Samstag, 15. Februar 2020

Mittlerer Weg: Grund-Wahrheiten des Buddhismus


Kausalität, Wechselwirkung, Wirkkraft und Frucht des Handelns 

Hinführung
Gautama Buddha hat als einer der Ersten in der menschlichen Kultur konsequent die Möglichkeiten und Chancen jedes einzelnen Menschen aufgezeigt, durch psychologische Vernunft, eigene Initiative und eigenes Handeln aus seinen Schwierigkeiten, Problemen und Leiden herauszukommen und eine befreiende Entwicklung zu realisieren. Dabei werden keine höheren übernatürlichen göttlichen, mystischen oder absoluten Kräfte angerufen, so
ndern es geht um die selbst gestaltete Befreiung und Emanzipation des Menschen. Daher ist im Buddhismus die Kausalität von Verursachung und Wirkung – oder wie es oft heißt der Früchte – ganz zentral. Entsprechend sind die Schwerpunkte von Buddhas Lehre und Praxis Entwicklungsprozesse, das Abbauen von Blockaden und Hemmnissen und die großartige Möglichkeit, Erleuchtung durch eigene Kräfte und in Wechselwirkung mit anderen Faktoren zu erlangen. Das bedeutet, alle wesentlichen Hindernisse klar zu analysieren, Interaktionen zu erkennen und die Widerstände des Denkens, Fühlens und Handelns zu überwinden und aufzulösen, wobei der Kausalität von wirklichen Ursachen und Wirkungen in der jeweiligen Situation eine fundamentale Bedeutung zukommt. Wir müssen dabei von wechselwirkenden Beziehungen ausgehen, die in der Präambel bereits kurz, aber präzise formuliert sind. Bei solchen komplexeren rückgekoppelten und vernetzten Prozessen sind Spekulationen über Ursachen und Zusammenhänge genauso wie dogmatische Behauptungen ausgesprochen gefährlich, man denke nur an den Geistesterror der Nationalsozialisten und des „Islamischen Staates“.
Außerdem muss klar zwischen sprachlichen Begriffen und Texten einerseits und der Wirklichkeit andererseits unterschieden werden: Begriffe deuten im besten Fall auf die Wirklichkeit hin, aber sie sind nicht die Wirklichkeit – so wie der Finger auf den Mond zeigt, aber nicht die Wirklichkeit des Mondes ist. Häufig suggerieren Begriffe sogar eine Wirklichkeit, die es gar nicht gibt. Dann zeigt der „Begriffsfinger“ auf gar nichts oder etwas Falsches, ist ohne Bedeutung, hat keine Relevanz und hat sich verselbstständigt und von der Wirklichkeit isoliert. Er ist nur hohle Pose ohne Bedeutung, verbreitet also Fake News. Dieses Phänomen von Scheinwelten zeigt sich zum Beispiel in der Politik von Diktatoren, die die Presse und Medien ihres Landes beherrschen. Aber auch religiöse Machteliten neigen immer wieder zu einer solchen, manchmal dubiosen, Informationspolitik, sei es bewusst oder nicht. Gerade bei der Analyse von Kausalitäten und Ergebnissen ist daher Vorsicht geboten, aber sie ist von zentraler Bedeutung für verlässliche philosophische Aussagen.
An dieser Stelle ist auf ein schwerwiegendes philosophisches Problem hinzuweisen: Unsere westlichen und auch die vorbuddhistischen Weltanschauungen und Sprachen suggerieren oft, dass die Dinge und Phänomene der Welt eine wahre absolute Ur-Bedeutung wie einen Ur-Kern, ein Ur-Wesen, eine Ur-Idee, eine Ur-Substanz oder einen Ur-Grund haben, die schon immer da waren und sich dann später in der konkreten Welt manifestieren. Sie seien dann erst durch erkennbare Merkmale in die sichtbare Realität eingetreten. Die Vernunft habe daher zu fragen, ob auch die Merkmale als unabhängige Entitäten schon immer da waren, um sich später mit dem Ur-Wesen zu verbinden. Die Ur-Wesen und Ur-Ideen bzw. Ur-Substanzen seien also das Primäre, Wesentliche und Wahre, während die materielle sichtbare Welt sekundär und zudem unzuverlässig sei. Buddha und Nāgārjuna weisen solche Spekulationen und Ideologien entschieden zurück, da sie für Befreiungsprozesse eher schädlich sind, weil sie von den zentralen Problemen ablenken. Solche Anschauungen sind meist offen oder latent fundamentalistisch.
Nāgārjunas Untersuchungen und De-Konstruktionen enttarnen im MMK häufig ontologische, absolute und doktrinäre Unterstellungen im Hinblick auf die zentrale buddhistische Lehre und deren Begriffe. Wir sind dabei allerdings auch an unsere Sprache gebunden, an Worte, Sätze und Texte und können nicht einfach aus der Sprache „aussteigen“, auch und gerade wenn wir uns von ontologischen Fälschungen lösen wollen. Das geht nur mit Sorgfalt und Achtsamkeit, wenn die „Ummantelungen“ durch Begriffe mit falschen oder ungenauen Vorstellungen einer fiktiven inneren Substanz entfernt werden.
Es gibt auf der Erde kein sozialeres Wesen als den Menschen. Dafür sind Empathie und Unabhängigkeit von Dogmen ausgesprochen wichtig. Einsamkeit und Isolation sind dagegen ein wesentlicher Grund für Leiden, Elend und Schmerzen. Sie führen zu Depressivität und tief greifender Unzufriedenheit im Leben. Das Gefühl der Einsamkeit entsteht nach Erkenntnissen der Gehirnforschung in demselben Teilsystem des Gehirns, das für physische Schmerzen zuständig ist, nämlich dem Schmerzzentrum.[i]
Mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und der Vermeidung von Extremen präzisiert Nāgārjuna in sehr markanter Weise den Kern der buddhistischen Lehre. In diesem ersten Kapitel des MMK untersucht er die Lehre der notwendigen oder hinreichenden Bedingungen der Kausalitäten mit dem Ansatz von pratitya samutpada, der in der Präambel als Fundament der folgenden Analysen vorgestellt wird. Ohne ein Mindestmaß an Klarheit über die kausalen Zusammenhänge des Leidens, deren Beobachtung und Achtsamkeit, ist die Überwindung des Leidens nicht möglich. Das Gleiche gilt umgekehrt für die Freude.
Ein weiteres Thema ist Nāgārjunas Kritik an einem absoluten und statischen Weltbild, das vom Glauben an unveränderliche, isolierte und ewige Entitäten, die fiktiven Substanzen, geprägt war. Die Vertreter eines solchen Substantialismus wurden Sarvastivadins genannt. Diese Bezeichnung enthält die Sanskrit-Begriffe sarva für „alles“ und asti für „existiert“ oder „ist“. Kurz gesagt heißt das: Alles existiert angeblich dauerhaft in Form von abgegrenzten substanzhaften Entitäten. Danach bestehen die Dharmas auf Dauer und unveränderlich bis in die Ewigkeit, und wie aus Bausteinen sollte sich aus ihnen alles zusammensetzen. Zudem sollten diese Dharmas oder die aus ihnen zusammengesetzten Dinge und Phänomene allein aus sich selbst entstanden sein. Das alles ist laut Nāgārjuna jedoch nicht beobachtbar, daher nicht evident und wurde deshalb von ihm als Illusion, Fiktion und Täuschung destruiert. Ein solches Weltbild verstand sich zwar als Buddhismus, war aber nach seiner Überzeugung grundsätzlich davon abgewichen, weil es die Entwicklungs- und Lernprozesse des Menschen nach dem Kausalprinzip nicht berücksichtigte und Wechselwirkungen und Interaktionen mit anderen Dharmas und zwischen den Menschen vernachlässigte oder ganz ausblendete.
Die Lehre des Substantialismus hat markante Ähnlichkeiten mit der alten griechischen Vorstellung von den Atomen, die unteilbar seien und aus denen sich alles Materielle der Welt zusammensetzen würde. Heute wissen wir, dass dies naturwissenschaftlich nicht haltbar ist, weil auch der subatomare Bereich immer weiter unterteilt werden kann, je weiter die Forschung voranschreitet. Man gelangt zu immer kleineren Elementarteilchen, die aber im eigentlichen Sinne gar keine materiellen Teilchen sind, sondern eher als kurze Energie-Prozesse oder Schwingungen verstanden werden können. Der bekannte Physiker Hans Peter Dürr sprach daher lieber von „Elementar-Prozesschen“ als von Teilchen.[ii]
Eine weitere von Nāgārjuna kritisierte Lehrmeinung nahm an, dass es ein plötzliches radikales Beenden und plötzliches neues Beginnen der Dharmas in Form von Ereignissen aus dem Nichts geben würde. Die Vertreter dieser Richtung des Momentanismus hießen Sautrantikas. Aber abruptes zeitloses Beenden oder Beginnen ist mit fortlaufenden wechselwirkenden Prozessen der Wirklichkeit nicht vereinbar, sondern abstrakter unwirklicher Intellektualismus. Es handelt sich ebenfalls um Fiktionen, Täuschungen und nicht reale Abstraktionen.
Der wichtige Begriff Dharma hat im Buddhismus vielfältige Bedeutungen, von denen drei fundamental sind. Sie werden in den verschiedenen buddhistischen Schulen und Sekten teils recht unterschiedlich interpretiert:
1) wahre Lehre (Buddha-Dharma),
2) die Wirklichkeit selbst,
3) elementare Dinge und Phänomene (Bausteine der Welt).

