Donnerstag, 9. März 2023

Lotos-Sûtra: Die Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Welt

 


 In diesem Kapitel 17 des Shobogenzo beschreibt Dōgen sein Verständnis des Lotos-Sūtra und geht dabei über die üblichen Interpretationen dieses großen Werkes deutlich hinaus. Das Lotos-Sūtra ist eines der wichtigsten und am meisten gelesenen buddhistischen Schriften Asiens. Es ist überaus poetisch und entfaltet nicht zuletzt durch die Gleichnisse, zum Beispiel vom brennenden Haus und verlorenen Sohn, die volle Kraft und Lebensbejahung des Buddhismus. Wörtlich könnte man es als „Sūtra der Lotosblume des wunderbaren Dharma“ bezeichnen. Es liegt daher nahe, das Lotos-Sūtra als die Offenbarung der strahlenden, wunderbaren Welt und des großen Universums zu verstehen, in dem wir leben und dessen wir uns oft nicht bewusst sind.

Das Lotos-Sūtra ist jedoch leider oft als eine Art Märchenbuch missverstanden worden, das von übernatürlichen Wundern und Fantasien berichtet und so ein naives und wundergläubiges Weltbild vermittelt. Wenn es sich tatsächlich so verhielte, würde es nach Meister Nishijima lediglich das begrenzte Weltverständnis der Ideen, Vorstellungen und Fantasien widerspiegeln, also nur eine der vier buddhistischen Lebensphilosophien umfassen, nämlich den Idealismus. Dann würden der Realismus des praktischen Handelns und vor allem die umfassende buddhistische Lebenspraxis und Lehre des Gleichgewichts und Erwachens fehlen. Dem ist aber nicht so.

Als ganz junger Mönch trat Dōgen in ein buddhistisches Kloster der Tendai-Linie ein, die das Lotos-Sūtra als wichtigste Lehre und Grundlage hat. Er hatte also ausgezeichnete Kenntnisse dieses Sūtras, war aber mit dem damaligen sehr theoretischen Verständnis überhaupt nicht zufrieden und legt in diesem Kapitel sein eigenes umfassendes Verstehen dar. Was ist nun der Kern dieses großen Werkes?

Der japanische Ausdruck ten im Titel Hokke ten hokke bedeutet „bewegen“ und „drehen“, so dass das Lotos-Sūtra diese Bewegung, also das Handeln und Geschehenlassen, als zentrale Aussage enthält. Es geht nicht um das unbewegte, unveränderliche Sein außerhalb der Zeit, das zumeist die Grundlage der westlichen Philosophie ist. bedeutet „Wirklichkeit“, „Wahrheit“ oder das „Gesetz des Universums“, und ke bedeutet „Blume“. Eine andere Übersetzung könnte wie folgt lauten: „Die wunderbare Welt (und Wahrheit) ist wie eine Blume und bewegt die wunderbare Welt, die selbst wie eine Blume ist.“

Damit ist auch das buddhistische Weltbild und die buddhistische Lehre Dōgens charakterisiert: Wir leben in einer wunderbaren Welt, die für uns immer klarer und schöner wird, je mehr wir ins Gleichgewicht gelangen. Dieses Gleichgewicht ereignet sich in der Zazen-Praxis und im Handeln des täglichen Lebens. Die Welt ist also in der Balance der Bewegung.

Dōgens zentrale Aussage: „Die Dharma-Blume (der Wahrheit) dreht die Blume der Dharma-Welt erschließt sich zunächst nicht dem unterscheidenden Denken, weil scheinbar genau dasselbe zweimal gesagt wird, die doppelte Aussage wäre daher redundant. Sie geht also über das lineare, unterscheidende Denken hinaus und will offensichtlich eine höhere intuitive Wahrheit ansprechen, die zudem mit poetischer Ausstrahlung verbunden ist. Im gesamten Kapitel wird die Dharma-Blume als Symbol der Welt und des Universums beschrieben.

Die Dharma-Blume dreht sich nach Dôgen bei der ursprünglichen Praxis des Bodhisattva-Weges und weicht nicht einmal geringfügig davon ab. Es ist die den unterscheidenden Verstand und Intellekt überschreitende Weisheit der Buddhas und damit fest auf der Wirklichkeit gegründet. Diese intuitive Weisheit ereignet sich nach Dōgen vor allem im Samadhi und in der Zazen-Praxis und ist schwer zu erfassen und schwer zu erlangen. Die Buddhas sind darin zusammen mit den Buddhas und existieren genau so, wie sich die Dharma-Blume dreht.

Gleichzeitig offenbaren sich die konkreten Dinge und Phänomene dieser Welt unmittelbar in der wunderbaren Dharma-Blume. Sie verliert sich nicht in fantastischen Illusionen und wirklichkeitsfernen Träumen, denn so etwas endet immer in Enttäuschungen und Negativität. Im Gegensatz dazu enthüllt, offenbart und verwirklicht sich die Dharma-Blume, und damit ist der Zugang zu ihr für die Menschen in der ganzen Welt und im großen Universum eröffnet.

Wenn dies geschieht, werden nach Dōgen die „Objekte“ nicht im herkömmlichen Sinne als außerhalb von uns selbst gesehen, und die umfassende Praxis der Dharma-Blume vollendet sich in ihrer eigenen Bewegung. Im tiefen Vertrauen auf das eine Fahrzeug des Buddhismus erfüllt sich der große Dharma und offenbart sich in der ganzen Schönheit der Wirklichkeit:

„Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können vollständig verwirklichen, dass alle Dharmas wirklich Form sind.“

Mit der Blume des Dharma existieren die Orte wirklich, an denen Buddha lehrte, gibt es den Raum, den großen Ozean und die große Erde, und diese sind für die Menschen das eigene vertraute Land. Wenn sich die Dharma-Blume dreht, ist sie dies Handeln, das nicht starr, unveränderlich und unbeweglich ist, sondern die lebendige Wirklichkeit und der Schatz des wahren Dharma-Auges.

Dōgen zitiert die Geschichte von Hotatsu, der in jungen Jahren Mönch wurde und sich vollständig dem Lotos-Sūtra widmete. Er prahlte sogar damit, dass er das Lotos-Sūtra auswendig hersagen konnte und bereits mehr als dreitausend Mal rezitiert hatte. Der große Meister Daikan Enō, der selbst nicht lesen und schreiben konnte, sagte ihm jedoch:

„Auch wenn du das Sūtra zehntausendmal (rezitiert hast), wirst du nicht einmal in der Lage sein, (deine eigenen und andere) Fehler zu erkennen, wenn du es nicht wirklich verstanden (und erfahren) hast.“

Daraufhin wurde der Mönch Hotatsu sehr nachdenklich und war tief verunsichert. Meister Daikan Enō schlug ihm vor, dass er anfangen solle, den Text bis zu einer Stelle zu rezitieren, an der der Meister ihm die große, umfassende Bedeutung dieses Sūtra erläutern wolle. Dies sei nämlich die umfassende Lehre und Weisheit von Gautama Buddha selbst, und sie werde auf verschiedenen Wegen und mit tiefgründigen Gleichnissen angesprochen, aufgedeckt, erklärt und verwirklicht. Dadurch könne man sich den Zugang zu dieser umfassenden Weisheit eröffnen. „Du musst jetzt darauf vertrauen, dass Buddhas Weisheit einfach dein natürlicher Zustand des Geistes ist“, sagte er zu dem Mönch. Dann fuhr Daikan Enō mit einem eigenen Gedicht fort:

„Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma (allein).

Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma.

Wenn wir nicht Klarheit über uns selbst haben, wird (das Sūtra) wegen seiner (großen) Bedeutung

(unser) Feind, ganz gleich, wie häufig wir es rezitieren.

Ohne (selbstsüchtige) Absicht ist der Geist wahrhaftig.

Mit (selbstsüchtiger) Absicht wird der Geist falsch.

Wenn wir dieses „mit und ohne“ (Absicht) überschreiten,

fahren wir ewig mit dem weißen Ochsengespann.“

Meister Daikan Enō erläuterte dem Mönch vertieft das Wesentliche des Lotos-Sūtra, und sagte, dass die meisten Probleme durch die eigenen Vorstellungen und Fantasien entstehen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.“

Gerade wenn man den Verstand und Intellekt bis zum Äußersten bemüht und damit immer weiter fortfährt, wird man sich vom wesentlichen Inhalt des Sūtras immer weiter entfernen.

