Erstarrte, unheilsame und doktrinäre Verhaltens- und Denkmuster führen zu Unfreiheit und Leiden. Solche Prägungen können unbewusst oder bewusst sein. Aber sie sind nach Buddhas Lehre nicht statisch oder starr, sondern veränderlich und können durch heilsame Lernprozesse überwunden werden. Wir müssen die unheilsamen, negativen Kräfte also zur Ruhe kommen lassen und zu Klarheit und zur Leerheit gelangen.[i] Diese Leerheit eröffnet uns den Zugang zum Befreiungsweg der Mitte, wie Nāgārjuna es sagt.[ii] Die Mitte bedeutet das Gleichgewicht in der Dynamik unseres Lebens, das sind unser guter Flow und die Überwindung von Extremen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Aber das ist sicher einfacher gesagt als getan. Viele Menschen identifizieren sich sogar mit ihren Vorurteilen, Mustern und unheilsamen formenden Kräften und meinen, diese seien ihr Ich oder ihre Persönlichkeit. Kann das richtig sein? Sicher nicht.
In diesem Kapitel geht es um Verhaltensmuster,
Prägungen und formende psychische und geistige Kräfte sowie deren Veränderungen
und Steuerungen. Es geht um Wandel und vor allem um Befreiung von Fixierungen
und absoluten dogmatischen Konzepten. Damit erarbeitet Nāgārjuna wichtige
Grundlagen für weitere Analysen im MMK: Wie das Leiden wirklich zur Ruhe kommen
kann und wie festgefahrene restriktive Muster und hemmende Strukturen von
Psyche und Geist überwunden werden. Dann können Körper, Geist und Psyche zu
neuem Leben und zum Heilsamen verändert werden. Das gilt heute mindestens so
wie früher. Denn im Buddhismus gibt es die klare Wahrheit, dass sich alles
verändert, im Wandel ist und dass es nichts Dauerhaftes, Absolutes und Ewiges
gibt. Unveränderliches existiert nur in Doktrinen, Ideologien, unheilsamen
Sichtweisen und bestenfalls spekulativen Philosophien. Aber das ist nicht die
erlebbare Wirklichkeit. Auch wenn Idealisten und Romantiker dies vielleicht
bedauern mögen, ich verstehe es als Chance und Hoffnung.
Die ständigen Veränderungen gelten nicht nur für
Lebewesen, sondern auch für die Materie. Wir wissen, dass unsere Erde etwa
sechs Milliarden Jahre alt ist und sich dauernd verändert. Seit etwa drei
Milliarden Jahren gibt es Leben auf der Erde. Beim Menschen geht es sowohl um
Veränderungen zum Schlechteren, etwa
Krankheiten, Trennungen, depressive Phasen oder Verarmung, aber vor allem um
Veränderungen zum Besseren. Zu
Letzterem zählen Lern- und Befreiungsprozesse, materieller Fortschritt, eine
neue gute Partnerschaft oder Genesung von einer schweren Krankheit. Es ist
einleuchtend, dass es keine dauerhaften unveränderlichen
Existenzen in der realen Welt geben kann, weder bei der Materie noch bei
den Lebewesen. Hier unterscheidet sich der Buddhismus fundamental von den
westlichen Philosophien, die unveränderliche Ideen (Platon) oder das
unveränderliche metaphysische Sein in den Mittelpunkt der philosophischen
Analysen stellen. Buddha fragte also, wie wir selbst steuernd auf die
Veränderungen und Wechselwirkungen einwirken können.
Wenn man an eine ideelle oder religiöse ewige und dem
Menschen gegenüberstehende Existenz glaubt, zum Beispiel einen Gott, den
Aristoteles den „Unbewegten Beweger“ nennt, gäbe es in dieser Hinsicht eine
dauerhafte Absolutheit. Im Brahmanismus gilt die ewige Unveränderlichkeit vor
allem für Brahman und Ātman. Buddha und Nāgārjuna konzentrieren sich jedoch auf
diese Welt der Beobachtungen und auf die Erfahrungen unseres Lebens. Im Hier
und Jetzt gibt es eben keine dauerhafte
unveränderliche Existenz und keinen plötzlichen totalen zeitlichen Abbruch
der Phänomene und Prozesse ins Nichts, sondern das Entstehen und Vergehen in
Wechselwirkung. Um diese genau zu beobachten und zu erfahren, bedarf es der
geschulten Achtsamkeit. Sie ist die Richtschnur und wichtige Methode der
eigenen positiven Entwicklung und Befreiung. Die Frage ist nun, wie wir unser Leben emanzipativ und therapeutisch
gestalten können, um Hemmnisse zu überwinden und die Prozesse des Erwachens zu
beleben und zu aktivieren.
