Donnerstag, 27. Oktober 2022

Der Dichter Toba erwacht mit der Natur

Dôgen erzählt die Geschichte eines buddhistischen Laien namens Toba, der im alten China lebte und als großer Dichter gefeiert wurde. Auch Dôgen schätzte Tobas Fähigkeiten außerordentlich und bezeichnete ihn sogar als „wahren Drachen in der Literaturwelt“. Toba war nicht nur Dichter, sondern hatte die umfangreiche Literatur des Buddhismus intensiv studiert und sich dabei vor allem auf die wirklich großen Meister konzentriert, die in China bisweilen als „Drachen und Elefanten“ bezeichnet werden. Die Geschichte berichtet, dass Toba die wegen ihrer Schönheit berühmte Landschaft von Lushan besuchte und von der großartigen Natur tief berührt war. Mit offenem Herzen hörte er den Bergstrom, der durch die Nacht floss, und verwirklichte dabei die Wahrheit. Daraufhin verfasste er die folgenden Verse:

„Die Stimmen des Flusstales sind (Buddhas) weite und lange Zunge.

Die Form des Berges nichts anderes als sein reiner Leib.

Durch die Nacht, vierundachtzigtausend Verse,

Wie kann ich sie an einem anderen Tag anderen Menschen sagen?“

Der Dichter besingt die Stimmen des Tales und das Rauschen des Flusses, indem er sie mit der Zunge Gautama Buddhas vergleicht. Dessen lange Zunge war nach der Überlieferung eines seiner 32 legendären Merkmale. Damit ist gemeint, dass Buddha den Dharma ununterbrochen lehrt, so wie in der Natur der Fluss nicht stillsteht, immer weiterfließt und das Tal mit seinem Rauschen und seinen Klängen ohne Unterbrechung erfüllt. Die Berge werden mit dem Körper Buddhas verglichen, und ihre Form zeigt sich dem Dichter in großer Klarheit und Schönheit. Der Buddha-Dharma ist die Wirklichkeit und Wahrheit selbst, und auch dies ist das Gesicht der Natur. Es heißt weiter, dass die Form der Berge und die Melodie des fließenden Baches 84.000 Versen des großen Gedichts der Natur entsprechen. Dieser Vergleich symbolisiert auch die einzigartige Vielfalt der Natur.

Am Ende des Gedichts fragt Toba, wie er seine tiefen Erlebnisse in Worte fassen kann, um andere Menschen daran teilhaben zu lassen und sie ihnen nahezubringen. Gerade weil er ein berühmter, genialer Dichter war, der hervorragend mit der Sprache umgehen konnte und über ungewöhnliche poetische Fähigkeiten verfügte, wird dadurch besonders klar, dass das tiefe Erleben bei seinem Erwachen niemals und von niemandem vollständig in Worte gefasst werden kann. Die „Verse der Natur“ sind unvergleichlich, und sie verkünden die große Wahrheit des Buddha-Dharma.

Toba legte seine Verse dem Zen-Meister Joso (1025 bis 1091) vor, der sein Erwachen bestätigte. Vor diesem Erlebnis hatte Toba bereits unter einem anderen Zen-Meister praktiziert, hatte von ihm das Dharma-Gewand erhalten und die buddhistischen Gelübde empfangen. Er war ein Laienschüler, der das Gewand immer trug, wenn er praktizierte. Dôgen vermutet, dass auch dieser enge Kontakt zu seinem vorherigen Zen-Meister dazu beigetragen hat, dass er sich plötzlich in der Nacht der tiefen Wirklichkeit der Natur öffnete. Durch dieses tief greifende Naturerlebnis verschmolz er mit der Wirklichkeit selbst.

Dôgen geht der Frage nach, was diese plötzliche Öffnung und Umwandlung Tobas bewirkt haben mag. Was war mit ihm passiert? Warum konnte er die Form der Berge davor nicht wirklich erleben und erfahren? Und warum erfasste ihn die Schönheit der Berge und Flüsse in dieser Nacht mit ganz neuer Frische, warum hörte er mit einem Male die Stimmen des Flusstales in neuer Klarheit?

„Es ist sehr bedauerlich, dass die Töne und Formen in den Bergen und Wassern (dem Laien Toba bis dahin) verborgen waren. Wir können uns aber freuen, dass es Augenblicke sowie Ursachen und Umstände gibt, in denen sich die (wirklichen) Töne und Formen in den Bergen und Wassern offenbaren. Diese Manifestation der Zunge (Buddhas) erlahmt niemals. Wie könnte die Form von (Buddhas) Körper existieren und (dann wieder) verschwinden?“

Dôgen unterstreicht die große Freude, an der wir Menschen ohne Ausnahme teilhaben können, wenn sich für uns eine solche Erleuchtung zur Wirklichkeit ereignet. Tobas Erlebnis öffnete diesem eine völlig neue Dimension des Lebens, die er vorher nicht kannte und nicht erreichen konnte, obgleich er ein begabter Dichter gewesen war. Das Erwachen zur Wirklichkeit ist also kein Märchen und keine schöne ausgedachte Geschichte, sondern eine Tatsache in dieser Welt, in diesem Universum und in unserem Leben. Der Tiefenpsychologe Erich Fromm[i] bezeichnet einen solchen Vorgang als die Umwandlung des Unbewussten in das Bewusste und damit als Befreiung von erlernten Zwängen und Begrenzungen. Dies ermöglicht ein neues Fließen der Energie und eine neue Kreativität, die selbst dem großen Dichter Toba vorher unbekannt gewesen waren.