In den folgenden Versen analysiert Nāgārjuna zentrale Fragen des Buddhismus in Abgrenzung zu den beschriebenen spekulativen Weltbildern und Fiktionen: Entstehen und Vergehen, Kausalität, wechselwirkende Faktoren, Wirkkräfte und schließlich die Frage nach den „Früchten“ buddhistischen Handelns und dessen Ethik.

Übersetzung und Erläuterung der Verse
Vers 1.1
Es wird kein Seiendes (Ding, Phänomen) überhaupt irgendwo gefunden, das total aus sich selbst oder total aus etwas anderem heraus entstanden ist. Es wird auch nicht etwas gefunden, das sowohl total aus sich selbst als auch total aus einem anderen entstanden ist.
Auch wird nichts irgendwo gefunden, das ohne Veranlassung und ohne Kausalität entstanden ist.

Damit falsifiziert Nāgārjuna die Doktrin des Substantialismus, die der altindischen Philosophie der Veden sehr ähnlich ist; ihre Grundlage bildet die unveränderliche Dauerhaftigkeit von Dingen, Phänomenen und fiktiven Substanzen. Zuerst geht er auf die alte und in seiner Zeit wieder neu erstarkte Metaphysik ein, dass etwas ganz aus sich entstanden sei. Dies sollte vor allem auf den Gott Brahman am Anfang der Welt zutreffen. Diese metaphysische Ideologie war in der vorbuddhistischen Zeit in Indien weit verbreitet.[iii] Alles, was wir in der Wirklichkeit finden und wahrnehmen, entsteht und vergeht aber in der Welt mit Veranlassung und damit durch Kausalität – meist Ursache genanntim Rahmen der Wechselwirkung. Die Welt ist in Wechselwirkung entstanden.
Aus sich selbst entstandene, isolierte, unveränderliche und dauerhaft existierende Entitäten und Substanzen sind in unserer Welt laut Nāgārjuna nicht zu finden. Entsprechend gibt es auch kein Entstehen aus etwas anderem und kein Entstehen isoliert aus sich selbst und zugleich aus einem anderen. Das ist die Theorie der totalen Identität und Differenz[iv] isolierter Entitäten, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Eine Außenverursachung wurde in der vorbuddhistischen Zeit von dogmatischen Materialisten vertreten, die eine totale Determination durch absolute Naturgesetze behaupteten, denen sogar die Götter unterliegen sollten.[v] Buddha und Nāgārjuna warnen eindringlich vor derartigen spekulativen metaphysischen Philosophien, weil sie realitätsfremd sind und letztlich viel Leiden und Elend erzeugen.
Gegenwärtig kursieren in manchen esoterischen Gruppen wieder solche angeblichen ewigen Wahrheiten und Weltanschauungen. Viele glauben an das eigene Ur-Ich, das sich aus sich selbst entwickelt und vielleicht durch die Umwelt nur gestört und verzerrt wird. Außerdem gäbe es kosmische, einseitig von außen wirkende Ur-Kräfte, die die Dinge und Phänomene dieser Welt erzeugen würden und von uns nicht beeinflusst werden könnten, denen wir einfach ausgeliefert seien. Im Sinne von Buddha und Nāgārjuna sind solche Spekulationen und Fiktionen nicht wahr, sie sind gefährliche Täuschungen.
Nishijima Roshi interpretiert diesen Vers in Übereinstimmung mit Meister Dōgen als die Ablehnung des rein Subjektiven, des angeblich aus sich selbst agierenden Menschen, und außerdem als Ablehnung des rein materiell Objektiven, also dessen, was unabhängig vom Menschen materiell vorhanden ist. Er verwendet dafür die Begriffe Idealismus und Materialismus. Nach Nishijima Roshi ist die Befreiung und Zufriedenheit der Menschen weder durch einseitigen Idealismus noch durch deterministischen Materialismus zu erreichen. Auch eine Kombination beider führt nicht weiter. Daher müssen Zufriedenheit beim Handeln im Augenblick und die eigene Emanzipation hinzukommen. Dem folge ich ausdrücklich.
Am Ende des Verses betont Nāgārjuna, dass es in unserer Welt für alles Seiende immer eine wechselwirkende Veranlassung und Kausalität gibt. Scheinbar statische und isolierte Dinge und Phänomene sind nicht zu erkennen und ohne validen Bezug zur Wirklichkeit. Die fundamentale buddhistische Lehre der Kausalität in der Vernetzung kann nämlich nicht für isolierte Entitäten gelten, sondern nur für wechselwirkendes gemeinsames Entstehen und Vergehen.