Nāgārjuna
behandelt in diesem Kapitel grundlegende Zusammenhänge von psychischen,
geistigen und handlungsorientierten Mustern (in Sanskrit samskāra), die mit den formenden Kräften unseres Lebens
zusammenwirken. Buddhas Methoden eröffnen Chancen der Veränderung und
Emanzipation und lassen einengende Doktrinen zur Ruhe kommen. Dabei wird in
diesem Kapitel zum ersten Mal im MMK direkt auf die Leerheit verwiesen. Sie
bedeutet Freiheit von fixierenden unheilsamen Verhaltensmustern, Prägungen und
Doktrinen.
Nishijima Roshi sagt dazu:
„In Chinesisch und Japanisch wird dieser
wichtige Sanskrit-Begriff samskāra
durch ein Zeichen repräsentiert, das Handeln oder Tun bedeutet.“ Ähnliches wird
im Wörterbuch Sanskrit – Englisch von
Monier-Williams für den verwandten Sanskrit-Begriff aufgeführt, nämlich
folgende Bedeutungen: zusammenfügen, gut
formen, perfekt machen, vervollständigen, schmücken, reinigen, fertigmachen,
vorbereiten usw.[iii] Nishijima Roshi erläutert:
„Damit wird deutlich, dass dieser Begriff ganz eng mit dem wirklichen Handeln zusammenhängt. Er unterscheidet sich damit von
abstrakten Vorstellungen und Konzepten oder einem losgelösten Geist. In diesem
Kapitel geht es um den Zusammenhang des subjektiven Lebens mit den vielfältigen
Gegebenheiten der Dinge und Phänomene und mit dem augenblicklichen Handeln in
der wirklichen Welt im gegenwärtigen Augenblick.“ Er unterstreicht: „Ich habe
daher den Begriff ‚wirkliches Handeln‘ als Übersetzung für das Wort samskāra gewählt. Für mich ist damit das
wirkliche Handeln in der wirklichen Welt im gegenwärtigen Augenblick
bezeichnet.“ Das wirkliche Handeln sei als Schnittstelle zwischen dem
subjektiven Erleben und der heterogenen Welt zu verstehen. Und das wahre
Handeln in der Realität könne sich nur vollziehen, wenn wir im Gleichgewicht
des Mittleren Weges seien.
Auch
aus meiner Sicht sollte das Handeln und Verändern festgefahrener und hemmender
Verhaltensmuster für das Verständnis des Begriffes samskāra im Mittelpunkt stehen: Unheilsame und fixierte psychische
und geistige Muster sollen verlernt
und in heilsames Handeln „umgelernt“
werden. Die moderne Gehirnforschung sagt uns, dass so etwas möglich ist! Diese
Bedeutung halte ich für umfassender als die bisher häufig gebräuchlichen
Übersetzungen wie „Tatabsichten“, „Zusammensetzungen“, „Dispositionen“,
„Bestimmungen“ oder „Veranlagungen“, weil das Tun, Handeln und Lernen sowie
deren wirkliche Steuerung zentrale befreiende Fähigkeiten unseres Lebens sind.
Demgegenüber sind Absichten und Bestimmungen im besten Fall Teil-Ursachen für
das Handeln, aber nicht die ganze Wirklichkeit des Handelns selbst. Peter Gäng
verwendet den Begriff „formende Kräfte“, der auch für mich überzeugend ist.[iv]
Ich möchte den Ausdruck „formende Kräfte“ und „Handeln“ benutzen, aber auch
weitere Begriffe wie „Prägungen“ und „Handlungsmuster“.
Aus
der Gehirnforschung haben wir also heute recht gute Kenntnis über die
entsprechenden Funktionen des neuronalen Netzes. Es handelt sich um Bahnungen,
Teilnetze und Module, die einerseits prägend sind und damit eine gewisse
Dauerhaftigkeit haben, aber andererseits selbst durch Handeln als Lernprozesse
verändert werden können. Diese Erkenntnisse entsprechen nach meinem Verständnis
ziemlich genau der Bedeutung des Begriffs samskāra.
