Sonntag, 27. Dezember 2020

Das große Erwachen und die Erleuchtung, nach Meister Dogen

 

Die Erleuchtung (japanisch Satori) oder das Erwachen hat im Buddhismus eine zentrale Bedeutung. Und es gibt sie wirklich, die neue Klarheit, Freude und Erleuchtung. Jeder Mensch kann sie erfahren und erleben! Jeder hat die Möglichkeit und das Potential zum Erwachen im Sinne Buddhas und der vielen Menschen, die das erwchen selbst erfahren haben. Das ist Buddhas klare Aussage. Über Erleuchtung und Erwachen wird eben nicht nur geschrieben, abgeschrieben und geredet. Mein Lehrer Nishijima Roshi war der glücklichste und klarste Mensch, den ich in meinem langen Leben kennen gelernt habe. Das ist für mich der verlässliche Beweis für das Erwachen; und ich war mehrere Wochen Gast in seinem kleinen Appartement in Tokyo, kannte ihn also recht gut.

Durch die Erleuchtung haben wir mehr Lebensenergie, mehr Freude, mehr Klarheit und ruhen in unserer Mitte. Mit anderen Menschen kommen wir besser aus und lassen uns nicht von Pessimismus, Fake News und Verschwörungstheorien anstecken. Das ist in der jetzigen Korona-Krise besonders wichtig. Die Erleuchtung muss nicht unbedingt der große einmalige Sprung sein. Und es ist sicher nicht der Sprung zum Allwissen, denn das gibt es für den Menschen nicht. Es ist vernünftiger sich auf eine schrittweise Entwicklung einzustellen und sein Leben kontinuierlich zu verbessern. Das geht Hand in Hand mit unserer Übungspraxis und mit menschlich positiven Kontakten.

Dôgen sagt, dass wir vor allem durch die Zazen-Praxis zur Wirklichkeit und Wahrheit erwachen und damit ein erfülltes und kreatives Leben führen. Wer an der Zen-Praxis dran bleibt, wird sein Leben ganz sicher verbessern, je nach Stetigkeit seiner Praxis mehr oder weniger. Das kann ich aus eigener Erfahrung voll bestätigen.

Aber der Begriff der Erleuchtung wird vielfach missverstanden und auch immer wieder missbraucht, so dass eine Klärung außerordentlich wichtig ist. In Japan gibt es einen zweiten wichtigen Begriff, Kenshô, der etwa „Selbst-Klarheit“ bedeutet. Marianne Wachs bezieht sich auf dabei auf Daikan Enô (Hui-neng), und fügt hinzu:

„Nach einem kenshô erweist es sich aber, dass nicht alle Begierden und Leidenschaften für immer verschwunden sind. Es wird zwar begleitet von der Vernichtung der verblendeten Ansichten und aller Zweifel an Buddha, Dharma und Sangha und an der eigenen Buddha-Natur."

Aber die vier Übel Gier, Hass, Unwissen und Stolz würde es noch geben. Es braucht noch manche Jahre des Trainings, um sich vollständig von diesen Übeln und unnötigen, ja sogar unheilsamen und schädlichen Doktrinen und Ideologien freizumachen

Dōgen behandelt in diesem Kapitel ausführlich und in die Tiefe gehend die Verwirklichung des Menschen beim Erwachen. Nishijima Roshi benutzt lieber den Begriff der Verwirklichung als Erleuchtung, weil das weniger Missverständnisse hervorruft. Buddha sprach bekanntlich von Erwachen. 

Dôgen berichtet hier aus seiner ganz eigenen langjährigen Erfahrung und seiner eigenen Sicht: Diese Verwirklichung erlebter er erst in China, nachdem er seinen wahren Lehrer Tendo Nyojo gefunden hatte. Dabei war die Praxis des Zazen von größter Bedeutung für ihn. Er macht klar, dass man bei diesem Thema mit Denken und Theorien allein nicht zum Kern vorstoßen kann, dass also die Lebensphilosophie der Gedanken und Ideen nur begrenzt dafür geeignet ist. Aber auch eine Lebensphilosophie des Materialismus, also der nur sinnlichen Wahrnehmung bzw. des Genusses, ist ziemlich ungeeignet für die Verwirklichung. Das gilt vor allem, wenn wir glauben, dass das Glück ohne eigene ausdauernde Praxis und von selbst zu uns kommt. Ich möchte hier an die Erklärungen zur ersten und zweiten Erleuchtung im Buddhismus von Nishijima Roshi anknüpfen. Die erste Erleuchtung ist das gute Sitzen im Zazen. Er sagt in aller Klarheit, dass die sogenannte plötzliche und die allmähliche Erleuchtung, die im Zen-Buddhismus bisweilen kontrovers diskutiert werden, überhaupt nicht im Widerspruch zueinander stehen. Sie kennzeichnen nur unterschiedliche zeitliche Sichtweisen der selben Wirklichkeit. Bei jedem Weg der Befreiung sei fortdauernden Praxis notwendig, also die Meditation des Zazen. Überhaupt sind die Kontroversen  zur ursprünglichen, plötzlichen oder allmählichen Erleuchtung meist ideologisch verhärtet und damit Extreme. Und Extreme sind immer unwahr und müssen auf dem Buddha-Weg ent-ideologisiert werden.

Für Meister Dōgen ist die Erleuchtung vor allem durch das Handeln aus der Mitte und im gegenwärtigen Augenblick ausgezeichnet. Wie wir wissen, ist es ihm zunächst in Japan mit der Theorie des damaligen Buddhismus nicht gelungen, so etwas Ähnliches wie Erleuchtung selbst zu erfahren. Wir können annehmen, dass er sich selbst gegenüber sehr ehrlich war und dass ihn dies sicher von manchen sogenannten Meistern der damaligen Zeit unterschied.

Bekanntlich reiste er dann nach China, wo er durch die Zazen-Praxis des Shikantaza („Nichts als Sitzen“) das erlebte, was wir mit dem Begriff „Erleuchtung“ bezeichnen. Dies ist im Lehrsystem von Nishijima Roshi die umfassende buddhistische Lebensphilosophie der Einheit von Lehre und Praxis, der intuitiven Weisheit und Klarheit im Augenblick und vor allem der Einheit mit Moral und Ethik. Das rechte Handeln erläutert Dōgen in einem gesonderten Kapitel mit dem Thema „Erzeugt kein Unrecht, sondern tut die vielfältigen Arten des Rechten“.

Er fragt in diesem Zusammenhang danach, was passiert, wenn man aus dem Zustand des Erwachens wieder heraus fällt und sich erneut in Täuschungen und Illusionen verstrickt.

Das große Erwachen ist der Alltag und das tägliche Handeln der Buddhas und Vorfahren im Dharma. Das Erwachen wird nicht durch eine Theorie des Erwachens verwirklicht oder dadurch, dass man scharfsinnig darüber nachdenkt. Die Verwirklichung ereignet sich schon gar nicht, wenn man anderen etwas vorspielt. Es ist also von fundamentaler Bedeutung, das Erwachen als Vorstellung, Begriff und Doktrin zu vergessen, es loszulassen und klar direkt zu handeln. Genauso sinnvoll wie aktiv zu handeln kann es aber sein, etwas geschehen zu lassen und gerade nicht einzugreifen, um nämlich zum Wohl des Ganzen zu handeln. Dieses Höchste der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist nach Dōgen unauflösbar mit der Zazen-Praxis und dem Leben im Alltag verbunden. Diese Höchste sprengt den Rahmen der Vorstellung und Theorie des großen Erwachens und geht weit darüber hinaus.

Bei den Menschen gibt es beim Erwachen nach Dôgen große Unterschiede, aber alle verwirklichen es durch verdienstvolles Tun jeweils auf ihre eigene Weise und mit den ihnen eigenen Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten können auf natürliches Wissen gegründet sein, aber werden immer durch fortdauernde Übung und Anstrengung entwickelt. Sie verbinden sich in Wechselwirkung mit der körperlichen Realisierung des Erwachens und befreien sich so aus der Sackgasse von Zwängen und Dogmen des Lebens.

Dôgen sagt:

„Es gibt diejenigen, die angeborene Weisheit haben“,

die im Leben sich dann befreien. Andere beschreiten den Weg des Buddha-Dharma eher durch Lernen und Studium, er sagt:

„Dann gibt es diejenigen, die ihre Weisheit erlernen“.

Auch dieses muss mit Praxis verbunden werden. Andere verfügen schließlich bereits über das tiefe Wissen der Buddhas, das weder angeboren noch erlernt ist und das die künstliche Trennung des Ich von anderen Menschen oder von Subjekt und Objekt überwunden hat. Es gibt auch Menschen, die eine wunderbare und klare Ausstrahlung haben, ohne dass sie einen Lehrer hatten oder die buddhistischen Schriften studiert haben.

Dōgen sagt, dass es unsinnig ist, nach klugen und törichten Menschen zu unterscheiden, denn es geht vor allem um das Handeln und nicht um Theorie, Wissen und Bewertung. Es ist missverständlich zu sagen, dass ein Mensch dauerhaft erwacht ist oder nicht. Denn dies würde bedeuten, dass er die unveränderliche Eigenschaft des Erwachens besitzt. Diese Eigenschaft wäre eine Schein-Substanz im Sinne von Nagarjunas, aber sie ist nur illusionäre Doktrin.

Denn im Buddhismus gilt die erlangte große Wahrheit nicht als unveränderliches Eigentum eines Menschen, dies wäre Substanz-Täuschung. Das wahre authentische  Handeln im Augenblick steht nämlich im Vordergrund. So ist auch die zunächst eigenartige Aussage des großen Meisters Rinzai zu verstehen, man solle nicht denken, dass es schwierig sei, in ganz China einen Menschen zu finden, der nicht erwacht ist. Nach Nishijima Roshi heißt dies, dass der erwachte Zustand natürlich ist, aber durch Übungspraxis und Studium erarbeitet werden muss. Oder anders ausgedrückt: Jeder Mensch hat die Möglichkeit und das Potential zu erwachen. Aber ohne Praxis und Ausdauer kann das Erwachen nicht verwirklicht werden. Dôgen sagt zu Meister Rinzai, dass man nicht in theoretisches, abstraktes Denken und vor allem nicht in Dogmen abschweifen sollte, um die natürlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entfalten. Er fragt sogar, ob Meister Rinzei zu sehr dem Substanz-Denken verhaftet ist und nicht klar zwischen handelnder Wirklichkeit und theoretischer Doktrin unterscheidet. Es wird im Übrigen zu Meister Rinzai berichtet, dass für ihn abstraktes Denken zunächst ein großes Hindernis war, um zum Wirklichen, Konkreten und Natürlichen vorzustoßen. In dieser Phase soll er eine gewisse intellektuelle Arroganz an den Tag gelegt haben. Diesem Meister werden im Übrigen werden viele Koan-Geschichten mit scheinbar paradoxen Fragestellungen zugeordnet. Dadurch soll gewohntes doktrinären Denken und Fühlen ausgeschaltet werden, um zum Gleichgewicht, zur Klarheit, Ruhe und zum eigenen Zentrum zu kommen. Es geht darum, über den dualistisch und trennend denkenden Verstand hinaus zu kommen und zum Ganzen und zur Tiefe zu gelangen.