Gautama Buddha gestattete seinen Zuhörern bei einer seiner berühmten Lehrreden, ihren Platz zu verlassen und fortzugehen, wenn sie mit dem Gesagten nicht einverstanden waren. Dadurch drehte sich die Dharma-Blume ohne sie. Es gibt nach Dōgen nur dieses eine authentische buddhistische Fahrzeug in der Gegenwart, und durch dieses Fahrzeug gelangt man zur Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wiederum sei keine Vorstellung und kein Begriff, sondern der Schatz der Dharma-Blume selbst, der uns schon immer gehört. Das Sūtra der Blume des Dharma sei immer anwesend, von Zeitalter zu Zeitalter, vom Morgen bis zum Abend. Wir legen es niemals aus der Hand, es gibt überhaupt keine Zeit, in der wir es nicht lesen, denn es ist das Universum selbst.

In der obigen Geschichte erfuhr der Mönch Hotatsu plötzlich das große Erwachen und sprang vor Freude in die Höhe. Er verfasste spontan das folgende Gedicht:

„Dreitausend Mal (habe ich) das Sūtra rezitiert:

Vergessen durch einen Satz des Meisters vom (Berg) Sôkei.

Vor der Klärung des zentralen Bedeutung von (Buddhas) Erscheinen in der Welt:

Wie können wir verhindern, dass die sinnlosen Leben wiederkehren?

Ursprünglich sind wir Könige im Dharma.“

 

Mit diesem Gedicht erhielt der Mönch Hotatsu vom Meister die Bestätigung und Dharma-Übertragung und den Namen „Der sūtralesende Mönch“.

Wie in dieser Begebenheit begann sich die Blume des Dharma durch Meister Daikan Enō immer mehr zu verbreiten, als Blume des Dharma, die die Blume des Dharma immer wieder dreht. Bis dahin hatte es diese große Wahrheit nicht gegeben. Es ergibt daher Dōgen zufolge keinen Sinn, die anderen Fahrzeuge des Buddhismus immer wieder zu erforschen. Nach Dōgen ist die Gegenwart die Wirklichkeit so, wie sie ist: die Wahrheit der wirklichen Form, der wirklichen Natur, des wirklichen Körpers, der wirklichen Energie, der wirklichen Ursachen, der wirklichen Wirkungen, und damit ist sie die sich drehende Blume des Dharma.

Wenn der Geist in Illusionen verstrickt ist, werden wir von der Blume des Dharma gedreht. Dann sind wir nicht frei. Aber ganz gleich, ob die Blume des Dharma sich selbst dreht oder von uns gedreht wird, sie ist immer das eine, umfassende Buddha-Fahrzeug und das große Wesentliche. Wir müssen uns also keine Sorgen machen, dass der Geist eventuell voller Täuschungen ist, denn das Handeln ist der Bodhisattva-Weg selbst, und es ist das Handeln im Augenblick. Wir dienen damit den Buddhas. Dies ist die ursprüngliche Praxis des Bodhisattva-Weges. Es ist die unmittelbare Augenblicklichkeit der sich drehenden Blume des Dharma.

Das wichtige Gleichnis des brennenden Hauses im Lotos-Sūtra kann man folgendermaßen zusammenfassen: Obgleich das Haus bereits an mehreren Stellen in Flammen steht, spielen die Kinder drinnen unbekümmert weiter und sind so sehr in ihr Spiel vertieft, dass sie die drohende Gefahr durch das Feuer überhaupt nicht bemerken. Der Vater versucht sie zu überreden, aus dem Haus herauszulaufen, um sich vor den Flammen zu retten, aber sie hören überhaupt nicht zu und spielen weiter. Darauf verspricht er ihnen, dass draußen wunderschöne Kutschen mit Gespannen auf sie warten, die viel schöner sind als ihr Spiel im brennenden Haus. Dies überzeugt die Kinder sofort, und sie laufen aus dem Haus. Dann erkennen sie plötzlich, in welch großer Gefahr sie gewesen sind. Eine dieser Kutschen ist prächtig geschmückt und wird von friedlichen weißen Ochsen gezogen. Sie ist schöner als die Kinder es sich vorstellen konnten.

Es ist klar, dass mit diesem Gleichnis die Rettung durch die Buddha-Lehre gemeint ist, die dazu verhilft, dem brennenden Durcheinander des gewöhnlichen Lebens der quälenden Ideen und des eigennützigen Materialismus zu entkommen. Die weiße Kutsche ist aber nichts anderes als die sich drehende Blume des Dharma. Es nützt nichts, wenn man das Lotos-Sūtra nur auswendig lernt, es aber nicht umfassend erfährt und erlebt.

Was bedeutet nun die Aussage: „Wenn der Geist im Zustand der Verirklichung ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma“?

Im „Zustand der Verwirklichung“ wird offensichtlich die Energie der Realität direkt erfahren und erkannt, sodass wir das Gesetz der Welt verwirklichen. Diese Verwirklichung bedeutet, die Blume des Dharma zu drehen, und dabei handeln wir im Alltag. Wenn wir selbst die Blume des Dharma drehen, bedeutet dies, dass es diese eine Sein-Zeit ist, in der der Buddha lebt. Wir sind dann nicht von den anderen und der Welt getrennt. Wir haben dann die Freiheit zu handeln, wie wir wollen und sind in Harmonie mit der Welt.

In der Zeit, wenn die Blume des Dharma sich dreht, gibt es nach Dōgen die geistige Verwirklichung als Blume des Dharma, und die Dharma-Blume existiert als geistige Verwirklichung von uns und der Welt. Dies gilt konkret bei den Dingen und Phänomenen und ideell im Geist, oder, wie Dōgen sagt, innerhalb des wirklichen Raumes.

Das Unmittelbare im Hier und Jetzt und das allgemein Geistige bilden eine untrennbare Einheit. Dies sei, so sagt Dōgen, die Verwirklichung des Drehens der Dharma-Blume. Wenn wir uns selbst verändern und drehen, entfaltet die Bodhi-Weisheit ihre Kraft, und dies ist die reine Welt. Wenn wir für einen guten Freund sorgen, sind wir ihm nahe, so wie auch er uns nahe ist, und dies ist das Drehen der Blume des Dharma. Dann sind Geist und Körper ohne Begrenzung und frei.

Dōgen stellt am Ende dieses Kapitels fest, dass seit Bekanntwerden des Lotos-Sūtra viele Kommentare und Interpretationen geschrieben worden waren. Kein Kommentar habe jedoch das Wesen der drehenden Blume des Dharma wirklich in der vollen Tiefe und in dem Umfang wie der große Meister und ewige Buddha Daikan Enō erfasst. Seitdem wir jedoch die Worte von Meister Daikan Enō gehört haben, haben wir die Begegnung des ewigen Buddha mit dem ewigen Buddha erfahren, und wir leben im ewigen Buddha-Land. Dies ist für uns alle eine große Freude. Die Wirklichkeit ist die drehende Blume des Dharma, sie existiert so, wie sie ist, und ist ein Schatz, sie ist das helle Licht, der Sitz der Wahrheit, denn die Dharma-Blume ist groß, weit und ewig.

Dies ist allerdings auch der Geist mit Täuschungen, der von der Blume des Dharma gedreht wird, und sie ist der Geist der Verwirklichung, der selbst die Blume des Dharma dreht. Nichts kann ausgeschlossen werden. Dies alles ist wirklich genau die Dharma-Blume, die die Blume des Dharma dreht.

Dōgen schließt mit dem Gedicht:

„Wenn der Geist im Zustand der Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma.

Wenn der Geist im Zustand der Verwirklichung ist, drehen wir die Blume des Dharma.

Wenn die vollkommene Verwirklichung diesem gleichen kann,

dreht die Blume des Dharma die Blume des Dharma.“

Die Blume des Dharma offenbart sich selbst also in voller Frische und strahlender Schönheit im Zustand jenseits des angelernten Wissens und jenseits des eindimensionalen intellektuellen Denkens. Wir sollten dies stets im Sinn behalten und fest darauf vertrauen. Die Blume des Dharma ist nach Dōgen zu fein, zu wunderbar und zu umfassend für das unterscheidende lineare Denken.

