Sonntag, 9. Januar 2022

MMK. Kap. 11: Anfang und Ende – Geburt, Leben und Tod

 

Der Tod, also das Ende dieses Lebens, wird in der modernen westlichen Welt weitgehend tabuisiert. Er sei das absolute Ende. Aber ist das überhaupt richtig? Leben die Kinder mit denselben Genen nicht weiter? Oder denken Sie an große Künstler der Musik oder Dichtung. Die lebendigen Wechselwirkungen gehen also wie gutes Karma weiter. Der physische Tod ist nur bei einer substanzhaften primitiven Weltsicht das absolute Ende. Mancher empfindet ihn als größte Katastrophe des Lebens überhaupt, wenn er wirklich eintritt. Allerdings dienen in den virtuellen Scheinwelten der Massenmedien wie Film, Fernsehen und Playstation Mord und Sterben der alltäglichen Unterhaltung; sie werden verfremdet, verharmlost, optisch aufwendig gestaltet. Das ermöglicht es der westlichen Wohlstandsgesellschaft offenbar, die Auseinandersetzung mit dem realen Tod zu vermeiden.

Kann die Lehre Gautama Buddhas Lösungen anbieten, das psychische und physische Leiden zu überwinden oder zumindest erträglich zu machen, das mit dem Sterben und Tod verbunden ist? Das Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und der Lebensängste war eine zentrale Schicksalsfrage des jungen Gautama, die ihn schließlich sein angenehmes und wohlhabendes Leben beenden und in die sogenannte Hauslosigkeit gehen ließ. Er wollte die Wahrheit der Befreiung und Erleuchtung finden. Nach intensiver, aber letztlich erfolgloser vedischer Meditation sowie vielen Jahren härtester Askese wurde ihm klar, dass diese beiden Wege nicht weiterführten: weder der religiöse Dogmatismus der damaligen Zeit noch die körperliche Askese. Das Ziel der damaligen Meditation war es, die Allwissenheit wie Brahman zu erlangen.[i] Da dieses Ziel für einen Menschen nicht erreichbar ist, musste Buddhas gesamte Meditation scheitern. Er hat dann das pragmatische Lebensziel erkannt und erfahren, das wahre Erwachen und die Befreiung zu verwirklichen. Nicht zuletzt durch seine neue Lehre und Praxis hat er der Menschheit ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Verkürzt kann man sagen: Buddha lehrte in diesem Leben die realisierbare Befreiung und Erleuchtung statt der unerreichbaren utopischen Allwissenheit.

Wie verlässlich berichtet wird, erlangte er die große Erleuchtung und Befreiung der Überwindung des Leidens, als er in der Morgendämmerung meditierte und in der Natur den Morgenstern erblickte. Oder erblickte der Morgenstern Gautama Buddha? Denn die Auflösung des Dualismus von denkendem Ich-Geist und externen Denkobjekten ist wesentlich für seinen radikal neuen Entwicklungsweg der Befreiung. Dieser Weg vermeidet die Extreme, die doktrinär oder dogmatisch überzogen sind und damit die Wirklichkeit und das Handeln verzerren und verstellen. Die Allwissenheit und die absolute Wahrheit sind zum Beispiel solche Extreme, die auch im MMK radikal abgelehnt werden.

Extreme und überzogene Doktrinen wie die Vorstellung vom absoluten Anfang und absoluten Ende untersucht Nāgārjuna in diesem Kapitel. Er geht den Fragen nach, was es mit dem Anfang und Ende von Dingen und Prozessen in der Welt auf sich hat und was wir über den Anfang und das Ende des Menschen wissen. Dabei falsifiziert er unbrauchbare buddhistische metaphysische Doktrinen seiner Zeit, die substantialistische Verdinglichungen und Entitäten beinhalten. Sie können den wechselwirkenden Prozessen des Lebens und des Universums nicht gerecht werden. Bereits Buddha hatte klar gesagt, dass der absolute Anfang und das absolute Ende nicht erforschbar seien und es wenig Sinn mache, sich zu viel damit zu beschäftigen und so den eigenen Geist nutzlos einzusetzen. Später wurde diese Aussage Buddhas durch eine ungenaue Übertragung aus dem Pali in Sanskrit so verändert, dass sie lautete, es gebe keinen Anfang und kein Ende. Es muss aber statt „Anfangslos ist die Welt“ richtig heißen: „Der Anfang der Welt kann nicht erfasst werden.“ Nāgārjuna betont:

 

Vers 11.1

Der große Weise, Gautama Buddha, sagte: „Ein (absolut) früherer Anfangs- und Eckpunkt (des Lebens) ist nicht erkennbar.“

Denn das Wandern im Lebensprozess in dieser Welt hat nichts (absolut) Nachfolgendes oder nichts Vorderstes. Es gibt dafür keinen Anfang und kein Letztes als Ende.

