The Preamble of the Middle Way -
Master Nagarjuna
Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Die folgende inhaltliche
Zusammenfassung der vier Verse der Präambel stützt sich auf Nishijima Roshi
sowie den Buddhologen Kalupahana[i]
und auf meine eigene Interpretation. Basis ist die präzise wörtliche
Übersetzung der Indologin Elisabeth Steinbrückner, die zur Klärung der
Bedeutung des MMK einen wichtigen Beitrag leistet.
Das MMK ist ein Lehrgedicht oder – wie Nishijima Roshi sagte – ein
Gesang. Die wichtigen Themen werden in der Präambel wie in einer Ouvertüre
kompakt vorgestellt, um später in den einzelnen Kapiteln vertieft und
ausführlich behandelt zu werden. Die
Präambel umreißt den Rahmen und Ausgangspunkt des Mittleren Weges. Es gab und
gibt heftige Kontroversen über Inhalt und Bedeutung dieser ersten Verse. Sie
lenken unseren Geist und unser Leben auf das große Anliegen Buddhas und
Nāgārjunas, uns von bisherigen Begrenzungen und Hindernissen durch das Leiden
zu befreien und uns auf ein erfülltes Neuland zu leiten. Dieses Vorhaben ist
also in hohem Maße emanzipatorisch, therapeutisch und kreativ. Denn wenn wir
das Leiden überwunden haben, können wir ein neues Leben mit Freude, Glück,
innerer Ruhe und im Gleichgewicht führen. Wenn das gelingt, bezeichnet es
Buddha als Erwachen, und wir nennen es heute meist Erleuchtung. Und diese
Befreiung kann grundsätzlich jeder Mensch verwirklichen.
Die zentrale
Ursache für ein unerfülltes, leidvolles Leben ist die Fixierung auf erstarrte
Ideologien, Dogmen und die Abhängigkeit von Gier, Hass und Unwissenheit. Dieser
Kausalzusammenhang ist nach Buddhas Lehre und Erfahrung weitgehend durch unsere
eigene Vernunft und Achtsamkeit zu
erkennen und durch neue, von uns selbst gesteuerte weiterführende Impulse zu
verändern. Ein begrenzter Verstand reicht im Gegensatz zur umfassenden Vernunft
dafür jedoch nicht aus.[ii]
Die Klarheit unseres eigenen Geistes im wechselwirkenden Zusammenhang mit sich,
anderen Menschen und der Welt kann uns dabei den rechten Weg weisen, der ein
kraftvoller Weg der Mitte ist, der ideologische und dogmatische Extreme
vermeidet. Extreme sind nach Buddha niemals wahr. Mich überzeugt diese Praxis
und Philosophie Buddhas und Nāgārjunas in hohem Maße.
Auch im
Buddhismus müssen die wichtigen Begriffe laufend reflektiert und einer
kritischen Analyse unterzogen werden. Das kann wie bei Nāgārjuna dadurch
geleistet werden, dass sie auch zu ihrer
eigenen Negation in Beziehung gesetzt werden, zum Beispiel: Entstehen und Nicht-Entstehen. Nāgārjuna möchte
meines Erachtens für den authentischen Buddhismus eine neue belastbare
Grundlage zurückgewinnen und gleichzeitig die seit Buddha entstandene positive
Entwicklung in Indien integrieren und vital weiterführen. Die in seiner Zeit
eingetretenen Fehlentwicklungen und philosophischen Verwirrungen möchte er
dabei dingfest machen und einer wirklich radikalen kritischen Beurteilung
unterziehen. Allerdings sind seine Texte nicht einfach zu verstehen, sie waren
und sind daher vielfältigen Missverständnissen ausgesetzt. Wenn wir jedoch
heutiges Wissen aus der Wissenschaft und Philosophie damit verbinden, gewinnt
der Buddhismus neue Klarheit und Dynamik für unsere Gegenwart, und die
menschliche Freiheit der Entscheidung für den Erleuchtungsweg und für unsere
Selbstverwirklichung wird philosophisch zwingend begründet.
Im
Vers 1 der Präambel werden die berühmten acht Negationen aufgeführt. Sie haben
damals und heute viel geistige Verwirrung und psychologischen Unsinn erzeugt.