Dōgen zitiert einen alten Meister, der die Frage eines Mönches beantwortet, wann jemand wieder in die Täuschung zurückfällt, nachdem er das große Erwachen erfahren hatte. Der Meister sagte dazu:

„Ein zerbrochener Spiegel reflektiert nicht mehr. Heruntergefallene Blüten können nicht auf den Baum zurück klettern.“

Was ist damit gemeint? In diesem Zitat wird klar gesagt, dass man Erwachen oder Erleuchtung nicht als dauernde unveränderliche Eigenschaft hat, die man erwirbt und dann sein ganzes Leben lang behält. Das wäre falsches Substanz-Denken. Vielmehr kann sich die Erleuchtung von einem Augenblick zum anderen ändern. Alles wird durch das jeweilige ganzheitliche Handeln bestimmt. Oder wie Buddha sagt: Durch das wechselwirkende Entstehen beim Handeln. Genau in dem Augenblick verwirklicht sich die Erleuchtung oder eben nicht! Wenn der Spiegel einmal zerbrochen ist, macht es wenig Sinn, lange darüber nachzugrübeln, wie schön er im früheren Zustand reflektiert hat, als er noch unversehrt war. Denn jetzt in der Gegenwart ist er zerbrochen, alles andere sind nur Erinnerungen und Bewertungen, die im dualistischen Denken auftauchen, aber denen keine wirkliche Qualität der Wirklichkeit im Jetzt mehr zukommt. Wenn die Blüten von einem Baum heruntergefallen sind, wie zum Beispiel die Kirschblüten, nützt es nach Dōgen nicht viel, sich traurig oder romantisch vorzustellen, dass sie wieder oben auf den Ästen sitzen. Es ist noch unsinniger, sie dort wieder anheften zu wollen.

Die Tatsachen und das Handelns wirken im Hier und Jetzt. Sie haben so ihren eigenen Platz in der Welt und im Universum, und zwar genau so, wie sie gegenwärtig sind; nicht mehr und nicht weniger.

Es ist wenig sinnvoll zu behaupten, im großen Erwachen gebe es absolut keine Augenblicke der Unklarheit. Und die Klarheit, Reife und Reinheit des großen Erwachens können immer noch weiter entwickelt werden, wie Dôgen in einem folgenden Kapitel beschreibt. Die buddhistische Übungspraxis sollte daher über das ganze Leben hinweg einfach fortgeführt werden. Gautama Buddha selbst betonte, dass jeder Mensch die Erleuchtung erlangen kann, ganz gleich, wie tief er in Täuschungen, Unklarheiten und falsches Handeln verstrickt ist. Es wird sogar berichtet, dass der ehemals bösartiger Massenmörder Angulimala sich nach der direkten Begegnung mit Gautama Buddha entschloss, sein Leben vollständig zu ändern. Er schloss sich der Sangha an und verwirklichte das große Erwachen.

Dōgen fordert uns auf, dass wir uns sehr gründlich mit verschiedenen Fragen, Möglichkeiten und Grenzen des Erwachens beschäftigen. Dazu gehört auch die Frage, wann ein Erwachter wieder in die Täuschung zurückfällt. Es könnte sogar sein, dass ein solcher Mensch danach umso klarer erkennen kann, was Täuschung ist. Er kann dann anderen umso besser als Lehrer und Therapeut helfen, aus Selbstlügen, Verdrängungen, Dogmen und Illusionen herauszufinden. Und seine wieder verwirklichte Erleuchtung wäre stabiler als vorher.

Wie häufig verwechseln wir in unserem Alltag den äußeren Anschein mit der Wirklichkeit! Man kann nach Dôgen sogar sagen, dass wir einen Räuber mit einem unschuldigen Kind verwechseln und dann bei dem wirklichen Raub völlig überrascht sind. Umgekehrt können wir in einem Kind einen Räuber sehen, obgleich dies völlig unsinnig ist. Wir sollten daran denken, dass sich grausame Diktatoren wie Hitler gern mit Kindern in den Medien abbilden lassen, um dem naiven Betrachter den Eindruck zu vermitteln, dass sie Kinder lieben und genauso harmlos sind wie diese. Nach buddhistischem Verständnis geht ein Kind bei umfassender Sichtweise über das weit hinaus, was wir unter dem verengten Begriff „Kind“ verstehen. Wir vergessen leicht, dass auch ein Kind mit dem dualistischen Verstand und vorgeprägten Geist nicht vollständig erfasst werden kann. Wenn wir von einem Kind abwertend reden, kann dies niemals die Lehre des Buddha-Dharma sein.

Ein großer alter Meister wurde von einem Schüler gefragt:

„Stützt sich auch ein Mensch des gegenwärtigen Augenblicks auf das Erwachen oder nicht?“

Dieser antwortete:

„Das Erwachen ist nicht ohne Wirklichkeit, aber wie können wir vermeiden, in das (dualistische) zweite Denken zu fallen?“

Wenn man ganz im Hier und Jetzt lebt, also in der wirklichen Sein-Zeit, lebt man bereits in der Wirklichkeit und Wahrheit. Schädliche unheilsame Denkweisen und Emotionen haben keine Kraft mehr, sie können uns nicht mehr verwirren und in falsche Richtungen treiben. Dazu ist Zazen eine sehr wirkungsvolle Methode. Man ist dann erwacht und erlebt die erste oder sogar zweite Erleuchtung. Dann sind wir nicht durch das dualistische Denken auf vergangene Zeiten fixiert und verlieren uns nicht in Spekulationen über die Zukunft. Der Mensch des wirklichen Jetzt ist unabhängig von solchen Fixierungen. Sein ganzes Leben, Handeln, Denken, Wahrnehmen und Empfinden ist von Klarheit und Lebensfreude durchdrungen und baut darauf auf. Aber wie kann man das tatsächlich realisieren?

Die erste Frage des Schülers in der obigen Zen-Geschichte kann also mit einem einfachen Ja beantwortet werden. Der alte Meister bestätigt dies, indem er sagt, dass das Erwachen zweifellos wirklich ist und dass dies für den Menschen des klaren Jetzt gilt. Er sieht aber die Gefahr, dass man in das dualistische und doktrinär bewertende Denken zurückfallen kann und dass sich damit das Bewusstsein in ein Subjekt und ein Objekt aufspaltet. Oder dass eine rigorose Trennung in ein Ich und die anderen oder in ein Ich und das Universum auftut. Dies widerspricht Buddhas zentraler Lehre des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada. Denn heute wissen wir aus der Wissenschaft, dass die Ökologie und sogar unser Gehirn vernetzt sind und nicht aus getrennten Bausteinen besteht. Und Leben ist immer Wechselwirkung, wie der Gehirnforscher Spitzer betont: Hin und Zurück. Im Leben der Menschen ist doktrinäre Trennungen häufig die Ursache für Leiden, Missverständnisse, Empfindlichkeiten, Verletzungen und Aggressionen. Allzu schnell und oft unbewusst betrachtet man dann den anderen als Feind und unterstellt ihm böse Absichten. Das ruft wiederum bei dem betroffenen negative Emotionen und Gegen-Reaktionen hervor. Dann bauen sich gegenseitige Aggressionen und Vorwürfe auf, und dies steuert das bösartiges gegenseitige Handeln. Das gespaltene zweite Denken, wie es von Dôgen ausgedrückt wird, bewirkt also, dass wir aus dem Erwachen und der Erleuchtung wieder herausfallen, es sei denn, wir erkennen diese ungute Veränderung selbst in aller Klarheit. Dann können wir durch wahres buddhistisches Handeln gegensteuern und uns befreien. Wir entlasten so unseren Körper-und-Geist von den Hemmnissen auf dem Weg der Erleuchtung, die Buddha überzeugend beschrieben hat. Das betrifft vor allem die Gier nach sinnlichen Genüssen zu Lasten anderer, das Übelwollen anderen Menschen gegenüber, andauernder Zweifelsucht, aufgeregter Hektik, unruhigem Leben usw. Diese sind die von Buddha beschriebenen Hemmnisse auf dem Weg der Befreiung.

Wenn es uns dies nicht gelingt, ist uns wirklich die intuitive umfassende buddhistische Weisheit verloren gegangen, und wir können nicht mehr unmittelbar moralisch handeln.

Wie sollen prüfen, ob wir uns im Handeln und Denken auf das Erwachen stützen, wie Dōgen sagt, also gründlich im Herzen und im Geist prüfen und uns darüber Klarheit verschaffen. Buddha bezeichnet dieses als Achtsamkeit. Es geht natürlich nicht ohne eine gewisse Anstrengung, Klarheit und Ausdauer. Aber dieser Aufwand lohnt sich bestimmt! Satte geistige Bequemlichkeit in der Komfortzone führt nicht weiter. Wer denkt, das Erwachen käme von allein, der kann lange warten, denn es wird bestimmt nicht kommen, wenn er nichts tut.

Man darf sich das Erwachen nicht wie ein Ding, eine Entität oder eine unveränderliche Substanz vorstellen. Diese Wahrheit hat Meister Nagarjuna mit hoher philosophischer Präzision herausgearbeitet. Wir müssen uns von unheilsamen Doktrinen, Vorurteilen und Dogmen entleeren. Das ist der wahre Sinn der Leerheit. Das Erwachen kommt also nicht irgendwoher oder geht irgendwohin. Auch die Frage, ob das Erwachen schon vorher vorhanden war oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung und würde nur das Denken unnütz anheizen und zu Spekulationen verführen. Erwachen heißt im Hier und Jetzt erwacht handeln und erwacht denken, erwacht empfinden und aus einem umfassenden Geist heraus und ohne dualistische Spaltung zu leben. Man könnte es fast als nüchtern und pragmatisch bezeichnen, und dies zeichnet den Buddhismus ja gerade aus.

Die Frage nach dem ewigen Wesen des Erwachens bringt also nichts, und jeder gute buddhistische Meister warnt uns davor. Wir sollten uns nicht solchen spekulativen Fantasien hingeben, wenn es darum geht, Befreiung und Freude zu finden. Die gibt es am besten in der Wirklichkeit. Denn wahres Lernen gelingt bei Freude und Wiederholung besonders gut, wie wir aus der Gehirnforschung wissen. Wer krampfhaft nach der egoistischen eigenen Erleuchtung greift, greift ins Leere. Er greift vergeblich nach einer Schein-Doktrin und einer Schein-Wahrheit. Aber durch den Geist des Erwachens kann das gespaltene dualistische Denken von Ich und Du, von dogmatisiertem Gut und Böse, von Ich und Universum usw. aufgelöst und zur Harmonie gebracht werden. Dadurch verliert der Dualismus seinen zerstörerischen Einfluss. Auf diese Weise finden das unterscheidende Denken und das gespaltene Bewusstsein zu einem erwachten Geist also zum harmonische Ganzen. Dann können unnütze Spekulationen wie „ich bin erwacht“ oder „das Erwachen ist zu mir gekommen“ zur Ruhe kommen und das Denken kann sich in Harmonie zusammenfügen.