Dôgen betont auch die physische und formgebundene Seite der Flüsse und Berge, die niemals aufhören zu bestehen und niemals träge und faul sind. Im Augenblick dieses großen Erlebnisses gibt es kein Entstehen der Existenz und kein Verschwinden der physikalischen Form und Materie. Einfach ausgedrückt berühren uns die Schönheit und Reinheit der Natur in ganz erstaunlicher Weise, obgleich wir ja eigentlich nur äußere Formen, Farben und Töne sehen und hören. So kann gerade die Natur das tiefe Erleben bewirken, das wir Erwachen oder Erleuchtung nennen. An anderer Stelle erklärt Dôgen, dass ein Erwachen durch und in der Natur niemals zurückfällt, sondern eine hohe Stabilität und Kraft besitzt.[ii] In der Natur und im wahren Erleben der Berge und Flüsse gibt es keine Illusionen, denen wir – zum Beispiel mithilfe schöner Wörter – erliegen könnten.

Nishijima Roshi fügt hinzu: Es ist sehr traurig, dass die Berge und Flüsse ihre wirkliche Form und Stimme nicht offenbaren können, weil unser eigenes vegetatives Nervensystem (und damit wir selbst) nicht im Gleichgewicht ist. Aber in der Wirklichkeit eines solchen Gleichgewichts offenbaren die Berge und Flüsse ihre (wahre) Form und ihre Stimme, sie sind überaus reich und befriedigend. Es erfüllt uns gleichzeitig mit tiefer Freude, dass es eine Zeit sowie Ursachen und Bedingungen gibt, in denen die Berge und Flüsse ihre Stimme und Form manifestieren.“

Schließlich stellt Dôgen uns einige Fragen, um das bisher Gesagte zu vertiefen und klarer werden zu lassen: Sollten wir lernen, dass wir der Zunge und dem Körper Buddhas nahe sind, wenn sie offen sichtbar sind? Dies ist die Erfahrung nach dem Erwachen Tobas zur Wirklichkeit. Oder sollten wir im Gegenteil lernen, dass wir ihnen nahe sind, wenn sie verborgen sind, wie vor dem Erwachen des Dichters Toba? Sicher nicht. Sollten wir sie als eine umfassende Einheit sehen, also idealistisch, oder sollten wir sie materiell und als Form betrachten? Diese beiden Sichtweisen wären zu eng und können jeweils nur einen Teil der Wirklichkeit und Wahrheit erkennen. Dôgen fasst zusammen:

„In den früheren (Jahreszeiten) des Frühlings und Herbstes hat (der Laie Toba) die Berge und Wasser nicht (wirklich) gesehen oder gehört, aber in (jenen) Augenblicken ist er durch die Nacht gerade in der Lage, die Berge und Wasser unverstellt zu sehen und zu hören.“

Menschen auf dem Buddha-Weg und Bodhisattvas sollten die Begebenheit von Tobas Erwachen zum Anlass nehmen, selbst zu lernen, die Berge und Flüsse wahrhaft zu sehen und zu hören.

Dôgen beschreibt das wahre Sehen und Hören zunächst mit der eigenartigen Formulierung, dass wir lernen sollen, dass die Berge fließen und das Wasser nicht fließt. Was meint er damit? Eine ähnliche Aussage findet sich im Kapitel über das Sûtra der Berge und Wasser[iii], das am Ende dieses Buches behandelt wird. Damit will Dôgen uns sagen, dass wir nicht an gewohnten, scheinbar selbstverständlichen Vorstellungen haften sollten und dass die Natur ein „Tor zum Eintritt in den Buddhismus“[iv] ist. Unsere subjektiven Wahrnehmungen sind immer relativ: Wenn wir das fließende Wasser als Basis nehmen, würden sich die Berge im Verhältnis dazu bewegen.

