Montag, 22. Mai 2023

Die Wahrheit mit Körper und Geist erlernen, Shinjin gakudō

 

Dieses Kapiteltitel besagt, dass man nach der buddhistischen Lehre die Wahrheit und Befreiung dadurch erlernen kann, dass man sowohl den Geist als auch den Körper und die Psyche schult und entwickelt.[i] Dadurch befreit man sich von doktrinären Denkmustern, die zu Täuschungen führen. Wir müssen uns immer im Klaren darüber sein, dass Körper, Geist und Psyche in der Wirklichkeit unauflösbar zusammengehören und eine Wechselwirkung mit den angeblich isolierten Objekten der Außenwelt bilden.

Während in der westlichen Philosophie der Intellekt und Geist meist völlig losgelöst vom Körper des Menschen behandelt werden, schätzt man eine solche Trennung im Buddhismus als sinnlos für die eigene Befreiung ein. Wenn Dōgen in diesem Kapitel des Shōbōgenzō zunächst die Befreiung von doktrinären Denkmustern des Geistes und dann den Lernvorgang des Körpers untersucht, wählt er diesen Weg aus didaktischen Gründen, um die jeweiligen Bereiche möglichst klar herausarbeiten zu können. Der Lehre vom ethischen Handeln und Tun, die immer Veränderungen beinhaltet, kommt im Buddhismus eine sehr große Bedeutung zu, und zum Handeln gehören immer sowohl der Geist als auch der Körper.

Dōgen betont zu Beginn seiner Ausführungen den klaren Entschluss, den Buddha-Weg zu gehen und fixierte Vorurteile und Doktrinen überwinden zu wollen. In einem anderen Kapitel heißt es, dass wir den Bodhi-Geist bei uns erwecken müssen, um in den Lernprozess des Buddhismus einzutreten.[ii] Auch bei den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad Gautama Buddhas steht am Anfang die klare Entscheidung, den Buddha-Weg zu gehen, um das Leiden zu überwinden. Dōgen bemerkt hierzu: „Wenn ihr euch nicht entschließen könnt, die Wahrheit zu erlernen, entfernt sie sich immer mehr von euch.“ Das bedeutet, dass man durch diesen Entschluss zwar noch nicht zur Wahrheit erwacht ist, aber dass man sich ohne eine solche grundsätzliche Entscheidung in seinem Leben immer mehr verirrt und sich zum Beispiel im Materialismus oder in Doktrinen verliert. Wesentlicher Teil dieses Wahrheitsweges ist ethisches Denken und Handeln. Dōgen zitiert hierzu Zen-Meister Nangaku: „Es gibt die Praxis, und es gibt die Erfahrung, aber wenn sie nicht rein sind, kann man (die Wahrheit) nicht verwirklichen.“

Die Ethik darf natürlich nicht im Denken und bei den Ideen und Absichten stehen bleiben, sondern muss durch das Handeln umgesetzt und im Hier und Jetzt verwirklicht werden. Gleichwohl ist der Entschluss zum ethischen Handeln zunächst im Geist und Willen angesiedelt. Dies ist dann der Beginn eines Lebens auf einem neuen Weg in eine neue Richtung.

Dōgen geht auf verschiedene Arten des Geistes ein, die nicht zuletzt aus der altindischen Buddha-Lehre nach China übernommen wurden: Zum Beispiel bedeutet citta Vernunft und Intellekt, hridaya heißt das denkende Herz, in dem Gefühle und mentale Aktivitäten zusammengefasst sind, und vriddha bezeichnet den gesammelten und ausgeglichenen Geist. Er warnt uns jedoch davor, dies nur rein theoretisch zu verstehen, und fordert uns stattdessen auf:

„Dann erlernt und erforscht ihr es im tätigen Handeln, das selbst das Erwachen des Bodhi-Geistes ist.“

„Ihr solltet deshalb fest darauf vertrauen und annehmen, dass dieser Geist sich auf natürliche Weise von selbst daran gewöhnt, die Wahrheit zu erlernen. Dies nennen wir das Erlernen der Wahrheit mit dem Geist.“

Aus diesen Worten spricht sein tiefes Vertrauen zum Leben im Buddhismus. Für ihn handelt es sich um einen natürlichen Lern- und Entwicklungsvorgang, wenn man auf dem Buddha-Weg das Erwachen oder die Erleuchtung und damit Befreiung erlebt. Aber nicht eine gewaltige einmalige Willensanstrengung ist maßgebend, sondern das stetige Üben als Handeln selbst, also die Zazen-Praxis als vollkommenes Tun im halben oder ganzen Lotos-Sitz und im Gleichgewicht. Dabei lassen wir in der Leerheitsmeditation ohne Doktrinen und Affekte „den Körper und Geist fallen“. Das ist im Zen die Praxis shikantaza, was bedeutet „nichts als sitzen“.

