Donnerstag, 27. Oktober 2022

Der Dichter Toba erwacht mit der Natur

Dôgen erzählt die Geschichte eines buddhistischen Laien namens Toba, der im alten China lebte und als großer Dichter gefeiert wurde. Auch Dôgen schätzte Tobas Fähigkeiten außerordentlich und bezeichnete ihn sogar als „wahren Drachen in der Literaturwelt“. Toba war nicht nur Dichter, sondern hatte die umfangreiche Literatur des Buddhismus intensiv studiert und sich dabei vor allem auf die wirklich großen Meister konzentriert, die in China bisweilen als „Drachen und Elefanten“ bezeichnet werden. Die Geschichte berichtet, dass Toba die wegen ihrer Schönheit berühmte Landschaft von Lushan besuchte und von der großartigen Natur tief berührt war. Mit offenem Herzen hörte er den Bergstrom, der durch die Nacht floss, und verwirklichte dabei die Wahrheit. Daraufhin verfasste er die folgenden Verse:

„Die Stimmen des Flusstales sind (Buddhas) weite und lange Zunge.

Die Form des Berges nichts anderes als sein reiner Leib.

Durch die Nacht, vierundachtzigtausend Verse,

Wie kann ich sie an einem anderen Tag anderen Menschen sagen?“

Der Dichter besingt die Stimmen des Tales und das Rauschen des Flusses, indem er sie mit der Zunge Gautama Buddhas vergleicht. Dessen lange Zunge war nach der Überlieferung eines seiner 32 legendären Merkmale. Damit ist gemeint, dass Buddha den Dharma ununterbrochen lehrt, so wie in der Natur der Fluss nicht stillsteht, immer weiterfließt und das Tal mit seinem Rauschen und seinen Klängen ohne Unterbrechung erfüllt. Die Berge werden mit dem Körper Buddhas verglichen, und ihre Form zeigt sich dem Dichter in großer Klarheit und Schönheit. Der Buddha-Dharma ist die Wirklichkeit und Wahrheit selbst, und auch dies ist das Gesicht der Natur. Es heißt weiter, dass die Form der Berge und die Melodie des fließenden Baches 84.000 Versen des großen Gedichts der Natur entsprechen. Dieser Vergleich symbolisiert auch die einzigartige Vielfalt der Natur.

Am Ende des Gedichts fragt Toba, wie er seine tiefen Erlebnisse in Worte fassen kann, um andere Menschen daran teilhaben zu lassen und sie ihnen nahezubringen. Gerade weil er ein berühmter, genialer Dichter war, der hervorragend mit der Sprache umgehen konnte und über ungewöhnliche poetische Fähigkeiten verfügte, wird dadurch besonders klar, dass das tiefe Erleben bei seinem Erwachen niemals und von niemandem vollständig in Worte gefasst werden kann. Die „Verse der Natur“ sind unvergleichlich, und sie verkünden die große Wahrheit des Buddha-Dharma.

Toba legte seine Verse dem Zen-Meister Joso (1025 bis 1091) vor, der sein Erwachen bestätigte. Vor diesem Erlebnis hatte Toba bereits unter einem anderen Zen-Meister praktiziert, hatte von ihm das Dharma-Gewand erhalten und die buddhistischen Gelübde empfangen. Er war ein Laienschüler, der das Gewand immer trug, wenn er praktizierte. Dôgen vermutet, dass auch dieser enge Kontakt zu seinem vorherigen Zen-Meister dazu beigetragen hat, dass er sich plötzlich in der Nacht der tiefen Wirklichkeit der Natur öffnete. Durch dieses tief greifende Naturerlebnis verschmolz er mit der Wirklichkeit selbst.

Dôgen geht der Frage nach, was diese plötzliche Öffnung und Umwandlung Tobas bewirkt haben mag. Was war mit ihm passiert? Warum konnte er die Form der Berge davor nicht wirklich erleben und erfahren? Und warum erfasste ihn die Schönheit der Berge und Flüsse in dieser Nacht mit ganz neuer Frische, warum hörte er mit einem Male die Stimmen des Flusstales in neuer Klarheit?