 

Durch dieses Zitat Buddhas wird erklärt, dass bei klarer Betrachtung ein isolierter Anfangspunkt des Lebens nicht erkannt werden kann. Im Sinne der indischen Philosophie und auch des Buddhismus sind damit sowohl das jetzige Leben als auch die möglichen früheren Leben gemeint, die im Wanderungsprozess, dem Samsāra, nacheinander abgelaufen sind. Die Aufeinanderfolge von Wiedergeburten wurde im indischen Buddhismus nicht besonders hinterfragt, denn dieser Kreislauf sei mit dem Erreichen der Erleuchtung zu Ende. Die Frage, was mit einem Erleuchteten nach dem Tod passiert, in welchem Zustand er ist oder wo er sich aufhält, hat Buddha selbst nicht beantwortet. Er hielt sie auch für unwichtig oder für falsch gestellt. Die gesamte buddhistische Lehre legt den Schwerpunkt ohnehin nicht auf die früheren und späteren Leben, weil solche Vorstellungen laut Buddha und Nāgārjuna zu spekulativen metaphysischen Theorien führen. Für die Überwindung der Schmerzen und des Leidens sowie für die Bewältigung der Aufgaben des Lebens seien solche Spekulationen nicht hilfreich oder sogar kontraproduktiv.

Nāgārjuna bezieht sich in diesem Vers also indirekt auf die wenig fruchtbare Doktrin des Substantialismus, die dauerhafte und unveränderliche Entitäten für alle Phänomene postuliert. Mit einer solchen Weltanschauung ist die Frage nach einem „früheren Anfangspunkt“ tatsächlich sinnlos, weil sie keinen Prozessablauf vorsieht. Ähnliches gilt für den Momentanismus, der die Verbindung der einzelnen fiktiv getrennten unendlich kurzen zeitlichen Bausteine nicht zufriedenstellend erklären kann. Nishijima Roshi hält dazu fest: „Unser Leben ist ein Grund zur größten Freude, auch wenn es Höhen und Tiefen hat.“ Buddhas Lehre unterscheide sich damit fundamental von den Glaubensreligionen, die das jetzige Leben häufig als Jammertal einschätzen und ein paradiesisches oder aber qualvolles jenseitiges Leben voraussagen würden.

Nāgārjuna arbeitet heraus, welche unsinnigen Konsequenzen sich aus der Annahme von substantialistischen Entitäten oder isolierten, unverbundenen Dingen für Anfang und Ende ergeben.[ii] Dann hätten diese jeweils ein eigenes ewiges Wesen, es gäbe auch keine Mitte und kein Jetzt, keinen gegenwärtigen Augenblick und keine dynamische Sein-Zeit, denn dabei sind prozesshafte und vernetzte Veränderungen maßgebend, die sich weiter fortsetzen. Daher bedurfte es auch im Buddhismus mutiger Erneuerer, die zu neuen Ufern der Menschlichkeit aufbrachen. Für mich ist Gautama Buddha wie kaum ein anderer ein solcher großer Mensch und wahrer Humanist. Nāgārjuna und Dōgen führen diese Arbeit fort und bringen sie in unsere moderne Zeit.

In diesem Kapitel warnt Nāgārjuna also vor spekulativen und oft Angst auslösenden Gedanken über das Altern und Sterben, weil dann das wirkliche Leben verpasst wird. Er destruiert verabsolutierende Doktrinen, die einen Ur-Anfang des Lebens postulieren, ohne dafür plausible Gründe oder Beweise anzugeben.

 

Vers 11.8

Es wird weiterhin kein ursprünglicher Grenz- und Eckpunkt des Anfangs für das Wandern in der Welt gefunden. Auch für alles (substantiale) Seiende wird kein Grenz- oder Eckpunkt des Anfangs gefunden.

 

Hier erweitert Nāgārjuna die Falsifizierung der substantialistischen Extreme von Existenz oder Nicht-Existenz auf das Wandern der Wiedergeburt im Samsāra und alles Seiende sowie auf die Dinge und Phänomene der Welt. Dieser Vers setzt damit die vorherigen Aussagen und Destruktionen fort.

Nishijima Roshi fasst zusammen: „Der Wert unseres Lebens hängt wesentlich davon ab, dass wir das Ende einbeziehen. Unser Dasein ist kurzlebig, und das macht es so überaus wertvoll.“ Aber unabhängig davon, ob wir den Wert des Lebens und der Welt erkennen würden, seien die verschiedenen Dinge und Phänomene wirklich vorhanden, in ihrer Würde und Schönheit. Ihr Wert sei also unabhängig davon, ob wir ihn aufgrund von Verblendung nicht sehen. „Es ist sicher richtig, dass wir es bisher häufig versäumt haben, den Wert der Schönheit des Lebens wirklich zu erkennen“, so Nishijima Roshi.

Der naive Glaube an die Wiedergeburt ist leider auch heute in manchen esoterischen Gruppen anzutreffen: Viele behaupten zum Beispiel, die Wiedergeburt von berühmten Persönlichkeiten wie Kleopatra oder Alexander dem Großen zu sein. Buddha und Nāgārjuna empfehlen aber eindeutig, sich nicht mit solchen Spekulationen und doktrinären Fantasien zu beschäftigen. Wenn endloses Grübeln den eigenen Geist beherrscht und verdunkelt, bleiben nämlich die Pragmatik des Lebens, die Lebensfreude, die Überwindung des Leidens und die Befreiung zu einem glücklichen Leben auf der Strecke.

 



[i] Kalupahana, David J.: A History of Buddhist Philosophy, S. 3ff.

[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 206ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 115ff.