Montag, 10. Januar 2022

Vorwort zum Mittleren Weg von Zenmeisterin Doris Zöls

 

Liebe Leserinnen und Leser, dieser Text macht die Lehren Shākyamuni Buddhas mit seinen Kernaussagen, den wechselseitigen Abhängigkeiten, der Leerheit wie der Einheit und der Fähigkeit des Menschen, dazu zu erwachen, zu seinem zentralen Thema.

Im Lauf der Geschichte und auch heute noch schleichen sich immer wieder Fehlinterpretationen dieser Lehre Buddhas ein. Buddhas Aussagen sind nicht mit dem unterscheidenden Geist zu erkennen, sie stehen in großem Widerspruch zu unserer „üblichen“ Logik. Wir Menschen sehnen uns nach dem Unveränderlichen, nach einem festen unveränderlichen Wesenskern, einem beständigen Absoluten, das in unserer Existenz wirksam ist und uns trägt. Doch wir brauchen nicht tief zu schürfen, um zu erkennen, dass diese Sehnsucht eine Schimäre ist und nie erfüllt werden kann. Es gibt nichts Beständiges. Das Leben ist, wie Heraklit es ausdrückt, immer im Fließen. Halten wir Menschen dennoch an einer absoluten, unverrückbaren Wahrheit fest, sind Glaubenskämpfe unvermeidlich. Jeder meint, das Absolute erkannt zu haben, es zu begreifen und dann auch noch gegenüber anderen verteidigen und durchsetzen zu müssen. Die Komplexität des Lebens, sein unentwegter Wandel kann nicht in einem Konzept aufgehen. Ein statisches Welt- und Lebensbild ist eine Scheinsicherheit für uns Menschen, ein Selbstbetrug. Durchschauen wir nicht diese Lebenslüge, stürzt uns diese Haltung unweigerlich ins Leiden.

Zum Glück gab es auch immer wieder weise Menschen, die es sich zur Aufgabe machten, dieser irrigen Vorstellung einer Entität entgegenzutreten. Nāgārjuna war eine solche herausragende Persönlichkeit. Er interpretierte nicht nur Buddhas Worte neu, er erfasste die Wirklichkeit nicht mit dem unterscheidenden Denken, sondern erkannte sie in wechselseitiger Abhängigkeit, als Leerheit und Einheit. Nārgājuna versuchte mit dem Mittleren Weg, die irrigen Interpretationen aus ihrer Verengung herauszuführen. So wurde er einer der ganz großen Interpreten, der Buddhas Lehre durch seine präzisen Ausführungen wieder ins rechte Licht rückte. Dieses Werk ist für fast alle buddhistischen Linien des späteren Mahāyāna in Indien, des Chan in China, Korea und Japan und des tibetischen Buddhismus von entscheidender Bedeutung.

Yudo Seggelke vertiefte sich in diesen Mittleren Weg und greift Nāgārjunas Ausführungen auf. Ihm ist wichtig darzulegen, dass es Nāgārjuna wie Buddha selbst nicht um intelligente, philosophische Ideen als solche ging, sondern dass das Erleben dieser Wirklichkeit die Befreiung der Menschen bedeutet. Nāgārjuna setzt Wissen und Erleben nicht in Gegensatz. Yudo Seggelke schreibt Nāgārjunas Schriften daher eine zentrale Bedeutung zu, die Bewusstwerdung des Menschen auch bei uns im Westen zu befördern.

Wir sind heute so oft festgefahren in unseren Meinungen, kämpfen für unsere Überzeugungen und geraten immer tiefer in kriegerische Auseinandersetzungen. Die Schriften der alten Meister können uns wachrütteln. Sie verweisen auf eine Weisheit, die sich jenseits von Meinungen und Begriffen entfaltet.

