Der Tod, also das Ende dieses Lebens, wird in der
modernen westlichen Welt weitgehend tabuisiert. Er sei das absolute Ende. Aber
ist das überhaupt richtig? Leben die Kinder mit denselben Genen nicht weiter?
Oder denken Sie an große Künstler der Musik oder Dichtung. Die lebendigen
Wechselwirkungen gehen also wie gutes Karma weiter. Der physische Tod ist nur
bei einer substanzhaften primitiven Weltsicht das absolute Ende. Mancher
empfindet ihn als größte Katastrophe des Lebens überhaupt, wenn er wirklich
eintritt. Allerdings dienen in den virtuellen Scheinwelten der Massenmedien wie
Film, Fernsehen und Playstation Mord und Sterben der alltäglichen Unterhaltung;
sie werden verfremdet, verharmlost, optisch aufwendig gestaltet. Das ermöglicht
es der westlichen Wohlstandsgesellschaft offenbar, die Auseinandersetzung mit
dem realen Tod zu vermeiden.
Kann die Lehre Gautama Buddhas Lösungen anbieten, das
psychische und physische Leiden zu überwinden oder zumindest erträglich zu
machen, das mit dem Sterben und Tod verbunden ist? Das Zur-Ruhe-Kommen des
Leidens und der Lebensängste war eine zentrale Schicksalsfrage des jungen
Gautama, die ihn schließlich sein angenehmes und wohlhabendes Leben beenden und
in die sogenannte Hauslosigkeit gehen ließ. Er wollte die Wahrheit der
Befreiung und Erleuchtung finden. Nach intensiver, aber letztlich erfolgloser
vedischer Meditation sowie vielen Jahren härtester Askese wurde ihm klar, dass
diese beiden Wege nicht weiterführten: weder der religiöse Dogmatismus der
damaligen Zeit noch die körperliche Askese. Das Ziel der damaligen Meditation
war es, die Allwissenheit wie Brahman
zu erlangen.[i] Da dieses Ziel für einen
Menschen nicht erreichbar ist, musste
Buddhas gesamte Meditation scheitern. Er hat dann das pragmatische Lebensziel
erkannt und erfahren, das wahre Erwachen und die Befreiung zu verwirklichen.
Nicht zuletzt durch seine neue Lehre und Praxis hat er der Menschheit ganz neue
Möglichkeiten eröffnet. Verkürzt kann man sagen: Buddha lehrte in diesem Leben die realisierbare Befreiung
und Erleuchtung statt der unerreichbaren
utopischen Allwissenheit.
Wie verlässlich berichtet wird, erlangte er die große
Erleuchtung und Befreiung der Überwindung des Leidens, als er in der Morgendämmerung
meditierte und in der Natur den Morgenstern erblickte. Oder erblickte der
Morgenstern Gautama Buddha? Denn die Auflösung des Dualismus von denkendem Ich-Geist und externen Denkobjekten ist wesentlich für
seinen radikal neuen Entwicklungsweg der Befreiung. Dieser Weg vermeidet die Extreme, die doktrinär
oder dogmatisch überzogen sind und damit die Wirklichkeit und das Handeln
verzerren und verstellen. Die Allwissenheit und die absolute Wahrheit sind zum
Beispiel solche Extreme, die auch im MMK radikal abgelehnt werden.
Extreme und überzogene Doktrinen wie die Vorstellung
vom absoluten Anfang und absoluten Ende untersucht
Nāgārjuna in diesem Kapitel. Er geht den Fragen nach, was es mit dem Anfang und
Ende von Dingen und Prozessen in der Welt auf sich hat und was wir über den
Anfang und das Ende des Menschen wissen. Dabei falsifiziert er unbrauchbare
buddhistische metaphysische Doktrinen seiner Zeit, die substantialistische
Verdinglichungen und Entitäten beinhalten. Sie können den wechselwirkenden
Prozessen des Lebens und des Universums nicht gerecht werden. Bereits Buddha
hatte klar gesagt, dass der absolute Anfang und das absolute Ende nicht
erforschbar seien und es wenig Sinn mache, sich zu viel damit zu beschäftigen
und so den eigenen Geist nutzlos einzusetzen. Später wurde diese Aussage
Buddhas durch eine ungenaue Übertragung aus dem Pali in Sanskrit so verändert,
dass sie lautete, es gebe keinen Anfang und kein Ende. Es muss aber statt
„Anfangslos ist die Welt“ richtig heißen: „Der Anfang der Welt kann nicht
erfasst werden.“ Nāgārjuna betont:
Vers 11.1
Der große Weise, Gautama Buddha, sagte: „Ein
(absolut) früherer Anfangs- und Eckpunkt (des Lebens) ist nicht erkennbar.“
Denn das Wandern im Lebensprozess in dieser Welt hat
nichts (absolut) Nachfolgendes oder nichts Vorderstes. Es gibt dafür keinen
Anfang und kein Letztes als Ende.