In der Geschichte schildert Dôgen zunächst, wie Toba am Tag vor der besagten Nacht den Zen-Meister Joso aufsuchte und ihn fragte, was die buddhistische Aussage bedeute, dass die Natur und die nicht-empfindenden Wesen den Dharma lehren. (Zu diesem Thema gibt es im Shôbôgenzô ein eigenes Kapitel[v], in dem erläutert wird, dass das Nicht-Emotionale oder Nicht-Empfindende der Natur die große Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Zum Nicht-Empfindenden gehören Bäume, Blumen und andere Pflanzen, aber auch Berge und Wasser.) Als Toba die Erklärung des Meisters hörte, war er noch nicht reif für das Erwachen und hörte sie gewissermaßen losgelöst und unabhängig von sich selbst. Als er dann aber in der Nacht die Laute des Tales vernahm, kam es zum Erlebnis der Wirklichkeit und Identität mit der Natur, also mit dem Dharma. Dôgen beschreibt dies so: „Die Wellen überschlagen sich, und die Brandung schießt hoch in den Himmel.“

Sollten wir nun den Einfluss der Worte des Meisters vom Vortag als wesentlich ansehen oder das Erlebnis im Flusstal selbst? Dôgen vermutet, dass die Äußerungen des Meisters über die Natur, die den Dharma lehrt, bei Toba nachwirkten und wie in einem Echo in ihm nachklangen. Sie vermischten sich mit dem unmittelbaren Erlebnis in der Natur und ließen die Wirklichkeit im Einklang mit ihm selbst zu einer Einheit verschmelzen.

Diese Antwort lässt sich natürlich wissenschaftlich nicht belegen, denn sie entzieht sich der Messbarkeit nach „Länge oder Volumen“. Es dürfte ebenfalls unzureichend sein, Tobas Erlebnis als überwältigende Idee zu beschreiben, die dem unendlichen Ozean gleicht. Nishijima und Cross erläutern an dieser Stelle[vi], dass weder die materialistische noch die idealistische Sichtweise ausreichend sind, um das umfassende Erlebnis des Erwachens zu beschreiben.

„Verwirklicht der Laie die Wahrheit, oder verwirklichen die Berge und Wasser die Wahrheit?“ Mit dieser abschließenden Frage Dôgens werden der Mensch, die Natur in Form der Berge und Wasser und die Wahrheit als Einssein beschrieben, ohne dass es sich um eine idealistische, gedachte Geschichte handelt. Wer die klaren Augen des Erwachens hat, sieht laut Dôgen ohne Zweifel in den Flüssen und Bergen die Offenbarung und Manifestation der langen Zunge und des reinen Körpers Gautama Buddhas.

 



[i]          Fromm, Erich; Suzuki, Daisetz Teitaro; Martino, Richard de: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Suhrkamp Verlag 1972

[ii]         Kap. 9, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 90 ff.: „Die Stimmen des Tales und die Form der Berge (Keisei sanshiki)“

[iii]         Kap. 14, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 129 ff.: „Das Sûtra der wirklichen Berge und Wasser (Sansui gyô)

[iv]         Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 16, S. 87

[v]         Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujô seppô)

[vi]         Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 20, S. 87

Dienstag, 18. Oktober 2022

Shikan erfährt jäh die Wirklichkeit des wahren Tons: BONG!


Eine im Zen-Buddhismus bekannte Geschichte handelt von dem späteren Meister Shikan, der in der goldenen Zeit des Zen-Buddhismus die Wahrheit des Buddhismus unter Zen-Meister Dai-i [i] durch einen klingenden Ton erlernte. Dai-i sagte vorher zu seinem Schüler:

„Du bist von scharfem und brillantem (Verstand) und hast ein umfassendes Verständnis (der buddhistischen Lehre). Sag mir einen Satz über den Zustand, den du hattest, bevor deine Eltern geboren waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder Kommentar zitierst.“[ii]

Es handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern um die direkte Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick. Ein solcher Augenblick ist etwas grundlegend anderes als der nicht erwachte Augenblick vorher. Insofern ist der Verweis auf die Eltern und besonders auf die Zeit vor deren Geburt fast als Falle für den Verstand anzusehen. Wenn man darauf eingeht, gerät man in intellektuell nicht aufzulösende Widersprüche, Fragen und Spekulationen, aus denen es kein Entkommen gibt. Bei der Wirklichkeit ist es nämlich unwesentlich, ob es sich um die Vergangenheit oder irgendeinen anderen Abschnitt der linearen Zeit handelt, sondern es geht allein um die unverstellte, direkte Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick, und das ist eine völlig neue tiefe Erfahrung.

Ganz falsch wäre es also bei obiger Frage zum Beispiel, sich bestimmte Gesichtszüge der Eltern vorzustellen, Bilder etwa durch archaisches, mythisches Versenken aus einer Art „Ursumpf“ oder vorgestellten „Ur-Wahrheit“ hervorzuholen und dies vielleicht mit der Lehre der Wiedergeburt zu verbinden.

