denn die Wirklichkeit von vernetzten Systemen, zum Beispiel von Ökosystemen und vom neuronalen Netz des menschlichen Gehirns, kann nach heutiger gesicherter Kenntnis nur durch rückgekoppelte Prozesse in Verbindung mit entsprechenden Strukturen sinnvoll beschrieben werden. Wechselwirkung ist daher für alles Lebendige typisch und charakteristisch. Eine Beschreibung der Wirklichkeit durch eindimensionales, unidirektionales „abhängiges Entstehen“, wie es bisher im Buddhismus bisweilen üblich war, ist eine verengte Sichtweise, die nach meiner Überzeugung viele Irrtümer zur Folge hatte. Es ist erstaunlich, dass Buddha bereits vor 2500 Jahren diese systemischen Vernetzungen der Natur klar erkannt hat. Leider ist dieses Wissen in der Folgezeit verengt oder ganz verwirrt worden. Mit diesem Paradigmenwechsel werden nun die Verständlichkeit, Klarheit und Wirkkraft des MMK nachhaltig verbessert.

In der Präambel führt Nāgārjuna also die berühmten acht Behauptungen in Form von Negationen von zentralen buddhistischen Begriffen ein, die oft missverstanden wurden. Sie wurden sogar als der neue Buddhismus gefeiert, und Nāgārjuna wurde als neuer Buddha bezeichnet. Das ist jedoch ein fatales Missverständnis! Nāgārjuna wählt bei den Negationen exemplarisch markante Begriffspaare aus, die in seiner Zeit in verschiedenen angeblich buddhistischen Sekten und Lehrrichtungen behauptet wurden, aber nach Nāgārjuna sektiererisch falsch verstanden wurden. Auf dieses unzureichende Verständnis bezieht er seine Destruktionen und Falsifikationen, indem er alle wichtigen Lehren Buddhas durcharbeitet. Er kennzeichnet damit die falsche absolutistische Sichtweise, die keine Veränderungen, Entwicklungen und Emanzipation zulässt.

Im Gegensatz zu den acht sektiererischen Negationen lehren Buddha und Nāgārjuna die richtigen Fundamente der buddhistischen Befreiung und Erleuchtung: Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und Verhinderung von dessen Entstehen; Zur-Ruhe-Kommen und Beenden falscher Extreme und damit die gute Fortdauer und Nachhaltigkeit der Befreiung; die Freiheit und Willensfreiheit für den Sinn unseres Lebens und die gute Wirkung heilsamer Ziele für unser Denken, Fühlen und Handeln. Schließlich wird der Nihilismus radikal abgelehnt, weil es Ankunft und Fortgehen in der Wirklichkeit unseres Lebens nachweisbar gibt.

Ein solches isoliertes und erstarrtes Verständnis des Lebens sollten wir auch heute im Westen besonders gründlich analysieren, wo der Individualismus aus den Fugen geraten ist und ein hohler Materialismus und übersteigerter Egoismus um sich greifen. Das kann helfen, um das rechte Verständnis des Buddhismus zu gewinnen.

Die viel beschworene Willensfreiheit des Westens ist mit einem illusorischen Individualismus und dem unveränderlichen metaphysischen Sein gerade nicht vereinbar! Es ist für uns erstaunlich, dass dieser radikale Widerspruch von vielen Philosophen nicht richtig erkannt wurde und heute noch vernachlässigt wird. In der Phänomenologie müsste es aus unserer Sicht daher heißen: „zum Leben selbst“ und nicht nur verengt „zu den Sachen selbst“ wie in der westlichen Philosophie (Edmund Husserl). Und das Leben ist durch gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und Willensfreiheit gekennzeichnet. Zudem werden die materiellen und ideellen Sachen häufig als metaphysische unveränderliche Pseudo-Substanzen verstanden. Dann wird um unsinnige Extrem-Aussagen gestritten: Gibt es die absolute Freiheit oder den absoluten Determinismus? Diese Frage ist in sich unsinnig.