Yudo Seggelke zeigt mit seinem Buch auf: Wir brauchen ein neues Verstehen, das über die Begrifflichkeiten, die dem unterscheidenden Geist obliegen, hinausgeht. Die Begriffe müssen für uns lebendig werden, uns erfassen und in uns wirksam werden. Dieses neue, ganzheitliche Erfassen der Wirklichkeit fordert von uns, dass wir unsere Erkenntnis, die sich auf den bewertenden und unterscheidenden Geist stützt und im Dualismus stecken bleibt, zurücknehmen und in ein „Nicht-Denken“ kommen. Dies hat nichts mit Unwissenheit oder gar Dumpfheit zu tun, im Gegenteil. Bei dem „Nicht-Denken“ geht es um ein aktives, ganz waches Erkennen dessen, was ist, ohne es durch unsere Begrifflichkeiten einzuengen. Durch diese Geisteshaltung entfaltet sich eine Weisheit, die Buddha und in seiner Nachfolge Nāgārjuna lehrten. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Erkennen kann nicht intellektuell mit dem unterscheidenden Geist geschehen, sondern es bedarf eines „Bodhicitta“, eines unmittelbaren Erwachens zu dem, was ist.

Die Entfaltung des Mittleren Weges lässt die Menschen die Dualität übersteigen, führt sie aus den unheilsamen Extremen heraus. Das Verharren bei einem „entweder – oder“ gibt es nicht mehr, stattdessen wird alles in seiner wechselseitigen Abhängigkeit und seiner Leerheit erkannt. Es ist ein „Nicht-Wissen“, das uns für diese Erkenntnis der Zusammenhänge des Lebens öffnet. Unser scheinbares Wissen ist hingegen eine Unwissenheit, die uns in Gier und Hass treibt. Um aus ihnen herauszufinden und sich zu befreien, bedarf es daher der tiefen Einsicht in die Leerheit und die wechselseitige Abhängigkeit allen Seins und Werdens. Es ist ein Bewusstwerden, das oft mit Achtsamkeit beschrieben wird. Dieses Wort ist heute in aller Munde, doch wird oft nicht wirklich verstanden, worum es dabei geht. Die Achtsamkeit, verstanden als Bewusstwerdung, besteht aus zwei Aspekten: Einerseits geht es bei ihr um die Konzentration, d.h. den Ablenkungen des Geistes nicht zu folgen, und andererseits darum, sich bewusst zu werden, was geschieht. In dieser Geisteshaltung entfaltet sich ein Verstehen der Zusammenhänge des Lebens.

Diese Achtsamkeit zu praktizieren, dafür steht die Zen-Praxis. Sie ist das bewusste Sein im Hier und Jetzt. Genau darin offenbart sich eine neue Wirklichkeit. Es ist ein unmittelbares, ganz natürliches Sosein, es ist absichtslos und erlebbar als Flow, in dem keine Vorstellungen und Erwartungen mehr Platz haben.

Durch seine Akzentuierung, die neuen Erkenntnisse der Buddhismusforschung und seine Erläuterungen zum MMK werden Yudo Seggelkes Ausführungen zu einem wichtigen Impuls für unseren Zen-Weg im Westen. Das Erwachen befreit uns von unseren Vorstellungen einer eigenständigen Entität. Wir treten in den Fluss ein, der Weg der Offenheit und Freiheit ist geebnet. Gleichzeitig wird erkannt, wie sehr alles miteinander verbunden ist und sich im Gesetz von Ursache und Wirkung vollzieht.

Yudo Seggelke greift die drängenden Sinnfragen der heutigen Zeit auf und bezieht sie auf die großen Erkenntnisse Buddhas und Nāgārjunas. Ich gratuliere ihm zu diesem Buch, das uns einen wunderbaren Einblick in den Mittleren Weg schenkt und dabei unsere Lebensfragen immer im Auge hat.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich beim Lesen dieses Buches inspirierende Stunden.

 

Doris Zölls

(Zen-Meisterin und ehemalige spirituelle Leiterin des Benediktushofes)