Vers 1.2
Es gibt vier wechselwirkende Faktoren:
– Veranlassung oder Kausalität,
– Stütze, zum Beispiel die äußere materielle Umgebung,
– Abfolge, also ein fortlaufendes zeitliches Nacheinander,
– und etwas Übergeordnetes.
Ein fünfter wechselwirkender Faktor existiert nicht.

Nāgārjuna beschreibt die Wirklichkeit in unserer Welt durch vier verlässliche wechselwirkende Faktoren und nimmt damit Bezug zum Entstehen in Wechselwirkung, das er in der Präambel behandelt. Nach der Falsifizierung des Entstehens aus sich selbst oder aus dem anderen in Vers 1.1 erklärt Nāgārjuna in diesen Zeilen, dass bestimmte Zusammenhänge in der Wirklichkeit vorliegen, ohne die es keine Veranlassung oder Verursachung in der wechselwirkenden Welt und beim Menschen geben kann. Jeder Prozess und jede Vernetzung bedarf einer gewissen Umgebung oder einer Situation, die er als Stütze bezeichnet.
Schließlich laufen in der sich ständig verändernden Welt zeitliche Prozesse unaufhaltsam und ohne Unterbrechung nacheinander ab. Das ist mit Abfolge gemeint. Außerdem nennt Nāgārjuna übergeordnete Bedingungen und Einflüsse, die zum Beispiel in der modernen Sozialwissenschaft mit dem Begriff Sinn bezeichnet werden.[vi] In jeder Gruppe und bei jedem Menschen sind derartige übergeordnete Richtlinien, Regeln und Bedingungen zu finden. Besonders deutlich ist dies bei religiösen Menschen und Gruppen, die einem bestimmten Glauben folgen.
Obgleich in verschiedenen buddhistischen Theorien, die im späteren Abidharma philosophisch vielschichtig analysiert und systematisiert sind, erheblich mehr Faktoren und Bedingungen, nämlich bis zu 100 und mehr, aufgeführt werden, sagt Nāgārjuna eindeutig, dass es für ihn keinen fünften Faktor gibt. Nishijima Roshi bezeichnet die Faktoren in diesem Sinne richtigerweise als verlässliche Tatsachen der Wirklichkeit (reliable facts).

Vers 1.3
Denn ein isoliertes, nur aus sich selbst heraus gewordenes Seiendes wird für die wechselwirkenden Faktoren in der Welt nicht gefunden.
Ein total aus sich selbst gewordenes Seiendes ist also nicht auffindbar und nicht evident. Es wird auch nicht ein Seiendes gefunden, das nur von einem anderen isolierten Seienden existiert.

Hier wird das Grundprinzip des ersten Verses auf die Elemente der Welt, die Dharmas, angewendet: Total isolierte unveränderliche Dharmas ohne Wechselwirkung und kausale Verknüpfung sind laut Nāgārjuna nicht auffindbar. Er benutzt den Sanskrit-Begriff svabhāva, dessen wörtliche Übersetzung „aus sich selbst heraus gewordenes Seiendes“ lautet. Das entspricht nach Nāgārjuna einer fiktiven täuschenden Substanz. Ich bezeichne sie als (fiktive) Eigen-Substanz. Dieses Seiende wurde statisch und isoliert, ja sogar absolut verstanden und steht in der gesamten Lehre des MMK für ein falsches Verständnis des Buddhismus. Wir haben im Deutschen dafür keinen direkt entsprechenden Begriff, das heißt, dass es sich für uns um eine neue Bedeutung handelt. Deshalb sind bei der Interpretation große Sorgfalt und Vorsicht geboten, sonst können wir wichtige Aussagen des MMK überhaupt nicht oder nicht richtig verstehen.
Nāgārjuna bezeichnet mit svabhāva etwas in dieser Welt, das zwar in irgendeiner Weise geworden und entstanden ist, aber ganz auf sich selbst bezogen, isoliert und auf sich begrenzt ist. Dieses Etwas hat demnach keine Wechselwirkung, sondern Statik, Unbeweglichkeit und Dauerhaftigkeit. Auf der Suche nach einer semantisch angemessenen deutschen Bezeichnung für dieses Etwas könnte man den Ausdruck „unabhängiges selbst-gewordenes Seiendes“ verwenden. Das ist aber eine sehr sperrige Formulierung, obgleich sie die Semantik von svabhāva recht genau treffen würde. Ich verwende daher verkürzt für dieses „unsichtbare substanzhafte Seiende“ den Begriff Eigen-Substanz.
Nāgārjuna macht hier ganz deutlich, dass ein solches unabhängiges Substanz-Seiendes in der Wirklichkeit nicht evident ist und nicht gefunden werden kann, es sei fiktiv und schädlich für das Verständnis der realen Welt. Es würde dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und generell Buddhas Lehre der Veränderung und Emanzipation des Erkennbaren radikal widersprechen. Bereits in der Präambel wird eindeutig gesagt, dass alles in der Wirklichkeit gemeinsam in Wechselwirkung entsteht. Wenn dagegen alle Entitäten isoliert aus sich selbst vorhanden wären, könnte es überhaupt keine Beziehungen der Entitäten untereinander geben, sodass die Wechselwirkung ausgeschlossen wäre. Dann wäre unser Leben unveränderlich, und die Überwindung von Leiden, Elend und Schmerzen sowie die Befreiung und Emanzipation wären nicht möglich. Es gäbe dann auch kein Erwachen, keine Erleuchtung und keine Transformation der menschlichen Persönlichkeit.

