Sonntag, 9. Januar 2022

Brennstoff und Feuer – ein Gleichnis des wahren Lebens? MMK, Kap. 10

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Das Thema Feuer und Brennstoff hatte schon vor der Zeit Buddhas in Indien eine große Bedeutung für die Menschen und gab Anlass zu vielfältigen philosophischen Überlegungen, aber auch zu abstrakten Spekulationen. Feuer oder Wärme ist im Weltbild der alten Inder ein materielles Element. Dies mag uns überraschen, da wir uns unter Materiellem etwas Festes, Flüssiges oder Gasförmiges vorstellen, aber nicht Wärme, Feuer und Hitze. Gleichwohl ist Wärme auch aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht mit den materiellen physikalischen oder chemischen Prozessen der Oxidation verbunden.

Den physikalischen Prozess des Brennens und der Freisetzung von Hitze kann man wie folgt erklären: Die materielle Bindungsenergie des Brennstoffes oder Feuerholzes wird nach dem Anzünden in Wärme umgewandelt und zum Beispiel in die Luft abgegeben. Das heißt, durch die Trennung der in der Materie gebundenen Elemente wird deren Bindungsenergie freigesetzt. Die Masse bleibt beim Verbrennungsvorgang erhalten, und der Brennstoff wandelt sich in Asche und Gase um, die in die Luft entweichen. Hauptsächlich wird dabei Kohlenstoffdioxid frei.

Beim Brennen handelt es sich also um einen wechselwirkenden Prozess zwischen Brennstoff und umgebender Luft. Das Feuer brennt so lange, wie frischer Brennstoff vorhanden ist. Nur ein systemhafter Ansatz kann diese materielle Wirklichkeit einigermaßen zufriedenstellend beschreiben. Während die Lichtenergie, die beim Brennen abgegeben wird, direkt wahrgenommen werden kann, sind die entstehenden Gase für unsere Augen unsichtbar. Wenn fester Kohlenstoff als Verbrennungsrückstand in Form von Rauch abgegeben wird, ist er wiederum sichtbar. Ohne dieses heutige physikalische Verständnis, das den Indern noch nicht zur Verfügung stand, ist der Prozess des Verbrennens naturwissenschaftlich nicht zu verstehen, wenngleich er durchaus plausibel beschrieben werden kann.

Aus den obigen rein materiellen Überlegungen wird bereits deutlich, dass die naiven Aussagen, der Brennstoff sei total identisch mit dem Feuer oder total verschieden vom Feuer, ein unzureichendes und zu stark vereinfachtes Modell des Gesamtsystems sind. Das Modell von Feuer und Brennstoff war einer der zentralen Beweise der Substantialisten für die absolute Trennung und Differenz von Dingen und Phänomenen, den Dharmas.[i] Hier setzt Nāgārjuna seine De-Konstruktion mit seiner typischen philosophischen Präzision an. Er untersucht in diesem Kapitel die beiden extremen damaligen Doktrinen der absoluten Differenz und der absoluten Identität, die Folgendes postulierten:

– Brennstoff und Feuer sind total identisch, und daher muss das Feuer im Brennstoff bereits vollständig enthalten sein, oder

– Brennstoff und Feuer sind total verschieden, getrennt und voneinander unabhängig.[ii] Nāgārjuna erklärt hierzu:

 

Vers 10.3

Wenn das Feuer und der Brennstoff voneinander getrennt sind, gäbe es zum Entzünden und Brennen keine Verbindung, keine Kausalität und keinen veranlassenden Impuls zum Brennen.

Es wäre daher sinnlos, das Feuer wieder neu zu entzünden, da es ein ewig flammendes Feuer wäre.

 

Er fasst hier die Voraussetzung des Brennens zusammen. Er hatte nachgewiesen, dass Feuer und Brennstoff nicht voneinander getrennt werden können, sie also nicht wie Entitäten voneinander total unabhängig sind und eventuell später zusammenkommen. Wenn man ein dauerhaft brennendes Feuer voraussetzt, dem Feuer also dinghafte dauerhafte Entität zuschreibt, kann es natürlich nicht neu aufflammen, weil es ja schon dauernd brennt. Die materielle beobachtbare Wirklichkeit des Feuers steht dieser Vorstellung jedoch entgegen. Feuer hat immer einen Beginn, ein Andauern und ein Ende.

