Mittwoch, 15. Februar 2023

Das Empfangen der buddhistischen Gelöbnisse (Jukai)

 


In diesem Kapitel beschreibt Dôgen die 16 Gelöbnisse im Mahâyâna-Buddhismus. Sie sind verhältnismäßig pragmatisch gestaltet, direkt formuliert und sollen eine klare Leitlinie in unser Leben bringen, die uns auf dem Buddha-Weg stützt und eine gute Entwicklung verstärkt.

Im traditionellen frühen Buddhismus (Hinâyâna, Theravâda) hatte sich die Anzahl der Gelöbnisse in den ersten Jahrhunderten nach Gautama Buddha zunehmend erhöht, sodass schließlich 250 Gelöbnisse für Mönche und 348 für Nonnen existierten. Sie werden in diesen Traditionen auch heute noch so abgelegt. Mit der Bewegung des Mahâyâna und der Entwicklung des buddhistischen Ideals des Bodhisattva, der sich im sozialen Handeln mit anderen Menschen verwirklicht und die eigene Erleuchtung grundsätzlich zurückstellt, bis alle anderen Lebewesen gerettet worden sind, ergab sich die Notwendigkeit einer Vereinfachung. Dies gilt umso mehr, da die Gelöbnisse auch von Laien empfangen und abgelegt werden und nicht nur von Mönchen und Nonnen, wenn sie in ein Kloster eintreten.

Nishijima Roshi betont, dass es bei den Gelöbnissen überhaupt nicht um Bestrafung, Abwertung oder gar Stigmatisierung derjenigen geht, die angeblich oder wirklich die Gelöbnisse verletzt haben, sondern dass ein Moment der Kräftigung für die Schüler wirksam wird. Mit der bewussten Entscheidung, den Buddha-Weg zu gehen, benötigt man auch ein deutliches Leitbild und bestimmte Ziele oder Vorgaben, um sich im eigenen Leben nicht zu verzetteln und nicht den verschiedensten Verführungen und Ablenkungen zu erliegen, die heute mehr denn je auf uns einwirken. Gerade in der modernen Zeit mit den sehr leistungsfähigen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten werden die vielfältigsten Leitbilder und Lebensphilosophien an uns herangetragen, sodass wir immer erneut verwirrt werden. Hinzu kommt, dass uns viele populistische und suggestive „Lehren“ für das richtige und erfolgreiche Leben erreichen, die von ganz bestimmten Interessen gesteuert werden. Zum Beispiel stammen solch falsche Lehren häufig aus politischen Lagern und dienen in Wahrheit der eigenen Macht. Ähnliches gilt für die Unternehmen der Industrie und Wirtschaft, die mithilfe von Werbeslogans und ästhetischen Bildern versuchen, den eigenen Marktanteil und Gewinn zu vergrößern. Dies wird aber natürlich nicht offen zugegeben, sondern als großartiger Lebensentwurf verpackt. In der Tat scheinen die in Werbespots und -bildern dargestellten Menschen das große Glück, um nicht zu sagen die Erleuchtung, erlangt zu haben. Dies ereignet sich angeblich durch den Kauf der entsprechenden Produkte. Eine Formel dafür könnte etwa lauten: „Erfolgreiche Menschen kaufen dieses Produkt und werden damit noch glücklicher.“ Dass solche Menschen schön und attraktiv aussehen, versteht sich dabei von selbst. Auch in vielen Zeitschriften werden Leitbilder und Lebensphilosophien „verkauft“, die so ersonnen sind, dass sie eine möglichst große Zahl von Lesern in entsprechenden Zielgruppen ansprechen und dadurch sicherstellen, dass diese Zeitschriften auch weiterhin gekauft werden. Selbst ernannte Psychologen und Heilsbringer verkünden dort die verschiedensten Patentlösungen, um glücklich zu werden. Sie erwecken den Eindruck, als ob man bereits durch das Lesen dieser Artikel den Schlüssel für das eigene Glück in Händen halten würde. Ähnliches gilt für die vielen Lockangebote des spirituellen Buchmarktes. Dies hat eine lange traurige Tradition, die bis auf die Zeit Gautama Buddhas zurückgeht.

Bei der gegenwärtigen komplexen und verwirrenden Gemengelage von Informationen und wegen des Verfalls der Bindungskraft der christlichen Gebote gewinnt der praktische Wert der klaren buddhistischen Gelöbnisse erheblich an Bedeutung. Dôgen schildert die buddhistischen Gelöbnis-Zeremonien, die vom jeweiligen Meister geleitet werden. Wer selbst schon eine solche Zeremonie mit einem bedeutenden Meister erlebt hat, wird gern bestätigen, dass sie eine besondere spirituelle und psychische Kraft entwickelt, und will sie keinesfalls auf dem Buddha-Weg missen. Auch Dôgen schätzt die Bodhisattva-Gelöbnisse und die entsprechende Zeremonie sehr. In der Dôgen-Sangha von Nishijima Roshi werden nach wie vor Dôgens wörtliche Formulierungen der Gelöbnisse verwendet. Auch die Zeremonie wird nach seinen Vorgaben durchgeführt. Dôgen gibt einen alten Meister wieder:

„Daher sind die Gelöbnisse das Wichtigste, wenn wir (Za)zen praktizieren und die Wahrheit erkunden. Wenn wir uns nicht von Übertreibungen fernhalten und gegen das Falsche schützen: Wie ist es dann möglich, den Zustand des Buddhas zu verwirklichen und ein Nachfolger im Dharma zu werden?“

Wir sollten die Gelöbnisse keinesfalls als nebensächlich ansehen. Deshalb ist es nach Dôgen sinnvoll, neue und saubere Kleidung dafür anzuziehen, damit wir ganzheitlich die Erfahrung eines neuen Beginns von Körper-und-Geist in unserem Leben machen. Wir sollten die Gelöbnisse gewissermaßen in unser Herz eingravieren, damit sie eine große andauernde Kraft und Energie in unser Leben bringen und sich immer klarer und richtungsweisender entwickeln. Dôgen sagt, dass die so verstandenen Gelöbnisse bereits der „Schatz des wahren Dharma-Auges“ sind, und er betont die authentische Weitergabe von einem Meister zum anderen, die sich gerade bei den Gelöbnissen konkret verwirklichen würde:

„Es kann keinen buddhistischen Meister geben, der die buddhistischen Gelöbnisse nicht empfangen und bewahrt hat. Einige haben sie (direkt) unter dem Tathâgata empfangen und bewahrt. Das bedeutet in jedem Fall, das (wahre) Lebensblut empfangen zu haben.“

Dôgen nennt dann beispielhaft einige große Vorfahren im Dharma – Nâgârjuna, Bodhidharma, Daikan Enô, Seigen und Nangaku – und bedauert sehr, dass es leider auch unverlässliche, angebliche Meister gibt. Durch die Gelöbnisse bekommen wir laut Dôgen einen direkten Zugang zum „inneren Heiligtum“ der Meister. Dies gelte aber nicht für nachlässige und träge Menschen.

Einige Zeit vor der Zeremonie fragt der Schüler den Meister, ob er die Gelöbnisse erhalten und empfangen darf. Nach dessen Zustimmung beginnt die eigentliche Vorbereitung damit, dass der Schüler die neue Kleidung kauft oder selbst anfertigt. Zu Beginn der Zeremonie werden Niederwerfungen vor den Statuen und Bildern des Zentrums oder Tempels, vor den drei Juwelen des Buddhismus und vor den großen Vorfahren im Dharma gemacht. Dadurch wirft man die bisherigen vielfältigen Einschränkungen und Blockaden ab und ist in der Lage, den Körper-und-Geist zu reinigen.

 Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha

Der Schüler wird entsprechend der Überlieferung am Anfang der Zeremonie gebeten, die Worte zu sprechen, dass er zu Buddha, zum Dharma und zum Sangha Zuflucht nimmt.

Der Begriff „Zuflucht“ hat sich im buddhistischen Sprachgebrauch durchgesetzt und wird deswegen auch hier verwendet. Er trifft allerdings nicht genau die Bedeutung dieses wesentlichen Schrittes, sich zu Buddha, Dharma und Sangha zu bekennen, denn es handelt sich nach Dôgen nicht um eine Flucht und schon gar nicht um eine Flucht aus der Welt, sondern um einen ersten positiven Schritt zur Befreiung und zum Erwachen. Dieser erste Schritt auf dem buddhistischen Weg eröffnet neue Möglichkeiten, um beengende und lästige Behinderungen abzuschütteln und den Weg zur befreienden Wirklichkeit anzutreten und voranzugehen. Auch die Zazen-Praxis entwickelt dann neue nachhaltige Wirkungen.

Der Meister sagt nach diesem ersten Teil der Zeremonie:

„Gute Söhne (und gute Töchter), jetzt haben Sie das Falsche verlassen und sich dem Wahren gewidmet. Die Gelöbnisse umgeben Sie bereits. Sie sollen jetzt die drei Zusammengefassten Reinen Gelöbnisse empfangen.“

 Die drei allgemeinen Gelöbnisse

Das erste dieser Gelöbnisse betrifft die Einhaltung der buddhistischen Regeln, das zweite ist das moralische Gesetz und das dritte ist das Gelöbnis, dass wir allen Lebewesen Gutes tun und sie retten. Diese grundsätzlichen Gelöbnisse werden vom Meister als Frage jeweils dreimal formuliert und vom Schüler jeweils dreimal mit den Worten „Ich kann es.“ beantwortet.

Dann sagt der Meister:

„Die drei vorherigen Zusammengefassten Reinen Gelöbnisse dürfen nicht verletzt werden. Können Sie diese Gelöbnisse von Ihrem gegenwärtigen Körper bis zum Erlangen von Buddhas Körper halten, oder nicht?“

Die Antwort lautet: „Ich kann es.“

Dies wird ebenfalls dreimal wiederholt.

 Die zehn speziellen Bodhisattva-Gelöbnisse

Anschließend wird die Zeremonie mit den zehn einzelnen und sehr viel konkreteren Bodhisattva-Gelöbnissen in der gleichen Weise fortgesetzt. Der Meister fragt den Schüler zu jedem Gelöbnis dreimal, ob er dieses einhalten kann, und der Schüler antwortet jedes Mal: „Ich kann es.“

Die Gelöbnisse lauten wie folgt:

1. Nicht zu töten

 2. Nicht zu stehlen

 3. Sich nicht der Gier hinzugeben

Dieses Gelöbnis wird häufig sexuell interpretiert. Es hat dann den Sinn, niemanden sexuell zu missbrauchen. Damit wird also keineswegs die sexuelle Liebe insgesamt abgelehnt, sondern es soll der Missbrauch, zum Beispiel durch Machtausübung, psychischen Terror, finanzielle Abhängigkeit und dergleichen, verhindert werden.

 4. Nicht zu lügen

 5. Keinen Alkohol zu verkaufen

Nishijima Roshi vermutet, dass dieses Gelöbnis ursprünglich verhindern sollte, dass übermäßig viel Alkohol getrunken wird und eine Abhängigkeit und damit Alkoholkrankheit entsteht. Er meint, dass in den nördlichen Ländern, insbesondere im nördlichen China, der mäßige Konsum von Alkohol allerdings hilfreich war, um während der langen winterlichen Periode der Kälte und Dunkelheit durchzuhalten. Wer jedoch sein Geld damit verdient, Alkohol zu vertreiben und zu verkaufen, ist in der Tat moralisch in einem sehr schwierigen Beruf tätig. Wir wissen von den meisten hoch im Norden gelegenen Ländern, zum Beispiel Finnland, Schweden und Norwegen, dass dort große Alkoholprobleme bestehen und daher ein grundsätzliches Verbot des Kaufs und Verkaufs von Alkohol verhängt wurde. Erwähnt sei noch, dass Mohammed im Islam den Alkohol ebenfalls für schädlich hielt und daher verboten hat.

 6. Nicht die Überschreitungen und Verfehlungen anderer Bodhisattvas zu diskutieren

Dieses Gelöbnis soll verhindern, dass emotionalisierte Diskussionen zwischen den Mitgliedern eines Sangha, also von Menschen, die sich auf dem Buddha-Weg befinden, geführt werden. Oft geht es in solchen Streitgesprächen darum, dem jeweils anderen vorzuwerfen, dass er die Gelöbnisse verletzt oder gebrochen habe. Wer die Wirklichkeit in den buddhistischen Gruppen und Sanghas kennt, weiß, dass dies tatsächlich ein Problem darstellt. Nishijima Roshi erläutert dazu, dass das besondere Engagement für eine gute buddhistische Lebensführung zur überzogenen Kritik an anderen führen kann. In diesem Fall verkehrt sich die idealistische buddhistische Lebensphilosophie zur Ideologie, ohne dass es dem Handelnden bewusst wird. Die Fehler werden dann in übergroßer Klarheit beim anderen Menschen gesucht und gefunden. Solche Diskussionen haben oft zur Folge, dass es zu tiefgreifenden Spannungen und Trennungen kommt.

 7. Sich selbst nicht zu loben und andere nicht zu kritisieren und herabzusetzen

Im gleichen Sinne, aber weiter präzisiert, soll das siebte Gelöbnis verhindern, dass man sich selbst lobt und überschätzt und den anderen abwertet und kritisiert. Auch ein solches Verhalten ist leider in buddhistischen Gruppen zu beobachten. Bei derartiger Selbstüberschätzung und Überheblichkeit können wir davon ausgehen, dass dies den Handelnden oft nicht bewusst ist. Die angeblichen oder wirklichen Fehler und Unzulänglichkeiten des anderen werden dabei erheblich vergrößert. Die Kritik hat dann meist das psychische Ziel, sich selbst über den anderen zu erheben und ihm moralische Minderwertigkeit zu bescheinigen. Ein solches Phänomen tritt verständlicherweise besonders dann auf, wenn jemand irrtümlich meint, er habe die große Erleuchtung erlangt und sei daher vollständig im Recht und es sei sogar seine Pflicht, andere zu kritisieren und zu „erziehen“. Ähnliche Fehlentwicklungen lassen sich bei der Übung der Achtsamkeit feststellen, wenn man sich selbst als sorgfältig und achtsam ansieht und den anderen entsprechende Unachtsamkeit vorwirft. Formulierungen wie „Du stehst weit unter mir und ich bin auf dem Niveau der großen Meister.“ sind dabei durchaus anzutreffen. Derartige Selbstüberschätzungen kommen beim Denken, Reden und Handeln vor, wenn es um eigene Interessen geht, die dem Handelnden jedoch ebenfalls meist nicht voll bewusst sind. Im Buddhismus ist in diesem Zusammenhang vor allem das Streben nach Ruhm, Anerkennung und Macht zu nennen, das dazu führt, dass andere Menschen, die zum Beispiel auf demselben Gebiet arbeiten, als Konkurrenten und Feinde empfunden und bekämpft werden.

 8. Anderen nicht den Dharma oder den Besitz von Materiellem zu missgönnen

In diesem Gelöbnis geht es darum, dass man freigiebig und von ganzem Herzen anderen etwas gibt oder sie beschenkt. Wie Dôgen erläutert, muss es sich dabei nicht unbedingt um materiell wertvolle Dinge handeln, denn auch kleine Aufmerksamkeiten können eine menschliche Beziehung wesentlich verbessern und Abneigung in Sympathie umwandeln. Dôgen erwähnt hier besonders, dass man die Lehre des Buddha-Dharma großzügig an andere geben soll, wenn diese darum bitten oder es für sie wichtig ist. Man soll daher anderen den Dharma nicht missgönnen und vorenthalten, um selbst ein Gefühl der spirituellen Überlegenheit zu haben oder den anderen in Abhängigkeit zu bringen. Dies erinnert an die Situation in der Schule, wenn ein „Streber“ sein Wissen nicht an andere weitergeben will. Der Dharma ist aber keine Materie und kein einfaches Wissen, das man für sich behalten und horten kann, sondern er sollte anderen freimütig gegeben werden. Es kommt im Sangha sogar vor, dass ein Schüler buddhistische Informationen, die er von seinem Meister erhalten hat, nicht an andere weiterleiten will. Er verhält sich so, als ob diese Informationen eine Erbschaft seien, die nur ihm allein zusteht. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass manche Meister ihre buddhistische Lehre leider nur zu hohen Preisen an die Schüler vermitteln wollen. Die Begründung dafür lautet etwa wie folgt: „Wenn die Lehre nicht teuer ist, wird sie nicht geachtet.“ Im Gegensatz dazu arbeitete Gautama Buddha darauf hin, dass religiöse Zeremonien möglichst kostenlos abgehalten werden, nicht zuletzt weil die „Preise“ der damaligen Brahmanen immer weiter gestiegen waren. Selbst Mitglieder der Mittelschicht mussten große Anteile ihres Einkommens für Zeremonien und Unterweisungen aufbringen. Ärmere Menschen mussten dann aus Kostengründen auf derartige spirituelle Hilfen ganz verzichten.

Die Gelöbnisse 6 bis 8 weisen einen klaren Bezug zum sozialen Handeln der Menschen auf. Dies ist im Einklang mit dem Ansatz des Mahâyâna und dem Ideal des helfenden Bodhisattva zu verstehen. Im Vergleich mit den zehn Geboten des Christentums fällt auf, dass es dort eine direkte Entsprechung zu diesen drei buddhistischen Gelöbnissen nicht gibt.

 9. Nicht wütend zu werden

 10. Die drei Juwelen des Buddhismus nicht zu beleidigen

Dass wir als Buddhisten die drei Kostbarkeiten Buddha, Dharma und Sangha schätzen und in Ehren halten, versteht sich eigentlich von selbst, wird aber in den zehn Gelöbnissen zum Schluss noch einmal ausdrücklich hervorgehoben.