Dôgen erzählt die Geschichte eines buddhistischen Laien namens Toba, der im alten China lebte und als großer Dichter gefeiert wurde. Auch Dôgen schätzte Tobas Fähigkeiten außerordentlich und bezeichnete ihn sogar als „wahren Drachen in der Literaturwelt“. Toba war nicht nur Dichter, sondern hatte die umfangreiche Literatur des Buddhismus intensiv studiert und sich dabei vor allem auf die wirklich großen Meister konzentriert, die in China bisweilen als „Drachen und Elefanten“ bezeichnet werden. Die Geschichte berichtet, dass Toba die wegen ihrer Schönheit berühmte Landschaft von Lushan besuchte und von der großartigen Natur tief berührt war. Mit offenem Herzen hörte er den Bergstrom, der durch die Nacht floss, und verwirklichte dabei die Wahrheit. Daraufhin verfasste er die folgenden Verse:
„Die Stimmen des Flusstales sind
(Buddhas) weite und lange Zunge.
Die Form des Berges nichts anderes
als sein reiner Leib.
Durch die Nacht,
vierundachtzigtausend Verse,
Wie kann ich sie an einem anderen
Tag anderen Menschen sagen?“
Der Dichter besingt die Stimmen des Tales und das
Rauschen des Flusses, indem er sie mit der Zunge Gautama Buddhas vergleicht.
Dessen lange Zunge war nach der Überlieferung eines seiner 32 legendären
Merkmale. Damit ist gemeint, dass Buddha den Dharma ununterbrochen lehrt, so
wie in der Natur der Fluss nicht stillsteht, immer weiterfließt und das Tal mit
seinem Rauschen und seinen Klängen ohne Unterbrechung erfüllt. Die Berge werden
mit dem Körper Buddhas verglichen, und ihre Form zeigt sich dem Dichter in
großer Klarheit und Schönheit. Der Buddha-Dharma ist die Wirklichkeit und
Wahrheit selbst, und auch dies ist das Gesicht der Natur. Es heißt weiter, dass
die Form der Berge und die Melodie des
fließenden Baches 84.000 Versen des großen Gedichts der Natur entsprechen. Dieser Vergleich symbolisiert auch die
einzigartige Vielfalt der Natur.
Am Ende des Gedichts fragt Toba, wie er seine tiefen
Erlebnisse in Worte fassen kann, um andere Menschen daran teilhaben zu lassen
und sie ihnen nahezubringen. Gerade weil er ein berühmter, genialer Dichter
war, der hervorragend mit der Sprache umgehen konnte und über ungewöhnliche
poetische Fähigkeiten verfügte, wird dadurch besonders klar, dass das tiefe
Erleben bei seinem Erwachen niemals und von niemandem
vollständig in Worte gefasst werden kann. Die „Verse der Natur“ sind
unvergleichlich, und sie verkünden die große Wahrheit des Buddha-Dharma.
Toba legte seine Verse dem
Zen-Meister Joso (1025 bis 1091) vor, der sein Erwachen bestätigte. Vor diesem
Erlebnis hatte Toba bereits unter einem anderen Zen-Meister praktiziert, hatte
von ihm das Dharma-Gewand erhalten und die buddhistischen Gelübde empfangen. Er
war ein Laienschüler, der das Gewand immer trug, wenn er praktizierte. Dôgen
vermutet, dass auch dieser enge Kontakt zu seinem vorherigen Zen-Meister dazu
beigetragen hat, dass er sich plötzlich in der Nacht der tiefen Wirklichkeit
der Natur öffnete. Durch dieses tief greifende Naturerlebnis verschmolz er mit
der Wirklichkeit selbst.
Dôgen geht der Frage nach,
was diese plötzliche Öffnung und Umwandlung Tobas bewirkt haben mag. Was war
mit ihm passiert? Warum konnte er die Form der Berge davor nicht wirklich
erleben und erfahren? Und warum erfasste ihn die Schönheit der Berge und Flüsse
in dieser Nacht mit ganz neuer Frische, warum
hörte er mit einem Male die Stimmen des Flusstales in neuer Klarheit?