Ein typisches polarisiertes Begriffspaar sind im MMK beispielhaft die Formulierungen der Präambel „nicht zur Ruhe kommen“ und „beglückendes Aufhören der wegführenden (ungesteuerten) Fehlentwicklungen“. Denn es sind zentrale Eckpunkte des Buddhismus, unser Gleichgewicht zu finden und Befreiung mit unserer Willens- und Entscheidungsfreiheit zu realisieren, zur Ruhe zu kommen und den kraftvollen Mittleren Weg zu gehen. Darauf können wirkungsvolle Therapien aufbauen. Das heißt, dass wir aus dem Leiden herauskommen, wenn wir verhärtete Ideologien und Vorstellungen von isolierten dinghaften Sachen und ewigen unsichtbaren und somit illusorischen Pseudo-Substanzen ausschalten. Denn der Glaube an solche Substanzen lässt Unruhe und Hektik entstehen und negiert die erkennbaren wechselwirkenden Veränderungsprozesse. Damit werden die brauchbaren Dimensionen der Befreiung vernachlässigt oder verdrängt.

 

 



[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (übersetzt von David J. Kalupahana)

[ii] Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, S. 58ff.
Ähnlich:
Bertram, Georg W.: Hegels „Phänomenologie des Geistes“, S. 322f.

[iii] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes

Verlässliche Grundlagen des Buddhismus – Kausalität, Wechselwirkung, menschliche Wirkkraft und Frucht des Handelns, MMK, Kap 1

 

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Vers 1.1

Es wird kein Seiendes (Ding, Phänomen) überhaupt irgendwo gefunden, das total aus sich selbst oder total aus etwas anderem heraus entstanden ist. Es wird auch nicht etwas gefunden, das sowohl total aus sich selbst als auch total aus einem anderen entstanden ist.Auch wird nichts irgendwo gefunden, das ohne Veranlassung und ohne Kausalität entstanden ist.

 Mit diesen Aussagen falsifiziert Nāgārjuna die Doktrin des Substantialismus, die den altindischen religiösen Überzeugungen der Veden sehr ähnlich ist; ihre Grundlage bildet die unveränderliche Dauerhaftigkeit von Dingen, Phänomenen und fiktiven Substanzen. Zuerst geht er auf die alte und in seiner Zeit wieder neu erstarkte Metaphysik ein, dass etwas ganz aus sich selbst entstanden sei. Dies sollte vor allem auf den Gott Brahman am Anfang der Welt zutreffen. Diese metaphysische Ideologie war in der vorbuddhistischen Zeit in Indien weit verbreitet.[i] Alles, was wir in der Wirklichkeit finden und wahrnehmen, entsteht und vergeht aber in der Welt mit Veranlassung und damit durch Kausalität – meist Ursache genanntim Rahmen der Wechselwirkung. Die Welt ist in Wechselwirkung entstanden.

Aus sich selbst entstandene, isolierte, unveränderliche und dauerhaft existierende Entitäten und Substanzen sind in unserer Welt laut Nāgārjuna nicht zu finden. Entsprechend gibt es auch kein Entstehen aus etwas anderem und kein Entstehen isoliert aus sich selbst und zugleich aus einem anderen. Das ist die Theorie der totalen Identität und Differenz[ii] isolierter Entitäten, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Eine Außenverursachung wurde in der vorbuddhistischen Zeit von dogmatischen Materialisten vertreten, die eine totale Determination durch absolute Naturgesetze behaupteten, denen vorgeblich sogar die Götter unterliegen sollen.[iii] Buddha und Nāgārjuna warnen eindringlich vor derartigen spekulativen metaphysischen Philosophien, weil sie realitätsfremd sind und letztlich viel Leiden und Elend erzeugen.

 Vers 1.2

Es gibt vier wechselwirkende Faktoren:

– Veranlassung oder Kausalität,

– Stütze, zum Beispiel die äußere materielle Umgebung,

– Abfolge, also ein fortlaufendes zeitliches Nacheinander,

– und etwas Übergeordnetes.

Ein fünfter wechselwirkender Faktor existiert nicht.