Der Schüler Shikan suchte in mehreren Anläufen nach einer passenden Antwort, die seinen Meister zufriedenstellen könnte, aber es gelang ihm nicht. Er strengte seinen Körper und Geist an, so sehr es ihm überhaupt möglich war, und er versuchte, sein umfangreiches Wissen aus den Schriften und buddhistischen Sūtras auszublenden, aber ohne jeden Erfolg. Er legte den Schwur ab, dass er jeden Versuch, den Buddha-Dharma durch Theoretisieren und Denken zu ergründen, sofort und dauerhaft abbrechen würde. Mehrere Jahre lang diente er gewissenhaft als einfacher Mönch im Kloster vor allem den anderen Mönchen, indem er niedere Arbeiten ausführte. Gegenüber seinem Meister bezeichnete er sich als „töricht und dumpf im Körper und Geist und als unfähig, die Wahrheit zu sagen“. Schließlich bat er seinen Meister inständig darum, ihm dabei zu helfen, aus dieser für ihn aussichtslosen Situation herauszufinden.

Aber Meister Dai-i lehnte eine solche Hilfe entschieden ab: „Ich hätte nichts dagegen, dir etwas (Hilfreiches) zu sagen, (aber wenn ich dies täte,) würdest du vielleicht später Groll gegen mich hegen.“ Offensichtlich war er sich sicher, dass sein Schüler den notwendigen Schritt zur Wahrheit irgendwann allein bewältigen würde und dass theoretische Erklärungen dies eher verhindern statt fördern würden. Die buddhistische Wahrheit müssen wir letztlich immer selbst finden, ein Lehrer kann uns das nicht abnehmen.

Shikan verließ schließlich das Kloster und folgte den Spuren des großen Landesmeisters Daisho[iii]. Er zog sich auf einen Berg zurück und lebte dort allein und so weit wie möglich im Einklang mit der Natur und der buddhistischen Wahrheit. An dem Ort, an dem auch der legendäre Meister gelebt hatte, baute sich Shikan eine einfache Hütte mit einem Strohdach. Er pflanzte Bambus und – wie Dōgen es ausdrückt – „machte ihn zu seinem Freund“. Eines Tages geschah etwas für ihn völlig Unerwartetes: Als er seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein kleiner Kieselstein vom Boden, traf auf das Rohr des Bambus und erzeugte dabei einen Ton wie ein „Bong“. Indem Shikan jäh und unmittelbar den Ton wirklich und ohne jeden intellektuellen und doktrinären Anspruch hörte, war er direkt in der Wirklichkeit angekommen. „Bong“ – das ist die Wahrheit zu hören, das ist die Natur: einfach, direkt und unkompliziert! Und die Wahrheit der Natur ist auch im Universum und in uns selbst. So einfach und wunderbar sind das Leben und das Universum.

Shikan nahm ein erfrischendes Bad, reinigte sich gründlich, entzündete ein Räucherstäbchen und machte in tiefer Dankbarkeit Niederwerfungen in die Richtung des Berges und Klosters seines Meisters Dai-i. Schlagartig war ihm klar geworden, dass sein Meister ihm wie kein anderer geholfen hatte, nur durch die eigene Erfahrung wirklich zu hören und zur Wirklichkeit zu gelangen, die sich ihm jetzt und völlig unerwartet eröffnet hatte. Der Klang des Kieselsteins, der das Bambusrohr traf, vertrieb alle Vorstellungen und angestrebten Ziele. Weil er wirklich hörte, waren die Wirklichkeit und Shikan selbst plötzlich eine umfassende Einheit.

Gerade die enge Beziehung zur Natur und die Offenheit dafür sind eine große Chance, zur Wirklichkeit und Wahrheit zu finden. Dann wird die ichzentrierte Selbstinszenierung[iv] oder eigene narzisstische Überhöhung[v] völlig ausgeschaltet. Gerade intellektuell hochbegabte Menschen mit einem scharfen Verstand und einem hervorragenden Gedächtnis für die Lehren und Kommentare geraten besonders in Gefahr, einer Selbstüberschätzung zu erliegen. Dadurch wird jedoch der direkte Zugang zum Sehen, Hören und zur Wirklichkeit versperrt, denn diese verwirklichen sich jenseits von analytisch geprägter Kompetenz und ausgefeiltem, aber festgelegtem Reflexionsvermögen. Dōgen zitiert dazu Shikan:

„Der große Meister Shikan verfasste schließlich die folgenden Verse:

‚Bei einem einzigen Aufprall (des Kiesels) verlor ich das (alte) Erinnern,

nicht länger muss ich (starre) Selbstdisziplin üben.

Es gibt keine (negativen) Spuren (von mir) irgendwo:

(Der Zustand) ist (wahres) edles Verhalten und geht über Ton und Form hinaus.‘“

 Die verhärteten Spuren des angelernten Wissens, der passiv aufgenommenen Doktrinen und verfestigten substanzhaften Bewertungen verschwanden während der andauernden Praxis in der Natur. Die physikalischen, materiellen und idealistischen Dimensionen von Tönen und Formen wurden überschritten, und damit wurde die oft schmerzhafte dualistische und fundamentalistische Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben. Schließlich schildert Shikan in seinen Versen, dass dieser Zustand des Erwachens von allen Menschen, die ihn selbst erfahren und erlebt haben, überall in der Welt und in allen Ländern gepriesen wird.

