Sonntag, 9. Januar 2022

MMK, Kap. 12: Leiden, Schmerzen und Plagen


Die Überwindung von Leiden und Schmerzen ist ohne Zweifel die wichtigste praktische Lehre Gautama Buddhas und von größter Bedeutung in der Geschichte der Menschheit.[i] Aus der Überwindung des Leidens durch eigenes aktives Handeln können wir unsere Freiheit, Kreativität und unser Erwachen entwickeln. Aus meiner Sicht ist Buddhas Lehre ein erster großer Schritt zu einer humaneren Lebenswelt. In den berühmten Vier Edlen Wahrheiten wird in einer klaren Sprache vermittelt, dass das Leiden in dieser Welt eine oft bedrückende Wirklichkeit ist. Sie kann zwar nicht wegdiskutiert werden, aber das Leiden kann durch eigenes Handeln zur Ruhe kommen und überwunden werden.

In den vier Schritten zur Wahrheit werden zunächst d
ie Hauptbereiche des Leidens geschildert, danach folgen die grundsätzlichen Aussagen zum Entstehen und die Anleitung, wie das Leiden überwunden werden kann. Im Achtfachen Pfad beschreibt Buddha im Einzelnen in acht Gliedern und Prozessen, wie wir den Weg aus dem Leiden und den Schmerzen gehen können. Dabei lautet eine typische Formulierung, dass wir die rechte Sichtweise haben sollten und dass wir die rechte Meditation und Vertiefung praktizieren sollten. Der Begriff „recht“ hat hierbei zwei zentrale Bedeutungen: Zum einen geht es darum, korrekt, sachgerecht, funktional und richtig zu handeln, und zum anderen, dass das Handeln ethisch einwandfrei ist. Denn ohne Ethik und Moral gibt es nach Buddha keine Überwindung des Leidens, keine Erleuchtung und keine Befreiung.

Die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad sind als Lern- und Emanzipationsprozess formuliert. Und es handelt sich ja zweifellos um einen fundamentalen Lern- und Entwicklungsprozess für die Menschen, aus oft unnötigen und selbst erzeugten Leiden herauszukommen und schließlich Befreiung zu erlangen. Gautama Buddha erklärt, dass dies im jetzigen Leben grundsätzlich für jeden möglich sei. Besonders aufschlussreich ist zum Beispiel sein Gleichnis, das von einem Massenmörder handelt, der dann in die Sangha eintritt und durch ausdauernde Praxis und Schulung tatsächlich das Erwachen erlangt.

Mit dem Achtfachen Pfad möchte Buddha meines Erachtens deutlich machen, dass es unbedingt notwendig ist, eine gründliche Selbstanalyse von Körper, Gefühlen, Geist und Psyche durchzuführen. Ein guter Lehrer oder Therapeut kann hierbei natürlich sehr hilfreich sein. Nach meinem Verständnis ist es erst im Einklang mit einer solchen Selbstanalyse überhaupt möglich, Klarheit über sich selbst und die Welt zu erlangen. Diese gründliche Selbstanalyse heißt Achtsamkeit. Im Buddhismus gelten keine dogmatischen moralischen Regeln, die eventuell sogar mit Gewalt durchgesetzt werden. Im Gegenteil, es bedarf einer gründlichen, möglichst vorurteilsfreien und konzeptfreien Betrachtung von sich selbst, die in einem immer genauer werdenden Lernprozess die nötige Transparenz verwirklicht. Sie ist die wichtige Voraussetzung für klares ethisches Verhalten, für rechtes und verantwortungsvolles Denken, Handeln und Reden. Dafür müssen wir aus egoistischen Verhärtungen und narzisstischer Isolierung herauskommen, denn negative Bewertungen und Vorurteile erzeugen meist Starrheit und Unbeweglichkeit sowohl bei anderen als auch bei sich selbst.

Häufig hört und liest man, der Buddhismus würde lehren, dass alles, also unser ganzes Leben, Leiden sei. Wir würden uns nämlich nur einbilden, dass wir in angeblich glücklichen Augenblicken wirklich glücklich sind. Dies seien aber alles nur oberflächliche Illusionen. Das ist nach meinem Verständnis Unsinn! Ich bin dagegen der festen Überzeugung, dass der Buddhismus eine optimistische, praktische Philosophie ist, die vor allem soteriologische und therapeutische Wirkungen entfaltet.

Buddha hat im Sūtta für Kaccāna ganz klar gesagt, dass die Extreme „Etwas existiert“ oder „Etwas existiert nicht“ wenig sinnvoll und nicht realitätsgerecht sind. Beide Extrem-Aussagen seien für den buddhistischen Weg unbrauchbar. Die Aussage „Alles ist Leiden“ ist aus meiner Sicht ebenfalls eine solche Extrem-Aussage, die genauso falsch ist wie die Aussage „Das Leiden ist das Nichts“. Sie ist schlicht eine falsche Übersetzung aus dem Pali oder Sanskrit und wird daher auch von Nāgārjuna für die praktische Mittlere Philosophie und den Mittleren Weg grundsätzlich abgelehnt.