Vers 1.4
Handlungen und Wirkkräfte sind einerseits nicht total mit wechselwirkenden Faktoren ausgestattet. Andererseits sind die Handlungen und Wirkkräfte aber mit wechselwirkenden Faktoren ausgestattet, wenn auch nicht total.
Wechselwirkende Faktoren existieren so einerseits ausgestattet mit Wirkkräften und Handlungen. Und sie sind andererseits nicht mit Wirkkräften und Handlungen ausgestattet. Beides gilt jeweils nicht in Totalität.

Das heißt, dass Wirkkräfte des Handelns die wechselwirkenden Faktoren beeinflussen können, aber nicht mit ihnen identisch sind. Beide haben also eine gewisse Unabhängigkeit, es besteht keine totale Differenz und keine totale Identität: Wir können durch unser Handeln aktiv auf vernetzte Systeme der Selbststeuerung einwirken, damit steuern wir selbst unseren Buddha-Weg.
Nur auf den den ersten Blick scheint der Vers in sich widersprüchlich zu sein: Handeln sei weder total mit noch ohne Wechselwirkung kausal gebunden. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass das nicht der Fall ist, denn unser Handeln ist gerade auch unsere mögliche Freiheit der Selbststeuerung. Nāgārjuna behandelt die Frage, wie aktives Handeln und geistige Aktivitäten mit dem bisher Dargestellten und den wechselwirkenden Faktoren zusammenhängen. Die Formulierung, dass die Kausalität der Wirkkräfte mit wechselwirkenden Faktoren sowohl besteht als auch nicht besteht, bedeutet meines Erachtens, dass die Kausalität über eine Eigenständigkeit verfügt, also nicht durch das System der wechselwirkenden Faktoren total determiniert ist, ganz gleich ob sie im Gleichgewicht sind oder nicht. Die Extreme der absoluten Freiheit und der absoluten Determiniertheit werden von Nāgārjuna demnach ausgeschlossen. Unsere Wirkkräfte treten in Wechselwirkung mit den vernetzten Systemen der Welt und können Ergebnisse und schlechte oder gute „Früchte“ erzeugen, zum Beispiel die Überwindung des Leidens und die Emanzipation von falschen Bindungen.
Es besteht eine relative, aber nicht totale Unabhängigkeit, aber auch eine relative Verbindung zwischen aktivem Handeln und dem in sich vernetzten und wechselwirkenden System. Durch unsere eigene Einwirkung mit Handeln und gewollten Veränderungen ergibt sich für uns ein „gemeinsames Gelingen in Wechselwirkung“ – und damit ein gutes Leben. Dieser Zusammenhang ist ein zentraler Schlüssel des Buddhismus: Wir Menschen haben eine relative Freiheit und Möglichkeit zur Emanzipation unseres Körper-und-Geistes durch unser Handeln und können zum Beispiel Heilvolles bewirken und Unheilvolles verhindern. Aber wir können nicht unsere gesamte Umwelt schlagartig verändern, sondern haben das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung zu beachten. Nāgārjuna vertieft diese wichtigen Erkenntnisse an mehreren Stellen im MMK.
Besonders stark ist diese Thematik im Zen-Buddhismus ausgeprägt, bei dem das Handeln im Augenblick das zentrale Moment des Lebens auf dem Weg zur Wahrheit ist. Reden, Schreiben und Denken kann man vieles, das utopisch, illusionär oder ideologisch sein kann, aber das Handeln im Augenblick ist eine sehr hohe Stufe der Wirklichkeit und der Freiheit. Dabei ist die Trennung von Subjekt und Objekt unwirksam und aufgehoben; das ist die Überwindung des Dualismus. Es besteht dann eine relative Unabhängigkeit von den Bedingungen des Lebens, und genau dies ist die Freiheit und Aufgabe des Menschen. Ein erleuchteter Mensch hat diesen Freiheitsraum zu einem Maximum erweitert. Wenn das Leben durch andere Menschen oder Gegebenheiten vollständig determiniert und festgelegt ist, kann man sich nicht entwickeln und ist unfrei. Dies führt immer zu Schmerzen und Leiden.
Allerdings gibt es weder die absolute Freiheit noch die totale Abhängigkeit im Leben, aber immer gibt es kreative Momente der Freiheit und Entscheidung, um den Mittleren Weg zu gehen. Wir sollten die Kraft zur Selbststeuerung mit Ausdauer entwickeln und die Befreiung verwirklichen. Darauf kommt Nāgārjuna in den folgenden Kapiteln des MMK immer wieder zu sprechen.

Vers 1.5
Es heißt: „Wechselwirkend mit den Faktoren entsteht etwas.“ Diese genannten wechselwirkenden Faktoren sind gewiss solche des Entstehens.
Solange aber nichts entsteht, gibt es auch keine wechselwirkenden Faktoren.
Wie ist das zu verstehen?