Link :Zum Film Buddha und Gomera, english

 

Mittwoch, 1. März 2023

Ein Kōan-Gespräch über Buddha, Wahrheit und Feuer

 


Dōgen untersucht ein Kōan-Gespräch zwischen den beiden großen buddhistischen Meistern Seppō und Gensa, die im 9. Jahrhundert in China gelebt haben und zusammen einen berühmten Tempel leiteten. Ihr Dialog über das Feuer gehört zu den bekanntesten und bedeutendsten Kōans des Zen-Buddhismus überhaupt. Er markiert zweifellos eine Blütezeit des Buddhismus in China.[i]

Seppō sprach: „Die Buddhas der drei Zeiten sind in der Flamme des Feuers (hier im Kohleofen) und drehen das große Rad des Dharma.“

Gensa äußerte sich dazu wie folgt: „Die Flamme lehrt den Dharma für die Buddhas der drei Zeiten, und die Buddhas der drei Zeiten stehen auf dem Grund, um zu hören.“

Beim Lesen dieser Sätze tauchen Fragen auf, die ich im Folgenden behandeln möchte: Was ist mit den Aussagen in Bezug auf den Dharma und das wahre, reine Handeln der Buddhas im Zusammenhang mit dem Feuer gemeint? Gibt es Unterschiede zwischen den Aussagen Seppōs und Gensas? Warum werden die Flamme und das Feuer als Gleichnis für den Dharma und damit für die Wirklichkeit und Wahrheit des Handelns verwendet? Hier geht es im Gegensatz zu Nāgārjunas Ausführungen in Kapitel 10 des MMK nicht um die Wechselwirkung zwischen Brennstoff und Feuer, sondern um weit umfassendere Zusammenhänge der Wirklichkeit von Feuer und Buddha.

Das Gleichnis mit dem Holzkohlefeuer mag im Zusammenhang mit Buddha und Dharma vielleicht zunächst verwundern. Aber in den oft bitterkalten Wintern hoch oben in den Bergen, wo ehemals die meisten Klöster standen, muss ein wärmendes Holzkohlefeuer eine besonders große Bedeutung gehabt haben. Wenn wir uns vorstellen, dass die beiden Meister gemeinsam vor diesem Feuer sitzen, ist es naheliegend, dass sie sich an ihm und seiner Wärme erfreuen und es direkt als Wirklichkeit des Hier und Jetzt erleben und erfahren. Nahe am Feuer empfindet man unmittelbar die Energie und Wärmekraft, die den ganzen Körper positiv durchdringen.

Meister Engo, der etwas mehr als 100 Jahre vor Dōgen lebte und der Linie von Meister Rinzai angehörte, kommentiert diesen Dialog zwischen Seppō und Gensa in einem Gedicht:

„(Seppō) verdient, der weiße Baron genannt zu werden,

(aber) die schwarze Baronin ist auch anwesend.

Wechselseitig werfen sie sich in den Augenblick.

Götter erscheinen und Dämonen verschwinden.

Die lodernde Flamme erfasst das Universum: Buddha lehrt den Dharma.

Das Universum ist in der lodernden Flamme: Der Dharma lehrt Buddha.“

Der weiße Baron war im alten China ein berühmter, legendärer Dieb, der verehrt wurde, weil er über ganz ungewöhnliche Intelligenz und Fähigkeiten in seinem „Beruf“ verfügte. Gleiche Eigenschaften schrieb man der schwarzen Baronin zu, die angeblich aber noch geschickter als der weiße Baron gewesen war und ihm seine Kleidung vom Körper gestohlen haben soll, ohne dass dieser es bemerkte. Dass Seppō und Gensa auf diese Weise gelobt werden, mag in unseren Ohren recht befremdlich klingen, da die beiden sicher keine Meisterdiebe waren. Im chinesischen Verständnis war das aber angemessen, weil der weiße Baron und die schwarze Baronin beim Volk sehr angesehen waren, sicher auch deshalb, weil sie die damaligen Hierarchien der Eliten unterliefen. Diese Eliten handelten oft ausgesprochen unmoralisch und bereicherten sich dank ihrer intellektuellen Überlegenheit rücksichtslos auf Kosten des einfachen Volkes.

Meister Engo bringt mit seinem Gedicht zum Ausdruck, dass die alten Meister Seppō und Gensa in ihrem Kōan-Gespräch den Kern der buddhistischen Lehre und Praxis treffen, was er mit den Worten beschreibt, dass sie sich „wechselseitig in den Augenblick werfen“. Sie handeln also in ihrem Dialog vollständig im Augenblick und in der Ganzheit mit der Wirklichkeit. Dadurch werden die Dämonen vertrieben und verschwinden, während die Götter erscheinen.

Engo führt das poetische Gleichnis der lodernden Flamme, die den Kosmos und das Universum verwandelt und durchdringt, weiter aus: Die Ganzheit der Flamme und des Universums ist Buddha, der den Dharma lehrt. In Anlehnung an Gensas Worte sagt Engo, dass das Universum in der lodernden Flamme ist; das bedeutet, dass der Dharma den Buddha lehrt. Diese Umkehrung kann man so verstehen, dass Buddha in vollkommen natürlichem Zustand mit dem Universum ist und dass das Universum selbst den Dharma lehrt. Ein handelnder Buddha hat demnach die Differenz zu anderen Menschen, zur Natur und zum ganzen Universum aufgelöst und handelt als Ganzes. So kann man sagen, dass Buddha den Dharma lehrt und der Dharma, nämlich die Wirklichkeit, wiederum den Menschen auf seinem Weg zur Befreiung lehrt.

Wenden wir uns jetzt der Interpretation und Vertiefung dieses Kōan-Gesprächs durch Dōgen zu.

 

Seppōs und Gensas Verständnis des Buddha-Dharma

Dōgens Interpretation knüpft an zwei weitere Verse des Gedichts von Engo an, die lauten:

„Vor dem Wind sind die Nester der Pfeilwurz und (die Ranken der) Glyzinien weggeschnitten worden.

Mit einem Wort wurde Vimalakirti geprüft und besiegt.“

Der Wind steht hier für das materielle Element und die materielle Sicht der buddhistischen Lehre. Hier geht es darum, dass die Trennung in gesonderte Dimensionen des Materiellen und Ideellen, das durch duales Denken zum Leiden führt, noch nicht erfolgt ist. Eine solche Trennung verhindert nämlich das ganzheitliche Erfahren der Wirklichkeit. Pfeilwurz und Glyzinien stehen hier für die Verwirrungen und das Komplizierte im gewöhnlichen Leben, wie zum Beispiel die Komplikationen im Umgang der Menschen miteinander. Solche unnötigen Verkomplizierungen entstehen durch dualistisches Denken und abgehobenen Intellektualismus, die es auch in der scholastischen Zeit des Buddhismus gegeben hat. Der Zen-Buddhismus hält solches Denken für unfruchtbar und weitgehend überflüssig. Darauf geht Dōgen in einem speziellen Kapitel[ii] näher ein, wobei dort jedoch die Glyzinien auch positiv als Gleichnis für die enge Verbindung zwischen Lehrer und Schüler verwendet werden. Dadurch ergibt sich gleichzeitig der gemeinsame Weg zur Überwindung der menschlichen Verwirrungen.

Vimalakirti war ein berühmter Laienschüler zu Buddhas Zeiten, der, wie die Überlieferung berichtet, mit seinen hervorragenden Kenntnissen der Buddha-Lehre und seiner Intelligenz die berühmten Schüler Buddhas selbst prüfte und häufig sprachlos machte. Dass Vimalakirti besiegt wurde, bedeutet hier, dass das Kōan-Gespräch von Seppō und Gensa sogar auf einem noch höheren Niveau der Wirklichkeit stattfindet und von tieferem Verständnis des Buddha-Dharma geprägt ist. Nishijima Roshi kommentiert dieses Kōan-Gespräch in gleichem Sinne in seiner Übersetzung des Shinji Shōbōgenzō[iii] ausführlich und klar: „Diese Unterhaltung zeigt auf, dass alle Dinge und Phänomene im Universum, einschließlich der Flammen des Feuers, von unschätzbarem Wert sind, weil sie uns die Wahrheit zeigen.“

Zurück zum Dialog zwischen Seppō und Gensa: Die „Buddhas der drei Zeiten“, von denen Gensa spricht, sind laut Dōgen alle Buddhas von der Vergangenheit über die Gegenwart und in der Zukunft. Sie verwirklichen sich in allen zehn Himmelsrichtungen, also in der Wirklichkeit des ganzen Universums, durch das Handeln im Augenblick und an einem bestimmten Ort, also hier und jetzt. Sie lehren den Dharma vollständig und ganz, also nicht nur aus bestimmten, eingeschränkten Sichtweisen und in bestimmten Dimensionen – und schon gar nicht aus unklaren Motiven oder aufgrund von Doktrinen wie des Substantialismus. Das heißt, sie lehren keinen ideologischen „Buddhismus“ und keine platte materielle Lebensphilosophie.