Wenn C. G. Jung meint, dass das Erwachen für westliche Menschen praktisch nicht erreichbar ist, so irrt er nach meinem Verständnis, denn dieses Gedicht sagt etwas anderes. Gautama Buddha war ein Nachkomme der indo-europäischen Einwanderer und damit uns westlichen Menschen verwandter, als Jung meinte. Auch die von Buddha gesprochene altindische Sprache besitzt eine ähnliche grammatikalische Struktur wie unsere westlichen Sprachen. Es ist ein Kernpunkt der buddhistischen Lehre, dass jedem Menschen das Erwachen zugänglich ist und nicht auf Gautama Buddha oder bestimmte Meister im späteren China begrenzt ist. Vielleicht dachte Jung trotz allem psychologischen Verständnis zu intellektuell?


[i] Zen-Meister Dai-i lebte von 771 bis 835.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 109

[iii] Meister Daisho war Nachfolger des großen Meisters Daikan Enō, er starb 775.

[iv] Mentzos, Stavros: Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen

[v] Fromm, Erich; Suzuki, Daisetz Teitaro; Martino, Richard de: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse
Kernberg, Otto: Narzißtische Persönlichke
itsstörungen

Samstag, 1. Oktober 2022

Die Buddha-Augen im Zen

In diesem Kapitel des Shōbōgenzō („Ganzei“) beschreibt Meister Dōgen mit eindrucksvoller Klarheit das buddhistische Verständnis der Augen und des Sehens.[i] Der Begriff ganzei kommt im Shōbōgenzō häufiger vor und meint unsere körperlichen Augen, mit denen wir sehen.

Wir wissen heute, dass sehr viele Funktionen des Systems Auge-Gehirn „automatisch“ und intuitiv ablaufen und uns nicht bewusst sind. Das Gehirn leistet besonders viel, wenn wir uns bewegen, sich also die gesehenen Objekte in Perspektive und Größe verändern. Dann wird weitgehend automatisch im neuronalen Netz eine „Rückrechnung“ auf einen „statischen Zustand“ der Dinge und Umgebung durchgeführt, während wir uns selbst und die äußeren Gegenstände sich fortlaufend verändern. Das Gehirn berechnet sozusagen aus den Daten der veränderlichen Wahrnehmung ein stehendes Bild, das wir scheinbar sehen. Es entsteht aber in Wirklichkeit nur in unserer Vorstellung und gibt nur scheinbar die konkrete Situation korrekt wieder. Wenn wir uns dessen jedoch bewusst werden, sehen wir mehr: wirkliche Prozesse, das Leben dieser Welt.

Viele Vorgänge bei der Wahrnehmung haben wir also im Laufe des Lebens erlernt, vor allem in der Kindheit. Dabei sind auch psychische Prozesse ausgesprochen aktiv, oft sogar dominant, zum Beispiel wird aus der komplexen Vielfalt nach Wichtigem und Unwichtigem ausgewählt. Weiterhin wird emotional nach angenehm, neutral oder unangenehm bewertet. Vor allem haben wir einen ausgeprägten Sinn für Schönes und Harmonisches. Nicht zuletzt wird die Wahrnehmung durch Vorurteile und Doktrinen verzerrt und je nach Interessen „verbogen“. Selbstverständlich spielt auch die Gier nach Vorteil, Genuss, Macht, Sex und Profit beim gewöhnlichen, noch nicht befreiten Sehen eine große Rolle. Der Wirklichkeit wird also etwas scheinbar Wesentliches hinzugefügt oder weggenommen. Es ist nicht die Wirklichkeit selbst, die wir als Wahrnehmungen im Bewusstsein „sehen“.

Dōgen erläutert in diesem Kapitel, wie wir wirklichkeitsnäher und unverzerrt sehen können, wenn wir mit erwachten Augen sehen, was über die nur physischen und physikalischen Dimensionen hinausgeht. Gerade die Wahrnehmung mit den Augen legt häufig das dualistische Sehen und Verstehen der Welt nahe, so als ob die Dinge außerhalb von uns selbst und getrennt von uns objektiv vorhanden wären. Aber das ist eine oft fatale Verengung der Wirklichkeit. Der Buddhismus lehrt, dass eine solche dualistische Sichtweise zwar für einige Lebensbereiche und Situationen durchaus brauchbar sein kann, tiefer gehende psychische und spirituelle Bereiche damit jedoch nicht erreicht werden können.

Die dualistische Wahrnehmung sowie die unbewusst mitlaufenden Bewertungen und Ideen können die volle Komplexität der Wirklichkeit nur annäherungsweise erfassen und stellen nur Ausschnitte und Teilwahrheiten dar. Wie Gautama Buddha lehrt, ist dies eine wesentliche Ursache für das Leiden in unserem Leben. Durch seine Lehre und Praxis können wir erwachen, also die erste und zweite Erleuchtung nach Nishijima Roshi erlangen und weiter zur Wirklichkeit vordringen. Auch bei den Mystikern im Westen ergibt gerade die Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt die umfassende Einheitserfahrung mit dem Göttlichen, das heißt dem Nicht-Sagbaren.