Die genannten Faktoren sind keine isolierten, unabhängigen Entitäten, also fiktive Substanzen, sondern kennzeichnen die Interaktion und Wechselwirkung im Prozess des Entstehens.
Nāgārjuna setzt in diesem Vers seine Argumentation aus der Präambel fort, dass Entstehen und Werden charakteristisch für die Wirklichkeit sind. Dabei wirken die einzelnen Faktoren zusammen und gerade dadurch wird komplexes Entstehen möglich. Wenn man dagegen von einem statischen Weltbild ausgeht, in dem nichts entsteht, ist es auch sinnlos, von wechselwirkenden Faktoren und Bedingungen zu sprechen. Diese Doktrin eines statischen Weltbildes wurde von Nāgārjuna bereits destruiert. Mit diesem Vers hat er eine Kernaussage für das gesamte MMK geleistet und sich in aller Klarheit von einem statischen, erstarrten und spekulativ-metaphysisch geprägten Weltbild des Buddhismus distanziert. Abschließend fordert er uns mit seiner Frage auf, eigenständig und reflektierend seinen Ausführungen nachzugehen.
Der Philosoph Gadamer hat darauf hingewiesen, dass kein wahres Gespräch entsteht und auch nicht von der Gegenwart in die Zukunft offen ist, wenn die Ergebnisse vorher festgelegt sind. Dann gäbe es keine Wechselwirkung, keine Freiheit und keine Kreativität. Es sollte auch zeitlich möglichst nicht begrenzt sein. In der Tat ist ein gutes Gespräch das beste Beispiel für gelungene Wechselwirkung und Empathie. Durch Machtansprüche, Überheblichkeit, Stolz, Ich-Bezogenheit und Egoismus, aber auch und gerade durch dogmatische statische Weltanschauungen und Doktrinen würde es unmöglich gemacht werden.

Vers 1.6
Ein wechselwirkender Faktor passt eben weder für ein bereits dauerhaft existierendes und unabhängiges Ziel noch für ein nicht-existierendes Ziel.
Wer sollte den wechselwirkenden Faktor für ein nicht-existierendes Ziel haben? Und wozu sollte es einen solchen Faktor für ein bereits existierendes Ziel geben?

Zwecke und Ziele, die wir uns setzen, sind ebenfalls keine isolierten unabhängigen Entitäten, sondern machen nur durch Wechselwirkung und kausale Beziehungen Sinn. Sie sollten nicht unveränderlich, absolut und statisch, sondern zusammen mit der tatsächlichen konkreten Situation flexibel sein.
Nāgārjuna greift nun die wichtige Frage nach Zielen, Zwecken und Ergebnissen in unserem Leben auf, also auch nach unserem eigenen Sinn des Lebens und unserem Lebenszweck. Es geht dabei außerdem um den Willen, das Leben zu planen, zu gestalten und zu verändern. Aber er lehnt es ab, dass es irgendein isoliertes angestrebtes Ergebnis ohne Zusammenhang mit uns selbst und mit der Umwelt geben würde.
Wenn alle Dinge und Phänomene nach einer absoluten statischen Philosophie dauerhaft und unveränderlich existieren würden und aus sich selbst heraus festgelegt wären, müsste dies auch für Ziele und Ergebnisse gelten. Daraus ergibt sich die eigenartige Schlussfolgerung, dass Ergebnisse und Ziele isoliert, dauerhaft, unveränderlich und unsichtbar vorhanden sein müssten, also nicht durch Beobachtung erkennbar wären (Doktrin des Substantialismus). Sie müssten in irgendeiner Weise als fertige Entitäten und Substanzen zu den wechselwirkenden Faktoren hinzukommen oder bereits in ihnen enthalten sein. Das ist nicht überzeugend und würde die Determiniertheit des Lebens auf Dauer verfestigen.
Wer tragende Entscheidungen in seinem Leben treffen will, muss selbstverständlich Ziele haben und zu guten Ergebnissen kommen. Die Ziele dürfen allerdings weder dogmatisch sein noch im krassen Widerspruch zueinander stehen, weil das zu Verunsicherungen und Handlungsunfähigkeit führt. Sie dürfen auch nicht vordergründig, ohne Ethik und nur zum eigenen Vorteil bestimmt sein, und wir sollten uns nicht voreilig auf unklare und unerreichbare Ziele festlegen, denn das führt zu herben Enttäuschungen.
Je grundsätzlicher die eigenen Veränderungs- und Lernprozesse angelegt werden, desto weniger lassen sich enge, zu konkrete Ziele und deren Ergebnisse bestimmen. Ziele und Ergebnisse werden bewusst oder unbewusst von uns selbst gesetzt, sie sind keine vorher existenten Fakten in der Wirklichkeit. Meist geht es eher um eine Richtung, in die wir uns entwickeln wollen. Ein typisches negatives Beispiel wäre die übermäßig starke Fixierung auf das Ziel der Erleuchtung, was häufig zu illusionären vordergründigen Erwartungen führt. Das Ziel stimmt dann gerade nicht mit dem wirklichen Erleben der Erleuchtung überein, weil man vorher noch nicht die notwendige Klarheit und keine Erfahrung haben kann. Erleuchtung ist anders, als man sie sich romantisch erträumt. Darauf hat Nishijima zu Recht nachdrücklich hingewiesen.
Dōgen sieht das Hauptziel des Lebens in der Suche nach der Wahrheit und deren Verwirklichung. Er meint aber keine absolute Wahrheit, sondern das Gegenteil von Verblendung, Dumpfheit und falscher Sichtweise. Ein solches Ziel ist in der Tat eher allgemein gehalten, aber dadurch auch leistungsfähig, um sich in verschiedensten Lebenssituationen gut entwickeln und bewegen zu können. Dann gibt es auch keine Rückschläge, Misserfolge und Fehlleistungen, sondern gute Lernprozesse auf dem Weg der Mitte, der nicht linear und unidirektional verläuft. Wir haben laut Buddha das Potenzial zum Erwachen und zur Erleuchtung, aber ein Potenzial ist kein Ding und keine Entität, sondern die Verwirklichung je im Augenblick. Die Erleuchtung ereignet sich, wenn die wechselwirkenden Faktoren genauso im Augenblick da und wirksam sind.

Vers 1.7
Was bedeutet es, wenn sich weder ein existierendes, noch ein nicht-existierendes Dharma (Ding oder Phänomen) entfaltet? Und wie entfaltet sich ein zugleich existierendes und zugleich nicht-existierendes Dharma?
Wie passt das zusammen mit einer solchen sich entfaltenden Kausalität, die auf diese Weise existiert? 