 Nāgārjuna beschreibt die Wirklichkeit in unserer Welt durch vier verlässliche wechselwirkende Faktoren und nimmt damit Bezug zum Entstehen in Wechselwirkung, das er in der Präambel behandelt. Nach der Falsifizierung des Entstehens aus sich selbst oder aus dem anderen in Vers 1.1 erklärt Nāgārjuna in diesen Zeilen, dass bestimmte Zusammenhänge in der Wirklichkeit vorliegen, ohne die es keine Veranlassung oder Verursachung in der wechselwirkenden Welt und beim Menschen geben kann. Jeder Prozess und jede Vernetzung bedürfen einer gewissen Umgebung oder einer Situation, die er als Stütze bezeichnet.

Schließlich laufen in der sich ständig verändernden Welt zeitliche Prozesse unaufhaltsam und ohne Unterbrechung nacheinander ab. Das ist mit Abfolge gemeint. Außerdem nennt Nāgārjuna übergeordnete Bedingungen und Einflüsse, die zum Beispiel in der modernen Sozialwissenschaft mit dem Begriff Sinn bezeichnet werden.[iv] In jeder Gruppe und bei jedem Menschen sind derartige übergeordnete Richtlinien, Regeln und Bedingungen zu finden. Besonders deutlich ist dies bei religiösen Menschen und Gruppen, die einem bestimmten Glauben folgen.

Für unseren Weg der Befreiung benötigen wir verlässliche Fakten und Grundlagen über die Wahrheit des Lebens, sonst folgen wir irgendwelchen spekulativen Versprechen, Doktrinen oder sogar Dogmen, die nicht einzulösen sind. Dann werden wir enttäuscht. Diese Grundlagen für Wahrheit und Ethik finden wir in aller Klarheit bei Buddha und Nāgārjuna. Sie verstehen die Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und bauen darauf den Weg des Menschen als Prozess der Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung auf. Dazu gehört auch die Meditation, zum Beispiel des Zazen: die Entleerung des Geistes von Störungen durch Denken, Gefühle, Willen und sinnlose Planungen, also auch von Verhärtungen, Vorurteilen und schädlichen Doktrinen.

In diesem ersten Kapitel des MMK widerlegt Nāgārjuna überzeugend verschiedene Dogmatisierungen sowie den naiven Volksbuddhismus, Populismus und unnötige intellektuelle Verwirrungen. Es bildet die Grundlage für seine folgenden scharfsinnigen Analysen. Er möchte der doktrinären Erstarrung des Buddhismus seiner Zeit entgegentreten, enttarnt mit großer Lebenserfahrung und präziser Gedankenführung die Fehlentwicklungen und schafft Raum für neue fruchtbare Entwicklungen. Aus meiner Sicht geht er dabei als De-Konstruktivist[v] vor: Er destruiert verzerrte und unklar gewordene Begriffe und Vorstellungen, wie zum Beispiel eine fiktive ewige Eigen-Substanz für Dinge, Phänomene und Ereignisse (Dharmas), um anschließend konstruktiv eine wieder bereinigte und klare buddhistische Lehre und Praxis vorzulegen. Dies war in seiner Zeit umso wichtiger, weil auch ein wieder erstarkender absolutistischer Glaubens-Brahmanismus, der von der authentischen Lehre der Befreiung und Emanzipation eklatant abgewichen war, nach einer gewissen Integration von bestimmten buddhistischen Elementen den Buddhismus selbst unter Druck setzte.

Der falsche Glaube, dass irgendetwas in der Welt gänzlich aus sich selbst entstanden sei, wird durch die Realität nicht bestätigt. Alles entsteht in Wechselwirkung, ist miteinander vernetzt und enthält die vielfältigen Beziehungen von Ursache und Wirkung. Es gibt kein magisches Ur-Entstehen aus sich selbst, das auch die frühe griechische Philosophie prägte. Die Wechselwirkung wird eindeutig durch die heutige Psychologie und Gehirnforschung nachgewiesen. Zu den vier Faktoren dieser Wechselwirkung zählen erstens die kausale Veranlassung, dass nämlich überhaupt etwas Bestimmtes passiert, zweitens das Stützen, zum Beispiel durch die materielle Umgebung, drittens die zeitliche Abfolge der Prozesse und viertens etwas Übergeordnetes, wie zum Beispiel der Sinn des Ganzen oder auch das Göttliche. Diese Faktoren sind direkt nachvollziehbar, und sie sind im Einklang mit der modernen Systemtheorie. Weitere Faktoren gibt es nach Nāgārjuna nicht.