Dōgen kommt dann auf unser eigenes Bewusstsein zu sprechen:

„Ob die Wirklichkeit (des Buddhas) bekannt ist oder seine Wirklichkeit nicht bekannt ist, er ist immer der handelnde Buddha als Buddha der drei Zeiten.“

Damit stellt er die Verbindung her zwischen dem Kōan-Gespräch und den handelnden Buddhas der Wirklichkeit. Dōgen betont, dass die drei genannten Buddhas Seppō, Gensa und Engo alle die Wahrheit ansprechen, wobei sie jeweils ihre individuelle Ausdrucksweise verwenden. Sie sind frei von verzerrenden Doktrinen, die in das Leiden führen.

Seppō sagt, dass die Buddhas der drei Zeiten in der Flamme sind und das große Rad des Dharma drehen. Wir sollten diese Aussage gründlich bedenken. Die Flamme verändert sich fortwährend und sie strahlt wohltuende Wärme und Leuchtkraft ab. Sie kann auch als Energie und Kraft des Universums verstanden werden, die den Kosmos und die Erde bewegen, denn nichts ist statisch. Statisch sind nur Doktrinen und Ideologien, zum Beispiel vom unveränderlichen ewigen Seienden oder dem ātman-Selbst der vorbuddhistischen Religion. Wenn man allerdings nur eine körperliche und damit materielle Vorstellung von Buddha hat, kann man der Aussage Seppōs nicht viel abgewinnen, denn der körperliche Buddha würde in der Flamme nicht leben können.

Die Dharma-Lehre ist mit der Wirklichkeit unauflösbar verbunden und keine ausgedachte metaphysische Theorie oder intellektuelle Philosophie. Der Ausdruck „das Dharma-Rad drehen“[iv] wird im Buddhismus häufig verwendet und bedeutet die Verbreitung der wahren Lehre, die von Gautama Buddha erkannt und in die Welt gebracht wurde. Er stellt auch eine Verbindung zu Dōgens Verständnis des Lotos-Sūtra[v] her, in dem es heißt, dass sich die Blume des Dharma dreht und von den Erwachten gedreht wird; damit sind die Wirklichkeit und das Universum gemeint.

Dōgen fordert uns auf, die Aussage Seppōs auch selbst ganz praktisch zu erfahren:

„Jeder Ort, der die Wahrheit praktiziert und in dem die Buddhas der drei Zeiten das Dharma-Rad drehen, mag in der Flamme sein.“

Diese konkrete vitale Wirklichkeit können laut Dōgen die doktrinären Theoretiker des Buddhismus nicht erfahren. Es sei auch zweifelhaft, ob eine solche Flamme, die wie Buddha Wirklichkeit ist, außerhalb des Buddhismus überhaupt verstanden werden könne. Da wir jedoch Zugang zu den authentischen Übertragungslinien des wahren Buddhismus haben, können wir diese Kōan-Aussagen aufnehmen und in unseren Alltag und unser Leben integrieren. Dōgen destruiert wie Nāgārjuna fehlgeleitete Doktrinen wie den Substantialismus und Momentanismus. Das seien keine authentischen Buddha-Lehren. Denn durch die wahre Lehre verändern und entwickeln wir uns laufend. Um diese Aussagen zu vertiefen, stellt Dōgen einige Fragen:

„Wenn (die Buddhas) innerhalb der Flamme sind, sind die Flamme und die Buddhas miteinander verklebt oder nicht? Driften sie auseinander? Sind Objekt und Subjekt eine Einheit? Existieren Subjekt und Objekt? Sind Objekt und Subjekt dieselbe Situation?“

Obgleich das Handeln der Buddhas, wie bereits erklärt, dem intellektuellen Denken kaum zugänglich ist, ermuntert uns Dōgen, die aufgeworfenen Fragen dennoch mit Vernunft und denkendem Geist anzugehen. Auch wenn das Denken seine Grenzen habe, wie er immer wieder im Shōbōgenzō hervorhebt, sollen wir es als Werkzeug verwenden, um tiefer in die buddhistische Lehre einzudringen. Das entspricht recht genau Buddhas Anleitung zur Achtsamkeit, besonders im Hinblick auf den Geist.[vi] Aber wir sollten keine Dogmen errichten. Das ist auch ein zentrales Anliegen Nāgārjunas bei der Destruktion des Substantialismus und Momentanismus. Schließlich kommt Dōgen auf das Drehen des Dharma-Rades zu sprechen:

„Das große Dharma-Rad zu drehen, mag das Drehen des Selbst und das Drehen des Augenblicks umfassen.“

Interessanterweise verwendete man den Begriff Drehen im alten China auch für das Aufrollen der Sūtras, da die Handschriften auf Rollen aufgezeichnet waren, die man beim Lesen der Texte vorwärts rollte. Gleichzeitig hat „drehen“ die Bedeutung von „entfalten“ und „öffnen“ und stellt dadurch den Bezug zu der sich drehenden Dharma-Blume des Lotos-Sūtra her. Drehen umfasst daher Bewegung, Verändern, Emanzipation und Befreien und ist im MMK Thema vor allem des zweiten und siebten Kapitels. Das wahre Selbst wird hier wieder vom Ich oder Ego ohne Empathie unterschieden. Das Selbst hat die Grenze zum anderen und zum Universum überschritten und die Dualität überwunden. Es handelt genau und direkt im Augenblick.

„Es mag das Drehen des Dharma und (auch) den sich drehenden Dharma umfassen.“

Dieses Zitat kommt im Shōbōgenzō auch in den Kapiteln über das Lotos-Sūtra[vii] sowie das Sūtra-Lesen[viii] vor und wird dem großen Meister Daikan Enō zugeschrieben. Es bedeutet, dass die Wahrheit der Dharma-Blume von den Buddhas gedreht wird und dass sie sich auch und sogar bei den doktrinär fixierten Menschen dreht, obgleich diese es meist nicht bemerken und erfahren. Ohne Zweifel sind diese Aussagen über Bewegung, Befreiung und Wechselwirkung mit der Präambel des MMK kompatibel.

Als Nächstes verdeutlicht Dōgen, dass am materiellen Äußeren haftendes Denken den Kern des hier Gesagten nicht erfassen kann. Das gelte ebenfalls für das Denken in der linearen Zeitdimension, das gewöhnliche Denken der Menschen, aber auch das Denken der Heiligen, da das Handeln über die Bewertung von heilig oder nicht heilig hinausgehe. Hier wird aus meiner Sicht ein spirituelles Problem des Mönchstums angesprochen, wenn es zu wenig auf das praktische Handeln ausgerichtet ist. Seppōs Aussage überschreitet laut Dōgen also die Dimension des Denkens und des dogmatischen Geistes.

Der jüngere Meister Gensa, der zunächst Schüler von Seppō gewesen war, wählt eine andere Formulierung als Seppō; sie wird hier zur Erinnerung noch einmal wiederholt: „Die Flamme lehrt den Dharma für die Buddhas der drei Zeiten, und die Buddhas der drei Zeiten stehen auf dem Grund, um zu hören.“ Das ist wirklich spannend: Die Buddhas stehen und hören den Dharma, also die Wahrheit der Welt. Diese Wirklichkeit wird von der Flamme gelehrt. Als Leser denkt man vielleicht, dass Gensas Worte die Wahrheit genauer wiedergeben als Seppōs Formulierung. Beide Meister sprechen nach Dōgen jedoch den höchsten Zustand des Menschen an, obwohl sie sich unterschiedlich ausdrücken und eine andere Situation beschreiben.

Seppō redet vom konkreten Ort der Flamme, an dem die Buddhas dauernd das Dharma-Rad drehen. Gensa betont die Lehre des Buddha-Dharma und verbindet die Wirklichkeit mit dem Lehren und dem achtungsvollen Zuhören der Buddhas. Bei Gensa geht es also auch um die Frage, ob und wie man dem Dharma zuhört und was die Lehre wirklich beinhaltet. Seppō lässt es offen, wer den Dharma lehrt und für wen.