Auch wenn im MMK der Bezug zu vielen Stellen aus den authentischen Reden
und Schriften Buddhas erkennbar ist, so erwähnt Nāgārjuna im MMK nur ein
einziges originales Sūtta von Buddha, das Kaccānagotta
suttam
– Buddhas Lehrrede zum Mittleren Weg und zur Vermeidung von Extremen. Der
Mittlere Weg hat eine enge Beziehung zur Leerheit, um die es hier auch geht.[v]
Dieses Sūtta hat also eine
herausgehobene Bedeutung für das gesamte MMK, weshalb es sinnvoll und notwendig
ist, diesen Text genau zu analysieren. Er enthält in sehr kompakter Form die
zentralen Eckpunkte, an denen Nāgārjuna seine Argumente festmacht.
Buddha
erläutert dem verehrten Kaccāna die
beiden extremen Alternativen der Existenz
und der Nicht-Existenz oder anders
ausgedrückt: „Es ist“ oder „Es ist nicht“. Die Destruktion dieser
Extreme und unvereinbaren Positionen ist für die fulminante Lehre des Mittleren
Weges von größter Bedeutung und die Grundlage des MMK. Beide Extreme sind laut
Nāgārjuna in der Welt nicht real sichtbar und höchst spekulativ: „Existenz“
würde Dauerhaftigkeit und unveränderte Ewigkeit bedeuten, „Nicht-Existenz“ das
Nichts. Das Nichts darf aber auf keinen Fall mit der Leerheit verwechselt werden, mit der Nāgārjuna das wechselwirkende
gemeinsame Entstehen (pratitya samutpada)
ohne Täuschungen bezeichnet.
Buddha erklärte die Nicht-Existenz
im ersten Teil des Sūtta und seiner Antwort für den jungen Kaccāna. Er legte dabei ein Weltbild der positiven
Veränderungen und Prozesse und nicht der unveränderlichen Entitäten und
Substanzen zugrunde. Dies nennt er die „rechte Erkenntnis des Entstehens in der
Welt“. Die Sichtweise der Nicht-Existenz lehnte Buddha besonders im Hinblick
auf das Entstehen eindeutig ab. Es
ist also nicht sinnvoll zu sagen, es
entsteht irgendetwas aus dem absoluten
Nichts oder aus der Nicht-Existenz.
Denn in den Prozessen und Abläufen der Welt gibt es immer ein Vorher, aus dem
sich das Nachfolgende entwickelt, und ein Nachher. Dies gilt vor allem beim
wechselwirkenden vernetzten Entstehen.
Bei
allen Veränderungen im Ablauf der Zeit dürfen wir jedoch die herausragende
Bedeutung des Augenblicks und des Jetzt für unser Erleben und Erfahren
nicht aus den Augen verlieren. Die unmittelbare Wirklichkeit ist uns am besten im Augenblick zugänglich. Dies gilt
besonders beim wahren Handeln und in der Meditation ohne Vorstellungen von
Gegenständen, Gedanken und Doktrinen. Das ist Zazen und eine sehr wichtige
Wahrheit des Chan- und Zen-Buddhismus. Zusammenfassend kann man sagen: Die Klarheit und Weite des Augenblicks als
Zeitpunkt und der zeitliche Prozess der Veränderungen lassen sich nicht
trennen. Oder anders ausgedrückt: Der wahre Augenblick gibt den lebenden Impuls für Veränderungen und
die Emanzipation des Menschen auf dem Befreiungsweg, wie Buddha überzeugend
selbst erfahren und gelehrt hat.
Augenblick
und zeitlicher Prozess gehören also zusammen und bedingen sich in
Wechselwirkung. Man kann sie nicht trennen. Daher spricht Dōgen von vier verbundenen Zeiten der höchsten
Weisheit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Augenblick.[vi]
Bei der Art der Klarheit des Augenblicks unterscheiden sich verschiedene
Menschen radikal. Die große umfassende Klarheit kann man mit dem Erleuchtungserlebnis,
dem Erwachen oder Hellblick gleichsetzen: Ohne
Klarheit im Augenblick gibt es keine Klarheit im Leben und auch keine Klarheit
beim Entscheiden.
Aus
der Gehirnforschung wissen wir, dass unsere Erinnerung nicht wie die
unveränderliche Speicherung beim Computer funktioniert. Die menschlichen
Informationen der erinnerten Vergangenheit werden je nach Zustand von
Körper-und-Geist-und-Gefühlen im Augenblick reaktiviert. Sie werden dann wieder
abgespeichert, jeweils emotional „gefärbt“ und verändern sich daher meist
deutlich im Lauf des Lebens: Wer mit einem Geist des Ingrimms und Hasses etwas erinnert und wieder abspeichert,
verändert damit das Erinnerte selbst immer mehr zum Negativen. Auch das
Umgekehrte kann man häufig beobachten: Die gute
alte Zeit und das damalige Erleben werden im Lauf des Lebens immer goldener
und schöner. Aber wenn man diese Verhaltensweisen und Funktionen unseres
Gehirns kennt, kann man mit gründlicher Achtsamkeit und Selbstreflexion
wirkungsvoll gegensteuern.