Durch unseren eigenen Willen und unser eigenes Handeln, also durch unsere Kräfte und Energien, können wir auf die genannten Faktoren in ihrer Vernetzung einwirken. Wir müssen also nicht alles passiv erdulden, ertragen und hinnehmen, sondern können aktiv mithilfe von Prozessen, die wir selbst steuern, eingreifen. Dabei sind gute Lehrer besonders hilfreich, schlechte aber sehr gefährlich, wie auch Zen-Meister Dōgen betont.

Wenn bei uns selbst und in der Welt dagegen überhaupt nichts entsteht, also Statik oder Erstarrung vorherrscht, gibt es keine Überwindung des Leidens und keine Veränderungen zum Guten. Wir wissen heute auch, dass durch Trägheit beim Menschen wegen fehlender Aktivierung des Gehirns eine frühe Demenz eintreten kann. Dann verkümmert der Geist, und das neuronale Netz schrumpft immer mehr. Das passiert nicht zuletzt, wenn man unreale simple Doktrinen nicht als solche erkennt, nicht hinterfragt und nicht genau beobachtet, ob sie unser Leben verbessern. Dies sollte unabhängig davon sein, ob sie uns als heilig verkündet werden oder nicht. Denn: Statische Weltbilder und absolute Glaubenssätze werden häufig von den jeweils herrschenden Eliten behauptet, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Art. Im alten Indien war eine solche Elite die Kaste der Brahmanen, die aus meiner Sicht auch die eigenen Privilegien durch absolute Doktrinen einer unveränderlichen Ewigkeit absichern wollten.

Im ersten Kapitel geht es zudem um die wichtigen Fragen, was wir in unserem Leben realistisch erreichen und erzielen können, welche Ergebnisse wir sinnvollerweise anstreben sollten und welche romantischen Utopien uns schaden. Für solche positiven Prozesse wird in der Psychologie der Begriff Selbstwirksamkeit verwendet. Wir müssen uns davor hüten zu glauben, dass ein erwünschtes Ergebnis ohne Veränderungen und Wechselwirkungen gewissermaßen „vom Himmel fällt“, so als ob es schon fertig irgendwo vorhanden wäre. Oder um es mit Wilhelm Busch zu sagen: „Der Schnupfen hockt auf der Terrasse, auf dass er sich ein Opfer fasse.“ Das ist philosophisch betrachtet Substantialismus: das Opfer als Ding und Entität. Diese Vorstellung lässt zeitliche Veränderungsprozesse außer Acht und betrachtet die Ursache sowie das Ergebnis jeweils wie ein isoliertes unveränderliches Ding. Das ist jedoch irreführend und realitätsfremd. Es ist zudem die behauptete Scheinwelt von weltlichen und religiösen Populisten, die es leider auch im Buddhismus gibt.

In der vorbuddhistischen indischen Philosophie wurde angenommen, dass die Welt aus ewigen unveränderlichen Bausteinen zusammengesetzt sei. Nāgārjuna beweist in diesem Kapitel jedoch, dass wir uns diese Dharmas gerade nicht als unveränderliche und unteilbare Bausteine oder Atome und Ideen-Bausteine vorstellen können. Eine solche absolute Substanz-Philosophie kann Wechselwirkungen, Prozesse und Veränderungen der Realität nicht sinnvoll erklären, sie ist daher mit Buddhas Lehre und unserer Lebenserfahrung der sich entwickelnden Veränderungen nicht vereinbar. Solche Doktrinen sind für unsere geistigen und psychischen Prozesse der wirklichen Befreiung, Emanzipation und Entwicklung völlig unbrauchbar und sogar gefährlich.

Damit legt Nāgārjuna die Grundlagen für die Lehre des Mittleren Weges der Wechselwirkungen, Kausalitäten, Lebensziele und der realistischen Ergebnisse. Er schildert, wie es möglich ist, ein gelungenes Leben zu führen und Befreiung zu erlangen. Das ist das Kernstück des MMK. Leitlinie und Hintergrund des Textes sind Buddhas authentische Schlüssellehren und -begriffe.