Wenn man annimmt, dass Dinge und Phänomene als Entitäten oder Substanzen dauerhaft und unveränderlich existieren, macht eine einwirkende Veranlassung oder Kausalität keinen Sinn. Das gilt für alle vier logisch möglichen Alternativen der Dharmas.
In diesem Vers geht es zunächst um die Frage, wie sich ein Dharma, also ein Ding oder Phänomen, entfalten kann und wirklich entfaltet. Nāgārjuna stellt fest, dass alle möglichen logischen Varianten der Existenz des Dharma sich nicht entfalten, das heißt, dass die Dharmas nicht fähig zur Veränderung und Entfaltung sind. Damit bezieht er sich auf die Doktrin eines unveränderlichen und statischen Weltbildes (Substantialismus).
Der zweite Teil behandelt die Frage, wie auf solche Dharmas eingewirkt werden kann, welche Beziehung zu einem Ereignis der Veranlassung und Kausalität besteht und welcher Zusammenhang der Dharmas mit den Funktionen von Veranlassung, Verursachung und Kausalität zu beobachten ist. Dass es zu einem nicht-existierenden Dharma keine Beziehung der Kausalität geben kann, leuchtet sicher jedem ein. Aber auch bei einem existierenden, jedoch absoluten unveränderlichen Dharma ist dies nicht möglich.
Die Kausalität und der Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen gehören zu den zentralen Lehren des Buddhismus, für eine Doktrin der unveränderlichen Dharmas sind sie nicht gültig. Nāgārjuna widerlegt in seiner Argumentation absolute Ur-Einheiten und die isolierte Existenz der Dharmas. Sie können sich in der Wirklichkeit gar nicht entfalten und sind in der wirklichen Welt nicht vorzufinden. Verändernde und verursachende Faktoren hätten überhaupt keinen Einfluss auf solche Dharmas. Daraus folgert er, dass es sie nicht geben kann und dass eine solche Vorstellung für die buddhistische Befreiungslehre kontraproduktiv wäre.

Vers 1.8
Es wird aufgezeigt, dass ein so unveränderliches existierendes Dharma, Ding oder Phänomen, keine Stütze als wechselwirkenden Faktor hat.
Woher soll wiederum eine Stütze kommen, wenn das Dharma keiner Stütze bedarf, also isoliert und unveränderlich ist?

In diesem Vers wird die sogenannte stützende Bedingung der Umgebung und Umwelt behandelt. Nāgārjuna knüpft hier an den zweiten Vers an und untersucht die wechselwirkenden Faktoren sowie deren Bedingungen und Funktionen eingehender. Wenn die Dharmas wie in der bereits von ihm falsifizierten Doktrin des Substantialismus als absolut existierend, unveränderlich, isoliert und aus sich selbst entstanden gedacht werden, sind stützende Faktoren bedeutungslos. Sie machen nur Sinn, wenn die Dharmas als veränderlich und wechselwirkend verstanden und erfahren werden. Stütze und Dharma sind wechselseitig verbunden. Ein isoliertes Dharma bedarf keiner Stütze. Nishijima Roshi interpretiert dies hauptsächlich als Ideologie des Materialismus.

Vers 1.9
Es ist nicht möglich, dass die Dharmas zur Ruhe kommen, wenn sie gar nicht entstanden sind.
Entstehen und Zur-Ruhe-Kommen haben keinen trennenden Zwischenraum, sondern sind verbunden.
Und welchen wechselwirkenden Faktor gibt es in etwas, das zur Ruhe gekommen ist?

Wenn etwas zur Ruhe gekommen ist, hat die Wechselwirkung des Entstehens und Vergehens keine Bedeutung mehr. Aber zwischen Entstehen und Zur-Ruhe-Kommen gibt es ein Andauern und damit eine Verbindung. Entstehen und Zur-Ruhe-Kommen folgen nicht direkt aufeinander, sind aber indirekt verbunden. In diesem Vers steht der bedingende wechselwirkende Faktor der prozesshaften Folge von Ereignissen, die keine Unterbrechungen haben, im Mittelpunkt.
Wenn die Dharmas als schon immer existent gedacht werden, kann ein Zusammenhang zu prozesshaften Veränderungen nicht hergestellt werden, es kann dann keine zeitlich zusammenhängende Abfolge von ihnen geben. Wer derartige statische Eigenschaften dieser Welt und des Menschen annimmt, kann keine praktische Lebensphilosophie der Befreiung, der Weiterentwicklung oder gar der Erleuchtung begründen und steht nicht zuletzt in krassem Widerspruch zu dem, was beobachtet werden kann. Ohne Prozesse und Wechselwirkungen gibt es auch keine Abfolge von Zuständen, zum Beispiel bei der Interaktion und beim Dialog zwischen Menschen. Bei der Weltanschauung des Momentanismus sind prozesshafte verbindende Vorgänge ebenfalls ausgeschlossen, da er eine zeitliche Abfolge von Ereignissen ohne Andauern der Dharmas behauptet. Dieses Problem wird in einem späteren Kapitel noch genauer untersucht.
Der Buddhismus lehrt in aller Klarheit eine Abfolge von Dharmas, die sich verändern und nacheinander entstehen, bestehen bleiben und wieder vergehen.

Vers 1.10
Es wird keine unveränderliche Existenz des Seienden in der Welt gefunden. Sie müsste nicht aus sich selbst entstanden sein, um wirklich zu sein.
Dann ist aber Folgendes nicht möglich: „Wenn dieses unveränderlich existiert, dann wird jenes“.

Etwas unveränderlich Existierendes kann nicht werden und nicht entstehen. Die Wirklichkeit von Dharmas, die aus sich selbst entstanden seien, wurde bereits falsifiziert.
In diesem Vers stellt Nāgārjuna die Unmöglichkeit dar, dass eine als absolut angenommene dauerhafte Existenz oder Substanz mit dem buddhistischen Ansatz des Entstehens, Andauerns und Vergehens, also der Weiterentwicklung, zusammenpasst. Wie bereits in der Präambel deutlich gemacht wird, entsteht und vergeht auf dieser Welt alles gemeinsam und vernetzt in Wechselwirkung. Diese Grundannahme ist die notwendige Voraussetzung für alle Lern-, Befreiungs- und Erleuchtungsprozesse.