„Es ist
sehr bedauerlich, dass die Töne und Formen in den Bergen und Wassern (dem Laien
Toba bis dahin) verborgen waren. Wir können uns aber freuen, dass es
Augenblicke sowie Ursachen und Umstände gibt, in denen sich die (wirklichen)
Töne und Formen in den Bergen und Wassern offenbaren. Diese Manifestation der
Zunge (Buddhas) erlahmt niemals. Wie könnte die Form von (Buddhas) Körper
existieren und (dann wieder) verschwinden?“
Dôgen unterstreicht die große Freude, an der wir
Menschen ohne Ausnahme teilhaben können, wenn sich für uns eine solche
Erleuchtung zur Wirklichkeit ereignet. Tobas
Erlebnis öffnete diesem eine völlig neue Dimension des Lebens, die er vorher
nicht kannte und nicht erreichen konnte, obgleich er ein begabter Dichter
gewesen war. Das Erwachen zur Wirklichkeit ist also kein Märchen und keine
schöne ausgedachte Geschichte, sondern eine Tatsache in dieser Welt, in diesem
Universum und in unserem Leben. Der Tiefenpsychologe Erich Fromm[i]
bezeichnet einen solchen Vorgang als die Umwandlung
des Unbewussten in das Bewusste und damit als Befreiung von erlernten Zwängen
und Begrenzungen. Dies ermöglicht ein neues Fließen der Energie und eine neue Kreativität, die selbst dem großen
Dichter Toba vorher unbekannt gewesen waren.
Dôgen betont auch die physische und formgebundene
Seite der Flüsse und Berge, die niemals aufhören zu
bestehen und niemals träge und faul sind. Im Augenblick dieses großen
Erlebnisses gibt es kein Entstehen der Existenz und kein Verschwinden der
physikalischen Form und Materie. Einfach ausgedrückt berühren uns die Schönheit
und Reinheit der Natur in ganz erstaunlicher Weise, obgleich wir ja eigentlich
nur äußere Formen, Farben und Töne sehen und hören. So kann gerade die Natur
das tiefe Erleben bewirken, das wir Erwachen oder Erleuchtung nennen. An
anderer Stelle erklärt Dôgen, dass ein Erwachen durch und in der Natur niemals
zurückfällt, sondern eine hohe Stabilität und Kraft besitzt.[ii]
In der Natur und im wahren Erleben der Berge und Flüsse gibt es keine
Illusionen, denen wir – zum Beispiel mithilfe schöner Wörter – erliegen
könnten.
Nishijima Roshi fügt hinzu: „Es ist sehr
traurig, dass die Berge und Flüsse ihre wirkliche Form und Stimme nicht
offenbaren können, weil unser eigenes vegetatives
Nervensystem (und damit wir selbst) nicht im Gleichgewicht ist. Aber in
der Wirklichkeit eines solchen Gleichgewichts offenbaren die Berge und Flüsse
ihre (wahre) Form und ihre Stimme, sie sind überaus reich und befriedigend. Es
erfüllt uns gleichzeitig mit tiefer Freude, dass es eine Zeit sowie Ursachen
und Bedingungen gibt, in denen die Berge und Flüsse ihre Stimme und Form
manifestieren.“
Schließlich
stellt Dôgen uns einige Fragen, um das
bisher Gesagte zu vertiefen und klarer werden zu lassen: Sollten wir lernen,
dass wir der Zunge und dem Körper Buddhas nahe
sind, wenn sie offen sichtbar sind? Dies ist die
Erfahrung nach dem Erwachen Tobas zur Wirklichkeit. Oder sollten wir im
Gegenteil lernen, dass wir ihnen nahe sind, wenn sie verborgen sind, wie vor
dem Erwachen des Dichters Toba? Sicher nicht.
Sollten wir sie als eine umfassende Einheit sehen, also idealistisch, oder
sollten wir sie materiell und als Form betrachten? Diese
beiden Sichtweisen wären zu eng und können jeweils nur einen Teil der
Wirklichkeit und Wahrheit erkennen. Dôgen fasst zusammen:
„In den
früheren (Jahreszeiten) des Frühlings und Herbstes hat (der Laie Toba) die
Berge und Wasser nicht (wirklich) gesehen oder gehört, aber in (jenen)
Augenblicken ist er durch die Nacht gerade in der Lage, die Berge und Wasser unverstellt zu sehen und zu hören.“
Menschen auf dem
Buddha-Weg und Bodhisattvas sollten die Begebenheit
von Tobas Erwachen zum Anlass nehmen, selbst zu lernen, die Berge und Flüsse
wahrhaft zu sehen und zu hören.