Wie Nishijima Roshi betont, ist im 21. Jahrhundert nunmehr die Zeit gekommen, dass auch westliche Menschen den Zugang zum Buddhismus finden und dadurch mit ihren Problemen leichter fertigwerden.

Im Hinblick auf Seppōs Aussage erklärt Dōgen:

„Seppōs Worte verfehlen es nicht, das auszudrücken, was er ausdrücken will. Wir müssen in der Praxis lernen und immer im Einzelnen vertiefen, dass Seppōs (Worte) in der Flamme existieren und das große Rad des Dharma drehen.“

Sie bezeichnen also die Wahrheit unabhängig davon, ob gelehrt wird, zugehört wird oder nicht. Dies ist das Thema von Gensas Aussage im Kōan-Gespräch, wenn er davon spricht, dass die Buddhas zuhören. Dōgen betont, dass das wahre Handeln der Buddhas mit Seppōs Aussage ausgedrückt wird. Theoretische und materielle Aussagen, die den Kern der Buddha-Lehre nicht treffen, werden dabei gänzlich überschritten.

Maßeinheiten wie groß, klein, hoch oder tief sind daher ungeeignet, um die Äußerung Seppōs auch nur annähernd zu erfassen. Das Drehen des Dharma-Rades überschreitet die Vorstellung des Ich und der anderen. Es bezieht sich nicht auf Lehren und Zuhören, sondern ist die Wahrheit über die Wirklichkeit selbst. Damit ist aber keine absolutistische und dogmatische Wahrheit gemeint und auf keinen Fall die Allwissenheit der vorbuddhistischen Religionen, denn das wären absolute Extreme, die dem Buddhismus widersprechen.

Wenn Gensa erklärt, dass die Flamme den Dharma lehrt, sagt er damit nicht direkt aus, dass die Flamme das Dharma-Rad dreht. Er sagt ebenfalls nicht ausdrücklich, dass die Buddhas das Dharma-Rad drehen. Nishijima und Cross erläutern in einer Fußnote ihrer Übersetzung des Shōbōgenzō[ix] die Aussage Gensas folgendermaßen: Beim Lehren wird die Wirklichkeit wiedergegeben und repräsentiert. Dōgens Einwand, den er hier zum ersten Mal äußert, besteht darin, dass es um die Wirklichkeit selbst geht, die durch das Drehen des Dharma-Rades realisiert wird. Er fragt daher, ob das Lehren auch das große Dharma-Rad wirklich dreht, wovon Gensa nicht spricht. Aber lassen wir Dōgen dazu selbst zu Wort kommen:

„Aber ich überlege, ob Gensa das Drehen des Dharma-Rades nur in eingeschränkter Weise verstanden hat und dass (das Drehen für ihn) identisch mit dem Lehren über das Dharma-Rad ist. Wenn dies so wäre, hätte er Seppōs Worte nicht (vollständig) verstanden.“

Dōgen arbeitet heraus, dass die Buddhas nicht von anderen doktrinär beeinflusst sind, da sie im Dharma-Zustand leben und handeln. Die wirkliche Flamme muss vom Begriff „Dharma“ unterschieden werden, genauso wie von der Vorstellung und dem Begriff „Buddha“. Außerdem darf man die Wirklichkeit der Flamme nicht mit dem Begriff „Flamme“ gleichsetzen, denn das eine ist die Realität, und das andere ist die Bezeichnung der Wirklichkeit mit all ihren möglichen Fehlern und Ungenauigkeiten.

Dōgen verdeutlicht hiermit, dass er Seppōs Aussage für direkt und konkret hält, verankert im Hier und Jetzt. Sie entspricht also der induktiven Logik, die vom Einzelnen auf das Allgemeine schließt. Gensas Aussage stuft er dagegen als deduktiv ein; sie beschreibt vor allem die allgemeine Ebene, von der man dann zum einzelnen Konkreten gelangt. Beide Ebenen sind in dem Koan-Gespräch in beeindruckender Weise in Wechselwirkung und entwickeln daraus ihre Kraft.

Dōgen will Gensas Worte auf keinen Fall abwerten und bekräftigt, dass wir sie wegen ihrer Kraft in der Lebenspraxis erfahren und schätzen sollten. Da solche Kōan-Gespräche authentisch von den alten großen Meistern an uns übermittelt worden seien, hätten sie eine sehr hohe Bedeutung und Aussagekraft. Sie sind keine ausgedachten Geschichten begabter Autoren.

Theorien und Doktrinen wie „Essenz und Form“ im Mahāyāna-Buddhismus und im Abidharma des Buddhismus reichen laut Dōgen an die Präzision und Aussagekraft der Kōan-Dialoge nicht heran. Insbesondere die Aussage, dass die Buddhas dem Dharma der Flamme zuhören, kann man schon als revolutionär gegenüber der buddhistischen Lehre des Abidharma bezeichnen. Manche Buddhisten sehen darin wahrscheinlich eine Herabsetzung Gautama Buddhas, die sie ablehnen. Diese Aussage unterstreicht jedoch, dass die Buddhas auch leben und dass sie selbst den Zustand des Buddhas beim Handeln verwirklichen. Wie in Kapitel 17 des Shōbōgenzō über das Lotos-Sūtra macht Dōgen auch hier klar, dass es nicht höherwertig ist, den Dharma zu lehren als ihm zuzuhören: „Wenn jene, die lehren, verehrungswürdig sind, sind jene, die zuhören, auch verehrungswürdig.“ Und er zitiert Shākyamuni Buddha aus dem Lotos-Sūtra:

„Wenn sie dieses Sūtra lehren,

werden sie mich sofort sehen.

(Aber) es nur (einen einzigen) Menschen zu lehren,

das wird tatsächlich schwer sein.“

Diese Verse bedeuten, dass man Shākyamuni Buddha direkt begegnet, wenn man den Dharma lehrt und verkündet.

„Nach meinem Dahinscheiden

diesem Sūtra zuzuhören und es anzunehmen

und seine Bedeutung zu erkunden:

Das wird tatsächlich schwierig sein.“[x]

Mit diesem Gedicht untermauert Dōgen, dass die Buddhas selbstverständlich im höchsten Maße verehrungswürdig sind. Trotzdem stehen sie, wie im obigen Kōan-Gespräch ausgedrückt, auf dem Boden und hören den Dharma. Sie sollen nicht als absolute Heilige angebetet werden, die absolute Wahrheiten verkünden.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 62ff.
ZEN Schatzkammer, Kap. 23, Bd. 1, S. 202ff.: „Wahres und reines Handeln der Buddhas (Gyōbutsu yuigi)

[ii] ZEN Schatzkammer, Kap. 46, Bd. 2, S. 178ff.: „Das Gleichnis der Verflechtung für die Dharma-Übertragung (Katto)
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 3, S. 68ff.

[iii] Nishijima, Gudo Wafu: Die Schatzkammer der wahren buddhistischen Weisheit (Shinji Shobogenzo). Sammlung von 301 Koan-Geschichten, Bd. 3, Nr. 88

[iv] ZEN Schatzkammer, Kap. 74, Bd. 3, S. 127ff.: „Das Drehen des Dharma-Rades und den wahren Buddhismus lehren (Tenbōrin)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 59ff.

[v] ZEN Schatzkammer, Kap. 17, Bd. 1, S. 152ff.: „Die Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 230ff.

[vi] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 35ff.

[vii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 293ff.

[viii] ZEN Schatzkammer, Kap. 21, Bd. 1, S. 182ff.: „Die wahre Bedeutung des Sūtra-Lesens (Kankin)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 239ff.

[ix] Dogen: Shobogenzo (englische Fassung), Bd. 2, Fußnote 99, S. 49

[x] Dies sind Zitate aus dem Lotos-Sūtra (Übersetzerin: Margareta von Borsig), Kapitel 2, S. 194 und 198.

Mittwoch, 15. Februar 2023

Das Empfangen der buddhistischen Gelöbnisse (Jukai)

 


In diesem Kapitel beschreibt Dôgen die 16 Gelöbnisse im Mahâyâna-Buddhismus. Sie sind verhältnismäßig pragmatisch gestaltet, direkt formuliert und sollen eine klare Leitlinie in unser Leben bringen, die uns auf dem Buddha-Weg stützt und eine gute Entwicklung verstärkt.