In diesem Kapitel wird auch die allgemeine Symbolik des Feuers angesprochen. Wenn man ein Leben nach dem Tod und Wiedergeburten annimmt, könnte man diese mit dem erneuten Aufflammen des Feuers vergleichen. Der Brennstoff wird wie bereits erwähnt oft als das Karma im letzten Leben verstanden. Nāgārjuna bleibt demgegenüber recht nüchtern und pragmatisch und nimmt keine idealistische Überhöhung vor. Außerdem erteilt er damit dem dauerhaften, ewigen Ātman-Selbst der vorbuddhistischen Zeit eine Absage. Nishijima Roshi fügt hinzu, dass eine Idee des ewigen Lichts wie im vorbuddhistischen Indien nicht nur überflüssig wäre, sondern sogar eine große Gefahr für unser konkretes Leben im Hier und Jetzt darstellt, denn sie führt weg von der Wirklichkeit.

Zweifellos handelt es sich beim Feuer und Brennen um komplexe und stark vernetzte Vorgänge, die Ähnlichkeiten mit lebenden Systemen haben. Trotzdem halte ich solche Analogien für grundsätzlich problematisch, wenngleich sie gerade im Volksbuddhismus immer wieder anzutreffen sind. Oft sind sie wenig geeignet oder sogar irreführend, um psychische, soziale, biologische und vor allem spirituelle Wechselwirkungen zu beschreiben.

Nāgārjuna baut seine Destruktion der falschen Lehre von Brennstoff und Feuer darauf auf, dass er sie zunächst aus der Perspektive der Substantialisten als konstante, unveränderliche und isolierte Entitäten und Bausteine (bhāva) beschreibt. Die Substantialisten behaupteten, es gebe keine Übergänge zwischen den Entitäten: So schlage zum Beispiel Helligkeit unvermittelt und abrupt in Dunkelheit um. Das wäre die totale Trennung. Nāgārjuna argumentiert mit dem Begriff der Leerheit und verneint eine substantialistische konstante und inhärente Entität, also eine unveränderliche Existenz im Feuer und Brennstoff. Zudem schlägt er die Brücke zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada), das in der Präambel des MMK als richtiger und authentischer Buddha-Dharma bezeichnet wird und zu einer klaren Sicht der Wirklichkeit des Lebens und damit zu erfülltem und freudigem Leben führt.

 

Vers 10.6

Feuer ist eben etwas anderes als Brennstoff. Falls das Feuer aber den Brennstoff erreichen würde, wäre das so, als ob eine Frau einen Mann erreicht und ein Mann eine Frau erreicht.

 

Nāgārjuna beschreibt hier eine Situation, in der keine absolute oder totale Tennung von Brennstoff und Feuer besteht. Kalupahana spricht in seinem Kommentar zum MMK davon, dass beide „different, aber komplementär“ sind und widerspricht damit Meister Chandrakirti, dessen Kommentar bis in die heutige Zeit wichtig für die Interpretation des MMK ist.[iii] Diese Situation komme zwischen Mann und Frau sowie zwischen Frau und Mann vor, denn beide können sich zum Beispiel in Liebe erreichen und verbinden, aber sie sind nicht identisch. Damit wird die Untersuchung von Verbindungen im materiellen Bereich auf das wirkliche Leben erweitert.

Nachdem Nāgārjuna die totale Trennung von Feuer und Brennstoff destruiert hat, analysiert er also am Beispiel von Mann und Frau eine Verbindung, die als komplementär oder besser wechselwirkend bezeichnet werden kann. Weder der Mann noch die Frau sind allein lebensfähig, sondern können nur zusammen in der Gesellschaft überleben, Kinder zeugen und sie lehren und damit lebensfähig machen. Es ist spannend, dass Nāgārjuna hier von Dingen und Gegenständen zu lebenden Menschen übergeht. Auf der anderen Seite ist der Vergleich von Mann und Frau mit Brennstoff und Feuer nicht wirklich überzeugend, weil er eine Vereinfachung dessen darstellt, was wir wirklich erleben und reflektieren.

Nishijima Roshi erläutert, dass ein abstraktes und dualistisches Denken der materiellen Ebene von Feuer und Brennstoff nicht sehr aussagekräftig ist, und fügt hinzu: „Das heißt, dass die nur materielle Dimension der Dinge und Phänomene dieser Welt ohne deren Sinn und die Idee unser Leben verarmen und austrocknen. Diese Aussage Nāgārjunas ist in der Gegenwart des Materialismus und der jetzigen spirituellen Verarmung besonders wichtig.“ In diesem Sinne würde Nāgārjuna das Gegenbeispiel von Mann und Frau verwenden.