Hans-Peter Dürr, ein theoretische Physiker, Schüler von Heisenberg, und Träger des alternativen Nobelpreises, spricht davon, dass wir ein neues, nicht dualistisches Denken brauchen. Wenn dieses neue Denken nach Dōgen aus dem Erwachen selbst entstanden ist und sich mit dem Erwachen ereignet, kann man dies ohne Frage als Erleuchtung bezeichnen. Dann kann ich zum Beispiel ruhig darüber nachdenken, was ich gestern getan habe, ohne dass mein Ich von gestern wie ein anderes abgespaltenes Subjekt erscheint. Das wäre vom Jetzt getrennt. Dann kann das Ich von gestern mit dem Jetzt von Heute eine harmonische Ganzheit bilden.

Dies alles darf aber nicht nur gedacht werden, sondern sollte in der Übungspraxis und im Alltag selbst erfahren, erlebt und verwirklicht werden. Dazu ist geistige Schulung allein zwar notwendig aber nicht hinreichend. Es würde sonst das praktische Handeln in Wechselwirkung mit Geist, Wahrnehmung und Gefühlen fehlen. Das ist auch die zentrale Lehre des großen Meisters Vasubandhu. 

Dieses erwachte Handeln, Fühlen und Denken vermeidet Extreme und kommt aus unserer starken klaren Mitte.

Montag, 21. Dezember 2020

Meister Dogen: Das verwirklichte Leben und Universum

 


 Die wörtliche Übersetzung der japanischen Bezeichnung Genjō-kōan bedeutet das „verwirklichtes Gesetz der Welt oder des Universums“, also die Buddha-Lehre oder der Dharma. Durch die Verwirklichung kommt es zu einer kraftvollen Wechselwirkung zwischen diesem wahren Gesetz und dem wahren Leben in dieser Welt. Dann kann sich die ganze umfassende Wirklichkeit voll und lebendig entwickeln. Dann ereignen sich das Erwachen und die Erleuchtung, manchmal jäh und nicht erwartet. Denn Erwachen und Erleuchtung sind keine leeren Begriffe sondern die Fülle des Lebens, nicht zuletzt wenn wir uns von unheilsamen Ideologien, Vorurteilen, Fanatismus und Rassismus befreit und entleert haben. Denn die wahre Wirklichkeit ist leer von Dogmen und den daraus entstehenden dramatischen Verirrungen der Unmenschlichkeit und ideologisch total überzogenen Extremen. Diese sind bekanntlich typisch für die NS-Ideologie und die ins Extrem getrieben Religionen. Dieses Kapitel gehört zweifellos zu den wichtigsten des Shōbōgenzō von Meister Dōgen. Es stand daher in einer kürzeren Fassung von fünfundsiebzig Kapiteln ganz am Anfang.

Dôgen sagt unmissverständlich, dass es auf dem Buddha-Weg wichtig ist, uns sowohl der Vielfalt der Welt als auch der Lehre des Dharma anzuvertrauen. Es ist sinnlos durch bertriebsamen Aktionismus zu versuchen, die egoistische Erleuchtung und Verwirklichung mit Gewalt und zum eigenen Vorteil zu erreichen. Aber ohne jede Anstrengung geht es natürlich nicht. Die Täuschungen, die im ersten Satz des folgenden Zitates aus dem Shōbōgenzō angesprochen werden, sollten wir nach Dōgen so klar wie möglich erkennen und sie nicht innerhalb der Täuschungen selbst weiter zu verstärken und fortzusetzen. Dadurch würden wir uns immer weiter vom Dharma, also von dem wahren Gesetz der Welt, entfernen und isolieren. Dann würde sich die wunderbare Blume des Dharma ohne uns drehen und wir schließen uns dadurch selbst aus, wie Meister Dakain Eno (Hui Neng) sagt.

Selbst mit äußerst geschärften Sinnen, also dem ganzen Können von Körper und Geist, sei es unmöglich, die Wirklichkeit und Wahrheit dieser Welt vollständig bis ins Letzte zu erkennen. Eine darauf gestützte Erfahrung würde immer nur eine begrenzte Sicht offenbaren und wäre blind für andere Seiten der Welt und des Menschen. Denn unser Geist kann nicht vollständig erfasst werde und ist überhaupt nicht zum Erwachen nötig. Allerdings glauben manche Intellektuelle so etwas tatsächlich.

Ich möchte jetzt den ersten zentralen Absatz dieses Kapitels genauer untersuchen. Ich stütze mich dabei auf die von Nishijima Roshi entwickelte Interpretation, denn sonst läuft man Gefahr, sich in Widersprüche zu verstricken. Widersprüchlichkeit und Paradoxien lehnt Dōgen selbst entschieden ab, denn man leiden im Vulgär-Zen manchmal findet. Er sagt nämlich, dass die Lehre des Buddhismus gerade im Zen niemals unlogisch, vordergründig, paradox und gegen die Vernunft sei. Wer das behaupten würde, habe den Zen-Buddhismus überhaupt nicht verstanden.

Der erste Absatz dieses Kapitels lautet wie folgt:

(1) „Wenn alle Dharmas (Dinge und Phänomene) als Buddha-Dharma (Theorie) verstanden werden, dann gibt es Täuschung und Verwirklichung, gibt es Praxis, gibt es Leben und Tod und gibt es (Theorie-)Buddhas und gewöhnliche Wesen.

(2) Wenn die unzähligen Dharmas nicht vom Selbst (ohne Geist. also materiell) sind, gibt es keine Täuschung und keine Verwirklichung, keine Buddhas und keine (gewöhnlichen) Wesen und kein Leben und keinen Tod.

(3) Die Wahrheit des Buddhas übersteigt ursprünglich (geglaubten) Überfluss und Knappheit, und daher gibt es (wirklich) Leben und Tod, gibt es Täuschung und Verwirklichung und gibt es gewöhnliche Wesen und Buddhas.

(4) Und obgleich dies so ist, fallen die romantisierten Blüten nur, wenn sie übertrieben geliebt werden, und gedeiht das abgelehnte Unkraut nur, wenn es übertrieben gehasst ist.“

Was will uns Meister Dōgen mit diesen überaus wichtigen, aber nicht gerade einfach zu verstehenden Sätzen sagen? Zweifellos gehören sie zum Kern der zen-buddhistischen Lehre überhaupt. Aber in der Literatur werden sie manchmal missverstanden oder als unverständlich und paradox beiseite geschoben.

Beim genauen Lesen der drei ersten Sätze können wir erkennen, dass in diesem Abschnitt drei verschiedene Sichtweisen oder besser gesagt Lebensphilosophien beschrieben werden. Im ersten Satz wird gesagt, dass zwischen Täuschung und Verwirklichung, zwischen Praxis und Handeln, zwischen Leben und Tod und zwischen Buddhas und gewöhnlichen Menschen theoretische unterschieden wird. Das gilt, wenn die Welt und das Leben auf der Grundlage einer idealistischen Methode des Denkens verstanden werden. Zu diesem Denken und diesen Ideen gehören auch die Theorie und Lehre des Buddha-Dharma. Dem liegt meistens die Vorstellung eines getrennten, denkenden isolierten Ich zugrunde. Meister Vasubandhu nennt das Fabrikation.

Im zweiten Satz wird dagegen eine andere Grundlage und Methode des Denkens gewählt. Es handelt sich hier um den materialistischen Standpunkt ohne den menschlichen Geist. Er wird durch die äußeren Dinge und Phänomene determiniert, die als naive Wirklichkeit verstanden werden, also unreflektiert und zu simpel. Die Weltanschauung ist durch die Formulierung gekennzeichnet, „wenn die unzähligen Dharmas alle nicht vom Selbst (des Geistes) sind“, also kein subjektives Denken besteht und scheinbar die objektive Welt erkannt wird. Vasubandhu spricht von der Determination durch das Fremde. Dann gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Täuschung und Verwirklichung, Buddhas und gewöhnlichen Menschen oder Leben und Tod. Der Geist des Menschen hat dann keine Wechselwirkung. Mit anderen Worten: Die Bedeutungen dieser Begriffe und Gedanken können gar nicht erkannt und verstanden werden. Denn aus materialistischer Sicht kann man zum Beispiel nicht von Täuschung oder Verwirklichung, von Buddhas und gewöhnlichen Menschen usw. sprechen. Die materielle Sicht erkennt nur das angeblich wahrgenommene Äußere an und kennt keine spirituelle oder geistige Tiefe. Dies entspricht weitgehend dem Verständnis des westlichen Materialismus und zum Teil der Naturwissenschaft und Technik.

Allerdings ist bekannt, dass Albert Einstein, der wohl größte Physiker des vergangenen Jahrhunderts, ein religiöser Mensch war und die Grenzen eines materiellen Verständnisses der Welt klar erkannt und formuliert hat. Für die ebenfalls überragenden Physiker, Max Planck und Werner Heisenberg, gilt Ähnliches. Wir können daher feststellen, dass ein nur materialistisches Weltbild auch in der modernen Naturwissenschaft seit mehr als einem Jahrhundert überholt ist. Der Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann erklärt zu Recht, dass die Welt von unendlicher Komplexität sei und mahnt uns damit zur intellektuellen Bescheidenheit. Dôgen sagt dazu: Der Geist kann nicht vollständig erfasst werden. Ein nur materielles Weltbild muss daher in der Tat als naiv und oberflächlich bezeichnet werden.

Der erste und zweite Satz im obigen Zitat geben demnach nach Nishijima Roshi die Weltanschauungen und Sichtweisen des Idealismus und Materialismus wieder. Beide fallen in die Gruppe intellektueller Philosophien und sind phänomenologisch weitgehend leer. Diese intellektuellen Weltanschauungen und Philosophien sind etwas grundsätzlich anderes als die praktischen und wahren Dimensionen der Wirklichkeit des dritten Satzes.

Im dritten Satz wird die umfassende Buddha-Wahrheit beschrieben und die Lebenspraxis dargestellt, die über Theorie, Denken und Bewertungen hinausgeht. Sie ist die wahre Wirklichkeit und wird im Folgenden weiter ausgeführt.

Im vierten Satz sagt uns Dōgen, dass wir nicht in einer idealen Welt wie in einem Paradies leben, sondern dass wir es mit fallenden Blüten und wucherndem Unkraut zu tun haben. Aber wir sollen uns davon nicht entmutigen lassen sollen, da wir die Buddha-Wahrheit und der Übungspraxis verwirklichen können. Aber alle Extreme sind schädlich, vor allen übertriebene Gefühle. Aber die Befreiung gibt es wirklich, selbst wenn Pessimisten und Nihilisten das ideologisch bestreiten, auch um sich eventuell als klug und reflektiert darzustellen.

Mit diesen Formulierungen werden nicht starre Einheiten oder isolierte Entitäten sondern Abläufe, Prozesse und Vorgänge beschrieben, so wie sie in der Wirklichkeit geschehen. Nagarjuna legt dabei besonderen Wert auf die Interaktionen und Vernetzungen, die wir heute von den Ökosystemen und dem Gehirn genauer kennen. Dōgen betont an anderer Stelle, dass besonders unsere Vorstellungen und vor allem unsere Bewertungen oft zu statisch und dauerhaft sind und dass wir diese häufig mit der Wirklichkeit verwechseln. Wenn wir das erkennen und verwirklichen, erwachen wir im Sinne von Gautama Buddha. Denn Veränderungen sind für die Überwindung des Leidens und das Erwachen aus unbewusster Dumpfheit unbedingt nötig.