Der Mittlere Weg meidet alle Extreme, die ideologisch verzerrt und überzogen sind, und entwickelt gerade dadurch seine große Nähe zur Wirklichkeit und Wahrheit. Es ist der Kern des Buddhismus, extreme Ideologien und Doktrinen unwirksam zu machen. Nāgārjuna bezieht sich nachdrücklich auf die Vermeidung von Extremen und empfiehlt den Mittleren Weg. Er sei die Voraussetzung für ein gelungenes Leben, würde große Kräfte entwickeln und könne zur Erleuchtung führen.

Nishijima Roshi ergänzt zum Thema Leiden: „Der Begriff des Leidens hat ein weites Spektrum von Bedeutungen. Er bezeichnet zum einen physisches Leiden, zum Beispiel körperliche Schmerzen bei Verletzungen oder Krankheiten oder sogar absichtlich zugefügte Schmerzen bei der Folter.“ In diesem Zusammenhang möchte ich noch die Vergewaltigungen und den Kindesmissbrauch nennen. Besonders in der modernen westlichen Welt gäbe es zudem sehr schwere psychische Leiden, die eigentlich keine körperliche Ursache hätten, so Nishijima. Sie könnten durch den Stress, die ruhelose Hektik und Einsamkeit des modernen Menschen entstehen. Oft handle es sich um unerklärbare Ängste vor Gefahren, die kaum konkret bestimmt werden könnten. Für einen Außenstehenden sei es häufig schwer nachvollziehbar, warum diese psychischen Leiden so virulent seien. „Besonders seelisch-psychisches Leiden und große Schmerzen können gewaltige negative Kräfte entwickeln, die für den leidenden Menschen an die Grenzen des Ertragbaren gehen können“, fasst er zusammen.

„Der Mittlere Weg ist wesentlich mit der einzigartigen Praxis des Zazen, also des Samādhi im frühen Buddhismus, und den Sūttas Gautama Buddhas verknüpft. Wer das Gleichgewicht der Zen-Meditation realisiert, kann sein Leiden im Leben ganz wesentlich verringern“, betont Nishijima. Dieser Weg sei sehr konkret und eigentlich eher therapeutisch und nüchtern: „Er ist frei von Mystifizierungen und magischen Täuschungen und Beschwörungen.“

Nāgārjuna behandelt das Problem des Leidens und der Schmerzen im MMK verhältnismäßig kurz und kompakt. Es geht ihm vor allem darum, die weitgehend unbrauchbaren oder sogar falschen Annahmen einiger buddhistischer Doktrinen seiner Zeit genauer zu analysieren. Dazu zählt hauptsächlich der Substantialismus. Da ein solches Substanzmodell der Dharmas und sogar des Menschen wegen der fehlenden Wechselwirkung mit anderen zu abstrakt und wirklichkeitsfremd ist, kommt Nāgārjuna zu dem Schluss, dass mit diesem Ansatz das Leiden überhaupt nicht sinnvoll erkannt und nicht überwunden werden kann: Wenn die Substanz des Leidens unveränderlich wäre, dann wären Leiden und Schmerzen unheilbar und könnten nicht zur Ruhe kommen. Das kann aber bei genauer Analyse in der Wirklichkeit nicht beobachtet werden. Er formuliert:

 

Vers 12.2

Falls Schmerz und Leiden total aus sich selbst gemacht wären, würden sie nicht in Wechselwirkung entstehen und werden.

Die Komponenten des Menschen (Skandhas) ereignen, verändern und finden sich allerdings zusammen in Wechselwirkung miteinander, also mit den anderen Skandhas.

 

Nāgārjuna falsifiziert im ersten Vers von Kapitel 12 den Ansatz von unveränderten und isolierten dinghaften Entitäten des Leidens. Im zweiten Vers unterstreicht er, dass in diesem Fall keine Wechselwirkung bestehen könnte, die aber typisch für alles in der Welt und vor allem für lebende Prozesse ist. In der Präambel hat er daher das Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, in den Mittelpunkt der Befreiungslehre Buddhas gestellt. Ohne ein solches Verständnis ist laut Nāgārjuna die buddhistische Lehre unverständlich und unbrauchbar. Ich folge diesem Ansatz ausdrücklich.