Im Buddhismus geht es um positive Veränderungen, deren Ergebnisse auch als Früchte bezeichnet werden können. Im Volksbuddhismus gibt es allerdings den Glauben und die Hoffnung, dass diese Früchte einfach und unverändert von einem Leben durch die Wiedergeburt zum nächsten weitergegeben werden. Dabei werden die Früchte als isolierte Dinge (Entitäten) und Eigen-Substanzen gedacht, auf die Wechselwirkungen nicht zutreffen würden. Nāgārjuna destruiert einen solchen simplen Glauben und warnt uns eindringlich davor, so etwas unreflektiert zu übernehmen, da es mit der erfahrbaren Wirklichkeit nicht übereinstimmt und uns letzten Endes nur schaden kann. Solche vereinfachenden Doktrinen führen also zu Enttäuschungen und Stillstand, und wir kommen auf dem Weg der Befreiung nicht voran. Nicht ein fernes isoliertes und erträumtes Ergebnis ist der Mittlere Weg der Überwindung von Hindernissen und Blockaden, sondern unser reales Handeln im konkreten Hier und Jetzt!

 Vers 1.14

Deswegen wird keine isolierte absolute Frucht erkannt, ganz gleich, ob sie aus wechselwirkenden realen Faktoren gemacht oder nicht aus wechselwirkenden Faktoren gemacht ist.

 Eine solche Frucht als substanzhaft Seiendes, als Eigen-Substanz, kann nicht erkannt werden. Eine wirkliche Frucht ist unauflösbar mit wirklichen wechselwirkenden Faktoren verbunden.

Damit kommt Nāgārjuna zum Resümee des ersten Kapitels, dass die buddhistischen Früchte, zum Beispiel die wirkliche Erleuchtung und die wirkliche Überwindung des Leidens, in der lebenden Wechselwirkung entstehen und nicht in irgendeiner Weise schon immer existieren oder in Zukunft unverändert existieren werden. Denn dann wären sie unveränderliche, unverbundene Entitäten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen und keinen Bezug zur Befreiung und Emanzipation des Menschen haben. Das wären fiktive Eigen-Substanzen, die es in der Wirklichkeit nicht gibt.


[i] Kalupahana, David J.: Causality: Central Philosophy of Buddhism

[ii] Vgl. in der Philosophie: Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz

[iii] Kalupahana, David J.: Causality: Central Philosophy of Buddhism

[iv] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie

[v] Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie

Unser dynamischer Weg des Lebens mit dem richtigen Kompass

 

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Das Kapitel über das Gehen und den Geher ist von zentraler Bedeutung für reale Prozesse im gesamten MMK, aber nicht leicht zu verstehen und zu deuten. Es hinterfragt tief sitzende Weltanschauungen und metaphysische Annahmen der Zeit vor Buddha, die später weitgehend unbemerkt die buddhistische Lehre untergraben haben. Es ist auch heute noch von größter Bedeutung im Hinblick auf dogmatische Fehlentwicklungen im Westen.

Dieses Kapitel ist in fünf Teile gegliedert. Zuerst geht es um den Weg, den wir begehen, also das Begangene. Wir können ihn als konkreten Weg verstehen, den wir jeden Tag gehen, oder symbolisch und gleichnishaft als buddhistischen Weg. Wir können den Weg auch als unsere geistige und psychische Bewegung begreifen, wie zum Beispiel Buddhas Achtfachen Pfad und den Weg der Mitte. Nāgārjuna beschreibt hier, wie und auf welche Weise solche Wege von uns tatsächlich begangen werden können und sollten und welche angeblichen Wege nur unbrauchbare oder sogar gefährliche Doktrinen sind. So gab es in der vorbuddhistischen Zeit Lehrmeinungen, die behaupteten, dass alle Bewegungen unwirklich und Fiktion seien, weil es in der Wirklichkeit keine Veränderungen gäbe. Ähnliche Strömungen waren auch in der antiken griechischen Philosophie zu finden, zum Beispiel bei Zenon mit der Verallgemeinerung unteilbarer Atome und sogar bei Pamenides und Plato im Hinblick auf angeblich ewige Ideen.