Nach unserem Verständnis bedient sich Nāgārjuna
in der Präambel und im gesamten MMK folgender philosophischer Architektur: Er
stellt die Kernbegriffe und Behauptungen der Gegner zuerst ohne Bewertung an
den Anfang und entwickelt dann daraus die logischen Schlussfolgerungen. Wenn
sich diese als unsinnig, absurd und in sich widersprüchlich erweisen, sind die
Behauptungen der Gegner damit zwingend falsifiziert.
Zuerst geht es im Vers 1 um das Nicht-Entstehen
(an-utpāda) als zu falsifizierende Doktrin von isolierten
Entitäten und unveränderlichen ewigen Substanzen. Denn es könnte auf diese
Weise gar kein wahres Entstehen und keine Befreiung geben. Eine solche Doktrin
ermöglicht bei genauer Analyse überhaupt keine Veränderung, Befreiung und
Emanzipation und widerspricht damit fundamental der Kernlehre Buddhas.
Vers
2 der Präambel
Buddha, der vollkommen Erwachte, zeigte das
wechselwirkende gemeinsame Entstehen,
das beglückende Aufhören der wegführenden
Fehlentwicklungen und Verwirrungen.
Ihn, den besten der Sprechenden und Lehrenden,
verehre ich.
Dieser
Vers ist von zentraler Bedeutung für das gesamte MMK. Er dient als präziser
Bezug für die von Nāgārjuna durchgeführten Analysen von Fehlentwicklungen des
Buddhismus. Aus meiner Sicht wird er auch heute oft zu wenig beachtet und nicht
in seiner ganzen Tiefe gewertet. Besonders der Begriff Entstehen wird zum Schlüssel für das Verständnis des MMK: wechselwirkendes gemeinsames Entstehen
(pratitya samutpāda), also Ko-Entstehen und Verändern in Wechselwirkung. Nur
mit diesem Verständnis kann die fortlaufende Veränderung in der vernetzten
Dynamik des Lebens und der Welt sinnvoll erfasst werden. Das ist genau unsere
Willensfreiheit zur guten Veränderung und entspricht der Lehre Buddhas. Und nur
so machen die Vier Edlen Wahrheiten, der Achtfache Pfad und die Befreiung mit
zwölf Faktoren wirklich Sinn.
Das Beglückende Aufhören der
wegführenden Fehlentwicklungen: Wegführende
Fehlentwicklungen sind Verwirrungen, verlassen die wahre Lehre und blockieren
den Befreiungsweg. Wir verlieren uns dann in einem Gestrüpp unklarer Begriffe,
erstarrter Vorstellungen, absoluter Dogmen und falscher Handlungen. Um diese
Fehlentwicklungen beenden zu können und den Mittleren Weg zu beschreiten,
brauchen wir zweifellos Klarheit in Körper und Geist und geübte Kräfte zum
rechten Handeln. Dann werden die zerstörerischen und hemmenden Extreme
vermieden und unsere Weiter- und Fortentwicklung wird gefördert, um Freiheit,
Emanzipation und Erleuchtung zu erlangen. Der grundsätzlich richtige Weg wird
also im zweiten Vers der Präambel vorgestellt und im weiteren Verlauf des MMK
genauer untersucht.
Nāgārjuna betont, dass er Gautama Buddha als den „besten der Sprechenden
und Lehrenden“ schätzt und hoch verehrt, und unterstreicht damit sein Vertrauen in die authentische Lehre.
Von besonderer Bedeutung ist die Klarheit darüber, was Nāgārjuna mit wechselwirkendem gemeinsamem Entstehen (pratitya samutpāda) sagen will und wie er es vom nicht gemeinsamen Entstehen (anutpāda)
abgrenzt, das im ersten Vers der Präambel mithilfe der berühmten acht
Negationen falsifiziert wurde. Wesentlich ist zudem der Zusammenhang von
wechselwirkendem gemeinsamem Entstehen und der Leerheit. Wer die Bedeutung der
Leerheit nicht aus dem MMK, sondern aus anderen, nicht zuverlässigen Texten
ableitet, wird kaum Klarheit darüber gewinnen können.