Im traditionellen frühen Buddhismus (Hinâyâna, Theravâda) hatte sich die Anzahl der Gelöbnisse in den ersten Jahrhunderten nach Gautama Buddha zunehmend erhöht, sodass schließlich 250 Gelöbnisse für Mönche und 348 für Nonnen existierten. Sie werden in diesen Traditionen auch heute noch so abgelegt. Mit der Bewegung des Mahâyâna und der Entwicklung des buddhistischen Ideals des Bodhisattva, der sich im sozialen Handeln mit anderen Menschen verwirklicht und die eigene Erleuchtung grundsätzlich zurückstellt, bis alle anderen Lebewesen gerettet worden sind, ergab sich die Notwendigkeit einer Vereinfachung. Dies gilt umso mehr, da die Gelöbnisse auch von Laien empfangen und abgelegt werden und nicht nur von Mönchen und Nonnen, wenn sie in ein Kloster eintreten.

Nishijima Roshi betont, dass es bei den Gelöbnissen überhaupt nicht um Bestrafung, Abwertung oder gar Stigmatisierung derjenigen geht, die angeblich oder wirklich die Gelöbnisse verletzt haben, sondern dass ein Moment der Kräftigung für die Schüler wirksam wird. Mit der bewussten Entscheidung, den Buddha-Weg zu gehen, benötigt man auch ein deutliches Leitbild und bestimmte Ziele oder Vorgaben, um sich im eigenen Leben nicht zu verzetteln und nicht den verschiedensten Verführungen und Ablenkungen zu erliegen, die heute mehr denn je auf uns einwirken. Gerade in der modernen Zeit mit den sehr leistungsfähigen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten werden die vielfältigsten Leitbilder und Lebensphilosophien an uns herangetragen, sodass wir immer erneut verwirrt werden. Hinzu kommt, dass uns viele populistische und suggestive „Lehren“ für das richtige und erfolgreiche Leben erreichen, die von ganz bestimmten Interessen gesteuert werden. Zum Beispiel stammen solch falsche Lehren häufig aus politischen Lagern und dienen in Wahrheit der eigenen Macht. Ähnliches gilt für die Unternehmen der Industrie und Wirtschaft, die mithilfe von Werbeslogans und ästhetischen Bildern versuchen, den eigenen Marktanteil und Gewinn zu vergrößern. Dies wird aber natürlich nicht offen zugegeben, sondern als großartiger Lebensentwurf verpackt. In der Tat scheinen die in Werbespots und -bildern dargestellten Menschen das große Glück, um nicht zu sagen die Erleuchtung, erlangt zu haben. Dies ereignet sich angeblich durch den Kauf der entsprechenden Produkte. Eine Formel dafür könnte etwa lauten: „Erfolgreiche Menschen kaufen dieses Produkt und werden damit noch glücklicher.“ Dass solche Menschen schön und attraktiv aussehen, versteht sich dabei von selbst. Auch in vielen Zeitschriften werden Leitbilder und Lebensphilosophien „verkauft“, die so ersonnen sind, dass sie eine möglichst große Zahl von Lesern in entsprechenden Zielgruppen ansprechen und dadurch sicherstellen, dass diese Zeitschriften auch weiterhin gekauft werden. Selbst ernannte Psychologen und Heilsbringer verkünden dort die verschiedensten Patentlösungen, um glücklich zu werden. Sie erwecken den Eindruck, als ob man bereits durch das Lesen dieser Artikel den Schlüssel für das eigene Glück in Händen halten würde. Ähnliches gilt für die vielen Lockangebote des spirituellen Buchmarktes. Dies hat eine lange traurige Tradition, die bis auf die Zeit Gautama Buddhas zurückgeht.

Bei der gegenwärtigen komplexen und verwirrenden Gemengelage von Informationen und wegen des Verfalls der Bindungskraft der christlichen Gebote gewinnt der praktische Wert der klaren buddhistischen Gelöbnisse erheblich an Bedeutung. Dôgen schildert die buddhistischen Gelöbnis-Zeremonien, die vom jeweiligen Meister geleitet werden. Wer selbst schon eine solche Zeremonie mit einem bedeutenden Meister erlebt hat, wird gern bestätigen, dass sie eine besondere spirituelle und psychische Kraft entwickelt, und will sie keinesfalls auf dem Buddha-Weg missen. Auch Dôgen schätzt die Bodhisattva-Gelöbnisse und die entsprechende Zeremonie sehr. In der Dôgen-Sangha von Nishijima Roshi werden nach wie vor Dôgens wörtliche Formulierungen der Gelöbnisse verwendet. Auch die Zeremonie wird nach seinen Vorgaben durchgeführt. Dôgen gibt einen alten Meister wieder:

„Daher sind die Gelöbnisse das Wichtigste, wenn wir (Za)zen praktizieren und die Wahrheit erkunden. Wenn wir uns nicht von Übertreibungen fernhalten und gegen das Falsche schützen: Wie ist es dann möglich, den Zustand des Buddhas zu verwirklichen und ein Nachfolger im Dharma zu werden?“

Wir sollten die Gelöbnisse keinesfalls als nebensächlich ansehen. Deshalb ist es nach Dôgen sinnvoll, neue und saubere Kleidung dafür anzuziehen, damit wir ganzheitlich die Erfahrung eines neuen Beginns von Körper-und-Geist in unserem Leben machen. Wir sollten die Gelöbnisse gewissermaßen in unser Herz eingravieren, damit sie eine große andauernde Kraft und Energie in unser Leben bringen und sich immer klarer und richtungsweisender entwickeln. Dôgen sagt, dass die so verstandenen Gelöbnisse bereits der „Schatz des wahren Dharma-Auges“ sind, und er betont die authentische Weitergabe von einem Meister zum anderen, die sich gerade bei den Gelöbnissen konkret verwirklichen würde:

„Es kann keinen buddhistischen Meister geben, der die buddhistischen Gelöbnisse nicht empfangen und bewahrt hat. Einige haben sie (direkt) unter dem Tathâgata empfangen und bewahrt. Das bedeutet in jedem Fall, das (wahre) Lebensblut empfangen zu haben.“

Dôgen nennt dann beispielhaft einige große Vorfahren im Dharma – Nâgârjuna, Bodhidharma, Daikan Enô, Seigen und Nangaku – und bedauert sehr, dass es leider auch unverlässliche, angebliche Meister gibt. Durch die Gelöbnisse bekommen wir laut Dôgen einen direkten Zugang zum „inneren Heiligtum“ der Meister. Dies gelte aber nicht für nachlässige und träge Menschen.

Einige Zeit vor der Zeremonie fragt der Schüler den Meister, ob er die Gelöbnisse erhalten und empfangen darf. Nach dessen Zustimmung beginnt die eigentliche Vorbereitung damit, dass der Schüler die neue Kleidung kauft oder selbst anfertigt. Zu Beginn der Zeremonie werden Niederwerfungen vor den Statuen und Bildern des Zentrums oder Tempels, vor den drei Juwelen des Buddhismus und vor den großen Vorfahren im Dharma gemacht. Dadurch wirft man die bisherigen vielfältigen Einschränkungen und Blockaden ab und ist in der Lage, den Körper-und-Geist zu reinigen.

 Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha

Der Schüler wird entsprechend der Überlieferung am Anfang der Zeremonie gebeten, die Worte zu sprechen, dass er zu Buddha, zum Dharma und zum Sangha Zuflucht nimmt.

Der Begriff „Zuflucht“ hat sich im buddhistischen Sprachgebrauch durchgesetzt und wird deswegen auch hier verwendet. Er trifft allerdings nicht genau die Bedeutung dieses wesentlichen Schrittes, sich zu Buddha, Dharma und Sangha zu bekennen, denn es handelt sich nach Dôgen nicht um eine Flucht und schon gar nicht um eine Flucht aus der Welt, sondern um einen ersten positiven Schritt zur Befreiung und zum Erwachen. Dieser erste Schritt auf dem buddhistischen Weg eröffnet neue Möglichkeiten, um beengende und lästige Behinderungen abzuschütteln und den Weg zur befreienden Wirklichkeit anzutreten und voranzugehen. Auch die Zazen-Praxis entwickelt dann neue nachhaltige Wirkungen.