Wenn wir auf dem Weg des Buddha-Dharma vorangehen oder sogar erwachen, bedeutet dies nach Dōgen, dass wir die „alten“, begrenzten und verzerrenden Augen verlieren und sich die „neuen“, erwachten öffnen. Dazu müssen wir uns von verzerrenden Affekten und Emotionen, unbewusst gesteuerten Sichtweisen und Vorurteilen sowie lieb gewordenen „Denknestern“ trennen, um zu einer neuen Freiheit des Sehens, Handelns und Denkens zu kommen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein solches Erwachen nicht mithilfe des unterscheidenden dualistischen Denkens allein möglich ist, da gerade die verzerrende Trennung von Subjekt und Objekt in diesem Denken verankert ist. Durch absolutistische Verzerrungen kommen weitere Probleme hinzu. Oder anders ausgedrückt, können wir auf diese Weise unseren eigenen blinden Fleck nicht selbst sehen.

Dōgen regt an, dass wir einerseits die konkreten Dinge unserer Umwelt sehr genau betrachten sollen, genauso wie sie sind, aber dass unser Sehen über die äußere Form hinausgehen muss, denn nur dann können wir die buddhistische, umfassende Wirklichkeit erkennen. In diesem Zusammenhang zitiert er seinen Meister Tendō Nyojō (Tiantong Rujing):

„Der Herbstwind ist rein und frisch, und der Herbstmond ist klar und hell.

Die Erde, die Berge und Flüsse leuchten klar im Auge.

Tendō sieht sie, und sie begegnen sich neu und frisch.

Sie laufen mit Stöcken rufend umher und prüfen mich, den Flickenmönch.“

 

Dōgen erklärt das Gedicht folgendermaßen: „Den Flickenmönch zu prüfen, bedeutet festzustellen, ob Tendō Nyojō ein wahrer Buddha ist. Das Wesentliche ist hier, dass (die Erde, die Berge und die Flüsse) mit Stöcken und Katsu-Schreien umherrennen, und dies nennt man, sie in jedem Augenblick neu und frisch zu sehen. Das ist das kraftvolle Wirken des Buddha-Auges.“

In der ersten Zeile des Gedichts geht es um die Wahrnehmung des Windes und Mondes im Herbst. Diese Jahreszeit ist in China und Japan besonders beliebt, weil die Hitze und Schwüle des Sommers dann vorbei sind, die Nächte wieder kühl und klar werden und die Chrysanthemen blühen. Das Laub färbt sich in vielfältigen wunderbaren Farbtönen. Das Gedicht von Tendō Nyojō reicht also über eine äußerliche, durch die Form und Materie festgelegte Beschreibung hinaus und vermittelt uns eine große poetische und spirituelle Kraft.

Dōgen spricht von der Begegnung der klaren Erde, Berge und Flüsse mit dem Mönch. Dabei wird deutlich, dass eine Trennung in ein Subjekt, das sieht, und die Natur als Objekt, das gesehen wird, unsinnig ist oder zumindest eine eindimensionale verengte Sichtweise darstellt. In der letzten Zeile wird auf das Erwachen des Meisters verwiesen, der von der Natur geprüft und getestet wird. Das heißt, dass die Natur in besonderer Weise unseren psychischen und geistigen Zustand an uns selbst zurückmelden kann und damit die Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Wer nach Dōgens Überzeugung in lebendiger Wechselwirkung mit der Natur das große Erwachen erfährt, zum Beispiel durch blühende Pfirsichbäume im Frühling oder den Wind und Mond im Herbst, ist besonders sicher im Gleichgewicht verankert und „fällt nicht in Ideologien und Statik zurück“.

Die Klarheit und Frische des Herbstwindes erfahren und erleben wir genau im Augenblick mit allen Sinnen, wenn wir offen für die Natur und nicht durch eigene Gedanken und Emotionen besetzt oder auch nur abgelenkt sind. Wir alle kennen das tiefe Gefühl der Einheit mit der Natur und die heilende Kraft, die von solchen Augenblicken ausgeht. Dann kann man in der Tat nicht mehr zwischen Außen und Innen unterscheiden, sondern erfährt den einzigartigen Augenblick der Einheit und des Göttlichen. Dōgen führt weiter aus: „Ein solcher Flickenmönch liebt weder das große Erwachen noch das Nicht-Erwachen, sondern er ist selbst das Buddha-Auge.“

Demnach sind also Begriffe wie „Erwachen“ oder „Nicht-Erwachen“ überflüssig und stören die unmittelbare Verbindung. Man benötigt sie überhaupt nicht mehr, denn es geht um das direkte Erfahren und Erleben der Wirklichkeit. Dafür lassen sich zwar Bezeichnungen erfinden, erlernen und verwenden – und diese sind durchaus nützlich für die Kommunikation und die Lehre des Buddha-Dharma –, aber sie sind nicht die Wirklichkeit selbst. Sie sind wie der Finger, der auf den Mond zeigt, aber dieses Zeigen ist nicht die Wirklichkeit des Mondes.