Die
formenden Kräfte des Geistes und der Psyche sind also eng mit unseren
Weltanschauungen und Doktrinen verbunden. Unheilsame formende Kräfte führen
zwangsläufig ins Leiden. Nāgārjuna analysiert im folgenden Vers genauer, wie
das wahre und falsche Verständnis dieser Kräfte unterschieden werden kann:
Vers 13.1
Der Erhabene sprach: „Was trügerische Phänomene
(Dharmas) hat, das ist illusorisch und vergebens.“
Und alle formenden Kräfte und prägenden Muster können
diese trügerischen Dharmas haben. Dadurch sind diese formenden Kräfte und
Verhaltensmuster dann illusorisch und vergebens.
Die
formenden Kräfte und Verhaltensmuster (samskāra)
des Menschen können also verblendende und täuschende Phänomene haben. Sie
führen dann zu unheilsamem Handeln, Denken und Fühlen. Buddha sagt nicht, dass
alle formenden Kräfte immer und absolut trügerisch und unheilsam sind, wie
manche Autoren behaupten. Vielmehr geht es ihm genau um diejenigen formenden
Kräfte und Muster, die trügerisch sind, weil sie trügerische Phänomene
beinhalten. Klare, heilsame Verhaltensmuster sind jedoch für unser Leben und die
rechte Sichtweise der Wirklichkeit außerordentlich wichtig. Wahres
Handeln ist gerade ein Kennzeichen der Bodhisattvas und ist in Wechselwirkung
mit heilsamen formenden Kräften und den rechten Verhaltensmustern, wie
Nishijima Roshi bestätigt.
Es ist für mich erstaunlich,
wie weit die verschiedenen Interpretationen des Begriffs samskāra auch bei bekannten Autoren voneinander abweichen. Hier
muss sicher noch Grundlagenforschung ansetzen, um notwendige Klärungen zu
erarbeiten. Dazu möchte ich hiermit einen Beitrag leisten. Dabei kann die
Gehirnforschung tragfähige neue Einsichten einbringen, denn unser Gehirn und
neuronales Netz ist nicht zuletzt ein Muster erkennendes und erzeugendes
System.[vii]
Nāgārjuna zitiert am Beginn
dieses Verses Buddha, der ganz einfach davon spricht, dass etwas in der Welt
unwahr ist, das trügerische Dinge, Phänomene und Prozesse hat. Das wird im
Folgenden vertieft analysiert und mit den Komponenten des Menschen in
Verbindung gebracht.[viii]
Verhaltensmuster sind vor
allem dann trügerisch, wenn wir sie als unveränderliche konstante Entitäten,
als „fixiertes Seiendes“ und nicht als wechselwirkendes und prozesshaftes
gemeinsames Entstehen begreifen. Wenn wir uns etwas als unveränderliche
dauerhafte Entität oder Substanz vorstellen, bewegen wir uns im Bereich der
Ideologien, Dogmen, Fiktionen und der Metaphysik. Nach Heidegger ist die
Metaphysik auch im Westen am Ende.[ix]
Manchmal handelt es sich um naiven Glauben, der aber nicht im Bereich der
klaren Beobachtung unserer Wirklichkeit zu Hause ist. Denn die Wirklichkeit ist
komplex und hoch vernetzt, sie ist nicht eindimensional. Da sich alles in der
Welt verändert, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit, kann es
unveränderliche Einheiten überhaupt nicht geben. Dies gilt gerade für die
menschliche Komponente der formenden Kräfte. Im Fall von unveränderlichen
Entitäten wären auch keine Prozesse der Befreiung, Weiterentwicklung und
Emanzipation des Menschen möglich. Die formenden Kräfte müssen dann als
„unwahr“ bezeichnet werden, wenn sie als statisch und unveränderlich gedacht
werden.
Nāgārjuna zieht in diesem Kapitel die
Schlussfolgerung, dass Leerheit der
maßgebliche Begriff für das wechselwirkende
gemeinsame Entstehen und die formenden Kräfte von Geist und Psyche ohne
Blockaden ist:
Vers 13.2
Weil das, was trügerische Dharmas hat, illusorisch
und vergebens ist, fragt sich, was dort betrogen wird.
Und dieses (was betrogen wird) ist die Leerheit, die
durch den Erhabenen genannt und voll erhellend ist.