Dann geht Dōgen auf das für ihn so wichtige Handeln des Menschen ein. Er sagt, dass wir bei Zielen, die dem egoistischen Eigennutz dienen, uns selbst in Täuschungen und Illusionen verfangen. Wenn dagegen die zehntausend Dharmas dieser Welt uns aktiv zum Tun und Handeln bringen, wir also ohne eigene Gier nach Ruhm oder Profit so handeln, wie es die Situation erfordert, ist dies Erwachen. Dies ist also eine Beschreibung des Bodhisattva-Handelns in Wechselwirkung und ohne Ich-Dominanz. Dies sind auch Kernaussagen zur richtigen Zazen-Praxis, die nicht mit der Gier nach Erleuchtung belastet und verzerrt werden darf.

Anschließend wird der Dharma-Weg klar, direkt und für mich überzeugend erläutert. Dies ist ein berühmtes Zitat:

„Buddhas Wahrheit zu erlernen ist, uns selbst zu erlernen. Uns selbst zu erlernen ist, uns zu vergessen. Uns zu vergessen ist, von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden. Von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden ist, unseren eigenen Körper und (abgehobenen) Geist und den Körper und Geist der äußeren Welt fallen zu lassen.“

Wir müssen uns also auf dem Buddha-Weg von vorgefassten, eingefahrenen und verhärtenden Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen befreien, um offen für die neue Entwicklung und Wahrheit Buddhas zu sein. Dabei ist es notwendig, sich für die Vielfalt der Welt zu öffnen und sie zu erfahren, also die fatale Trennung von Subjekt und Objekt wegzulassen: Es ist notwendig, sich von der Fixierung auf den subjektiven Körper und denkenden abgehobenen Geist, also dem kleinen Ich, zu befreien. Dōgen sagt, „Körper und Geist fallen lassen“. Wir können uns also nur selbst wirklich erkennen, wenn wir unser altes kleines und oft dogmatisiertes Ich vergessen: „Zen-Geist ist Anfänger-Geist“, nannte das Meister Shunryu Suzuki.

Wir müssen auch die sogenannte objektive Welt des Äußeren und des Körpers sowie den eigenen ruhelosen Geist „fallen lassen“. Im Sinne von Nishijima Roshi bedeutet dies nichts anderes, als sich von den Lebensphilosophien des verengten Idealismus oder Materialismus zu trennen. Damit befreien wir uns von fixierten Vorstellungen und Gedankenkonstrukten. Wir sollten uns nicht in der einseitigen Welt der simplen Wahrnehmungen und in deren vordergründigen Genüssen verlieren.

Die meisten Menschen haben sicher eine ziemlich feste Vorstellung von einem unveränderlichen eigenen Ich, das sich zwar im Laufe des Lebens in gewissem Umfang verändert und vielleicht auch weiterentwickelt, das aber doch einen konstanten Ich-Kern besitzt. Nach dem Motto:" So bin ich nun mal". Gautama Buddha hat in aller Klarheit darauf hingewiesen, dass dies ein Irrtum und eine uns vielleicht vertraute Illusion ist. Aber meistens schadet uns gerade eine solche Fixierung.

Dōgen erläutert diesen Zusammenhang durch ein Gleichnis des Segelns: Wenn man in einem Boot sitzt, auf dem Meer fährt und dabei nur das ferne Ufer und Land beobachtet, denkt man, dass man selbst still steht und sich das Land bewegt, also die Außenwelt. In diesem Sinne glauben wir an ein feststehendes und dauerhaftes Ich. Wenn wir im Boot jedoch nach unten schauen, also die Bootskante und direkt das durchfahrene Wasser ansehen, stellen wir eideutig fest, dass wir uns selbst bewegen und das Land und die Küste ruhig und unbeweglich daliegen. In ähnlicher Weise ist es Meister Dōgen zufolge ein grundsätzliches Missverständnis, dass der Körper und denkende Geist dauerhaft und unvergänglich sind und sich nur die Umgebung verändert oder verändern muss. Wenn wir dagegen die Illusion eines statischen und „dinghaften“ Ichs aufgeben und das Handeln im Augenblick in den Mittelpunkt stellen, können wir unmittelbar in der Wirklichkeit und Wahrheit leben. Diese buddhistische Lehre und Erfahrung ist vielleicht verblüffend kann aber im praktischen Leben eine große Kraft entfalten. Und wir gewinnen dabei Zutrauen zu uns selbst.

In einem weiteren Gleichnis erläutert Dōgen die momenthafte große Bedeutung der verschiedenen Dinge, Phänomene und Zustände in dieser Welt: Wenn das Feuerholz zu Asche verbrannt ist, sind Feuerholz und Asche zwei verschiedene Realitäten, die im Hier und Jetzt jeweils da sind. Allerdings werden sie durch unser Denkvermögen meistens unbemerkt und automatisch verbunden. Diese Verbindung ist aber in der Wirklichkeit auf diese Weise gar nicht vorhanden. In der Wirklichkeit kann sich die Asche niemals wieder zurück in das Feuerholz verwandeln. Das Feuerholz und die Asche haben damit je ihren eigenen Platz in der Welt und im Dharma. Sie sind jeweilige Wirklichkeiten in der Zeit.

Ähnlich ist es beim Menschen: Das Leben und der Tod sind jeweilige Wirklichkeiten, und nach dem Tod kann sich das Leben nicht wieder zurückverwandeln. In der wahren Sichtweise des kurzen Augenblicks gibt es die Zustände je für sich und sie offenbaren dann den Dharma und die Wahrheit. Und wir erleben und erfahren genau die großartige Wirklichkeit dieser Welt.

Für einen solchen Zustand der Wahrheit oder Erleuchtung verwendet Dōgen das im Buddhismus häufige Bild des Mondes:

„Ein Mensch, der Verwirklichung erlangt, ist wie Mond, der sich im Wasser spiegelt und so verweilt: Der Mond wird nicht nass, und das Wasser wird nicht zerteilt. Obgleich das Licht (des Mondes) weit und groß ist, verweilt es in einer (kleinen) Fläche von einem Fuß oder einigen Zentimetern. Der ganze Mond und der ganze Himmel verweilen in einem Tautropfen auf einem Grashalm und in einem einzigen Wassertropfen.“

Dieses poetische Bild des sich spiegelnden und verweilenden Mondes macht deutlich, dass es in der Wirklichkeit keine gegenseitigen Fixierungen, Einengungen oder Verkrampfungen gibt. Solche Verengungen entstehen vor allem durch Ideologien und Vorurteile. Dabei sollten wir nach Dōgen vom jetzigen Augenblick ausgehen und gleichzeitig darüber nachsinnen, wie lang oder wie kurz ein Augenblick wohl ist. Weiterhin können wir fragen, wie eng oder wie breit wohl der Himmel und der Mond sind.

Am Beispiel der Fische im Wasser und der Vögel in der Luft erläutert Dōgen, dass jedes Lebewesen seinen eigenen Platz, seinen Lebensraum, sein Handeln, seine Verwirklichung und seine Wahrheit in der Welt hat. Wenn ein Fisch das Wasser verlässt, muss er sterben, und wenn ein Vogel vom Himmel auf die Erde herunterfällt, stirbt er ebenfalls. Wenn der Fisch und der Vogel in ihrem angestammten Element bleiben, haben sie ihren richtigen Platz in der Welt und im Dharma.

Schon Gautama Buddha wies darauf hin, wie vielfältig die jeweiligen Sichtweisen und Verständnismöglichkeiten der Welt sind: Der Ozean ist für die Fische ein Palast, für die Götter eine Perlenkette und für Dämonen Eiter. Der Buddha-Weg bedeutet, dass wir aus dem Staub und Dunst des sogenannten normalen Lebens hinaustreten, so dass die üblichen fixierten räumlichen oder psychischen Grenzen und Hindernisse nicht mehr bestehen. Dōgen sagt weiter:

„So können wir das Wasser als Leben und den Himmel als Leben verstehen. Vögel sind Leben, und Fische sind Leben. Es mag wohl so sein, dass Vögel und Fische Leben sind. Und jenseits dessen mag es immer noch eine Weiterentwicklung geben. Genau so ist es mit unserer Praxis-und-Erfahrung, mit (unserer) Lebenszeit und unserem Leben.“

Wenn wir so unseren Platz im Leben finden, ist dieses Handeln ohne jeden Zweifel die Welt und das Universum selbst.

Weiter heißt es bei Dôgen:

„Wenn ein Mensch in diesem Zustand Buddhas Wahrheit praktiziert und erfährt, erlangt er einen Dharma und durchdringt einen Dharma und er begegnet dem Handeln und vollzieht das Handeln. In diesem Zustand existiert der Ort und wird der Weg gemeistert, und doch ist der zu erkennende Bereich nicht (unbedingt) offensichtlich.“

Zur Abrundung dieses wichtigen Kapitels gibt Dōgen eine verblüffende Kōan-Geschichte wieder: Ein Meister fächelt sich zur Kühlung Luft zu, weil es heiß ist. Dann kommt  ein Mönch vorbei und will offensichtlich eine intelligente Bemerkung anbringen: Er sagt, die Luft habe allgemein die unveränderliche Eigenschaft, dass sie überall anwesend sei. Dem Meister ist sofort klar, dass der Mönch in abstrakten allgemeinen Gedankengängen verhaftet und nicht offen für das praktische und konkrete Hier und Jetzt. Er kommt also mit abstrakten unveränderlichen Schein-Wahrheiten daher. Sicher ist er tief von seiner eigenen großartigen Intelligenz und seinem absoluten Wissen der Buddha-Lehre überzeugt. Auf die folgende Frage dieses Mönchs, warum sich der Meister denn die Luft zufächle, antwortet dieser daher einfach, es gebe in der Tat keinen Ort in der Welt, an dem keine Luft vorhanden sei. Inhaltlich ist das also genau dieselbe Aussage, die der Mönch vorher verkündet hatte. Und der Meister fächelt sich weiter die Luft zu, weil es heiß ist. In der Kōan-Geschichte wird dem Mönch durch diese eigentlich logisch überflüssige Wiederholung jedoch schlagartig klar, dass allgemeine theoretische Kenntnisse und absolute sogenannte Weisheiten etwas ganz anderes sind als die Wirklichkeit selbst sind, die man unmittelbar erlebt und erfährt. Wenn uns zu heiß ist, sollten wir uns durch den Fächer direkt Kühlung verschaffen. Dann erleben wir unmittelbar die angenehme Kühlung der Luft! Und das genau ist die Wirklichkeit.

Daher setzt der Meister die Unterhaltung mit dem Mönch nicht fort, sondern fächelt sich einfach weiter die kühlende Luft zu. Durch diese unmittelbare Erfahrung des Handelns gelangt der Mönch von abgehobenen abstrakten Ideen und seinem dogmatisierten angeblichen Wissen unmittelbar zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt. So fiel es dem Mönch durch das Handeln des Meisters wie Schuppen von den Augen und sein Körper und Geist erfuhren sicher eine ganz neue frische Kraft. Dies ist das verwirklichte Leben und Universum. So ist die Wahrheit des Lebens.