Vers 1.11
Es existiert keine isolierte, unabhängige Frucht aus den wechselwirkenden Faktoren, die getrennt oder verbunden sind.
Wie könnte aber aus wechselwirkenden Faktoren etwas werden, das nicht schon als Entität in ihnen enthalten ist?

Das wäre nur möglich, wenn man isolierte unveränderliche Entitäten annimmt, die Früchte also als isolierte Substanzen versteht. Hier wird dagegen die zentrale buddhistische Lehre der Ergebnisse und Früchte unseres Handelns angesprochen: Gutes Handeln bringt gute Früchte, und schlechtes Handeln bringt schlechte Früchte. Das Thema ist also die Verbindung zwischen Handeln, Ergebnis, Verantwortung und Ethik.
Dazu gab es zur Zeit Nāgārjunas vor allem zwei fehlerhafte Doktrinen: Die Frucht sei schon vorher als Entität fertig und identisch in den bedingenden Faktoren enthalten, oder sie sei total getrennt und verschieden von diesen Faktoren. Beide Doktrinen basieren auf der Vorstellung unveränderlicher dinghafter Früchte und werden von Nāgārjuna verworfen. Solche Ur-Früchte wären nicht mit dem Handeln verknüpft, und sie könnten weder entstehen, sich verändern noch vergehen. Derartige Vorstellungen werden von ihm durch den Ansatz der Wechselwirkung ersetzt. Dieser entspricht der beobachtbaren Wirklichkeit, in der es isolierte unveränderliche Entitäten nicht gibt. Totale Identität und totale Differenz sind Extreme, die mit der Realität nicht übereinstimmen.
In der buddhistischen Lehre hat die Frucht auch eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem Karma. In einem vereinfachten volksbuddhistischen Modell der Wiedergeburt kommt dem Menschen die Frucht des vorangegangenen Handelns wie eine Entität direkt zugute oder sie belastet ihn. Es wird gelehrt, dass ein Mensch, der es in diesem Leben gut hat und zum Beispiel wohlhabend und gesund ist, sich dieses gute Karma in einem früheren Leben erarbeitet hat. Wer ein schweres Leben hat und arm sei, habe ein schlechtes Karma und könne das kaum ändern. Entsprechend gilt, wer in diesem Leben moralisch minderwertig handelt, wird danach im nächsten Leben ein schlechtes Karma mitbringen und Probleme haben. Auch bei dieser Vorstellung hat die Frucht etwas Dinghaftes. Nāgārjuna lehnt diese simple Anschauung ab und wird ein klareres „Modell“ vorstellen.
Allerdings besteht bei der Frucht zweifellos eine enge Verbindung zum Handeln und zur Ausgangslage, also zu den Bedingungen und Wechselwirkungen der gesamten Situation. In diesem Vers stellt Nāgārjuna die äußerst wichtige Frage, wie eine solche Verbindung und ein solcher Zusammenhang wirken können. Er betont, dass in den vier wechselwirkenden Faktoren – sie mögen einzeln oder miteinander kombiniert vorhanden sein – keine unveränderliche Frucht als isolierte Substanz oder Entität existiert.
Auch Nishijima Roshi hat eine relativ kritische Einstellung zum Konzept einer Frucht. Er sagt, das Handeln selbst sei das Wichtige und die Wirklichkeit. Das Ergebnis, die Frucht, ergibt sich demnach wie von selbst aus dem guten oder schlechten Handeln, und wer klar im Handeln ist, benötigt keine Doktrin von einer konkreten verdinglichten oder gar vorher existenten Frucht. Dadurch würde das angestrebte Ergebnis nur verschlechtert, und es würde sich sogar die Frage stellen, ob es ein dinghaftes absolutes Ergebnis überhaupt in der Wirklichkeit gibt. Das muss verneint werden. Überdies entstehe die Vorstellung eines Ergebnisses oder einer Frucht im menschlichen Denken als Vergleich mit einem vorherigen Zustand, insofern sei die Frucht ebenfalls das Ergebnis des Denkens und keine Wirklichkeit. Ich folge ihm darin, dass die Fixierung auf das Ergebnis, auf die Frucht, wenig sinnvoll ist und sogar das Handeln selbst beeinträchtigt oder unmöglich machen kann.

Vers 1.12
Sodann müsste sich danach auch eine nicht existierende und damit nicht wirkliche Frucht aus diesen wechselwirkenden Faktoren entwickeln.
Weswegen setzt sich die Frucht nicht auch von nicht wechselwirkenden Faktoren her in Gang?

Eine Frucht oder ein Ergebnis ist ohne verursachende Kausalität und Wechselwirkung nicht möglich. Und eine nicht existierende Frucht gibt es natürlich nicht.
Nāgārjunas Argumentation erscheint recht kompliziert und schwer verständlich. Er spricht hier von einer Frucht, die sich wirklich aus den einwirkenden Faktoren entwickelt, die also nicht im Sinne einer Doktrin schon immer existiert haben soll. Denn auch für die Frucht gilt der erste Vers dieses Kapitels, dass sie nicht aus sich selbst entstanden sein kann. Eine Frucht entwickelt sich schlicht und einfach aus den wechselwirkenden Prozessen und Faktoren, und ohne diese Faktoren kann es keine Frucht geben. Demgegenüber ist eine als vorhandene oder nicht vorhandene Entität oder Substanz gedachte Frucht ohne Bedeutung.

Vers 1.13
Eine wahre Frucht ist aus den wechselwirkenden Faktoren gemacht. Und diese Faktoren sind nicht aus sich selbst gemacht.
Welche Frucht entwickelt sich überhaupt, die nicht aus sich selbst gemacht ist, also wirklich ist. Wie ist diese Frucht aus wechselwirkenden Faktoren gemacht?

