Bei der Wahrnehmung bilden die Sinnesorgane und ihre Funktionen mit den wahrgenommenen Objekten ein wechselwirkendes Ganzes.[i] Es ist deshalb unsinnig, eine totale oder duale Trennung und Differenz zwischen den Sinnesorganen und den Objekten zu behaupten, zum Beispiel zwischen den Augen, dem Vorgang des Sehens und dem Gesehenen. Es handelt sich dabei jeweils nicht um substantiale isolierte Entitäten, wie es die Doktrin des Substantialismus der Sarvastivadins vorgibt. Das genaue Gegenteil wäre allerdings die Behauptung, dass eine totale Identität dieser drei Bereiche besteht. Beide Ansichten lehnt Nāgārjuna folgerichtig und überzeugend ab und führt stattdessen die Wechselwirkung und Vernetzung ein.
In diesem Kapitel über Identität, Differenz und Verbindungen von
Gleichem, Ähnlichem und Andersartigem wird stringent nachgewiesen, dass nur die
Wechselwirkung zwischen Dingen und Phänomenen die Wirklichkeit sinnvoll
beschreiben und erklären kann. Nāgārjuna sagt zum Substantialismus:
Die drei Bereiche, das zu sehende Objekt, das Sehen
und der Seher, kommen (substantialistisch) nicht miteinander in Verbindung.
Dies gilt jeweils paarweise oder als ein Ganzes.
Was sagt dazu die aktuelle
Wissenschaft? Wir kennen das Sehorgan sowie den Sehvorgang mit der
entsprechenden Informationsverarbeitung heute recht genau: Die vom Objekt
ausgehenden Lichtstrahlen werden auf der Netzhaut des Auges in elektrische
Impulse umgewandelt, die im Gehirn in Verbindung mit bereits vorhandenen
Mustern zu einem Bild des Objekts zusammengesetzt werden. Dazu bedarf es einer
intensiven Wechselwirkung der verschiedenen Module des Sehsystems im Gehirn mit
den ankommenden Input-Daten. Das Ergebnis erscheint in unserem Bewusstsein und
Gefühl, es ergibt unser Bild des Objekts. Häufig ist damit zudem eine Handlung
verbunden, zum Beispiel das Ergreifen eines Gegenstands, den man sieht, oder
die Steuerung eines bestimmten Vorgangs. Dann wird die Motorik im
Zusammenwirken mit den entsprechenden Gehirnmodulen des Sehsystems sowie den zu
steuernden Muskeln, Sehnen und Knochen aktiv. Im Allgemeinen sind damit auch
Gefühle verbunden, beispielsweise angenehme, neutrale oder unangenehme Gefühle.
Nāgārjuna
beschreibt den Zusammenhang und das Zusammenwirken beim Sehen recht genau, ohne
über die heutigen naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu verfügen. Er sagt, dass
der Sehende selbst in Wechselwirkung mit dem Objekt ist. Mit dem Ansatz der
Wechselwirkung wird er der Realität also gerecht und kann den gesamten
Sehvorgang sinnvoll darstellen.
Nishijima Roshi bemerkt hierzu: „Wenn ein Mensch etwas sieht, scheint es drei Bereiche
zu geben: das Objekt, das gesehen wird, der Mensch, der sieht, und der Vorgang
des Sehens selbst. Vielleicht konzentrieren wir uns dabei nur auf einen
bestimmten Bereich, zum Beispiel den Menschen, wenn er etwas unternimmt oder
handelt.“ Dann würden wir allerdings übersehen, dass die drei Bereiche „ein
Ganzes bilden und auch niemals getrennt waren“.
Jede Art von totaler Trennung bei der Wahrnehmung in einzelne isolierte
und duale Substanzen und Entitäten wird von Nāgārjuna stringent destruiert. Er
verwendet dabei den zentralen Sanskrit-Begriff samsarga, der „Zusammentreffen“,
„Verbindung“, „Vereinigung“, „Kontakt“ und „Zusammenhang“ bedeutet. Zudem hat
der Begriff die Bedeutung von „Freude der Sinne“ im ganzheitlichen
Zusammenwirken von Subjekt, Sinnestätigkeit und Objekten. Nishijima Roshi hebt ebenfalls hervor, dass
wir weder die totale Identität noch die totale Andersheit annehmen dürfen. Das
heißt auch: Ohne Zusammenwirken gibt es auch keine Freude, man denke nur an die
Blütenpracht im Frühling. Unsere Sinnestätigkeiten zur Wahrnehmung von Objekten
sind also ein zusammenwirkendes Ganzes, das nicht sinnvoll in voneinander
unabhängige Bereiche getrennt werden kann.
Wenn irgendetwas mit etwas anderem in Wechselwirkung ist (so ist es nicht total verschieden). Und ein anderes ist nicht ein total anderes
ohne das andere.
Und wenn dieses in Wechselwirkung mit jenem ist, kann
jenes nicht total anders und getrennt sein.
Damit wird
die Doktrin der absoluten Trennung und Differenz destruiert und die
Wechselwirkung von der falschen substantialistischen Doktrin der totalen
Trennung und totalen Andersheit abgegrenzt. Mithilfe des Ansatzes der
Wechselwirkung gelingt Nāgārjuna eine konstruktive Analyse der Wirklichkeit
ohne die Extreme der absoluten Identität und Differenz. Das entspricht der
Methode der De-Konstruktion des Philosophen Derridá.
Die totale Andersheit wird nicht in Beziehung zu dem
Anderen gefunden. Genauso wenig wird die Andersheit in dem Anderen gefunden.
Und weil die totale Andersheit nicht gefunden wird,
existiert sie eben weder als absolute Differenz noch als absolute Identität.
Nishijima Roshi ergänzt: „Wenn wir annehmen, dass es überhaupt keine
Wirklichkeit in der Welt gibt, ist es dasselbe, als wenn wir nur in Abstraktionen denken und leben.“ Dann
gäbe es nicht die Ganzheit, die er auch als „Verschmelzung“ bezeichnet.
In diesem Kapitel werden noch nicht die Wechselwirkung und Vernetzung
mit den anderen Komponenten (Skandhas) des ganzen Menschen analysiert. Von
besonderer Bedeutung sind Verzerrungen, Selektionen und Täuschungen, die bei
der Wahrnehmung durch Bewertungen, Gefühle und Erregung stattfinden. Im Kapitel
26 des MMK wird Nāgārjuna solche Täuschungen als „Verhüllung des Geistes“
bezeichnen.
Nishijima Roshi fasst das Kapitel folgendermaßen zusammen: „Nāgārjuna betont hier, dass die Ganzheit beziehungsweise Verschmelzung die Wirklichkeit selbst ist. Sie ist im Augenblick des Handelns wirksam.“
[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 224ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s
Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 134ff.