 

Donnerstag, 17. Dezember 2020

Die dynamische Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)



Dieses Kapitel Dōgens über die „Sein-Zeit“ zählt zweifellos zu den wichtigsten Texten des Buddhismus, aber es ist für uns westliche Menschen nicht einfach zu verstehen.[1] Stark verkürzt besagt es, dass die Zeit untrennbar mit der Wirklichkeit, dem Leben, der Welt und der Wahrheit verbunden ist. Das Sein gibt es nur zusammen mit der Zeit, es ist ein gemeinsamer Prozess und wahres Handeln. Das abendländische philosophische Modell des Seins, das teilweise unabhängig von der Zeit verstanden wird, ist aus buddhistischer Sicht nicht tragfähig und entspricht nicht der Wirklichkeit. Das Sein ist keine Sache, kein Ding und keine Substanz, es hat keine wirkliche Eigen-Existenz. Das wahre Sein kann nur als Augenblick im Prozess-Ablauf der Zeit verstanden werden. Es ist auch kein isolierter Augenblick, denn es gibt immer Wechselwirkung zur Vergangenheit und Zukunft, wie Buddha betont. Aber auch Heidegger hat sich in seinen Spätwerk mit der Publikation "Zeit und Sein" und seinen Untersuchungen zum Ereignis  der Zen-Philosophie beachtlich angenähert. Diese Zusammenhang wäre es wirklich wert, vertieft analysiert zu werden.

Übrigens ist diese Erkenntnis der modernen Physik und Naturwissenschaft seit den bahnbrechenden Arbeiten von Einstein und Heisenberg ganz unbestritten Der bekannter theoretische Physiker Peter Dürr sagt daher, dass der Ansatz von kleinsten unabhängigen Atomen durch die Vorstellung von elementaren Prozessen ersetzt werden muss. Er spricht dabei von Prozesschen. Der Augenblick ist untrennbar mit dem Prozess der Zeit verbunden. Diese fundamentale Wahrheit des Buddhismus wurde besonders von den großen Meistern Nagarjuna, Vasubandhu und Dogen hervorgehoben, schon viel früher als in der westlichen Naturwissenschaft. Dazu ist als Beispiel die Funktion unseres Gehirns einleuchtend: Alle Gehirnleistung des neuronalen Netzes sind Impulse in der Zeit, es gibt keine zeitunabhängig gespeicherten Informationen im Gehirn. Und nur das lebende Gehirn kann dies leisten. Ein totes Gehirn verarbeitet keine Informationen mehr, hat keine Erinnerung und keine ethischen Leistung. Vereinfacht gilt: Leben ist immer auch zugleich Zeit. Ohne Zeit gibt es keine Wirklichkeit, das haben der Buddhismus und die moderne Physik unabhängig von einander geklärt. Ohne die Veränderlichkeit der Zeit kann das Leiden nicht zur Ruhe kommen und überwunden werden. Und ohne Zeit kann es keine heilsame Entwicklung und Befreiung in unserem Leben geben. Wer die Zeit ausklammert, erstarrt und ist eigentlich schon geistig und psychisch tot, wenn er biologisch noch lebt.

Meister F. S. Nakagawa schreibt zur Frage der Zeit: “Wenn man Zeit tief begreift, findet man das wahre Leben. So möchte ich spontan antworten auf die Frage, ob man dem Druck der Zeit entfliehen kann. Doch dann kommt sofort die Frage: Was ist überhaupt die Zeit?“

Meines Wissens haben Harada Roshi und Philip Kapleau zum ersten Mal dieses zentrale Kapitel der Sein-Zeit in eine westliche Sprache übertragen.

Dōgen erklärt, dass die Wirklichkeit aller Menschen, aller Lebewesen und überhaupt aller Dinge und Phänomene des Universums und die wirkliche Zeit unauflösbar zu einer Einheit verbunden sind. Es gibt also kein Erleben, kein Handeln und nichts außerhalb der Zeit, wenn wir von der Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt ausgehen und diese in den Mittelpunkt der Erfahrung und des Denkens stellen. Das unmittelbare, volle Erleben und Handeln geschieht nur in der Gegenwart, also im Hier und Jetzt. Demgegenüber sind, wie Nishijima eindrucksvoll betont, die Vergangenheit und Zukunft nur Erinnerungen, Erwartungen, Vorstellungen, Gedanken, Bilder und Hoffnungen, aber nicht die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit selbst. Sie sind sozusagen das Wetterleuchten in unserem Geist, aber nicht das Wetter selbst; sie „zeigen auf den Mond“, sind aber nicht der Mond.

Wie erklärt und begründet Dōgen nun diese zunächst eigenartig erscheinende Aussage? Welche praktische Bedeutung hat eine solche Erkenntnis für unser eigenes Leben und Handeln mit all den Mühen, aber auch den Augenblicken der Freude? Wie hängen nun Augenblick Zeitprozess, Wirklichkeit und das Sein zusammen? Bereits hier wird klar, dass es das Sein ohne Zeit und damit ohne zeitliche Veränderungen nicht geben kann. Wer also die abendländische Ontologie des Seins als Konstanz oder unveränderliche Substanz versteht, ist im fundamentalen Widerspruch zum Buddhismus. Der Mittlere Weg ist gleichzeitig ein zeitlicher Weg. Er verwirklicht die Überwindung des Leidens und führt zur Befreiung und zum Erwachen. Wer ohne Veränderung und Entwicklung lebt, ist geistig schon fast tot. Wahres Sein ist Dynamik im Augenblick oder, wie Heidegger in späten Jahren sagt Ereignis. Damit hatte er sich von der Metaphysik des Abendlandes endlich verabschiedet. Ich führe das nicht zuletzt auf den bekannten Einfluss des Zen zurück.

Wenn wir es mit der Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt ernst meinen und uns nicht in Gedanken, Spekulationen, Hoffnungen und Ängsten verlieren, findet diese Wirklichkeit nur in der Gegenwart statt. Wie Meister Nishijima betont, ist Buddhismus die Lehre und Praxis der Wirklichkeit, also des Realismus, und ist unauflösbar mit dem Handeln und mit der Zeit als Gegenwart verbunden. Jede Flucht aus der Wirklichkeit und Zeit führt letztlich zu psychischem Leiden und Verdrängungen, die zwar kurzfristig eventuell ein Überleben ermöglichen, aber langfristig mehr oder minder große psychische Schäden anrichten. Diese erschweren dann die Bewältigung des Alltags oder schließen sie sogar aus. So kann man die immer auftretenden Probleme des Lebens nicht meistern, auf jeden Fall wird das Leben schwieriger und man verliert zum Beispiel durch Verdrängungen das eigene Gleichgewicht. Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, das Buddha lehrt, führt ins nicht ins Chaos, wie manche vielleicht befürchten. Und Wechselwirkung ist vernetze Dynamik des Lebens.

Sigmund Freud und andere namhafte Psychologen haben bei uns im Westen herausgearbeitet, dass man sich der Wirklichkeit stellen muss, um psychisch gesund zu werden und gut zu leben. Dieser Ansatz bildet die Grundlage wirkungsvoller Therapien, vor allem psychoanalytisch orientierter Praxis. Dabei deckt der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten die Verdrängungen auf und macht sie bewusst. Dann beginnt die gemeinsame Bewältigung und Heilung. Dadurch wird also der psychische Heilungsprozess eingeleitet und die Erstarrung der Verdrängung kann gelöst werden.

Dōgen gelangt zu der klaren Schlussfolgerung, dass die Wirklichkeit, die Gegenwart als Zeit und das Handeln unauflösbar miteinander verbunden sind. Nur wenn wir dies in unserem Leben praktisch realisieren, sind wir in der Wirklichkeit und Wahrheit, und dies ist der Buddha-Dharma oder das Erwachen. Eine solche Erfahrung kann man besonders klar bei der Zazen-Praxis erleben, und ich bezeichnen dies mit Nishijima Roshi als die erste Erleuchtung. Ich praktiziere außerdem die beiden anderen Zen-Übungen des japanischen Bogeschießens, Kyudo, und der Zen-Flöte, Shakuhachi. Bei diesen Übungen werden nach meiner festen Überzeugung auch Endorphine also Glücksstoffe ausgeschüttet, die einen positiven Fluss des Lebens bewirken und den Geist erstaunlich klar machen. Diese drei Übungen sind Handeln und kein statischer oder sogar starrer Zustand. Im Westen wird dafür auch der Begriff Flow verwendet.

Der Zen-Buddhismus legt großen Wert auf das tägliche Leben, in dem sich sowohl in der Zazen-Praxis als auch im Alltag die Sein-Zeit als erste Erleuchtung ereignen kann. So heißt es:" Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wassr schöpfen". Erleuchtung ist also kein erträumter Idealzustand des Geistes, der unabhängig vom Körper und der Zeit unveränderlich existiert. Wir wissen heute, dass unser neuronales Netz unaufhörlich in Bewegung ist, weil die elektrischen Impulse der Informationen sich dauernd im Netz bewegen. Nur ein totes Gehirn ist ohne Bewegung und daher ohne Speicherung und Verarbeitung von Informationen. Dann funktionieren kein Denken, Fühlen, keine Wahrnehmung, keine Empathie und keine Ethik. Deshalb konnte die Gehirnforschung erst große Fortschritte machen, als man durch die neuen Bild gebenden Verfahren dem Gehirn bei "der Arbeit zusehen" kann, wie der Gehirnforsche Manfred Spitzer sagt.

Es soll erwähnt werden, dass auch in der modernen Philosophie der Phänomenologie die Frage nach der wirklichen Zeit von ganz neuer Bedeutung ist. Martin Heidegger hat sein großes Frühwerk Sein und Zeit genannt und eine Philosophie vom Sein vertreten, die der abendländischen Geschichte entspricht, und damit kaum Verbindungen zur Zen-Tradition ermöglicht. In einem seiner letzten Vorträge, Zeit und Sein, hat diese philosophische Einschätzung geändert und mit dem Ereignis verbunden. Damit wird eine größere Nähe zu Dôgens Sein-Zeit hergestellt. In der Philosophie der Gegenwart hat sich Rolf Elberfeld in seinem Buch Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, Methoden des interkulturellen Philosophierens intensiv mit diesem Thema beschäftigt. In der westlichen Welt und im westlichen Denken wird also endlich die Wirklichkeit der Zeit immer mehr in den Blick gerückt und die Statik der Metaphysik des Seins beiseite gelassen.

 

Ich möchte von der „linearen gedachten Zeit“ sprechen, wenn die uns meist vertraute Vorstellung gemeint ist, dass die Zeit von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft wie eine Linie verläuft. Diese lineare Zeit hat Sie hat jedoch in dem diesem Kapitel von Dōgen nur eine nebengeordnete Bedeutung. Es geht nicht um abstrakte gedachte Theorien sondern um phänomenologisch erfasste Wirklichkeiten. Abstrakte Gedanken-Konstrukte nennt daher Vasubandhu "Fabrikationen" und zwar vor allem, wenn unwirkliche und unheilsame Doktrinen und Ideologien dominieren.

Nishijima Roshi unterstreicht, dass ohne das „Verstehen“ und die Erfahrung der wahren Zeit im Sinne Dōgens die Lehre und Praxis des Buddhismus unverständlich und auch unwirksam bleiben müssen.

Dōgen sagt hierzu in einem Gedicht am Anfang diese Kapitels:

Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, auf dem höchsten Berggipfel stehen.

Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, sich auf dem Grund des tiefsten Ozeans bewegen.

Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, drei Köpfe und acht Arme (des Tempelwächters).

Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, der sechzehn Fuß hohe (stehende), oder der acht Fuß hohe (sitzende) goldene Buddha.

Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, ein (konkreter) Stab oder ein Fliegenwedel (für die Zeremonien).

Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, ein äußerer Pfeiler (des Tempels) oder eine Steinlaterne.

Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, der (ganz normale) dritte Sohn des Zhang oder der vierte (Sohn) des Li.

Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, die Erde und der Raum.“

Diese Sein-Zeit wird als wahrer Augenblick des veränderlichen Lebens verstanden. Buddha und Nagarjuna verwenden für diese fundmentale Aussage: "Gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada". Dadurch wird die rückgekoppelte Vernetzung aller lebendigen Prozesse betont, die zum Beispiel typisch für Öko-Systeme und das neuronale Netz des Menschen sind.

In dem Gedicht wird die Untrennbarkeit der Sein-Zeit mit allen Bereichen in der Welt genannt: den Dingen, Phänomenen, der Bewegung, dem Handeln usw. im Leben. Dabei werden der höchste Berg und der tiefste Ozean für die materielle Welt, der Tempelwächter und das Bildnis des stehenden und liegenden Buddhas für den Weg der Befreiung genannt. Diese haben sowohl eine räumliche, konkrete Sicht als auch ideelle und spirituelle Bedeutungen im Buddhismus.

Weiterhin werden die Gegenstände der praktischen buddhistischen Zeremonien sowie die Stützpfeiler des Tempels aufgezählt, die meist außerhalb der Räume des Klosters stehen. Die genannten Steinlaternen werden meist die im Garten des Klosters aufgestellt. In dem Gedicht wird auch das Alltagsleben der chinesischen Familien einbezogen, wobei die Familiennamen Zhang und Li weit verbreitet waren, wie etwa Schmidt, Müller und Schulze bei uns. Das Gedicht schließt mit Nennung der Erde und des Raumes und verallgemeinert damit die erste Zeile. Die ganze Welt, die Erde, unser Leben und überhaupt alles im Universum werden also als Sein-Zeit genannt. Sie ist im Verständnis des Buddhismus unauflösbar mit all diesem verbunden und in andauernder Wechselwirkung. Das eine kann ohne das andere überhaupt nicht sein, sich nicht verändern und nicht leben. Dabei geht es darum, in diesem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, unseren Weg der Befreiung, des Gleichgewichts und der guten Entwicklung unseren Gang des Lebens zu steuern und unser Leiden zur Ruhe kommen zu lassen. Das ist der Mittlere Weg, der ideologische, emotionale und körperlich unnütze Extreme vermeidet.

Sein und Zeit bilden ein großartiges gemeinsames Ganzes, das in der erfahrenen und erlebten Wirklichkeit nicht gespalten und getrennt werden kann. Eine solche Trennung würde zum fabrizierten Dualismus führen, wie der große Meister des Yogacara Vasubandhu sagt. So etwas wird nur in unserem Verstand durch doktrinäre Überlegungen und unterscheidendes Denken konstruiert. Dabei haben wir allerdings nach Buddhas Lehre und Praxis bereits die Wirklichkeit und Wahrheit verlassen. Wir kreisen dann oft sinnlos in eigenen Denk-Konstrukten und Emotions-Schleifen. Es ist die große Wirkung der Zazen-Praxis, aus derartigen meistens unbewussten, spekulativen und abstrakten „Denknestern“, Emotions-Schleifen und Fantasiegebilden zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt herausfinden und die Flucht aus der Realität zu beenden. Denn diese Flucht ist nach buddhistischer Lehre eine fatale Ursache des Leidens, das überwunden werden kann.

In der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt kann der Mensch nach Dōgen gut handeln und ein erfülltes und freudiges Leben führen. Dies bedeutet aber nicht, dass es verboten ist, zu denken, zu überlegen und zu planen: im Gegenteil! Wir können und sollten Klarheit erlangen, wann wir unheilsame Vorstellungen und scheinbar schöne oder erbauliche Illusionen haben, und wann wir in der Fülle der Wirklichkeit leben und denken. Beides dürfen wir nicht verwechseln und durch einander bringen. Wie es hier heißt: Die Wirklichkeit besteht aus den vierundzwanzig Stunden des Tages, dem goldenen Körper Buddhas und ist die Zeit als lebendige Sein-Zeit selbst. Kurz gesagt: Es gibt kein Leben unabhängig von der Zeit. Und wir sollten keine Zeit in unserem Leben verschwenden, weil wir dann das Leben selbst verschwenden.

Die Menschen zweifeln, wie Dōgen sagt, manchmal nicht an unklaren oder gar falschen Aussagen, während sie große Bedenken an wirklichen und wahren Tatsachen und Fakten haben. Traurige Beispiele sind die Verschwörungstheorien in der Corona Pandemie und der Präsidentschaft Trumps. Auch ein solches Zweifeln ist allerdings Handeln im Leben und findet nicht außerhalb der Zeit statt. Nur etwas Konstantes und Unveränderliches kann außerhalb dieser Sein-Zeit existieren, aber so etwas gibt es in der Wirklichkeit des Lebens nicht. Die Wirklichkeit  geht in Augenblicken und miteinander vernetzten Prozessen voran. Die Zen-Meisterin Ritsunen Linnebach spricht davon, dass die Wahrheit sich „Augenblick für Augenblick“ verwirklich. Mit ihr zusammen habe ich übrigens diesen Text aus dem Japanischen formuliert.

Dōgen sagt weiter:

„Weil (die wirkliche Zeit) nur dieser genaue Augenblick ist, sind alle Augenblicke der Sein-Zeit das Ganze der Zeit und alle wirklichen Dinge, und alle wirklichen Phänomene sind Zeit. Das wahre, nicht doktrinierte Sein und das ganze Universum wirken in einzelnen Augenblicken der Zeit.“

 

Dōgen erklärt hier die zentrale Bedeutung der Gegenwart und der Augenblicklichkeit bei der Zeit. Damit sind alle Phänomene, das Erleben und Handeln und die Welt nur wirklich mit der Zeit. Wenn wir ganz in der Gegenwart und ganz im jetzigen Augenblick leben und handeln, sind wir wirklich in der Sein-Zeit und damit in der Realität. Das falsch gedachte Gegenteil kann wie folgt formuliert werden: Die Dinge und Phänomene, Dharmas, sind unveränderlich und damit unabhängig von der Zeit. Sie sind zudem von einander  isoliert und getrennt. Dieses Denken ist eine schwer wiegende Sackgasse und wurde besonders von Nagarjuna überzeugend falsifiziert. Die abgelehnte Philosophie wird Substantialismus genannt. Es handelt sich dabei um die ideologische Schein-Substanz.

Diese Augenblicke der Sein-Zeit behindern sich nach Dōgen nicht gegenseitig sie sind aber auch nicht isoliert von einander. Es handelt sich um eine lebende Kette und um ein Fließen der Augenblicke. Prozesse der Zeit und Augenblicke der Zeit wirken immer zusammen. Störende Erinnerungen des Geistes oder Ängste über die Zukunft gehören also nicht einer solchen Sein-Zeit an und sind damit im eigentlichen Sinne nicht Wirklichkeit. Dass eine solche Lebensweise mit der vollen Wirklichkeit des Augenblicks nicht einfach zu realisieren ist und zunächst eher als Schulungsziel gelten kann, steht sicher außer Zweifel. Dies ist ein Kern der Buddha-Lehre also des gemeinsamen Entstehens in der vernetzten Wirklichkeit. Vor allem durch die Zazen-Praxis lernen wir, im Augenblick zu handeln und zu erleben, ohne dass wir von Gedanken, Gefühlen, Ängsten, Illusionen, Fantasien usw. gestört und geschwächt werden. Daher nennt Nishijima Roshi die Meditation des Zazen die erste Erleuchtung.

Man kann nach Dōgen nicht sagen, dass die Zeit kommt und geht, auftaucht und verschwindet, denn die wirkliche Zeit ist immer die Gegenwart des Handelns und Wirklichkeit selbst. Er fährt fort:

„Weil (die Zeit wirklich) Sein-Zeit ist, ist sie meine Sein-Zeit.“

Also sind allgemeine, abstrakte Überlegungen über die Zeit nicht die Sein-Zeit des Buddhismus, die Dōgen hier beschreibt. Denn die Sein-Zeit ist mein eigenes Erleben und Handeln, ich bin immer mit einbezogen und kann mich nicht heraushalten. Manchmal wird die lineare Zeit als eine „Kette von jeweiligen Augenblicken“ nur gedacht, aber dies ist dann Theorie und nicht die Wirklichkeit des Erlebens. Tatsächlich ist die Sein-Zeit nur im gegenwärtigen Augenblick, wenn die abstrakte Ebene des unterscheidenden Denkens und der Überlegung verlassen wird und wir uns ganz auf die Wirklichkeit selbst einlassen.

Im Folgenden heißt es:

„Die (Sein-Zeit), die auch bewirkt, dass (die Tageszeit) des Pferdes und des Schafs so beschaffen in der Welt sind, wie sie heute sind, ist etwas Steigendes und Fallendes. Und es ist etwas Unfassbares, das an seinem Platz im Dharma verweilt.“

Hier werden die Zeiten des Tages und der Nacht angesprochen, die in China nach Tieren benannt wurden. Die Sein-Zeit kann also mit dem üblichen und intellektuellen Denken nicht vollständig erfasst werden und ist damit für den Verstand in diesem Sinne letztlich unfassbar. Die Sein-Zeit geht über das Denken, den Verstand, die Vorstellung und Wissenschaft hinaus und kann ereignet sich vor allem im Handeln und Erleben. Dann ist es die vollständige Verwirklichung der ganzen Zeit als ganzes Leben, und darüber hinaus kann es überhaupt nichts anderes Wirkliches geben. Wenn zu der Sein-Zeit etwas Zusätzliches hinzugedacht oder mit Worten formuliert wird, ist dies eben nur ein Zusatz und nicht die Sein-Zeit selbst.

Nach Dōgen ist die Sein-Zeit, die zur Hälfte, also ohne fabrizierte Zusätze, verwirklicht ist, die vollständige Verwirklichung der wahren Sein-Zeit und nicht mehr und nicht weniger. Die ideelle scheinbar ganze Verwirklichung der Sein-Zeit kann nicht in der Realität erlangt werden, sie wird als Ideal, Hoffnung oder Ziel formuliert. Ideologien und unheilsame Doktrinen sind Verirrungen von der wahren Zeit und deren Wechselwirkungen. Dies gilt besonders für Doktrinen von Schein-Substanzen, die Ewigkeit und Unveränderlichkeit suggerieren, wie Nagarjuna nachgewiesen hat. Der Mittlere Weg kann ohne Zeit nicht erlebt und erfahren werden. Das Leiden kann nur im Gang der Zeit überwunden werden, es ist in der Wirklichkeit niemals unabhängig von der Zeit und zeitlichen Veränderung.

Das Handeln ist mit der Sein-Zeit untrennbar verbunden. Das kommt im folgenden Zitat von Dōgen zum Ausdruck:

„An unserem Platz im Dharma im Zustand des kraftvollen Handelns zu sein ist genau die Sein-Zeit“.