Kurz gesagt destruiert Nāgārjuna anhand des Gleichnisses von Feuer und Brennstoff die Doktrin der konstanten unveränderlichen und jeweils vollständig getrennten Entitäten. Mit diesem Kapitel erarbeitet er eine wichtige Grundlage für die folgenden Analysen und Richtigstellungen. Brennstoff und Feuer sind vernünftigerweise nur als verbundener Prozess zu verstehen. Gerade für das Feuer und den Verbrennungsprozess sind sowohl phänomenologische Klarheit als auch die mögliche symbolische Bedeutung im Buddhismus von großer Wichtigkeit: Das Feuer verbraucht den Brennstoff, nachdem es einmal entzündet wurde, und zwar so lange, bis der Brennstoff aufgebraucht ist. Dieser Prozess legt zwar eine gewisse Analogie zum Leben nahe, die aber nicht überdehnt werden darf. Menschen leben nicht isoliert, sondern sind in ständiger Wechselwirkung mit anderen, mit der Umwelt sowie mit schriftlichen und mündlichen Informationen. Sie verändern sich dauernd, wie die aktuelle Gehirnforschung einwandfrei nachgewiesen hat. Das wechselwirkende gemeinsame Entstehen bezeichnen Buddha und Nāgārjuna als bestmögliche Beschreibung und bestmögliches Verständnis der Wirklichkeit. Dem folge ich.

Nāgārjuna analysiert auch, welche Verbindungen und Trennungen zwischen verschiedenen Dingen und Phänomenen (Dharmas) vorkommen, und welcher Ansatz dabei unsinnig und welcher wirklichkeitsnah ist. Auf dieser Grundlage gilt es zu untersuchen, was Buddhas Ablehnung der Aussagen „etwas existiert“ oder „etwas existiert nicht“ bedeutet. Diese beiden Extreme werden als realitätsfremd charakterisiert. „Etwas existiert“ würde bedeuten, dass es als Entität aus sich selbst entstanden, unverändert, unabhängig von allem anderen existiert und sich nicht in Wechselwirkung mit irgendetwas anderem befinden würde. Diese Doktrin der Sarvastivadins lehnte Nāgārjuna ab.

„Etwas existiert nicht“ bedeutet, dass ein Ding oder Phänomen, das wirklich beobachtet werden kann, aus dem Nichts oder etwas ganz anderem entstanden sein müsste und wieder total und abrupt im Nichts verschwinden würde. Diese Doktrin der Sautrantikas behauptete total abgegrenzte zeitlich aufeinander folgende Zeit-Bausteine (Momentanismus), um damit Veränderungen und Prozesse im Zeitverlauf zu beschreiben. Das Problem dabei war, die Verbindung zwischen diesen getrennten Zeit-Bausteinen phänomenologisch zu begründen. Die Sautrantikas postulierten deshalb irgendeine Essenz der Verbindung, die nicht sichtbar, aber doch wirksam sei. Diese Doktrin darf nicht mit der Lehre des Augenblicks im Zen-Buddhismus verwechselt werden.

Nāgārjuna baut auf vorherigen Kapiteln auf, wobei im Kapitel 10 des MMK die Verbindung von Dharmas, Bausteinen oder Objekten im Mittelpunkt steht. Neben der Verbrennung führt er das Sehen als System auf, das er bereits untersucht hat. Es besteht aus dem Objekt, dem Sehvorgang als solchem und dem Seher, also dem Menschen, der sieht. Wenn diese Bereiche als getrennte Entitäten aus sich selbst entstanden, unabhängig und unveränderlich wären, würde es zwischen ihnen keine Verbindung geben. Man könnte dann nicht von einem wechselwirkenden System reden.

Diese Dreiheit von Subjekt, Objekt und Prozess zeigt Nāgārjuna exemplarisch auch für andere Bereiche auf. Dabei betont er, dass etwas nur verbunden werden kann, was nicht total identisch ist. Es könne aber auch keine totale Verschiedenheit oder Differenz zwischen Subjekt und Objekt und Phänomenen geben. Er analysiert hier das Grundproblem der Philosophie von Identität und Differenz und macht deutlich, dass das Prinzip der Wechselwirkung in der Lage ist, dieses angebliche philosophische Paradox der Wirklichkeit aufzulösen.