Für Buddha waren jedoch Veränderungen und wechselwirkende Prozesse für das Verstehen, die Überwindung des Leidens und die Befreiung grundlegend. Entsprechend klar sagt Nāgārjuna, dass wir nur in der Gegenwart wirklich prozesshaft gehen und der Weg wirklich begangen wird. Denn in der Vergangenheit und Zukunft gibt es unser Gehen nur in unserem Geist oder Gehirn als Vorstellung, Erinnerung oder Erwartung. Ein nur gedachter buddhistischer Weg ist nicht die Wirklichkeit hier und jetzt als Handeln und Leben – so wird es im Zen-Buddhismus ausgedrückt. Und wenn der buddhistische Weg durch erstarrte, unethische und machtorientierte Doktrinen beeinträchtigt ist, kommen wir auf ihm überhaupt nicht voran, denn ein solcher Weg kann von uns nicht wirklich begangen werden! Ideologien und Fixierungen geben nur eine scheinbare Sicherheit.

Es mag sein, dass wir in unserem Gehirn eine feste Vorstellung vom Befreiungsweg haben, aber wenn wir ihn nicht selbst konkret begehen, gibt es laut Nāgārjuna zwei begangene Wege: den wirklichen und den nur erdachten, geglaubten und theoretisch erlernten. Das führt zu Verwirrungen und „wegführenden Fehlentwicklungen“, wie es in der Präambel heißt.

Im zweiten Teil des Kapitels untersucht Nāgārjuna, wer eigentlich auf dem Weg geht. Er fragt uns, ob wir wirklich von einem Geher sprechen können, wenn dieser gerade steht, sitzt oder liegt. Ist er immer ein Geher bis an sein Lebensende? Und war er schon immer als Wesenskern oder als geglaubte unsichtbare unveränderliche Substanz ein Geher, vielleicht sogar, bevor er gehen lernte? Das klingt zunächst sicher verblüffend und verwirrend.

 

Vers 2.8

Es ergibt sich, dass der Geher nicht wirklich geht.

Allerdings geht der Nicht-Geher auch nicht.

Welcher Dritte geht, der ein anderer sein müsste als der Geher und der Nicht-Geher?

 

Kompakt kann man den Inhalt des Verses so zusammenfassen: Einen solchen substanzhaften unveränderlichen Geher, der von der Zeit völlig unabhängig ist, gibt es in der Wirklichkeit nicht. Denn er müsste immer und ohne Unterbrechung dauerhaft existieren. Da zum Beispiel ein Säugling noch nicht gehen kann, kann er auch kein Geher sein. Und weiter: Wenn ein Geher gar nicht existiert, kann er auch nicht gehen. Auch ein abstrakter Dritter geht nicht, denn es kann beim Gehen nur einen Geher und einen Nicht-Geher geben. Danach würden weder der Geher, noch der Nicht-Geher und auch nicht ein Dritter gehen. Diese Schlussfolgerungen Nāgārjunas haben für alles Folgende eine große Bedeutung. Eine unsichtbare unveränderliche Substanz oder Essenz eines Gehers ist natürlich Spekulation und unreale Metaphysik. Aber diese Weltanschauung ist auch heute noch weit verbreitet, sei es bewusst oder nicht bewusst.

An diese Fragen schließen sich allgemeinere Untersuchungen an, zum Beispiel: Wenn ein Lügner nicht lügt, ist er dann auch ein Lügner? Buddha beschreibt einen furchtbaren Massenmörder, der in seine Sangha eintrat und Erleuchtung erlangte. War er dann noch ein Mörder oder war er schon immer ein Erleuchteter? War er vielleicht schon voher Buddha und hat es nicht gewusst? Und wenn er wieder aus der Erleuchtung zurückfällt, ist er dann noch ein Erleuchteter? Wir sehen an diesen Beispielen, dass unsere Sprache oft falsche unveränderliche Fakten behauptet und Veränderungen sowie Emanzipationsprozesse ungenau oder sogar fehlerhaft beschreibt. Solche Doktrinen können den Weg der eigenen Entwicklung und Befreiung fundamental stören oder unmöglich machen. Das Gegenteil gilt für den Augenblick der Gegenwart in unseren vernetzten Lebensprozessen: In ihm liegt ein Maximum an Wirklichkeit und Erleben. Beim buddhistischen Weg geht es um den Prozess der Überwindung des Leidens durch das von uns selbst gesteuerte Training von Körper, Gefühlen und Geist: Das sind vernetzte Wechselwirkungen und keine Fiktionen, wie bereits in der Präambel unmissverständlich erklärt wird.