Die Sein-Zeit wird also verwirklicht, ohne dass sie durch Begrenzungen und Hindernisse gestoppt wird, zum Beispiel durch Ideologien und Doktrinen, die Unveränderlichkeit versprechen. Sie kann nicht festgehalten werden, und es hat daher keinen Sinn, Vergangenes festhalten zu wollen und zu beklagen, dass es nicht mehr existiert.

Das wirkliche Erleben des Frühlings kann man nach Dōgen nicht durch den abstrakten zeitlichen Ablauf des Jahres beschreiben, bei dem der Frühling wie eine Sache zwischen den Jahreszeiten des Winters und Sommers gedacht wird. Dies gilt umso mehr, wenn diese Jahreszeiten wie abgegrenzte Dinge oder Entitäten verstanden werden. Die Begriffe suggerieren dabei Schein-Substanzen, die vom wahren Erleben und Handeln wegführen. Die Zeit ist kein Ding, wie übrigens auch Heidegger sagt. Derartige Gedanken von Substanz haben einen hohen Abstraktionsgrad und sind weit von der sich dynamisch verändernden Praxis und dem wirklichen Erleben in der Gegenwart des Frühlings entfernt. Vielmehr geht es um die Gegenwart und das wahre Erleben der Blumen, der Wärme, des milden Südwindes, der Knospen, der frischen Blätter und der vollen Lebendigkeit der Natur. Ein solches Erleben im Augenblick des Frühlings eröffnet dessen Wirklichkeit unmittelbar für uns und benötigt keine abstrakten Gedanken über den vergangenen Winter und den kommenden Sommer. Solche Gedanken stören sogar das Ereignis „Frühling“. Denn uns beschleicht vielleicht die Angst, dass der schöne Frühling schon bald wieder vorbei ist. Eventuell klagen wir, der Frühling sei nur so kurz, und können ihn gar nicht mehr „genießen“. Eine abstrakte Beschreibung des Frühlings kann also niemals die Wirklichkeit ersetzen.

Dōgen rät uns schließlich, dass wir uns mit dieser Wahrheit der Sein-Zeit immer wieder beschäftigen sollen, dass wir uns darauf fokussieren und dann wieder loslassen. Denn wir wissen aus der heutigen Gehirnforschung, dass die Schulung des Geistes am besten mit Freude und Wiederholung gelingt.



[1] Vgl. auch mein Buch: "Strahlende Zeit zum Handeln"

Donnerstag, 3. Dezember 2020

Die Dharma-Blume der Wahrheit


Leben in einer wunderbaren lebendigen Welt.

In diesem Kapitel, Hokke ten hokke, des berühmten Werkes Shobogenzo beschreibt Zen -Meister Dōgen sein Verständnis des Lotos-Sūtra und geht dabei über die üblichen Interpretationen dieses großen Werkes deutlich hinaus. Oder besser gesagt: Er entschlüsselt für uns dessen wahre Bedeutung, die ohne illusionären Schein-Wahrheiten ist. Das Lotos-Sūtra ist zweifellos eines der wichtigsten und am meisten gelesenen buddhistischen Schriften Asiens. Es ist überaus poetisch und entfaltet nicht zuletzt durch die Gleichnisse die volle Kraft und Lebensbejahung des Buddhismus, zum Beispiel vom brennenden Haus und verlorenen Sohn. Wörtlich könnte man es als „Sūtra der Lotosblume des wunderbaren Dharma“ bezeichnen. Es liegt daher nahe, das Lotos-Sūtra als die Offenbarung der strahlenden, wunderbaren Welt und des großen Universums zu verstehen, in dem wir leben und dessen wir uns oft nicht bewusst sind. Oder genauer gesagt: Wir haben diese Welt noch nicht zum Leben erweckt, daher ist sie für uns noch nicht entstanden

Das Lotos-Sūtra ist leider oft als eine Art Märchenbuch missverstanden worden, das von über-natürlichen Wundern, Illusionen und Fantasien berichtet und so ein naives und wundergläubiges Weltbild vermittelt. Dieses ist dann manchmal zum naiven Buddhismus von Gläubigen geworden. Wenn es sich tatsächlich so verhielte, würde es nach Meister Nishijima lediglich das begrenzte Weltverständnis der Ideen, Vorstellungen und Fantasien widerspiegeln. Es wäre nur eine der vier buddhistischen Lebensphilosophien, nämlich den Idealismus. Dann würden der Materialismus, das praktischen Handeln und vor allem das umfassende buddhistische Leben und die Lehre des Gleichgewichts und Erwachens fehlen. Dem ist aber nicht so!

Als ganz junger Mönch trat Dōgen in ein buddhistisches Kloster der Tendai-Linie ein, die das Lotos-Sūtra als wichtigste Lehre und Grundlage hat. Denn Zen gab es damals noch nicht in Japan. Dōgen hatte also ausgezeichnete Kenntnisse dieses Sūtras, war aber insgesamt nicht zufrieden mit dem damaligen sehr theoretischen Verständnis des Buddhismus. Er öffnet nun in diesem Kapitel sein eigenes umfassendes Verstehen des Buddhismus in Praxis und Theorie. Was ist nun der Kern des Lotos-Sutra, dieses großen Werkes?

Der japanische Ausdruck ten im Titel Hokke ten hokke bedeutet „bewegen“ und „drehen“, so dass das Lotos-Sūtra diese Bewegung des Lebens und der Welt als zentrale Aussage enthält, also das Handeln und Geschehenlassen. Buddha nennt das "gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung". Wir würden es heute wohl "Leben in einer vernetzten lebendigen Welt" nennen. Es geht gerade nicht um das statische, unveränderliche Sein oder eine metaphysische ewige Substanz außerhalb der Zeit. Beides ist zumeist die Grundlage der westlichen Philosophie des Seins. bedeutet „Wirklichkeit“, „Wahrheit“ oder das „Gesetz des Universums“, und ke bedeutet „Blume“. Eine genaue Übersetzung könnte wie folgt lauten: „Die wunderbare Welt (und Wahrheit) ist wie eine Blume und bewegt die wunderbare Welt, die selbst wie eine Blume ist.“

Das klingt vielleicht eigenartig und auch redundant. Diese Formulierung ist aber nach meinem Verständnis genial und poetisch zugleich. Warum? Damit ist das buddhistische Weltbild und die buddhistische Lehre Dōgens sehr treffend charakterisiert: Wir leben in einer wunderbaren Welt. Sie wird für uns immer klarer und schöner, je mehr wir ins Gleichgewicht kommen und sinnvoll handeln. Dieses Gleichgewicht in der Lebens-Dynamik ereignet sich bei der Zazen-Praxis und im Handeln des täglichen Lebens. Die Welt ist also in der Balance der Bewegung, wie zum Beispiel unser Sonnensystem mit den kreisenden Planeten. Buddha beschreibt die Wirklichkeit dieser Welt mit dem "gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung", in Sanskrit pratitya samutpada. Und das so Entstandene ist die Basis und Struktur unserer Wirklichkeit und unseres Lebens.

Diese Wahrheit ist auch Grundlage des Mittleren Weges von Meister Nagarjuna. Sie lehnt eine statischer metaphysische und isolierte Eigen-Natur in der Welt radikal ab, genau so wie ein extremes Ego, âtman.

Dōgens zentrale Aussage: „Die Dharma-Blume (der Wahrheit) dreht die Blume der Dharma-Welt erschließt sich zunächst nicht dem westlichen dualistischen Denken und einer abgehobenen Intellektualität. Scheinbar handelt es sich um genau die selbe Aussage, die nur zweimal etwas verändert gesagt wird. Die doppelte Aussage wäre daher redundant. Aber sie geht in Wirklichkeit über das lineare, dualistische Denken hinaus und will offensichtlich eine höhere umfassende Wahrheit ansprechen, die bei uns zudem eine poetische Kraft entfaltet. Im diesem gesamten Kapitel wird die Dharma-Blume als Symbol der Welt und des Universums verstanden.

Die Dharma-Blume dreht sich nach Dôgen bei der natürlichen Praxis des Bodhisattva-Weges und weicht nicht einmal geringfügig davon ab. Es ist die Weisheit der Buddhas den unterscheidenden, dualen Verstand und Intellekt überschreitende. Sie ist damit fest auf der Wirklichkeit gegründet. Diese umfassende Weisheit ereignet sich nach Dōgen vor allem im Samadhi und in der Zazen-Praxis und ist schwer zu erfassen und nicht soleicht zu erlangen. Sie ereignet sich in der Bewegung also im Flow, der das störende fixierte Ego ´weg-beamt´. Die Buddhas sind darin zusammen mit den Buddhas und leben genau so, wie sich die Dharma-Blume dreht.

Gleichzeitig verwirklichen sich die konkreten Dinge und Phänomene dieser Welt unmittelbar in und mit der wunderbaren Dharma-Blume, sagt Dōgen. Sie verliert sich nicht in fantastischen Illusionen und wirklichkeitsfernen Träumen, denn so etwas endet immer in Enttäuschungen, Negativität und Leiden. Im Gegensatz dazu enthüllt, offenbart und verwirklicht sich die Dharma-Blume, und damit ist der Zugang zu ihr für die Menschen in der ganzen Welt und im großen Universum eröffnet. Dann sind schädliche Ideologien und Dogmen wirkungslos, wie Nagarjuna im Mittleren Weg präzise herausarbeitet.

Wenn dies geschieht, werden nach Dōgen die „Objekte“ nicht im herkömmlichen Sinne als außerhalb von uns selbst gesehen, und die umfassende Praxis der Dharma-Blume vollendet sich in ihrer eigenen Bewegung. Die schädliche Trennung von Subjekt und Objekt ist überwunden, der Egoismus ist ausgeschaltet, denn es geht viel mehr um die Wechselwirkung. Im tiefen Vertrauen auf das eine Fahrzeug des Buddhismus erfüllt sich der umfassende Dharma und verwirklicht sich in der ganzen Schönheit dieser Welt:

„Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können vollständig verwirklichen, dass alle Dharmas wirklich Form sind.“

Die Lotos-Blume ist also die wahre Form. Mit der Blume des Dharma sind die Orte wirklich, an denen Buddha lehrte. Es gibt den Raum, den großen Ozean und die große Erde, und diese sind für die Menschen das eigene vertraute Land. Wenn sich die Dharma-Blume dreht, ist sie dies Handeln, das nicht starr, unveränderlich und unbeweglich ist, sondern sie ist die lebendige Wirklichkeit und der Schatz des wahren Dharma-Auges.

Dōgen zitiert die Geschichte von Hotatsu, der in jungen Jahren Mönch wurde und sich vollständig dem Lotos-Sūtra widmete. Er prahlte sogar damit, dass er das Lotos-Sūtra auswendig bereits mehr als dreitausend Mal rezitiert hatte. Der große Meister Daikan Enō, der selbst nicht lesen und schreiben konnte, sagte ihm jedoch:

„Auch wenn du das Sūtra zehntausendmal (rezitiert hast), wirst du nicht einmal in der Lage sein, (deine eigenen und andere) Fehler zu erkennen, wenn du es nicht wirklich verstanden (und erfahren) hast.“

Daraufhin wurde der Mönch Hotatsu sehr nachdenklich und war tief verunsichert. Meister Daikan Enō schlug ihm vor, dass er anfangen solle, den Text bis zu einer Stelle zu rezitieren, an der der Meister ihm die große, umfassende Bedeutung dieses Sūtra erläutern wolle. Dies sei nämlich die umfassende Lehre und Weisheit von Gautama Buddha selbst, und sie werde auf verschiedenen Wegen und mit tiefgründigen Gleichnissen angesprochen, aufgedeckt, erklärt und verwirklicht. Dadurch könne man sich den Zugang zu Buddhas umfassenden Weisheit eröffnen. „Du musst jetzt darauf vertrauen, dass Buddhas Weisheit einfach dein natürlicher Zustand des Geistes ist“, sagte er zu dem Mönch. Dann fuhr Daikan Enō mit einem eigenen Gedicht fort:

„Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma (ohne uns).

Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma.

Wenn wir keine Klarheit über uns selbst haben, wird (das Sūtra) wegen seiner (großen) Kraft und Bedeutung zu

(unserem) Feind, ganz gleich, wie häufig wir es rezitieren.

Ohne (egoistische) Absicht ist der Geist wahrhaftig.

Mit (egoistischer) Absicht wird der Geist falsch.

Wenn wir dieses „mit und ohne“ überschreiten,

fahren wir immer weiter im weißen Ochsengespann.“

Meister Daikan Enō erläuterte dem Mönch also vertieft das Wesentliche des Lotos-Sūtra, und sagte, dass die meisten Probleme durch die eigenen Vorstellungen und Fantasien entstehen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Diese vom unheilsamen Geist fabrizierten Schein-Wahrheiten isolieren uns von dem lebenden Fluss des wahren Lebens, wie Meister Vasubandhu heraus gearbeitet hat.

Gerade wenn man den Verstand und Intellekt bis zum Äußersten anstrengt und damit immer weiter ins Extrem fortfährt, wird man sich vom wahren Inhalt des Sūtras immer weiter entfernen.

Beispiel: Gautama Buddha gestattete seinen Zuhörern bei einer seiner berühmten Lehrreden, ihren Platz zu verlassen und fortzugehen, wenn sie mit dem Gesagten nicht einverstanden waren. Dadurch drehte sich die Dharma-Blume ohne sie. Sie verpassten einen fundamentalen positiven Schub in ihrem Leben! Es gibt nach Dōgen nur dieses eine authentische buddhistische Fahrzeug in der Gegenwart, und durch dieses Fahrzeug gelangt man zur lebendigen Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wiederum ist keine Vorstellung und kein Begriff, sondern der Schatz der Dharma-Blume selbst, der uns gehören kann und uns gehört. Das Sūtra der Blume des Dharma sei immer anwesend, von Zeitalter zu Zeitalter, vom Morgen bis zum Abend. Wir legen es in Wirklichkeit niemals aus der Hand, es gibt überhaupt keine Zeit, in der wir es nicht lesen, denn es ist das Universum selbst. Aber viele Menschen vergessen das. Dann dreht such die Blume des Dharma ohne sie und sie verarmen in unheilsamen Doktrinen und Dogmen und verlieren den Sinn ihres Lebens.

In der obigen Geschichte erfuhr der Mönch Hotatsu plötzlich das große Erwachen und sprang vor Freude in die Höhe. Er verfasste spontan das folgende Gedicht:

„Dreitausend Mal (habe ich) das Sūtra rezitiert:

Vergessen (mein bisheriger Irrtum) durch einen einzigen Satz des Meisters vom (Berg) Sôkei.

Ohne der Klärung des zentralen Bedeutung von (Buddhas) Erscheinen in der Welt:

Wie können wir verhindern, dass unsere sinnlosen Leben wiederkehren?

In Wirklichkeit sind wir Könige im Dharma.“

Mit diesem Gedicht erhielt der Mönch Hotatsu vom Meister die Bestätigung, die Dharma-Übertragung, und den Namen „Der Sūtra-lesende Mönch“.

Wie in diesem großartigen Ereignis begann sich die Blume des Dharma durch Meister Daikan Enō immer mehr zu verbreiten: Dass die Blume des Dharma die die Blume des Dharma immer wieder dreht. Bis dahin hatte es diese große Wahrheit nicht gegeben. Es macht daher nach Dōgen keinen Sinn, die anderen ´Fahrzeuge´ des Buddhismus immer wieder zu erforschen. Nach Dōgen ist die Gegenwart die Wirklichkeit so, wie sie ist: die Wahrheit der wirklichen Form, der wirklichen Natur, des wirklichen Körpers, der wirklichen Energie, der wirklichen Ursachen, der wirklichen Wirkungen, und damit ist sie die sich drehende Blume des Dharma. sie besteht nicht aus Doktrinen von Schein-Substanzen, wie Nagarjuna sagt.

Aber wir sollten uns nicht passiv drehen lassen. Wenn der Geist in Illusionen verstrickt ist, werden wir passiv von der Blume des Dharma gedreht. Dann kann sie die lebendige Wechselwirkung nicht entfalten und wir sind nicht frei. Aber ganz gleich, ob die Blume des Dharma sich selbst dreht oder von uns gedreht wird, sie ist das eine, umfassende Buddha-Fahrzeug und die große Buddha-Wahrheit. Wir müssen uns also keine Sorgen machen, dass der Geist manchmal voller Täuschungen ist, denn das Handeln ist der Bodhisattva-Weg selbst, und es ist das Handeln im Augenblick. Wir dienen damit den Buddhas. Dies ist die ursprüngliche Praxis des Bodhisattva-Weges. Es ist der unmittelbare kraftvolle Augenblick der sich drehenden Blume des Dharma.

Das wichtige Gleichnis des brennenden Hauses im Lotos-Sūtra kann man wie folgt zusammenfassen: Obgleich das Haus bereits an mehreren Stellen in Flammen steht, spielen die Kinder drinnen unbekümmert weiter und sind so sehr in ihr Spiel vertieft, dass sie die drohende Gefahr durch das Feuer überhaupt nicht bemerken. Der Vater versucht sie zu überreden, aus dem Haus herauszulaufen, um sie vor den Flammen zu retten, aber sie hören überhaupt nicht zu und spielen weiter. Darauf verspricht er ihnen, dass draußen wunderschöne Kutschen mit Gespannen auf sie warten, die viel schöner sind als ihr Spiel im brennenden Haus. Dies überzeugt die Kinder sofort, und sie laufen aus dem Haus. Dann erkennen sie plötzlich, in welch großer Gefahr sie gewesen sind. Eine dieser Kutschen ist prächtig geschmückt und wird von friedlichen weißen Ochsen gezogen. Sie ist schöner als die Kinder es sich vorstellen konnten. In diese Kutsche steigen sie ein.

Es ist klar, dass mit diesem Gleichnis die Rettung durch die Buddha-Lehre gemeint ist, die dazu verhilft, dem brennenden Durcheinander des gewöhnlichen Lebens der quälenden Ideen und des eigennützigen Materialismus zu entkommen. Es ist die weiße Kutsche, um dem Leiden zu entkommen. Sie ist aber nichts anderes als die sich drehende Blume des Dharma. Es nützt nichts, wenn man das Lotos-Sūtra nur auswendig lernt, es aber nicht umfassend erfährt und erlebt. Es kann sogar zum Feind der eigenen Entwicklung werden, wenn das Ego die Oberhand gewinnt.

Was bedeutet nun die Aussage: „Wenn der Geist im Zustand der Verwirklichung ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma“?

Im „Zustand der Verwirklichung“ wird offensichtlich die Energie und Schönheit der Realität direkt erfahren und erkannt. Dann verwirklichen wir das wahre Gesetz der Welt. Diese Verwirklichung ereignet sich, wenn wir die Blume des Dharma drehen, und dabei handeln wir im Alltag. Wenn wir selbst die Blume des Dharma in Wechselwirkung mit der Welt drehen, bedeutet dies, dass es diese eine Sein-Zeit des Augenblicks ist, in der der Buddha lebt. Wir sind dann nicht von den anderen und der Welt getrennt. Wir haben dann die Freiheit zu handeln, wie wir wollen und sind in Harmonie mit der Welt. Das ist Befreiung und Erleuchtung.

In der Zeit, wenn die Blume des Dharma sich dreht, gibt es nach Dōgen die geistige und praktische Verwirklichung als Blume des Dharma. Und die Dharma-Blume lebt als geistige Verwirklichung von uns und der Welt. Dies gilt konkret bei den Dingen und Phänomenen und ideell im Geist, oder, wie Dōgen sagt, im wirklichen Raum.

Das Unmittelbare des Hier und Jetzt und das allgemein Geistige bilden eine untrennbare wechselwirkende Gesamtheit. Dies ist, so sagt Dōgen, die Verwirklichung des Drehens der Dharma-Blume. Wenn wir uns selbst verändern und drehen, entfaltet diese Bodhi-Weisheit ihre Kraft, und dies ist die reine Welt ohne schädliche Doktrinen und Ideologien: Wenn wir zum Beispiel für einen guten Freund sorgen. Dann sind wir ihm nahe, so wie auch er uns nahe ist. Und dies ist das Drehen der Blume des Dharma. Dann sind Geist und Körper lebendig, ohne Abgrenzung und daher frei.

Dōgen unterstreicht zum Abschluss dieses Kapitels, dass seit Bekanntwerden des Lotos-Sūtra viele Kommentare und Interpretationen geschrieben worden seien. Kein Kommentar habe jedoch die Wahrheit der drehenden Blume des Dharma wirklich in der vollen Tiefe und in dem Umfang wie der große Meister und ewige Buddha Daikan Enō erfasst. Die authentische Weisheit des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada,  war leider vergessen. Seitdem wir jedoch die Worte von Meister Daikan Enō gehört haben, haben wir die Begegnung des wahren Buddha mit dem Buddha erfahren, und wir leben im Buddha-Land. Dies ist für uns alle eine große Freude. Die Wirklichkeit ist die drehende Blume des Dharma, sie verwirklicht sich so, wie sie ist, und ist ein Schatz, sie ist das helle Licht, der Sitz der Wahrheit, denn die Dharma-Blume ist groß, weit und ohne Ende.

Allerdings kann leider auch der Geist in Täuschungen aktiv sein, der nur scheinbar von der Blume des Dharma gedreht wird. Dann haben wir zum Beispiel egoistische Absichten und missbrauch das Sûtra. Aber die Blume des Dharma ist der Geist der Verwirklichung, der selbst die Blume des Dharma dreht. Nichts kann ausgeschlossen werden. Dies alles ist genau die Dharma-Blume, die die Blume des Dharma dreht.

Dōgen schließt mit dem Gedicht:

„Wenn der Geist im Zustand der Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma (isoliert von uns).

Wenn der Geist im Zustand der Verwirklichung ist, drehen wir die Blume des Dharma.

Wenn die vollkommene Verwirklichung diesem Geist gleichen kann,

dreht die Blume des Dharma die Blume des Dharma.“

Das ist Buddhas lebendige Wechselwirkung. Die Blume des Dharma offenbart sich selbst in voller Frische und strahlender Schönheit im Zustand jenseits des angelernten Wissens und jenseits des dualistischen und intellektuellen Denkens. Wir sollten dies klar im Sinn haben und fest darauf bauen. Die Blume des Dharma ist nach Dōgen zu fein, zu wunderbar und zu umfassend für das unterscheidende dualistische Denken.