Dōgen erläutert dann, dass quantitative und materielle Begriffe wie groß und klein für die Buddha-Augen nicht angemessen sind. So sei es zum Beispiel nicht sinnvoll, zu sagen, dass der Körper groß und die Augen klein sind. Die physische, materielle Dimension des Auges ist für die hier untersuchten Buddha-Augen wenig geeignet. Dōgen zitiert ein Kōan-Gespräch zwischen dem noch jungen Meister Tōzan (Dongshan Liangjie) und dem älteren Meister Ungan (Yunyan Tansheng), das zunächst schwer verständlich erscheint:

Tōzan sagte: „Ich bitte euch um das Auge, Meister.“

Ungan fragte: „Wem hast du deines gegeben?“

Tōzan antwortete: „Ich habe keines.“

Darauf erwiderte Ungan: „Du hast (bereits) das (Buddha-)Auge. Wohin blickst du?“

Der junge Tōzan beantwortete diese Frage nicht. Stattdessen sagte Ungan: „Das Auge zu erbitten, ist selbst schon das Auge, oder trifft dies nicht zu?“

Tōzan entgegnete: „Es ist nicht das Auge.“

Ich möchte nun versuchen, dieses schwierige Kōan zum Sehen und zur Wahrnehmung zu entschlüsseln. Zu Beginn bittet Tōzan „um das Auge“. Das bedeutet, dass er die Lehre für das Erwachen oder zum Buddha-Dharma erbittet. Sein Lehrer, Meister Ungan, fragt ihn daraufhin, wem er sein Auge gegeben habe, wenn er nun ein neues haben wolle. Dies hört sich so an, als ob das erwachte Auge ein Objekt sein kann, das man jemand anderem gibt, aber das trifft nicht zu, denn beim Buddha-Auge gibt es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt. Deshalb erwidert Tōzan auch: „Ich habe keines.“ Diese Aussage kann ähnlich verstanden werden wie die Frage, ob man die Buddha-Natur hat oder nicht. Eine solche Frage kann aber nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden, denn die Aussage würde auf der materiellen Ebene der Objekte bleiben und könnte die Lebensphilosophie und -Wirklichkeit des Erwachens nicht beschreiben. Dōgen erläutert hierzu:

„Wenn Tōzan sagt, er habe kein (Auge), so ist das Wesentliche dabei, dass das Nicht-Haben in seinen Worten besagt, dass er das (wahre) Auge (tatsächlich) hat und damit in irgendeine Richtung blickt.“

Er bittet uns dann, uns intensiv mit diesem Dialog zu beschäftigen und nicht voreilig zu denken, wir hätten alles verstanden. Zum Beispiel fragt er uns, was es bedeutet, wenn man mit erwachten Augen in eine bestimmte Richtung blickt. Auch diese Frage kann nicht konkretistisch durch Denken oder materiell durch Wahrnehmung beantwortet werden. Dōgen erklärt, damit sei gemeint, dass man das Buddha-Auge verwirklichen könne. Im obigen Kōan-Gespräch bleibt Tōzan an einer Stelle die Antwort schuldig. Dies geschieht aber sicher nicht aus Unhöflichkeit, sondern er möchte wohl damit andeuten, dass er das Wesentliche mit Worten nicht ausdrücken kann. Dōgen bemerkt hierzu:

„Das heißt nicht, dass er verwirrt gewesen wäre, sondern sein Schweigen zeigt die Qualität seines karmischen Geistes, der unabhängig und selbstständig war.“ Und er ergänzt: „Hier blitzt das Buddha-Auge plötzlich auf, dieses kraftvolle, lebendige Auge, das (die gewöhnliche Art zu sehen) zerspringen lässt.“

Die letzte Bemerkung von Tōzan, „Es ist nicht das Auge“, bezeichnet Dōgen als das wahre Buddha-Auge, „das sich mit lauter Stimme selbst bekundet“. Wenn wir die gewöhnlichen Augen nicht mehr haben und im Buddha-Dharma vorangeschritten sind, dann begegnen wir nach Dōgen „dem kraftvollen Buddha-Auge, das sich selbst offenbart“. Am Ende seines Kommentars zu diesem Kōan-Gespräch erklärt er:

„Letztlich erfahrt und erforscht ihr das Höchste, wenn ihr direkt in das Buddha-Auge hineinspringt. Dies bedeutet, dass ihr den Bodhi-Geist erweckt, euch schult und die große Wahrheit erfahrt. Dieses Buddha-Auge war von Anfang an weder subjektiv noch objektiv. Da es nirgends auch nur das geringste Hindernis gibt, gibt es auch hierbei überhaupt kein Hindernis.“