Besonders wichtig ist es, die Skandhas nicht als isolierte unabhängige Entitäten bzw. Substanzen zu verstehen. Selbst bei materiellen Gegenständen gibt es keine isolierten Entitäten. Mit einem solchen Ansatz verstrickt man sich in unauflösbare Widersprüche und unsinnige Schlussfolgerungen. Genau diese Widersprüche weist Nāgārjuna in diesem Kapitel auch für die Probleme des Leidens und des Schmerzes nach, und er destruiert eine solche Doktrin mit Nachdruck.

Dazu Nishijima Roshi: „Wenn wir in der Welt der subjektiven Ideen und Behauptungen versunken sind, ist es schwer, dass sich die Dinge und Phänomene des Lebens klar und eindeutig zeigen.“ Wir würden dann durch die verschiedenartigsten Ideen und Emotionen verwirrt und hätten keine Klarheit.

Nāgārjuna untersucht in diesem Kapitel des MMK also detailliert die möglichen Varianten, die sich aus der Doktrin des Substantialismus ergeben können, und zeigt auf, dass sie sich als unsinnig erweisen.

 

Vers 12.9

Wenn Schmerz und Leiden durch sich selbst und von den anderen gemacht und ausgeführt würden, würden sie von sich selbst und dem anderen individuell je einzeln gemacht werden und getrennt existieren.

Dann fragt sich, woher das Leiden ohne kausale Veranlassung kommt, das weder von einem fremden Anderen noch von einem selbst gemacht ist.

 

Er analysiert hier, wie Leiden überhaupt erzeugt werden kann, sei es nur durch sich selbst oder nur durch einen Anderen oder jeweils durch beide. Was ergibt sich daraus für die Verursachung und Veranlassung? Bei der geschilderten Doktrin des Substantialismus gibt es keine verursachenden Einflüsse von anderen. Nāgārjuna falsifiziert in diesem Vers, dass es Leiden unabhängig von Verursachung geben kann.

Nishijima Roshi zeigt ebenfalls auf, dass es Leiden ohne Verursachung nicht gibt, und unterstreicht die Verantwortung der handelnden Menschen: „Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass Leiden eine emotional gesteuerte Interpretation des Handelns ist. Dadurch sind wir für unser Leiden insofern verantwortlich, als wir diese Interpretation selbst vornehmen.“

Den genannten Täuschungen stellt Nāgārjuna die zentrale Botschaft Buddhas gegenüber, nämlich dass wir uns in Wechselwirkung unserer eigenen Komponenten, den Skandhas, mit anderen Menschen und der Umgebung aus Schmerz und Leiden befreien können. Das ist der wirkungsvolle emanzipatorische und therapeutische Weg Buddhas. Philosophisch zusammenfassend erklärt Nāgārjuna:

 

Vers 12.10

Denn nicht nur für das Leiden und den Schmerz werden die folgenden vier logischen Alternativen nicht gefunden.

Auch für die anderen substantialen Seienden werden diese Alternativen nicht gefunden.

 

Aus den bisherigen Versen geht hervor, dass die vier logischen Alternativen des Leidens folgendermaßen lauten:

1) Aus sich selbst gemacht,

2) aus dem anderen gemacht,

3) aus beiden gemacht, also aus sich selbst und dem anderen,

4) weder aus sich noch aus dem anderen gemacht und ohne verursachende Kausalität.

 

Alle diese Alternativen sind nach Nāgārjuna völlig ungeeignet, um die Zusammenhänge und Verursachungen von Schmerz und Leiden zu erklären. Damit zieht er die Schlussfolgerung aus den vorangegangenen Versen. Mit der Doktrin getrennter isolierter Substanzen oder dinghafter Entitäten, die dem Ansatz der Wechselwirkung widerspricht, können Leiden und Schmerz im Sinne der Lehre Buddhas nicht sinnvoll erklärt und nicht überwunden werden. Alle möglichen logischen Alternativen wurden dafür untersucht und haben sich als nicht tragfähig erwiesen. Diese Beweisführung gilt laut Nāgārjuna nicht nur für Leiden und Schmerz, sondern generell für unser Leben in dieser Welt, das durch wechselwirkendes gemeinsames Entstehen gekennzeichnet ist und nicht durch isolierte, unveränderliche Entitäten wie Essenz und Substanz. Zentral bei dieser Argumentation ist vor allem, dass nichts ohne Verursachung, Veranlassung und erzeugende Impulse entstehen oder gemacht werden kann.

Buddhas Befreiungsweg kann also nur wirklich begangen werden, wenn wir die Doktrinen und Weltanschauungen getrennter isolierter Entitäten oder Substanzen aufgeben und das in der Präambel vorgestellte gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung klar erkennen und zur Grundlage unseres eigenen Lebensweges machen. Auf diesem Weg befreien wir unseren Geist und unsere Psyche von unheilsamen Dogmen und Doktrinen. Diese Befreiung und Emanzipation bezeichnet Nāgārjuna als Leerheit.


[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 211ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 121ff.