Das ist eine fulminante
Aussage! Die Leerheit ist die Bezeichnung für die Wirklichkeit ohne täuschende
Dinge, Phänomene und Prozesse. Dies wird leider häufig falsch
verstanden. Durch die Leerheit wird nach Nāgārjuna der Mittlere Weg zur
weiteren Befreiung und zum Erwachen eröffnet.
Die Wirklichkeit wird aber oft durch vielfältige Ideologien, Doktrinen und
Verblendungen unwahr. Das heißt, Leerheit kann es bei einer Weltanschauung und
Doktrin von unveränderlichen Entitäten und Substanzen (Substantialismus)
überhaupt nicht geben. Leerheit bedeutet: ohne Verblendungen und ohne
unheilsame Doktrinen.
Nishijima
Roshi übersetzt den Sanskrit-Begriff shūnyatā (Leerheit) mit
„Gleichgewichtszustand“. Er hält das vulgäre Verständnis der Begriffe Leerheit
oder Leere für irreführend, unklar und sogar für gefährlich. Denn es gehe nicht
um das Nichts, sondern gerade um die
volle Wirklichkeit der Welt und des
Lebens. Shūnyatā beziehe sich also auf eine Welt, die nicht durch Ideologien
oder täuschende sinnliche Wahrnehmungen sowie Emotionen verdeckt und verzerrt
sei. So folgert er, „dass der Begriff des
Gleichgewichts für mich besser geeignet erscheint“. Vereinfacht ausgedrückt
sagt Nāgārjuna, dass es die höchste Wahrheit ist, dass die Welt leer von der Doktrin einer absoluten Wahrheit und
substantialistischer unveränderlicher Substanzen ist: Absolute Doktrinen sind
nicht wirklich. Damit sind sie gerade nicht leer und daher unwahr. Sie führen
zum Schmerz und Leiden.
Vers 13.8
Die Leerheit wurde von den siegreichen Buddhas als
Ausweg für alle (doktrinären und täuschenden) Ansichten gepriesen.
Aber (die Buddhas) bezeichneten diejenigen als
unheilbar, die die Leerheit selbst als doktrinäre Ansicht haben und sich daher
nicht vollenden können.
Dieser Vers warnt eindringlich davor, dass Leerheit
selbst zur absoluten Ideologie erhoben wird. Ein Mensch mit solcher Doktrin sei
unheilbar! Ein ungenaues oder sogar falsches Verständnis der Leerheit vertreten
leider manche Autoren, die Nāgārjunas Präzisierungen offensichtlich nicht
kennen. In manchen buddhistischen Gruppen gibt es vereinfachte und
abenteuerliche Vorstellungen von Leerheit. Die Verbindung des Begriffs Leerheit
mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung analysiert Nāgārjuna allerdings
detailliert im Kapitel 24 des MMK. Offensichtlich war ihm bewusst, dass gerade
der Begriff und die Bedeutung der Leerheit erhebliche Unsicherheiten erzeugen
kann.
Wer die Veränderlichkeit ablehnt und eine dauerhafte unveränderliche Substanz, Essenz, Existenz, Entität oder die fiktive Wirklichkeit des ātman, des Substanz-Selbst oder der Dharmas behauptet, steht im fundamentalen Widerspruch zu Gautama Buddha. Seine Befreiungslehre beinhaltet als buddhistische Kernweisheit gerade die Veränderlichkeit und Umwandlung sowie das Zur-Ruhe-Kommen der Gifte Gier, Hass und Verblendung. Um aus dem Leiden dieser Welt herauszukommen, sind Veränderungs- sowie Lern- und Verlernprozesse voller Kreativität unabdingbar. Absolute Doktrinen sind dagegen verhängnisvoll. Sie müssen erkannt und tatkräftig mithilfe der Lehren Buddhas aufgelöst werden. Durch die Leerheit von absoluten Doktrinen können sich die formenden Kräfte dann positiv entfalten und neue kreative Entwicklungen steuern.
[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 217ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s
Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 128ff.
[ii] Nagarjuna: MMK, Kapitel 24, Vers 18
[iii] Monier-Williams, Monier: Sankrit-English Dictionary
[iv] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 43ff.
[v] Die Verbindung von gemeinsamem Entstehen in
Wechselwirkung, Leerheit und Mittlerem Weg analysiert Nāgārjuna in Kapitel 24,
Vers 18 des MMK.
[vi]
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 50ff.
[vii] Spitzer, Manfred:
Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln
[viii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 43ff.
[ix] Heidegger, Martin:
Zeit und Sein