Der Meister sagt nach diesem ersten Teil der Zeremonie:

„Gute Söhne (und gute Töchter), jetzt haben Sie das Falsche verlassen und sich dem Wahren gewidmet. Die Gelöbnisse umgeben Sie bereits. Sie sollen jetzt die drei Zusammengefassten Reinen Gelöbnisse empfangen.“

 Die drei allgemeinen Gelöbnisse

Das erste dieser Gelöbnisse betrifft die Einhaltung der buddhistischen Regeln, das zweite ist das moralische Gesetz und das dritte ist das Gelöbnis, dass wir allen Lebewesen Gutes tun und sie retten. Diese grundsätzlichen Gelöbnisse werden vom Meister als Frage jeweils dreimal formuliert und vom Schüler jeweils dreimal mit den Worten „Ich kann es.“ beantwortet.

Dann sagt der Meister:

„Die drei vorherigen Zusammengefassten Reinen Gelöbnisse dürfen nicht verletzt werden. Können Sie diese Gelöbnisse von Ihrem gegenwärtigen Körper bis zum Erlangen von Buddhas Körper halten, oder nicht?“

Die Antwort lautet: „Ich kann es.“

Dies wird ebenfalls dreimal wiederholt.

 Die zehn speziellen Bodhisattva-Gelöbnisse

Anschließend wird die Zeremonie mit den zehn einzelnen und sehr viel konkreteren Bodhisattva-Gelöbnissen in der gleichen Weise fortgesetzt. Der Meister fragt den Schüler zu jedem Gelöbnis dreimal, ob er dieses einhalten kann, und der Schüler antwortet jedes Mal: „Ich kann es.“

Die Gelöbnisse lauten wie folgt:

1. Nicht zu töten

 2. Nicht zu stehlen

 3. Sich nicht der Gier hinzugeben

Dieses Gelöbnis wird häufig sexuell interpretiert. Es hat dann den Sinn, niemanden sexuell zu missbrauchen. Damit wird also keineswegs die sexuelle Liebe insgesamt abgelehnt, sondern es soll der Missbrauch, zum Beispiel durch Machtausübung, psychischen Terror, finanzielle Abhängigkeit und dergleichen, verhindert werden.

 4. Nicht zu lügen

 5. Keinen Alkohol zu verkaufen

Nishijima Roshi vermutet, dass dieses Gelöbnis ursprünglich verhindern sollte, dass übermäßig viel Alkohol getrunken wird und eine Abhängigkeit und damit Alkoholkrankheit entsteht. Er meint, dass in den nördlichen Ländern, insbesondere im nördlichen China, der mäßige Konsum von Alkohol allerdings hilfreich war, um während der langen winterlichen Periode der Kälte und Dunkelheit durchzuhalten. Wer jedoch sein Geld damit verdient, Alkohol zu vertreiben und zu verkaufen, ist in der Tat moralisch in einem sehr schwierigen Beruf tätig. Wir wissen von den meisten hoch im Norden gelegenen Ländern, zum Beispiel Finnland, Schweden und Norwegen, dass dort große Alkoholprobleme bestehen und daher ein grundsätzliches Verbot des Kaufs und Verkaufs von Alkohol verhängt wurde. Erwähnt sei noch, dass Mohammed im Islam den Alkohol ebenfalls für schädlich hielt und daher verboten hat.

 6. Nicht die Überschreitungen und Verfehlungen anderer Bodhisattvas zu diskutieren

Dieses Gelöbnis soll verhindern, dass emotionalisierte Diskussionen zwischen den Mitgliedern eines Sangha, also von Menschen, die sich auf dem Buddha-Weg befinden, geführt werden. Oft geht es in solchen Streitgesprächen darum, dem jeweils anderen vorzuwerfen, dass er die Gelöbnisse verletzt oder gebrochen habe. Wer die Wirklichkeit in den buddhistischen Gruppen und Sanghas kennt, weiß, dass dies tatsächlich ein Problem darstellt. Nishijima Roshi erläutert dazu, dass das besondere Engagement für eine gute buddhistische Lebensführung zur überzogenen Kritik an anderen führen kann. In diesem Fall verkehrt sich die idealistische buddhistische Lebensphilosophie zur Ideologie, ohne dass es dem Handelnden bewusst wird. Die Fehler werden dann in übergroßer Klarheit beim anderen Menschen gesucht und gefunden. Solche Diskussionen haben oft zur Folge, dass es zu tiefgreifenden Spannungen und Trennungen kommt.

 7. Sich selbst nicht zu loben und andere nicht zu kritisieren und herabzusetzen

Im gleichen Sinne, aber weiter präzisiert, soll das siebte Gelöbnis verhindern, dass man sich selbst lobt und überschätzt und den anderen abwertet und kritisiert. Auch ein solches Verhalten ist leider in buddhistischen Gruppen zu beobachten. Bei derartiger Selbstüberschätzung und Überheblichkeit können wir davon ausgehen, dass dies den Handelnden oft nicht bewusst ist. Die angeblichen oder wirklichen Fehler und Unzulänglichkeiten des anderen werden dabei erheblich vergrößert. Die Kritik hat dann meist das psychische Ziel, sich selbst über den anderen zu erheben und ihm moralische Minderwertigkeit zu bescheinigen. Ein solches Phänomen tritt verständlicherweise besonders dann auf, wenn jemand irrtümlich meint, er habe die große Erleuchtung erlangt und sei daher vollständig im Recht und es sei sogar seine Pflicht, andere zu kritisieren und zu „erziehen“. Ähnliche Fehlentwicklungen lassen sich bei der Übung der Achtsamkeit feststellen, wenn man sich selbst als sorgfältig und achtsam ansieht und den anderen entsprechende Unachtsamkeit vorwirft. Formulierungen wie „Du stehst weit unter mir und ich bin auf dem Niveau der großen Meister.“ sind dabei durchaus anzutreffen. Derartige Selbstüberschätzungen kommen beim Denken, Reden und Handeln vor, wenn es um eigene Interessen geht, die dem Handelnden jedoch ebenfalls meist nicht voll bewusst sind. Im Buddhismus ist in diesem Zusammenhang vor allem das Streben nach Ruhm, Anerkennung und Macht zu nennen, das dazu führt, dass andere Menschen, die zum Beispiel auf demselben Gebiet arbeiten, als Konkurrenten und Feinde empfunden und bekämpft werden.

 8. Anderen nicht den Dharma oder den Besitz von Materiellem zu missgönnen

In diesem Gelöbnis geht es darum, dass man freigiebig und von ganzem Herzen anderen etwas gibt oder sie beschenkt. Wie Dôgen erläutert, muss es sich dabei nicht unbedingt um materiell wertvolle Dinge handeln, denn auch kleine Aufmerksamkeiten können eine menschliche Beziehung wesentlich verbessern und Abneigung in Sympathie umwandeln. Dôgen erwähnt hier besonders, dass man die Lehre des Buddha-Dharma großzügig an andere geben soll, wenn diese darum bitten oder es für sie wichtig ist. Man soll daher anderen den Dharma nicht missgönnen und vorenthalten, um selbst ein Gefühl der spirituellen Überlegenheit zu haben oder den anderen in Abhängigkeit zu bringen. Dies erinnert an die Situation in der Schule, wenn ein „Streber“ sein Wissen nicht an andere weitergeben will. Der Dharma ist aber keine Materie und kein einfaches Wissen, das man für sich behalten und horten kann, sondern er sollte anderen freimütig gegeben werden. Es kommt im Sangha sogar vor, dass ein Schüler buddhistische Informationen, die er von seinem Meister erhalten hat, nicht an andere weiterleiten will. Er verhält sich so, als ob diese Informationen eine Erbschaft seien, die nur ihm allein zusteht. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass manche Meister ihre buddhistische Lehre leider nur zu hohen Preisen an die Schüler vermitteln wollen. Die Begründung dafür lautet etwa wie folgt: „Wenn die Lehre nicht teuer ist, wird sie nicht geachtet.“ Im Gegensatz dazu arbeitete Gautama Buddha darauf hin, dass religiöse Zeremonien möglichst kostenlos abgehalten werden, nicht zuletzt weil die „Preise“ der damaligen Brahmanen immer weiter gestiegen waren. Selbst Mitglieder der Mittelschicht mussten große Anteile ihres Einkommens für Zeremonien und Unterweisungen aufbringen. Ärmere Menschen mussten dann aus Kostengründen auf derartige spirituelle Hilfen ganz verzichten.