Dôgen beschreibt das wahre Sehen und Hören zunächst mit der
eigenartigen Formulierung, dass wir lernen sollen, dass die Berge fließen und
das Wasser nicht fließt. Was meint er damit? Eine ähnliche Aussage
findet sich im Kapitel über das Sûtra der Berge und Wasser[iii],
das am Ende dieses Buches behandelt wird. Damit will
Dôgen uns sagen, dass wir nicht an gewohnten, scheinbar selbstverständlichen
Vorstellungen haften sollten und dass die Natur ein „Tor zum Eintritt in den
Buddhismus“[iv]
ist. Unsere subjektiven Wahrnehmungen sind immer relativ: Wenn wir das
fließende Wasser als Basis nehmen, würden sich die Berge im Verhältnis dazu
bewegen.
In der
Geschichte schildert Dôgen zunächst, wie
Toba am Tag vor der besagten Nacht den Zen-Meister Joso aufsuchte und ihn
fragte, was die buddhistische Aussage bedeute, dass die Natur und die
nicht-empfindenden Wesen den Dharma lehren. (Zu diesem Thema gibt es im Shôbôgenzô ein eigenes Kapitel[v],
in dem erläutert wird, dass das Nicht-Emotionale oder Nicht-Empfindende der
Natur die große Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Zum
Nicht-Empfindenden gehören Bäume, Blumen und andere Pflanzen, aber auch
Berge und Wasser.) Als Toba die Erklärung des
Meisters hörte, war er noch nicht reif für das Erwachen und hörte sie
gewissermaßen losgelöst und unabhängig von sich selbst. Als er dann aber in der
Nacht die Laute des Tales vernahm, kam es zum Erlebnis der Wirklichkeit und
Identität mit der Natur, also mit dem Dharma. Dôgen beschreibt dies so: „Die
Wellen überschlagen sich, und die Brandung schießt hoch in den Himmel.“
Sollten wir nun den Einfluss
der Worte des Meisters vom Vortag als wesentlich ansehen oder das Erlebnis im
Flusstal selbst? Dôgen vermutet, dass die Äußerungen des Meisters über die
Natur, die den Dharma lehrt, bei Toba nachwirkten und wie in einem Echo in ihm
nachklangen. Sie vermischten sich mit dem unmittelbaren Erlebnis in der Natur
und ließen die Wirklichkeit im Einklang mit ihm selbst zu einer Einheit
verschmelzen.
Diese Antwort lässt sich natürlich
wissenschaftlich nicht belegen, denn sie
entzieht sich der Messbarkeit nach „Länge oder Volumen“. Es dürfte ebenfalls
unzureichend sein, Tobas Erlebnis als überwältigende Idee zu beschreiben, die
dem unendlichen Ozean gleicht. Nishijima und Cross erläutern an dieser Stelle[vi],
dass weder die materialistische noch die idealistische Sichtweise ausreichend
sind, um das umfassende Erlebnis des Erwachens zu beschreiben.
„Verwirklicht der Laie die Wahrheit, oder
verwirklichen die Berge und Wasser die Wahrheit?“
Mit dieser abschließenden Frage Dôgens werden der
Mensch, die Natur in Form der Berge und Wasser und die Wahrheit als
Einssein beschrieben, ohne dass es sich um eine
idealistische, gedachte Geschichte handelt. Wer die klaren Augen des
Erwachens hat, sieht laut Dôgen ohne Zweifel in den
Flüssen und Bergen die Offenbarung und Manifestation der langen Zunge
und des reinen Körpers Gautama Buddhas.
[i]
Fromm, Erich; Suzuki, Daisetz Teitaro; Martino, Richard de: Zen-Buddhismus und
Psychoanalyse. Suhrkamp Verlag 1972
[ii] Kap.
9, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 90 ff.: „Die Stimmen des Tales und die Form der
Berge (Keisei sanshiki)“
[iii] Kap.
14, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 129 ff.: „Das
Sûtra der wirklichen Berge und Wasser (Sansui gyô)“
[iv] Shobogenzo,
englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 16, S. 87
[v] Kap.
53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die
Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujô seppô)“
[vi]
Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 20, S. 87