„Es ist sehr bedauerlich, dass die Töne und Formen in den Bergen und Wassern (dem Laien Toba bis dahin) verborgen waren. Wir können uns aber freuen, dass es Augenblicke sowie Ursachen und Umstände gibt, in denen sich die (wirklichen) Töne und Formen in den Bergen und Wassern offenbaren. Diese Manifestation der Zunge (Buddhas) erlahmt niemals. Wie könnte die Form von (Buddhas) Körper existieren und (dann wieder) verschwinden?“

Dôgen unterstreicht die große Freude, an der wir Menschen ohne Ausnahme teilhaben können, wenn sich für uns eine solche Erleuchtung zur Wirklichkeit ereignet. Tobas Erlebnis öffnete diesem eine völlig neue Dimension des Lebens, die er vorher nicht kannte und nicht erreichen konnte, obgleich er ein begabter Dichter gewesen war. Das Erwachen zur Wirklichkeit ist also kein Märchen und keine schöne ausgedachte Geschichte, sondern eine Tatsache in dieser Welt, in diesem Universum und in unserem Leben. Der Tiefenpsychologe Erich Fromm[i] bezeichnet einen solchen Vorgang als die Umwandlung des Unbewussten in das Bewusste und damit als Befreiung von erlernten Zwängen und Begrenzungen. Dies ermöglicht ein neues Fließen der Energie und eine neue Kreativität, die selbst dem großen Dichter Toba vorher unbekannt gewesen waren.

Dôgen betont auch die physische und formgebundene Seite der Flüsse und Berge, die niemals aufhören zu bestehen und niemals träge und faul sind. Im Augenblick dieses großen Erlebnisses gibt es kein Entstehen der Existenz und kein Verschwinden der physikalischen Form und Materie. Einfach ausgedrückt berühren uns die Schönheit und Reinheit der Natur in ganz erstaunlicher Weise, obgleich wir ja eigentlich nur äußere Formen, Farben und Töne sehen und hören. So kann gerade die Natur das tiefe Erleben bewirken, das wir Erwachen oder Erleuchtung nennen. An anderer Stelle erklärt Dôgen, dass ein Erwachen durch und in der Natur niemals zurückfällt, sondern eine hohe Stabilität und Kraft besitzt.[ii] In der Natur und im wahren Erleben der Berge und Flüsse gibt es keine Illusionen, denen wir – zum Beispiel mithilfe schöner Wörter – erliegen könnten.

Nishijima Roshi fügt hinzu: Es ist sehr traurig, dass die Berge und Flüsse ihre wirkliche Form und Stimme nicht offenbaren können, weil unser eigenes vegetatives Nervensystem (und damit wir selbst) nicht im Gleichgewicht ist. Aber in der Wirklichkeit eines solchen Gleichgewichts offenbaren die Berge und Flüsse ihre (wahre) Form und ihre Stimme, sie sind überaus reich und befriedigend. Es erfüllt uns gleichzeitig mit tiefer Freude, dass es eine Zeit sowie Ursachen und Bedingungen gibt, in denen die Berge und Flüsse ihre Stimme und Form manifestieren.“

Schließlich stellt Dôgen uns einige Fragen, um das bisher Gesagte zu vertiefen und klarer werden zu lassen: Sollten wir lernen, dass wir der Zunge und dem Körper Buddhas nahe sind, wenn sie offen sichtbar sind? Dies ist die Erfahrung nach dem Erwachen Tobas zur Wirklichkeit. Oder sollten wir im Gegenteil lernen, dass wir ihnen nahe sind, wenn sie verborgen sind, wie vor dem Erwachen des Dichters Toba? Sicher nicht. Sollten wir sie als eine umfassende Einheit sehen, also idealistisch, oder sollten wir sie materiell und als Form betrachten? Diese beiden Sichtweisen wären zu eng und können jeweils nur einen Teil der Wirklichkeit und Wahrheit erkennen. Dôgen fasst zusammen:

„In den früheren (Jahreszeiten) des Frühlings und Herbstes hat (der Laie Toba) die Berge und Wasser nicht (wirklich) gesehen oder gehört, aber in (jenen) Augenblicken ist er durch die Nacht gerade in der Lage, die Berge und Wasser unverstellt zu sehen und zu hören.“

Menschen auf dem Buddha-Weg und Bodhisattvas sollten die Begebenheit von Tobas Erwachen zum Anlass nehmen, selbst zu lernen, die Berge und Flüsse wahrhaft zu sehen und zu hören.