Eine besondere Gefahr der metaphysischen Verdinglichung und Verhärtung zur Substanzhaftigkeit und Essenz besteht besonders, wenn Lehren der menschlichen Veränderung und Prozesse wie diejenige von Gautama Buddha historisch übermittelt werden. Wie in Indien wird dann zum Teil das Maßgebliche der ursprünglichen Lehre nach einigen hundert Jahren nicht mehr angemessen wiedergegeben. Ich stimme mit Kalupahana darin überein, dass dies auf die Situation zur Zeit Nāgārjunas, etwa 650 Jahre nach Gautama Buddha, zutrifft.[i] Die beiden Doktrinen des Substantialismus und des Momentanismus drücken diese Erstarrung und Dogmatisierung der buddhistischen Lehre aus. Die Vertreter des Substantialismus, die Sarvastivadins, behaupteten die Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit von Dingen und Phänomenen. Die Vertreter des Momentanismus, die Sautrantikas, glaubten an das plötzliche existenzielle zeitliche Ende der Dinge und Phänomene und an deren plötzlichen Beginn aus dem Nichts.

 

Vers 2.20

Man könnte im Gegensatz dazu unterscheiden: „Der Geher ist etwas total anderes als der Gang.“

Daraus ergäbe sich aber, dass das Gehen ganz unabhängig vom Geher und der Geher ganz unabhängig von dem Gehen existieren.

 

Gehen, Gang und Geher sind nicht fundamental verschieden voneinander und keine getrennten unabhängigen metaphysischen Entitäten. Sie existieren nicht jeweils für sich selbstständig, dauerhaft und ewig.

Nāgārjuna beweist logisch präzise, dass es bei einem erstarrten Denken und Reden über das Gehen zwei Geher geben müsste: einen, der wirklich geht, und einen, den wir uns in unserem Gehirn abstrakt vorstellen. Nishijima Roshi sagt hierzu: „Die nicht reale Welt gibt es in unserer Vorstellung und unserem Denken. Wie wir tagtäglich beobachten können, beeinflussen solche Fiktionen und Ideen unser Handeln erheblich. Insofern existieren derartige Ideen sozusagen als Scheinrealitäten in unserem Gehirn.“ Aber die Wirklichkeit des gehenden Menschen ist nicht mehrfach dualistisch gespalten, sondern ein Ganzes: Ein Mensch geht auf dem Weg. Nāgārjuna arbeitet hier den gravierenden Unterschied zwischen Wirklichkeit und Theorien sowie Doktrinen heraus. Für unseren Befreiungsweg benötigen wir verlässliche Grundlagen und keine weltfremden metaphysischen Philosophien. Deshalb ist dieses Kapitel so wichtig.

Im dritten Teil wird scharfsinnig bewiesen, dass es beim Gehen auf einem Weg keinen Anfang und kein Ende geben dürfte, wenn man sich an Worte und bestimmte Theorien klammert. Dann versteht man das Gehen wie ein statisches Ding und als metaphysische unveränderliche Substanz. Das erweist sich natürlich bei genauer Analyse als falsch, wenn wir die Wirklichkeit unverstellt und direkt erfahren und beobachten. Denn wir Menschen gehen, schlendern, wandern oder eilen ganz selbstverständlich und weitgehend unbewusst, und ebenso beginnen und beenden wir das Gehen. Daraus folgt, dass wir die lebenden vernetzten Prozesse und die Wechselwirkungen des gehenden Menschen ganzheitlich verstehen müssen.