Die Gelöbnisse 6 bis 8 weisen einen klaren Bezug zum sozialen Handeln der Menschen auf. Dies ist im Einklang mit dem Ansatz des Mahâyâna und dem Ideal des helfenden Bodhisattva zu verstehen. Im Vergleich mit den zehn Geboten des Christentums fällt auf, dass es dort eine direkte Entsprechung zu diesen drei buddhistischen Gelöbnissen nicht gibt.

 9. Nicht wütend zu werden

 10. Die drei Juwelen des Buddhismus nicht zu beleidigen

Dass wir als Buddhisten die drei Kostbarkeiten Buddha, Dharma und Sangha schätzen und in Ehren halten, versteht sich eigentlich von selbst, wird aber in den zehn Gelöbnissen zum Schluss noch einmal ausdrücklich hervorgehoben.

 

Montag, 2. Januar 2023

Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle


Nishijima Roshi nannte mir dieses vierte Kapitel des Shōbōgenzō als Beispiel für einen starken Bezug zur materiellen und konkreten Dimension des Lebens und der Welt. Aber wie zu erwarten geht Dōgen weit über unsere westliche Vorstellung des Materialismus und Hedonismus hinaus, die nur eine Teilrealität darstellen.[i] Er zitiert und kommentiert dabei die folgenden Worte des großen Meisters Gensa, den er wegen seiner unverstellten buddhistischen Praxis außerordentlich schätzte: „Das Universum in den zehn Himmelsrichtungen ist eine leuchtende Perle.“ Dieser Satz drückt laut Dōgen das Herz des Buddha-Dharma aus. Das Leben und die Wirklichkeit des Universums werden als leuchtende Perle erlebt. Darin kommt etwas sehr Wichtiges zum Ausdruck, denn über das Schlechte und Negative in dieser Welt wird auch von materialistischen Menschen sehr viel geklagt, und die materielle Gier ist gerade in der heutigen Zeit von vielen nicht zu steuern.

Dass Dōgen das Gleichnis der leuchtende Perle außerordentlich schätzte, belegt, dass der Buddhismus alles andere als eine lebensfeindliche, freudlose und negative Philosophie und Lebenspraxis ist, wie manchmal behauptet wird, sondern dass – ganz im Gegenteil – die Schönheit und der wunderbare Glanz der Welt, der Natur, der Pflanzen und Tiere und des menschlichen Lebens im Mittelpunkt stehen und als die wahre Wirklichkeit erlebt werden.

Die runde Form ist im Buddha-Dharma oft ein Symbol für ein harmonisches und ausgeglichenes Leben und für das Universum. Diese Rundheit wird nicht zuletzt wegen ihrer Schönheit gerühmt. Ecken und Kanten oder gar Stacheln und Borsten werden im Buddhismus meist weniger geschätzt. Das Runde des Vollmondes gilt als der Inbegriff der Schönheit und Harmonie, und so ist auch eine runde Perle Ausdruck für ein schönes und waches Leben. Sie spiegelt alles wider, was um sie herum vorhanden ist, und ist damit mit einem Spiegel vergleichbar, der alles reflektiert, was vor ihm erscheint: der Spiegel der Wirklichkeit.

Eine Perle ist rund wie die Scheibe des Mondes oder der Sonne, aber sie hat auch die Eigenschaft zu rollen und sich zu bewegen und symbolisiert damit wiederum eine ganz lebendige Erfahrung des Buddhismus: die Bewegung, den Wandel und das Handeln. Das Universum und alles in der Natur und im Leben bewegt sich fortwährend, nicht nur in geistiger und psychischer Hinsicht, sondern ganz konkret. Eine rollende Perle verändert sich unaufhörlich in ihrer Schale. Dōgen sagt, dass sie sich damit selbst genug ist, so wie sie ist.

Gensa praktizierte bei seinem Meister Seppō die Zazen-Meditation in der korrekten Haltung mit aller Kraft und Ausdauer, aber eines Tages wollte er das Kloster verlassen und wieder auf Wanderschaft gehen, um andere buddhistische Meister kennenzulernen. Es wird berichtet, dass er nach dem Verlassen des Klosters noch nicht weit gekommen war, als er mit seinem Fuß in den offenen Sandalen heftig gegen einen Stein am Wege stieß und große Schmerzen in dem verletzten Zeh hatte, der stark blutete. Bei diesem plötzlichen schmerzhaften körperlichen Erlebnis hatte er eine vollkommen klare geistige Eingebung. Es schoss ihm durch den Kopf: „(Es wird gesagt, dass) dieser Körper nicht wirklich existiert, woher kommt dann der Schmerz?“ Gleichzeitig erkannte er, dass es sinnlos war, erneut auf Wanderschaft zu gehen und nach irgendetwas Entferntem zu suchen. Er kehrte daher sofort um und ging wieder zu Meister Seppō, dessen Nachfolger er später wurde. Das Kloster verließ er danach nicht mehr.

Seppō fragte Gensa, warum er denn zurückgekommen sei, und dieser antwortete: „Letztlich kann ich mich nicht von anderen täuschen lassen.“ Er erklärte, dass allein die eigene konkrete Erfahrung gerade der materiellen Wirklichkeit maßgeblich sei, unabhängig davon, was andere nun sagen und lehren. Wenn im Buddhismus manche fälschlich behaupten, dass der Geist unabhängig vom Körper existiere und nur der Geist Wirklichkeit habe, so wurde es dem Mönch Gensa im Gegensatz dazu durch den Schmerz blitzartig klar, dass dies nicht richtig sein konnte. Meister Seppō war von der einfachen, präzisen Aussage Gensas sehr beeindruckt und rühmte ihn anderen gegenüber außerordentlich.

Aber der Satz „Das Universum in den zehn Himmelsrichtungen ist eine leuchtende Perle“ muss von jedem Menschen auf das eigene Leben, die eigene Erfahrung und den eigenen buddhistischen Weg angewendet werden, denn auch eine solch großartige, aber dennoch allgemeine Aussage birgt die Gefahr, sich lediglich im Denken und isolierten Geist festzusetzen und als abstrakte Lehre vielleicht nur auswendig hergesagt zu werden.

Dōgen erläutert, dass man das Universum materiell-physikalisch präzise erkennen und deuten müsse. Aus der Welt der Ideen zur konkreten Wirklichkeit vorzustoßen bedeutet also gerade nicht, dass man in einem simplen materiellen Welt- und Lebensverständnis hängen bleibt. Die große Kraft des Zen-Buddhismus liegt aus meiner Sicht darin, dies in aller Klarheit des Hier und Jetzt herausgearbeitet zu haben. Besonders die Zazen-Praxis ermöglicht es uns, die unablässig kreisenden eigenen Gedanken zur Ruhe zu bringen. Auf diese buddhistische Kernlehre hat vor allem Meister Gensa hingewiesen. Im Gleichgewicht der Zazen-Haltung löst sich die Vorstellung eines isolierten Ich auf, denn wir sind ja unauflösbarer Teil der nicht endenden Bewegungen und Wechselwirkungen des Universums.

Dōgen war fest davon überzeugt, dass das wunderbare Gleichnis der Perle zentraler Bestandteil der buddhistischen Lehre ist und sich immer mehr verbreiten würde. Die Wirklichkeit existiert nur im Jetzt der Gegenwart. Diese Gegenwart hat sich zwar aus der Vergangenheit entwickelt, aber die Vergangenheit selbst kann nur gedacht und erinnert werden. Der Körper-Geist ist die Perle des Jetzt, der Wirklichkeit und der Wahrheit.

Im Buddhismus gibt es verschiedene tiefgründige Berichte über die Perle und deren Bedeutung für unser Leben. In einer Geschichte schenkte ein reicher Mann seinem verarmten Freund eine Perle und nähte sie in dessen ärmliches Gewand ein. Der Freund bemerkte die Perle erst nach vielen Jahren und wurde dadurch materiell gerettet. Der große Rhythmus des Lebens besteht nach Dōgen darin, eine Perle zu schenken und eine Perle zu empfangen. Sie ist für ihn ein wunderbares Symbol für das Leben, das strahlend und schön ist und das wir mit dem Buddha-Dharma lieben sollten. Dadurch können wir die einengenden, festgefahrenen Gedanken, Ideen und Doktrinen überwinden und vor allem Beurteilungen und Abwertungen wie Verachtung oder Ablehnung fallen lassen. Die Farben und das Licht der Perle haben kein Ende und sind gleichzeitig „die Tugend des ganzen Alls“, betont Dōgen.

 Link: Yudo´s Zen-Film, English, awards (!)



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 62ff.