Wegen der menschlichen Sehnsucht nach ewigen, absoluten Wahrheiten und
den entsprechenden verborgenen Substanzen und Entitäten, die uns Sicherheit und
Halt im Leben geben könnten, sind manche Menschen besonders anfällig für
populistische, dogmatische oder gar extremistische Antworten. Diese führen aber
noch tiefer in Unsicherheiten und stürzen diese Menschen in wegführende
Fehlentwicklungen. Es ist also Vorsicht geboten! Wie zu verfahren ist, wird in
den folgenden Kapiteln des MMK analysiert.
In der Präambel führen wie gesagt zwei Schlüsselbegriffe in das große
Werk MMK ein: erstens das wechselwirkende
gemeinsame Entstehen als konstruktive positive Aussage der buddhistischen
Befreiung und zweitens das Nicht-Entstehen
und Festhalten an
alten, verhärtenden und leidbringenden Mustern, Prägungen und Verhaltensweisen.
Solche dogmatischen erstarrten Muster verhindern die Befreiung und den Weg zur
Erleuchtung. Die Weisheit und Praxis des Buddhismus können bei einer solchen
substanzhaften und statischen Ideologie nicht wirksam werden. Es ist
erstaunlich, dass in zwei, zur Zeit Nāgārjunas weit verbreiteten buddhistischen
Schulen dieses statische Verständnis vorherrschte. Nāgārjuna enttarnt diese
irrigen Scheinwahrheiten mit unnachgiebiger Präzision: Es handelt sich um die
Doktrinen des Substantialismus und Momentanismus.
Der Begriff Nicht-Entstehen
kann undogmatisch allerdings auch dialektisch verstanden werden.[iii]
Er kann sich dann auf die Wechselwirkung beziehen und neue Einsichten
ermöglichen. Beide Male verwendet Nāgārjuna daher den Sanskrit-Begriff utpada, der „Entstehen“ bedeutet:
Erstens benutzt er ihn positiv in der Verbindung mit sam, was „zusammen“, „gemeinsam“ und „kombiniert“ heißt, also samutpāda – „gemeinsames
Entstehen“. Zweitens verwendet er die Form der Negation von utpāda,
die die fehlende Entwicklung und das Nicht-Entstehen bedeutet. Nāgārjuna
verneint auf diese Weise eine verengte dinghafte und erstarrte Vorstellung und
Ideologie des Entstehens und isolierten Nicht-Entstehens von Phänomenen. Bei
einer solchen statischen Doktrin werden die wirklichen Veränderungen und der
Prozesscharakter ausgeschlossen.
Lebendiges Entstehen gelingt nur in Wechselwirkung und nicht isoliert
allein aus sich selbst heraus. Die Wechselwirkung kann nur in zeitlichen,
vernetzten Prozessen ablaufen. Dies ist ein unverzichtbares Verständnis der
dynamischen Wirklichkeit und des Flows
in der Welt, ganz gleich wie genau man sie im Detail oder als Ganzes
analysieren und verstehen kann. Denn die Wirklichkeit von vernetzten Systemen,
zum Beispiel von Ökosystemen und vom neuronalen Netz des menschlichen Gehirns,
kann nach heutiger gesicherter Kenntnis nur durch rückgekoppelte Prozesse in
Verbindung mit entsprechenden Strukturen sinnvoll beschrieben werden.
Wechselwirkung ist daher für alles Lebendige typisch und charakteristisch. Eine
Beschreibung der Wirklichkeit durch eindimensionales, unidirektionales
„abhängiges Entstehen“, wie es bisher im Buddhismus bisweilen üblich war, ist
eine verengte Sichtweise, die nach meiner Überzeugung viele Irrtümer zur Folge
hatte. Es ist erstaunlich, dass Buddha bereits vor 2500 Jahren diese
systemischen Vernetzungen der Natur klar erkannt hat. Leider ist dieses Wissen
in der Folgezeit verengt oder ganz verwirrt worden. Mit diesem
Paradigmenwechsel werden nun die Verständlichkeit, Klarheit und
Wirkkraft des MMK nachhaltig verbessert.