Damit macht er deutlich, dass Vorurteile, Doktrinen wie der Substantialismus und festgefügte Meinungen genauso wie ungesteuerte emotionale Anziehung oder Ablehnung auf dem Weg des Buddha-Dharma und vor allem bei der buddhistischen Praxis aufgelöst und überwunden werden. Erst dann kann man mit seinen Augen die unverstellte Wirklichkeit sehen, die über äußere Formen, das Materielle und Ideologien hinausgeht. Denn die Buddha-Wahrheit ist nichts Ausgedachtes, ist keine Doktrin und keine Ideologie, sondern die Wirklichkeit. Dagegen sehen wir mit den gewöhnlichen Augen nur einen Teil dieser Wirklichkeit oder sogar zusätzliche Fantasiegebilde oder Vorspiegelungen. Dies ist dasselbe wie eine Fata Morgana in der Hitze der Wüste, die uns Wasser und eine Oase vorgaukelt, die es aber in der Realität nicht gibt. Wenn man einer Fata Morgana entgegengeht und ihr näher kommt, löst sie sich immer auf, weil uns die Augen vorher getäuscht haben. Diesen Vorgang kann man durchaus mit der heutigen medialen und digitalen Scheinwelt von Film, Fernsehen und den sogenannten sozialen Netzen vergleichen, die meist einen sehr geringen Wirklichkeitswert hat und noch nicht einmal dem Finger gleicht, der auf die Wahrheit des Mondes zeigt. Denn oft geht es in den Medien um die Gier der Akteure nach Ruhm und Profit, und dabei verlieren die Zuschauer wertvolle Zeit ihres kurzen Lebens. Ihr Bewusstsein wird von Scheinwirklichkeiten, flüchtigen Emotionen und Scheinbildern überschwemmt und frakturiert. Nicht zuletzt wird der Geist dumpf und die Kreativität verschwindet. Der Gehirnforscher Manfred Spitzer nennt das „digitale Demenz“[ii].

Dōgen berichtet auch von seinem eigenen Meister Tendō Nyojō, der seine Schüler durch „Bodhidharmas Auge“ zu wirklichen Menschen gemacht habe. Die Abbildungen des indischen Meisters Bodhidharma zeigen ihn meist mit sehr großen Augen, was einerseits wiedergibt, dass seine Augen größer als die der meisten Chinesen waren, aber darüber hinaus soll dies sicher bedeuten, dass er die Buddha-Augen besaß, weil er erwacht war. Dōgen sagt, dass „jeder Mensch (bei der Zazen-Meditation) mit den Buddha-Augen sitzt“. Der von ihm verwendete japanische Ausdruck enthält das Wort taza und bildet damit die Brücke zu der wahren Zazen-Praxis Shikantaza, was „einfach nur sitzen“ bedeutet. Das heißt im Rahmen dieses Kapitels, mit Buddha-Augen zu sitzen. Dōgen sagt hierzu: „Dies ist nichts anderes als das kraftvolle Handeln, das die Menschen in der Zazen-Halle schult.“ Dann folgt ein Gedicht von Tendō Nyojō:

„Gautama verliert seine (bisherigen) Augen.

Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.

Jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen.

Und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind.“

 

Dieses Gedicht sagt aus, dass Gautama Buddha seine alten, gewöhnlichen Augen durch das Erwachen verloren hatte. Er sah deshalb die Welt und Wirklichkeit mit ganz neuen Augen, die über die herkömmliche sinnliche Wahrnehmung hinausführen. Aber die Wirklichkeit der Welt besteht nicht nur aus schönen Blüten, wie hier aus denen des Pflaumenbaums, sondern sie hält auch Dornen und Beschwerlichkeiten bereit. Diese werfen uns aber nicht um, wenn wir uns im Gleichgewicht befinden und die Buddha-Augen erlangt haben. Abschließend werden noch weitere Gedichte von Tendō Nyojō zitiert, darunter dieses:

„Die Sonne im Süden entfernt sich langsam.

Das Licht der Klarheit strahlt in den Augen.

Der Atem strömt durch die Nasenlöcher.“

 

Mit dem Atem und den Nasenlöchern ist das pulsierende wahre Leben gemeint. Zum Schluss betont Dōgen, dass sich die Kraft und Lebendigkeit des Buddha-Auges je im konkreten Augenblick verwirklichen. Die Augen „springen heraus“ in den Augenblick, wir geben alles, und „dies ist der erste Tag“. Er sagt damit nichts anderes, als dass wir jeden Augenblick frisch und neu wahrnehmen, erfahren und erleben können und dass dies die Kraft der Buddha-Augen darstellt.

Ich bin überzeugt, dass Nāgārjuna eine solche Befreiung des Sehens meint, wenn er eindringlich vor falschen Doktrinen warnt.


[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 3, S. 266ff.

[ii] Spitzer, Manfred: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen