Dienstag, 30. März 2021

Wahres Handeln bei Zen-Meister Dogen

 Der Buddhismus ist eine Lehre der Praxis und des wirklichen Lebens, bei der Handeln und Erfahren besonders wichtig sind. Zen-Meisterin  Doko Waskönig beschreibt zum Beispiel, dass die praktische alltägliche Arbeit für sie wesentlich für den Zugang zum Zen-Buddhismus war:

“Es war die Küche, die gleichsam zum Katalysator für meine Hinwendung zum buddhistischen Weg wurde“.Während in der abendländischen Philosophie dem Denken der höchste Stellenwert eingeräumt wird, wird im Buddhismus seit dem großen Genie Gautama Buddha das Handeln als ganz wesentlicher Bestandteil des Lebens anerkannt und dies entscheidet nicht zuletzt über unser Glück und Unglück über Freude und Leid. Die bevorzugte Stellung und hohe Wertschätzung des Denkens im Westen haben neben kräftigen Impulsen für unsere Kultur auch zu großen Problemen und Katastrophen geführt. Insbesondere der Idealismus, der dem Denken und den Ideen alleinige Wirklichkeit zuschreibt, verzerrt sich oft zu Ideologien. Dies ist zunächst oft kaum zu erkennen, aber gewinnt dann eine Eigendynamik, die nicht mehr aufzuhalten ist. Solche Ideologien führten zu katastrophalen Kriegen, wie etwa dem Dreißigjährigen Krieg sowie dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ideologen verlieren dann vollständig ein menschliches Gesicht, wie wir in Deutschland durch den Nationalsozialismus bitter erfahren mussten.

Auch der Materialismus gründet in einer Theorie, also im Denken, und nicht in der unverstellten Wirklichkeit des Handelns. Er besagt, dass allein die materiellen Gegebenheiten wirklich real sind. Darüber hinaus solle man die Sinnlichkeit genießen, weil in der Wirklichkeit gar nichts anderes existiere. Materialisten argumentieren, dass der Idealismus und spirituelle Bereiche nur unsinnige Fantasiegebilde seien, also nicht wahr und wirklich. Wir alle kennen jedoch die Probleme des Materialismus: Verödung des Lebens, die Gier nach Profit und materiellem Vorteil, Genuss und Konsum und die Sinnleere im geistigen Leben. Für ein erfülltes und zufriedenes Leben muss nach buddhistischer Lehre der Bereich des Handelns auf dem mittleren Weg hinzukommen. Wahres Handeln eröffnet direkt den Zugang zur Wirklichkeit, und Wahrheit und ereignet sich im Hier und Jetzt der Gegenwart und der Sein-Zeit. Während der berühmte Ausspruch des französischen Philosophen Descartes lautet:, „Ich denke, also bin ich“, sagt Meister Nishijima, „Ich handele, also bin ich“, denn das Denken kann unmöglich das wahre Leben sein, und wir alle wissen, wie häufig sich Gedanken und Wirklichkeit vollständig unterscheiden.

Der Titel dieses wichtige Kapitels kann auch wie folgt übersetzt werden: „Das reine, würdevolle Handeln der Buddhas“. Dabei kann die Bedeutung des Begriffs „würdevoll“ weitgehend mit „wahr“ gleichgesetzt werden. Auf keinen Fall ist damit gekünsteltes und starr an Formen und Vorschriften gebundenes zeremonielles Handeln gemeint, denn es geht um den Alltag des Hier und Jetzt. Dieses Handeln vollzieht sich in der Mitte des Gleichgewichts und ist damit als Tun und Handeln der Buddhas und großen Meister zu verstehen. Die Praxis des Zazen oder die erste Erleuchtung, die „den Körper und (denkenden) Geist fallen lässt“, ist ein wesentlicher Bereich solchen Handelns und darf keinesfalls als statisch verstanden werden. In der Praxis des Zazen befreien wir uns von einengenden und störenden Gedanken, von Zwängen, Ängsten und vor allem von der Gier nach Ruhm und Profit. In diesem Handeln werden der Geist und das Bewusstsein von egoistischen Zwängen befreit, die das Handeln einseitig aus dem Gleichgewicht bringen und uns ins Unglück rennen lassen.

Das reine, wahre Handeln der Buddhas und erwachten Menschen ist nach Dôgen frei von Berechnungen und Tricks. Durch das Handeln selbst eröffnet sich der Zugang zur wunderbaren Wirklichkeit, und diese schenkt den Menschen heitere Gelassenheit, aber auch schnelle und ausdauernde Tatkraft. Wie bekannt, entscheidet sich Wolfgang von Goethe am Beginn des Faust für die Aussage: „Am Anfang war die Tat“, und verwirft den Satz: „Am Anfang war das Wort“.

Dōgen geht in diesem Kapitel zunächst auf den fundamentalen Unterschied zwischen abstrakten Begriffen und Vorstellungen wie „Buddha“ und „Erleuchtung“ einerseits und dem wirklich handelnden Buddha und erwachten Menschen andererseits ein. Er grenzt auch das wahre Handeln von Begriffen wie „allmähliche Erleuchtung“ oder „plötzliche Erleuchtung“ ab und erteilt der Vorstellung, dass man in der Absicht handeln solle, unbedingt Erleuchtung zu erlangen, eine Absage. Er arbeitet heraus, dass Begriffe wie „Buddha“ und „Dharma“ manchmal nur Fesseln sind, die es verunmöglichen, das reine und wahre Handeln zu verwirklichen. Denkgebilde, Fantasien und das durch Begriffe und ehrgeizige Ziele eingeengte Bewusstsein sind demnach wesentliche Hindernisse auf dem Weg des wahren Handelns der Menschen und der Buddhas.

Auch Begriffe und Vorstellungen wie „Buddha-Natur“ und „Dharma-Natur“ führen nach Dōgen häufig in die Sackgasse, denn Denken und Vorstellungen sowie Bilder und Fantasien können zwar vorbereitende und begleitende Theorien und Sichtweisen des Buddhismus sein, aber sie sind nicht in der Lage, die ganze Wirklichkeit im unmittelbaren Erleben und Handeln zu eröffnen.

Dōgen zitiert eine bekannte Stelle aus dem Lotos-Sūtra, wo Buddha sagt:

„Die Lebensspanne, die ich durch meine ursprüngliche Praxis des Bodhisattva-Weges verwirklicht habe, ist auch jetzt noch nicht beendet.“

Er will damit sagen, dass sein Handeln als Bodhisattva und Buddha immer weiter geht, dass es nichts Bestimmtes zu erreichen gibt und dass das Tun und Handeln selbst das Wesentliche ist. Dōgen spricht in diesem Zusammenhang von einer „zehntausend Meilen langen Eisenschiene“ und meint damit, dass es sich nicht um eine begrenzte Zeitspanne handelt, sondern um ein Ganzes, um das Handeln in der Gegenwart, das zeitlich unbegrenzt ist und kein berechnendes Ziel kennt.

Ganz wesentlich bei buddhistischem Handeln ist die moralische Reinheit, die das tut, was im Augenblick in der bestimmten Situation getan werden muss, um anderen auf dem Bodhisattva-Weg des Buddhismus zu helfen. Dies wird besonders durch das Zitat des Meisters Daikan Enō deutlich: „Gerade diese Reinheit ist es, welche die Buddhas immer bewahrt und beherzigt haben.“ Er fährt dann in seinem Gespräch mit Meister Nangaku fort: „Du bist so, ich bin so, und die alten Meister in Indien waren ebenso.“

Eine solche Reinheit des Handelns unterscheidet nach Dôgen nicht, ob ich selbst etwas tue oder ob du handelst, denn ich und du bilden im reinen, wahren Handeln eine Einheit. Damit ist der Dualismus aufgehoben. Es geht also um Praxis und Erfahrung und nicht um irgendwelche Begriffe wie „Essenz“, „Form“ oder „Prinzip“, und man kann nicht unterscheiden, ob ein Ich als „Subjekt“ handelt oder ob mit mir als „Objekt“ gehandelt wird. Beide Begriffe und Vorstellungen versagen auf dieser Ebene. Wir sehen, dass im Tun, Handeln, Erfahren und Praktizieren als existenzielle Wahrheit eine dualistische Unterscheidung von Subjekt und Objekt sinnlos ist. Bei einer solchen Trennung, die allerdings in unserer Sprache tief verankert ist, wird das Wesentliche, die Wirklichkeit und Wahrheit, verschleiert und verdeckt.

Das Handeln soll nach Dōgen nicht mit Gedanken und Vorstellungen überfrachtet und damit unnötig verzerrt werden, sondern „es handelt ganz natürlich“, so, wie es ist. Wenn das Handeln also verengt und verkürzt wird, verliert es seine Natürlichkeit, Kraft und Reinheit, sodass ein solches verzerrtes Handeln die Wirklichkeit sogar ausklammert. Wahres Handeln kann durch Denken nicht ausgeschöpft und nicht erfasst werden und kann theoretisch und philosophisch nur begrenzt beschrieben werden. Im reinen, wahren Handeln ist der Körper nach Dōgen entspannt und gewissermaßen durchlässig, und trotzdem kraftvoll und voller Energie.

Wir müssen uns von quälenden Vorstellungen und Gedanken lösen, dass wir geboren wurden und sterben müssen, denn beides ist eigentlich nur unmittelbares Handeln. Die im Buddhismus früher üblichen Unterscheidungen der Geburt aus dem Schoß, aus der mystischen Verwandlung, aus dem Ei oder aus der Feuchtigkeit sind nach Dōgen zunächst und vor allem nur Begriffe und Ideen. Sie verbergen oft mehr, als sie offenlegen, und sind nur dann sinnvoll, wenn man ihre Begrenztheit in der Kommunikation und Lehre klar erkennt.

Bei genauer Betrachtung können wir daher nicht sagen, dass Gautama Buddha gestorben sei, denn seine Lehre und sein Wirken und nicht zuletzt seine moralische Reinheit offenbaren sich im Handeln der Menschen im Hier und Jetzt. Sein körperliches Sterben erweist sich als weniger wichtig, da seine Wahrheit lebt und authentisch bis zum heutigen Tag weitergegeben wurde. Das wahre und reine Handeln im Zazen und im Alltag wird durch nichts eingeschränkt und lebt aus sich selbst. Es besitzt also umfassende Freiheit, die aber niemals auf Kosten anderer geht.

Dōgen untersucht dann ein wichtiges Koān-Gespräch zweier Meister. Seppō lehrte: „Die Buddhas der drei Zeiten sind in der Flamme (des Kohleofens hier) und drehen das große Dharma-Rad“.

Sein Schüler Meister Gensa äußerte sich dazu wie folgt: „Die Flamme lehrt den Dharma für die Buddhas der drei Zeiten, und die Buddhas der drei Zeiten stehen auf dem Grund und hören den Dharma.“

Was ist mit diesen Aussagen in Bezug auf das wahre, reine Handeln und den Dharma gemeint? Gibt es Unterschiede bei diesen beiden großen buddhistischen Meistern, die in der Blütezeit des Buddhismus im neunten Jahrhundert in China gelebt haben? Warum wird die Flamme als Gleichnis für den Dharma und damit für die Wirklichkeit und Wahrheit des Handelns verwendet?

Zunächst ist festzustellen, dass ein enger Bezug zum Lotos-Sūtra besteht, in dem das Lehren und Hören dieses Sūtra sehr hoch geschätzt wird. Dōgen behauptet aber nicht, es sei höherwertig, den Dharma zu lehren, als ihn zu hören, denn beides ist reines Handeln im Sinne des Buddhismus. In der ersten Aussage von Meister Seppō heißt es, dass die Buddhas der drei Zeiten in der Flamme sind und das Dharma-Rad drehen. Flamme und Buddha sind also identisch, und im dauernden Veränderungsprozess offenbart sich der Dharma oder, wie es im Buddhismus häufig heißt, dreht sich das Dharma-Rad. Es hat also überhaupt keinen Sinn, etwas festhalten zu wollen und es als dauerhaftes Ding oder statische Sache zu verstehen, sondern das Leben oder das Dharma-Rad drehen sich wie das Handeln des Alltags.

Meister Gensa stellt bei seiner Aussage etwas anderes in den Mittelpunkt: Er spricht davon, dass die Flamme den Dharma für die Buddhas verkündet, dass die Buddhas auf der Erde stehen und den Dharma hören. Das heißt, die Buddhas hören achtungsvoll zu und tun dies ohne Ablenkung und Eigennutz. Es wäre zu kurz gegriffen anzunehmen, dass die Flamme hier als Subjekt erscheint, das den Buddhas etwas mitteilt. Es ist sicher gemeint, dass die Buddhas und Erwachten mit den Regeln und Gesetzen der Welt und des Universums eine Einheit bilden und dass diese Einheit wesentlich für die buddhistische Lehre ist. Die Buddhas denken sich nicht selbst irgendeine Lehre aus, sondern sie geben achtungsvoll das reine Gesetz der Welt wieder, und dadurch gelangen die Menschen zur Wirklichkeit und Wahrheit. Im Lotos-Sūtra heißt es weiter, dass es schwierig ist, den wahren Dharma zu lehren und zu hören. Wesentliches in dem notwendigen Lern- und Befreiungsprozess wird nach Dōgen durch die Praxis des Zazen verwirklicht.

Die Aussagen der beiden oben genannten Meister, Seppō und Gensa, dass die Buddhas in der Flamme sind, dass die Flamme den Dharma verkündet und die Buddhas zuhören, sind in der Tat nicht leicht zu verstehen. Sie entwickeln jedoch, je mehr man sich mit ihnen beschäftigt, eine erhebliche Tiefenschärfe und spirituelle, poetische Kraft. Die Flammen sind zweifellos auch Symbol der Reinheit und der Wärme. Verweisen darauf, dass das wahre Handeln nicht von Ehrgeiz und Mutwillen angetrieben werden sollte, sondern dass zum Handeln auch das Geschehenlassen und Sichereignen gehört. Dōgen verwendet häufig die Formulierung des Handelns und Geschehenlassens, also der Tat und der Tatkraft einerseits und des verantwortungsvollen Geschehenlassens in einer bestimmten Situation andererseits.

Außerdem ist das Feuer nach alter indischer Lehre eines der konkreten Elemente des Universums wie Wasser, Erde und Luft, und daher keine Spekulation oder Fantasie, sondern unmittelbar und konkret zu erfahren wie das Handeln selbst.

Mittwoch, 24. März 2021

Herz-Sutra, neue Übersetzung aus dem Urtext

 

Buddha, dem großen Wissenden

(Mit Erläuterungen von Yudo J. Seggelke)

( Stand Nov. 2021)

 

Das Herz-Sutra ist eines der wichtigsten kurzen Texte des Buddhismu. Es gibt mehrere ausgezeichnete Fassungen, aber auch Anlass zu Verwirrungen und sehr eigenartigen Interpretationen. Ich möchte daher bei einer sehr genauen Übersetzung des Sanskrit-Textes ansetzen, die auf einer wörtlichen Wort-für-Wort-Übersetzung des Urtextes basiert. Diese Methode haben die Indologin Elisabeth Steinbrückner und ich bei der Bearbeitung des Mittleren Weges (MMK) von Nagarjuna und der Lehrgedichte des Yogacara von Vasubandhu konsequent angewendet. Dadurch konnten m. E. einige bisherigen Unklarheiten beseitigt werden. Übrigens ist mein Zen-Lehrer Nishijima Roshi bei der Bearbeitung des Shobogenzo von Meister Dogen in gleicher Weise vorgegangen. Er hat damit eine erste verlässliche Gesamtfassung dies fundamentalen Werkes erarbeitet. Meine eigenen Arbeiten zum Zen beruhen überwiegend auf seinen Texten, die eine hohe Validität haben.

Hier möchte ich zum Herz-Sutra einige Erläuterungen und Interpretationen einfügen, die bei einer wörtlichen Übersetzung klarer erkennbar sind. Später sollen detailliertere Untersuchungen folgen.

In der buddhistischen Forschung setzt sich eine ganz neue historische Einordnung des Herz-Sutras immer mehr durch, dass es sich nämlich um einen ursprünglich chinesische Text aus dem siebten Jahrhundert handelt Dieser sei dann ins Sanskrit übersetzt worden.[1] Es wird weiter vermutet, dass diese Übersetzung den Sinn hatte, die Glaubwürdigkeit und buddhistische Authentizität in China zu unterstützen. Ich halte diese Hypothese für sehr beachtenswert. Das Herz-Sutra beginnt:


Der Bodhisattva „edler Avalokiteshvara“, der die Praxis in der tiefen Prajnâpâramitâ praktiziert, blickte herab. Er sah die fünf Komponenten des Menschen, skandhas, als leer.


Man sollte hinzufügen als leer von den drei Giften Gier Hass und Verblendung und besonders durch eine eingebildete Substanz für die Komponenten des Menschen, Skandhas. Diese fiktive Substanz sei unveränderlich und ewig. Sie ist aber eine Schein-Substanz (svabhâva) und unheilsame Illusion, weil sie als unveränderlich und isoliert gedacht wird. Sie ist daher eine gefährliche und illusionäre Ideologie der Dinge und Phänomene, Dharmas, und führt zum Leiden. Wer einer solchen Ideologie anhängt und von ihr ergriffen ist, kann die Wirklichkeit der Welt und des Menschen nicht annähernd klar erkennen und lebt in einer Scheinwelt voller Leiden und Plagen. Es heißt wörtlich:


Hier: Form - Leerheit / Leerheit - wirkliche Form.

Von Form nicht gesondert Leerheit; von Leerheit nicht gesondert Form.

Was Form, das Leerheit; was Leerheit das Form

Diese wörtliche Übersetzung des Urtextes wirkt sicher zunächst eigenartig, hat aber nach meinem Verständnis genau so eine große Bedeutung. Die bisherigen Übersetzungen lauten meist: "Form ist Leerheit und Leerheit ist Form" Oder auch "Form ist Leere und Leere ist Form" . Das "ist" gibt es aber nicht im Urtext, es ist also schlicht zugesetzt und stiftet bei vielen erhebliche Verwirrung. Dadurch entsteht die Gefahr, dass eine Identität von Form und Leerheit geglaubt wird. Im Buddhismus wird jedoch die totale Identität als Schein-Wahrheit abgelehnt, denn es handelt sich um die Dualität von Identität und Differenz. Durch den Zusatz von "ist" ergibt sich in diesem Sinne aus meiner Sicht ein unlösbares Paradox, das typisch für dualistisches Denken ist, von Buddha als falsch entlarvt wurde.

Wie kann man die Formulierung des Urtextes wirklich verstehen? Antwort: Der Autor des Textes fordert uns auf über die wahre Bedeutung und den Zusammenhang von Form und Leerheit jeweils im Sinne des Buddhismus zu kontemplieren. Das heißt besonders, das Dogma des Dualismus und der Scheinsubstanz muss überwunden werden, um die Wirklichkeit zu sehen und zu erfahren.

Und was ist die Bedeutung von Leerheit? Dies klärt Meister Nagarjuna im MMK.[2]  Leerheit ist die Bezeichnung für das natürliche gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Das ist vor allem die Wirklichkeit ohne die drei Gifte, ohne die verzerrende Dogmatik der Dualität und unveränderlicher Schein-Substanzen. Es geht schlicht um die wahre Form des Menschen ohne dogmatische und ideologische Perversion!

Diese Wirklichkeit der Form also ist leer von einer eingebildeten isolierten Schein-Substanz und damit leer von Dualität, also von eingebildetem Subjekt und Objekt. Damit wird klar, dass die Form des Menschen nicht isoliert und statisch verstanden werden darf. Sie ist dagegen in lebendiger Wechselwirkung mit den anderen Komponenten des Menschen, den Skandhas, und der Umwelt.

Form und Leerheit sind also weder absolut identisch noch absolut isoliert und different. Die wirkliche Form ist durch Leerheit gekennzeichnet und damit nach Buddha genau dann die wahre Form und keine Illusion. Und die Form ist auch nicht identisch mit der Leerheit oder der Leere.

In diesen ersten Versen möchte der Autor aus meiner Sicht sagen, dass wir tiefgründig und gründlich klären, dass es keine absolute Identität oder keine absolute Differenz gibt. Oder genauer: Diese können in der Wirklich des Lebens und der lebendigen Vernetzung nicht beobachtet werden. Heute wissen wir aus der Öko-Systemforschung und Gehirnforschung, dass Wechselwirkung und Vernetzung die Grundprinzipien des Lebens sind. Das haben Buddha und Nagarjuna bereits vor zweitausend Jahre durch genaue Beobachtung der Menschen, Tiere, Dinge und Phänomene der Natur erkannt und zur philosophischen Grundlage ihrer Lebenshilfe und Therapie gemacht!

Genau so Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte und Bewusstseine.

Die obige Klärung für die wirkliche Form gilt damit auch für die anderen Komponenten des Menschen, Skandhas.

Shâriputra, alle Dinge und Phänomene, Dharmas, haben das Merkmal der Leerheit.


Das bedeutet also die von den drei Giften Gier Hass und Verblendung befreite und entleerte Wirklichkeit. Wenn wir aber im Gegenteil durch Dogmen und Vorurteile verblendet, starr und vergiftet sind, dann glauben wir fälschlich:


Die Komponenten des Menschen sind unentstanden, unvergangen, (dualistisch) ohne Flecken oder frei von Flecken, (unveränderlich, also) nicht weniger (oder) nicht mehr.


Nun spricht der Autor Buddhas großen Schüler Shariputra an, der für seine Klugheit und geistige Weisheit berühmt war. Damit wird die Gültigkeit des Herz-Sutra für die im Mitgefühl handelnden Bodhisattvas und die in großer Mitglieder der Sangha mit ihrer geistigen Klarheit betont. Das Herz-Sutra hat beide im Blick.


Von daher, Shâriputra, in Leerheit (erkennt man) nicht (die eingebildete dogmatische Substanz) von Form, nicht Gefühl, nicht Wahrnehmung, nicht formende Kräfte, nicht Bewusstseine.


Nach den Komponenten des Menschen werden nun die Wahrnehmung und deren angeblich getrennten Obejekte analysiert, wenn sie in der Blindheit der Dualität tätig sind. Dann gilt:


Nicht Auge-Ohr-Nase-Zunge-Körper- Denkorgan.

nicht Form-Ton-Duft-Geschmack. (Keine wirklichen Phänomene,) Dharmas des Berührbaren; nicht (die Wirklichkeit des) Augenbereichs bis Denkorganbereichs.


In der Leerheit gibt es keine eingebildete Dualität, denn das wäre:

Nicht Wissen und nicht Nichtwissen. Nicht Schwinden von Wissen


Keine eingebildete Dualität und eingebildete Substanz und Starrheit bei

Nicht Altern, Sterben und nicht Schwinden von Altern und Sterben. Nicht Leiden, Entstehen, Auflösung, Weg, nicht Wissen, nicht Erlangen.


Jetzt wird die Befreiung von der perversen Ideologie der Starrheit, Unveränderlichkeit und eingebildeten Substanz der Dinge und Phänomene beschrieben. Das ist die tiefe Weisheit des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada, und die höchsten dem Menschen mögliche Weisheit.

Und ein Bodhisattva, der sich auf die prajnâpâramitâ gestzt hat, verweilt mit einem Geist mit (Leerheit von) Hemmnissen. Aus der Nicht-Existenz eines Geistes mit Hemmnissen ist er ohne Schrecken, hat das Gegenteil erklommen, ist gegründet im Nirvâna.


Dabei kann man das Nirvana gemäß Meister Nagarjuna als die Befreiung von Leiden und Plagen im Hier und Jetzt verstehen

Alle in den drei Wegen/Zeiten wurzelnden Buddhas haben sich auf die pranjâpâramitâ gestzt und sind in das höchste rechte Erwachen völlig erwacht.


Nun geht es um die generelle Wirklichkeit und Wahrheit der Vier Edlen Wahheit der Überwindung des Leidens und des Herz-Sutras:

Deshalb soll erkannt werden das große prajnâpârami-mantra, das große vidyâ-mantra, das allerhöchste Mantra, das alle Leiden stillende, die Wahrheit die aus der Nicht-Falschheit kommt, das in der prajnâpâramitâ gesprochene Mantra, und zwar:

Gate gate pâra-gate pâra-saágate bodhi svâhâ .


Gegangen,  gegangen,  hinüber gegangen und  völlig hinüber gegangen. Bodhi svâhâ.

Damit hat der Mensch die Freiheit und den großen Frieden verwirklicht. Er hat die Perversion und Plagen von Dualismus und auch der eingebildeten, ewigen und unveränderlichen Substanz überwunden.

 

Weiterlesen 

[1] Tanahashi, Kazuaki: The Heart Sutra.

[2] Nagarjuna: Mittlerer Weg, MMK, Die Vier Edlen Wahrheiten, Kap. 24. Aus meinem Buch "Sternstunden des Buddhismus" Bd. 3