Nishijima Roshi bemerkt zu diesem Kapitel: „Das Feuer hat für das praktische Leben der Menschen seit seiner Kultivierung eine sehr große Bedeutung, zum Beispiel für die Zubereitung des Essens, beim Kochen und Braten. Dadurch konnte die Ernährung der Menschen schon in archaischen Zeiten wesentlich verbessert werden. In kalten Regionen wurde das Feuer darüber hinaus zum Heizen verwendet. In der frühindischen Religion spielt der Feuergott eine große Rolle, und die Feuerzeremonien, die von den Brahmanen ausgeführt wurden, hatten zentrale Bedeutung für das religiöse Leben und den Glauben.“ Nach Nishijima sind damit drei fundamentale Bedeutungsfelder des Feuers angesprochen: erstens das Feuer als konkretes materielles Element, zweitens seine Funktion für den Menschen und drittens, nicht minder wichtig, die Abstraktion und Vorstellung sowie der Glaube und die Doktrin, was etwa bei den Feuerzeremonien deutlich wird. Nāgārjuna sagt ohne Umschweife:

 

Vers 10.16

Und jene sind des Buddhismus nicht kundig, die ein unveränderliches Selbst oder substantiales Seiendes (nach der Doktrin des Substantialismus) behaupten. Nicht-Kundige behaupten auch total getrennte diskrete Existenzen. Ich halte sie nicht für Kundige des Ziels und Zwecks der buddhistischen Lehre.

 

Hier lehnt er explizit noch einmal das Ātman-Selbst der Upanishaden und das unveränderliche Substanz-Selbst für den Buddhismus ab. Bei Gautama Buddha stehen die Erleuchtung und das Zur-Ruhe-Kommen von Schmerz und Leiden im Vordergrund. Dies bekräftigt auch Nāgārjuna, der Ideologien und Doktrinen ablehnt, die mit der authentischen Lehre Buddhas nicht übereinstimmen.

Sowohl Buddha als auch Nāgārjuna beziehen sich vornehmlich auf dieses konkrete Leben und gehen relativ wenig auf die Frage nach früheren oder kommenden Leben ein. Beide warnen sogar davor, dass wir uns damit zu viel beschäftigen und unseren Geist durch Spekulationen, Hoffnungen oder Ängste verwirren und so uns selbst schaden. Nāgārjuna betont im MMK, dass wir uns von den lebenden Prozessen, Erfahrungen und dem Erleben nicht abwenden sollen, damit wir uns nicht in erstarrten Doktrinen von Entitäten verfangen.

Nishijima Roshi sagt mit seinen Worten: „Häufig kümmern wir uns nicht um die wahre Natur dieser Dinge und Phänomene. Dadurch geraten wir in Schwierigkeiten und haben trotz erheblicher Anstrengungen bestimmte verengte und verzerrte Weltanschauungen. Wir treffen daher unrichtige Entscheidungen und bringen unser eigenes Leben in große Gefahr. Es ist sogar möglich, dass wir die wahre Bedeutung unseres Lebens zerstören.“

Mit diesem Kapitel schließt Nāgārjuna seine Untersuchungen zur absoluten Identität und absoluten Differenz ab, wobei er das falsch benutzte Gleichnis von Feuer und Brennstoff destruiert. Die Extreme der Identität oder Differenz sind zur Beschreibung und Erklärung der konkreten Wirklichkeit nicht geeignet, und sie führen zu unbrauchbaren Konzepten, Ideologien und zu Fundamentalismus. Durch religiöse Absicherung können daraus unethische Privilegien der Macht- und Religionseliten zementiert werden. Dies galt zum Beispiel für die „heilige“ Sanktionierung des Kastensystems und die Privilegien der Brahmanen im vorbuddhistischen Ariertum der Inder. Aber auch heute sind die Extreme von dogmatischer Identität und Differenz weit verbreitet. Sie verhindern genaue reale Untersuchungen und Erkenntnisse, die für ein gelungenes Leben nützlich, wenn nicht erforderlich sind. Dafür benötigen wir das Verständnis des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung (pratitya samutpada).



[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 44

[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 195ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 103ff.

[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 199