Im vierten und fünften Teil wird der gesamte Zusammenhang von begangenem Weg, dem Gehen als Handeln und dem gehenden Menschen analysiert. Dabei stellt Nāgārjuna fest, dass wir keinen Gang, keinen begangenen Weg und keinen Geher finden, wenn wir erstarrten statischen und substanzhaften Doktrinen anhängen.

 

Vers 2.25

Auch ein zugleich existierender und nicht existierender gewordener (Mensch) geht kein dreifaches Gehen.

Deswegen werden weder ein Gang oder ein Geher noch das, was begangen werden kann, gefunden.

 

Um die paradoxen Probleme bei getrennten, isolierten und unveränderlichen Entitäten für Geher, Gang, Gehen und Begangen-Werden zu vermeiden, müssen wir die wirklichen vernetzten Prozesse des Gehens und Begangen-Werdens genauer analysieren und von der Wirklichkeit des wechselwirkenden gemeinsamen Entstehens (pratitya samutpada) und der vernetzten Prozesse ausgehen. Mit der Destruktion scheinbar einfacher Begriffe und Vorstellungen möchte Nāgārjuna uns eindringlich dazu anregen, über das scheinbar Selbstverständliche von Gehen, Gang, Begangenem und Geher und andere Ereignisse und Prozesse nachzudenken, um ein naives und oft gefährliches Verständnis zu überwinden.

Es kommt genau auf den Augenblick unseres achtsamen unverstellten Handelns und Bewegens an. Eine solche Wirklichkeit ist ein lebendiges Ganzes auf dem Achtfachen Pfad und dem Mittleren Weg, eben das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Und wenn wir dies ungeteilt und ohne Ablenkung erfahren, erfüllt es uns mit Freude und Klarheit und befreit uns von Stress und sogar Angst. So regenerieren wir, wenn wir spazieren gehen. Diese Tatsache hat auch die heutige Gehirnforschung eindeutig nachgewiesen. Buddha, Nāgārjuna und Dōgen wussten es schon erheblich früher.

Wenn die Prozesse der Welt ohne metaphysische Scheinwelten von Doktrinen, Begriffen, Weltanschauungen und Illusionen, ohne isolierte und als dauerhaft angesehene Essenzen in gemeinsamer Wechselwirkung entstehen, wird die Welt im Sinne Nāgārjunas als leer bezeichnet. Im Zen-Buddhismus heißt es: die Wirklichkeit und das Handeln, „wie sie sind“. Dann kann sich die nahezu unbegrenzte Fülle der wirklichen menschlichen Potenziale mit all ihren auch unverhofften Möglichkeiten entfalten.

In diesem fundamentalen Kapitel geht es also um das klare Verständnis von Dynamik, Handeln, Bewegen und Prozessen. In den folgenden Kapiteln des MMK wird sich zeigen, dass die ausführliche Analyse und Argumentation zum Gehen auch für andere Prozesse und Vorgänge in gleicher Weise erfolgen kann und muss. Nāgārjuna verweist daher für Zusammenhänge und Schlussfolgerungen häufiger auf das zweite Kapitel. Es bildet die Grundlage für die Bearbeitung zentraler buddhistischer Fragen in späteren Kapiteln, zum Beispiel in Kapitel 25 (Nirvāna) und 24 (Vier Edle Wahrheiten).

Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung die vorgenommene Unterscheidung von Metaphysik und Wirklichkeit hat. Dazu ist es nützlich, die weltanschaulichen Grundlagen politischer und religiöser Katastrophen zu analysieren. So möchte ich ausdrücklich daran erinnern, dass „Ewige Wahrheiten“, deren Begriffe und absolute Bedeutungen wie „der Arier“ und „der Jude“ zu Fanatismus und Unmenschlichkeit führten und 50 Millionen Tote zur Folge hatten. Ähnliches gilt abgeschwächt zum Beispiel auch für Demagogien wie der Kapitalist, der Sozialist, der Farbige, der Flüchtling, der Unberührbare, die Hexe und für die meisten Verschwörungstheorien. Sie behaupten Menschen, deren Merkmale und Charakter unveränderlich seien und bekämpft werden müssten. Und ebenso können extreme Idealisierungen gefährlich sein.

 


[i] Kalupahana, David J.: A History of Buddhist Philosophy