Dôgen beschreibt das wahre Sehen und Hören zunächst mit der eigenartigen Formulierung, dass wir lernen sollen, dass die Berge fließen und das Wasser nicht fließt. Was meint er damit? Eine ähnliche Aussage findet sich im Kapitel über das Sûtra der Berge und Wasser[iii], das am Ende dieses Buches behandelt wird. Damit will Dôgen uns sagen, dass wir nicht an gewohnten, scheinbar selbstverständlichen Vorstellungen haften sollten und dass die Natur ein „Tor zum Eintritt in den Buddhismus“[iv] ist. Unsere subjektiven Wahrnehmungen sind immer relativ: Wenn wir das fließende Wasser als Basis nehmen, würden sich die Berge im Verhältnis dazu bewegen.

In der Geschichte schildert Dôgen zunächst, wie Toba am Tag vor der besagten Nacht den Zen-Meister Joso aufsuchte und ihn fragte, was die buddhistische Aussage bedeute, dass die Natur und die nicht-empfindenden Wesen den Dharma lehren. (Zu diesem Thema gibt es im Shôbôgenzô ein eigenes Kapitel[v], in dem erläutert wird, dass das Nicht-Emotionale oder Nicht-Empfindende der Natur die große Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Zum Nicht-Empfindenden gehören Bäume, Blumen und andere Pflanzen, aber auch Berge und Wasser.) Als Toba die Erklärung des Meisters hörte, war er noch nicht reif für das Erwachen und hörte sie gewissermaßen losgelöst und unabhängig von sich selbst. Als er dann aber in der Nacht die Laute des Tales vernahm, kam es zum Erlebnis der Wirklichkeit und Identität mit der Natur, also mit dem Dharma. Dôgen beschreibt dies so: „Die Wellen überschlagen sich, und die Brandung schießt hoch in den Himmel.“

Sollten wir nun den Einfluss der Worte des Meisters vom Vortag als wesentlich ansehen oder das Erlebnis im Flusstal selbst? Dôgen vermutet, dass die Äußerungen des Meisters über die Natur, die den Dharma lehrt, bei Toba nachwirkten und wie in einem Echo in ihm nachklangen. Sie vermischten sich mit dem unmittelbaren Erlebnis in der Natur und ließen die Wirklichkeit im Einklang mit ihm selbst zu einer Einheit verschmelzen.

Diese Antwort lässt sich natürlich wissenschaftlich nicht belegen, denn sie entzieht sich der Messbarkeit nach „Länge oder Volumen“. Es dürfte ebenfalls unzureichend sein, Tobas Erlebnis als überwältigende Idee zu beschreiben, die dem unendlichen Ozean gleicht. Nishijima und Cross erläutern an dieser Stelle[vi], dass weder die materialistische noch die idealistische Sichtweise ausreichend sind, um das umfassende Erlebnis des Erwachens zu beschreiben.

„Verwirklicht der Laie die Wahrheit, oder verwirklichen die Berge und Wasser die Wahrheit?“ Mit dieser abschließenden Frage Dôgens werden der Mensch, die Natur in Form der Berge und Wasser und die Wahrheit als Einssein beschrieben, ohne dass es sich um eine idealistische, gedachte Geschichte handelt. Wer die klaren Augen des Erwachens hat, sieht laut Dôgen ohne Zweifel in den Flüssen und Bergen die Offenbarung und Manifestation der langen Zunge und des reinen Körpers Gautama Buddhas.

 



[i]          Fromm, Erich; Suzuki, Daisetz Teitaro; Martino, Richard de: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Suhrkamp Verlag 1972

[ii]         Kap. 9, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 90 ff.: „Die Stimmen des Tales und die Form der Berge (Keisei sanshiki)“

[iii]         Kap. 14, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 129 ff.: „Das Sûtra der wirklichen Berge und Wasser (Sansui gyô)

[iv]         Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 16, S. 87

[v]         Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujô seppô)

[vi]         Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 20, S. 87