Das Erwachen ist deshalb auch kein „übernatürlicher“ Vorgang, sondern gerade das Gegenteil, etwas Natürliches, das sich allerdings nach Dōgen nicht ohne Übung und Praxis verwirklichen kann. Nishijima Roshi empfiehlt in diesem Zusammenhang jedem von uns, zweimal am Tag Zazen zu praktizieren und sich keine Sorgen darum zu machen, ob dies zur großen Erleuchtung führt oder nicht. Er sagt schlicht, die richtige Zazen-Praxis ist bereits die erste Erleuchtung, und es gibt keinen Unterschied zwischen Handeln und einem Ziel, das erreicht werden soll. Außerdem ist es notwendig, Schritt für Schritt Zugang zur umfassenden buddhistischen Lehre zu bekommen.

Neben der Zazen-Praxis ist das Handeln im Alltag mit den Pflichten und Aufgaben des Menschen ein wesentlicher Teil des Buddha-Weges. Dabei darf man sich nicht entmutigen lassen, wenn es Rückschläge gibt oder wenn der Lernprozess „in Stücke zerfällt“, sondern wir sollen vertrauensvoll in den jeweiligen Situationen unseres Lebens nach der Buddha-Lehre handeln. Auch der von Angst gesteuerte Gedanke an den kommenden Tod oder an eine grauenvolle Wiedergeburt führt nicht weiter, sondern wirkt meist wie ein Hindernis für das Handeln im gegenwärtigen Augenblick, denn das Leben gehört dem Leben und nicht dem Tod. Zum Leben in einer wechselvollen Welt sagt Dōgen:

„Die Worte sind im Gleichgewicht, der Geist ist im Gleichgewicht, und die Welt ist im Gleichgewicht.“ 

Dōgen geht dann auf den Lernvorgang des Körpers ein und bezieht sich ganz konkret auf unseren jetzigen Körper, den wir jeweils haben. Das Körperliche ist unverzichtbar für den buddhistischen Weg und wird als wertvoll und äußerst wichtig angesehen. Hierin unterscheidet sich der Buddhismus von der westlichen Philosophie und auch von einigen idealistischen Religionen. Allerdings lehnt Dōgen die ausschließlich materialistischen und naturalistischen Strömungen ab, die den Genuss durch den Körper in den Mittelpunkt stellen. Die Vertreter solcher Strömungen behaupten, dass es keiner Übung und keines Lernvorgangs bedarf, weil man von Natur aus schon rein und frei sei. Dies ist mit der ethischen Lehre und dem moralischen Handeln im Buddhismus jedoch nicht vereinbar.

An anderer Stelle beschreibt Dōgen, dass „der Körper (von Meister) Nāgārjuna die Rundheit des Mondes und die Buddha-Natur“ ist.[iii] Der Körper offenbart den Buddha-Dharma im Gleichklang mit der Sprache der Dharma-Rede. Die helfenden Bodhisattvas werden zum Beispiel so im Lotos-Sūtra beschrieben, dass sie einen Körper annehmen, der jeweils bei der Hilfe für die anderen richtig und nützlich ist. Dadurch wird der Körper in den Dienst des Bodhisattva-Handelns gestellt, und dies überschreitet die Selbstsucht des Ich. Nach buddhistischer Vorstellung besteht der Körper auch aus den vier materiellen Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft und aus den fünf Komponenten des Menschen (skandhas). Aber Dōgen erweitert diesen Gedanken noch:

„Dies ist die Wahrheit, dass der wahre Körper des Menschen das ganze Universum der zehn Richtungen ist.“[iv]

Mit dem Körper handelt man selbst aktiv oder lässt etwas geschehen, das in die Umgebung und Situation eingebettet ist. Im Handeln selbst liegen die Wirklichkeit und Wahrheit, und man sollte sich vor doktrinären Bewertungen wie richtig oder falsch, echt oder falsch, Recht oder Unrecht usw. hüten. Am Ende dieses Kapitels zitiert er einen Meister mit folgendem Gedicht:

„Das Leben ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.

Der Tod ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.

Sie erfüllen den ganzen Raum.

Der reine Geist ist immer im Augenblick.“

Diese tiefgründigen Worte sollen wir laut Dōgen gründlich erforschen und erfahren. Sie beziehen sich nicht zuletzt auf das tägliche Handeln jedes Menschen, der in seine Pflichten und Aufgaben eingebunden ist. Dōgen rät uns dringend, alle erlernten verengenden Theorien und Doktrinen wieder abzuschütteln und unmittelbar im Gleichgewicht des Hier und Jetzt zu leben und ethisch zu handeln. Damit spricht er auch die Doktrinen an, die einen ātman oder eine unveränderliche Ich-Substanz annehmen. Wir müssen also den Substantialismus überwinden und zur Ruhe kommen lassen.



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 280ff.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 3, S. 302ff.

[iii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 280ff.

[iv] ZEN Schatzkammer, Kap. 37, Bd. 2, S. 110ff.: „Die Wahrheit mit Körper und Geist erlernen (Shinjin gakudō)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 280ff.