Durch dieses Zitat Buddhas wird erklärt, dass bei klarer Betrachtung ein
isolierter Anfangspunkt des Lebens nicht
erkannt werden kann. Im Sinne der indischen Philosophie und auch des
Buddhismus sind damit sowohl das jetzige Leben als auch die möglichen früheren
Leben gemeint, die im Wanderungsprozess, dem Samsāra, nacheinander abgelaufen
sind. Die Aufeinanderfolge von Wiedergeburten wurde im indischen Buddhismus
nicht besonders hinterfragt, denn dieser Kreislauf sei mit dem Erreichen der
Erleuchtung zu Ende. Die Frage, was mit einem Erleuchteten nach dem Tod
passiert, in welchem Zustand er ist oder wo er sich aufhält, hat Buddha selbst
nicht beantwortet. Er hielt sie auch für unwichtig oder für falsch gestellt.
Die gesamte buddhistische Lehre legt den Schwerpunkt ohnehin nicht auf die
früheren und späteren Leben, weil solche Vorstellungen laut Buddha und Nāgārjuna
zu spekulativen metaphysischen Theorien führen. Für die Überwindung der
Schmerzen und des Leidens sowie für die Bewältigung der Aufgaben des Lebens
seien solche Spekulationen nicht hilfreich oder sogar kontraproduktiv.
Nāgārjuna bezieht sich in diesem
Vers also indirekt auf die wenig fruchtbare Doktrin des Substantialismus, die
dauerhafte und unveränderliche Entitäten für alle Phänomene postuliert. Mit
einer solchen Weltanschauung ist die Frage nach einem „früheren Anfangspunkt“
tatsächlich sinnlos, weil sie keinen Prozessablauf vorsieht. Ähnliches gilt für
den Momentanismus, der die Verbindung der einzelnen fiktiv getrennten unendlich
kurzen zeitlichen Bausteine nicht zufriedenstellend erklären kann. Nishijima Roshi hält dazu fest: „Unser
Leben ist ein Grund zur größten Freude, auch wenn es Höhen und Tiefen hat.“
Buddhas Lehre unterscheide sich damit fundamental von den Glaubensreligionen,
die das jetzige Leben häufig als Jammertal einschätzen und ein paradiesisches
oder aber qualvolles jenseitiges Leben voraussagen würden.
Nāgārjuna arbeitet heraus, welche unsinnigen Konsequenzen sich aus der
Annahme von substantialistischen Entitäten oder isolierten, unverbundenen
Dingen für Anfang und Ende ergeben.[ii]
Dann hätten diese jeweils ein eigenes ewiges Wesen, es gäbe auch keine Mitte
und kein Jetzt, keinen gegenwärtigen Augenblick und keine dynamische Sein-Zeit,
denn dabei sind prozesshafte und vernetzte Veränderungen maßgebend, die sich
weiter fortsetzen. Daher bedurfte es auch im Buddhismus mutiger Erneuerer, die
zu neuen Ufern der Menschlichkeit aufbrachen. Für mich ist Gautama Buddha wie
kaum ein anderer ein solcher großer Mensch und wahrer Humanist. Nāgārjuna und Dōgen
führen diese Arbeit fort und bringen sie in unsere moderne Zeit.
In diesem Kapitel warnt Nāgārjuna
also vor spekulativen und oft Angst auslösenden Gedanken über das Altern und
Sterben, weil dann das wirkliche Leben verpasst wird. Er destruiert verabsolutierende
Doktrinen, die einen Ur-Anfang des Lebens postulieren, ohne dafür plausible
Gründe oder Beweise anzugeben.
Vers 11.8
Es wird weiterhin kein ursprünglicher Grenz- und
Eckpunkt des Anfangs für das Wandern
in der Welt gefunden. Auch für alles (substantiale) Seiende wird kein Grenz- oder Eckpunkt des Anfangs gefunden.
Hier erweitert Nāgārjuna die
Falsifizierung der substantialistischen Extreme von Existenz oder
Nicht-Existenz auf das Wandern der Wiedergeburt im Samsāra und alles Seiende
sowie auf die Dinge und Phänomene der Welt. Dieser Vers setzt damit die vorherigen
Aussagen und Destruktionen fort.
Nishijima Roshi fasst zusammen: „Der Wert unseres Lebens hängt
wesentlich davon ab, dass wir das Ende einbeziehen. Unser Dasein ist kurzlebig,
und das macht es so überaus wertvoll.“ Aber unabhängig davon, ob wir den Wert
des Lebens und der Welt erkennen würden, seien die verschiedenen Dinge und
Phänomene wirklich vorhanden, in ihrer Würde und Schönheit. Ihr Wert sei also
unabhängig davon, ob wir ihn aufgrund von Verblendung nicht sehen. „Es ist
sicher richtig, dass wir es bisher häufig versäumt haben, den Wert der
Schönheit des Lebens wirklich zu erkennen“, so Nishijima Roshi.
Der naive Glaube an die
Wiedergeburt ist leider auch heute in manchen esoterischen Gruppen anzutreffen:
Viele behaupten zum Beispiel, die Wiedergeburt von berühmten Persönlichkeiten
wie Kleopatra oder Alexander dem Großen zu sein. Buddha und Nāgārjuna empfehlen
aber eindeutig, sich nicht mit solchen Spekulationen und doktrinären Fantasien
zu beschäftigen. Wenn endloses Grübeln den eigenen Geist beherrscht und
verdunkelt, bleiben nämlich die Pragmatik des Lebens, die Lebensfreude, die
Überwindung des Leidens und die Befreiung zu einem glücklichen Leben auf der
Strecke.