In der Präambel führt
Nāgārjuna also die berühmten acht Behauptungen in Form von Negationen von
zentralen buddhistischen Begriffen ein, die oft missverstanden wurden. Sie
wurden sogar als der neue Buddhismus gefeiert, und Nāgārjuna wurde als neuer
Buddha bezeichnet. Das ist jedoch ein fatales Missverständnis! Nāgārjuna wählt
bei den Negationen exemplarisch markante Begriffspaare aus, die in seiner Zeit
in verschiedenen angeblich buddhistischen Sekten und Lehrrichtungen behauptet
wurden, aber nach Nāgārjuna sektiererisch falsch verstanden wurden. Auf dieses
unzureichende Verständnis bezieht er seine Destruktionen und Falsifikationen,
indem er alle wichtigen Lehren Buddhas durcharbeitet. Er kennzeichnet damit die
falsche absolutistische Sichtweise, die keine Veränderungen, Entwicklungen und
Emanzipation zulässt.
Im Gegensatz zu den acht
sektiererischen Negationen lehren Buddha und Nāgārjuna die richtigen Fundamente
der buddhistischen Befreiung und Erleuchtung: Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und
Verhinderung von dessen Entstehen; Zur-Ruhe-Kommen und Beenden falscher Extreme
und damit die gute Fortdauer und Nachhaltigkeit der Befreiung; die Freiheit und
Willensfreiheit für den Sinn unseres Lebens und die gute Wirkung heilsamer
Ziele für unser Denken, Fühlen und Handeln. Schließlich wird der Nihilismus
radikal abgelehnt, weil es Ankunft und Fortgehen in der Wirklichkeit unseres
Lebens nachweisbar gibt.
Ein solches isoliertes und
erstarrtes Verständnis des Lebens sollten wir auch heute im Westen besonders
gründlich analysieren, wo der Individualismus aus den Fugen geraten ist und ein
hohler Materialismus und übersteigerter Egoismus um sich greifen. Das kann
helfen, um das rechte Verständnis des Buddhismus zu gewinnen.
Die viel beschworene
Willensfreiheit des Westens ist mit einem illusorischen Individualismus und dem
unveränderlichen metaphysischen Sein gerade nicht vereinbar! Es ist für uns
erstaunlich, dass dieser radikale Widerspruch von vielen Philosophen nicht
richtig erkannt wurde und heute noch vernachlässigt wird. In der Phänomenologie
müsste es aus unserer Sicht daher heißen: „zum Leben selbst“ und nicht nur verengt „zu den Sachen selbst“ wie in der westlichen Philosophie (Edmund Husserl).
Und das Leben ist durch gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und Willensfreiheit
gekennzeichnet. Zudem werden die materiellen und ideellen Sachen häufig als
metaphysische unveränderliche Pseudo-Substanzen verstanden. Dann wird um
unsinnige Extrem-Aussagen gestritten: Gibt es die absolute Freiheit oder den
absoluten Determinismus? Diese Frage ist in sich unsinnig.
Ein typisches polarisiertes
Begriffspaar sind im MMK beispielhaft die Formulierungen der Präambel „nicht
zur Ruhe kommen“ und „beglückendes Aufhören der wegführenden (ungesteuerten) Fehlentwicklungen“. Denn es sind zentrale Eckpunkte des Buddhismus, unser
Gleichgewicht zu finden und Befreiung mit unserer Willens- und
Entscheidungsfreiheit zu realisieren, zur Ruhe zu kommen und den kraftvollen
Mittleren Weg zu gehen. Darauf können wirkungsvolle Therapien aufbauen. Das heißt,
dass wir aus dem Leiden herauskommen, wenn wir verhärtete Ideologien und
Vorstellungen von isolierten dinghaften Sachen und ewigen unsichtbaren und
somit illusorischen Pseudo-Substanzen ausschalten. Denn der Glaube an solche
Substanzen lässt Unruhe und Hektik entstehen und negiert die erkennbaren
wechselwirkenden Veränderungsprozesse. Damit werden die brauchbaren Dimensionen
der Befreiung vernachlässigt oder verdrängt.