Das heißt, dass bei rechter Sichtweise die Frucht in Wechselwirkung und durch Kausalität entsteht und nicht isoliert aus sich selbst entstehen kann. Dann sind auch die wechselwirkenden Faktoren wirklich.
Diese Aussagen stellen die Beziehung zwischen einer realen Frucht und den realen wechselwirkenden Faktoren her. Sie sind als Fragen an die Leser formuliert: Welche wirkliche Frucht kann es geben? Kann es eine als Substanz isolierte, unveränderliche Frucht sein? Und welche wirklichen wechselwirkenden Faktoren gibt es? Die unwirkliche Frucht und die unwirklichen Faktoren sind dadurch gekennzeichnet, dass sie aus sich selbst entstanden und gemacht sein sollen. Wie schon im ersten Vers erklärt wird, ist das unmöglich. Eine als unveränderlich gedachte isolierte und aus sich selbst gemachte Frucht kann nicht aus wirklichen Faktoren entstehen. Eine solche Frucht ist in der Wirklichkeit nicht zu finden. Nāgārjuna stellt fest, dass eine Frucht, wie sie in der Wirklichkeit beobachtet werden kann, durchaus aus den wechselwirkenden Faktoren entsteht, aber dann ist sie nicht isoliert, absolut und unveränderlich wie eine Entität.
Damit kommt er zur zentralen Frage, die er im MMK von verschiedenen Perspektiven aus behandelt: Welche Kausalität zwischen unserem Handeln und dem, was es bewirkt, ist in der Wirklichkeit zu beobachten? Er wird darauf zum Beispiel in den Kapiteln über Akteur und Handeln, über das Karma und die Vier Edlen Wahrheiten, über die Leerheit und das Nirvāna noch ausführlicher eingehen.

Vers 1.14
Deswegen wird keine isolierte absolute Frucht erkannt, ganz gleich, ob sie aus wechselwirkenden realen Faktoren gemacht oder nicht aus wechselwirkenden Faktoren gemacht ist.
Wenn aber eine Frucht etwas Nicht-Seiendes ist, fragt sich: Woher gibt es dann überhaupt wechselwirkende Faktoren und das Gegenteil, die nicht-wechselwirkenden Faktoren?

Eine solche Frucht als substanzhaft Seiendes, als Eigen-Substanz, kann nicht erkannt werden. Eine wirkliche Frucht ist unauflösbar mit wirklichen wechselwirkenden Faktoren verbunden. Sie ist keine isolierte dauerhafte Entität, wie die altindischen Veden besonders für die Folge der Wiedergeburten lehrten.
Nāgārjuna sagt hier, dass überhaupt keine isolierte unveränderliche substanzhafte Frucht in der Welt erkannt werden kann. Dementsprechend ist auch die Frage nach der Beziehung zu den vorhandenen oder nicht vorhandenen wechselwirkenden Faktoren sinnlos. Damit kommt er zum Resümee des ersten Kapitels, dass die buddhistischen Früchte, zum Beispiel die wirkliche Erleuchtung und die wirkliche Überwindung des Leidens, in der lebenden Wechselwirkung entstehen und nicht in irgendeiner Weise schon immer existieren oder in Zukunft unverändert existieren werden, denn dann wären sie unveränderliche, unverbundene Entitäten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen und keinen Bezug zur Befreiung und Emanzipation des Menschen haben. Das wären fiktive Eigen-Substanzen.
Die metaphysische absolute Weltanschauung, aus der eine solche unveränderliche Ewigkeit der Früchte abgeleitet werden könnte, geht von der angenommenen Wirklichkeit bereits vorhandener unveränderlichen Ur-Ideen, Ur-Wesen bzw. Ur-Dharmas aus. Aus diesen unsichtbaren Substanzen würden nach dieser Doktrin die sichtbaren konkreten Dinge und Phänomene dieser Welt hervorgehen, sie wären als innere Substanz bereits in den verschiedenen Manifestationen enthalten, aber das ist unmöglich.
Eine solche ontologische Weltanschauung mag zwar intellektuell interessant sein für die philosophischen Fragen „Was ist?“ und „Was existiert?“ oder das Gegenteil „Was ist nicht?“ und „Was existiert nicht?“. Laut Buddha und Nāgārjuna hat dies für unseren Befreiungs- und Emanzipationsprozess jedoch keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung. Es handelt sich dabei sogar um Extreme, die weder Wichtiges über die erfahrbare und beobachtbare Wirklichkeit aussagen, noch die Grundlage für Erweiterungs- und Entwicklungsprozesse des Menschen sein können. Nach Buddhas Lehrrede für Kaccāna (siehe Kapitel 2 des vorliegenden Buches) führt eine solche falsche Sichtweise zur „ganzen Masse des Leidens“.
In seiner typischen Argumentationsweise stellt Nāgārjuna abschließend fest, dass eine Frucht mit substanzhaftem, unveränderlichem Charakter nicht erkannt werden kann. Dies sei unabhängig davon, ob es wechselwirkende Faktoren gebe oder nicht, aus denen sie gemacht werden oder sich entwickeln könnte. Obgleich es also die in der Wirklichkeit beobachtbaren und erfahrbaren wechselwirkenden Faktoren gibt, kann es eine solche substanzhafte und quasi dinghafte Frucht als Eigen-Substanz nicht geben. Vor diesem Hintergrund ist bei dem Begriff „Frucht“ genau zu hinterfragen, ob er etwas dinghaft Abgegrenztes suggeriert, das man isoliert transportieren und weitergeben kann, nachdem die Frucht einmal gewachsen und gereift ist, und ob dies auf das Ergebnis des menschlichen Handelns überhaupt zutrifft oder ein zu simples Modell ist.

Ergebnis
Für unseren Weg der Befreiung benötigen wir verlässliche Fakten und Grundlagen über die Wahrheit des Lebens, sonst folgen wir irgendwelchen spekulativen Versprechen, die nicht einzulösen sind und werden enttäuscht. Diese Grundlagen für Wahrheit und Ethik finden wir bei Buddha und Nāgārjuna. Sie verstehen die Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und bauen darauf den Weg des Menschen als Prozess der Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung auf. Dazu gehört auch die Meditation, zum Beispiel des Zazen: die Entleerung des Geistes von Störungen durch Denken, Gefühle, Willen und Planungen, also auch von Verhärtungen, Vorurteilen und schädlichen Doktrinen.
Im ersten Kapitel des MMK widerlegt Nāgārjuna überzeugend verschiedene Dogmatisierungen, naiven Volksbuddhismus, Populismus und unnötige intellektuelle Verwirrungen. Es bildet die Grundlage für seine folgenden scharfsinnigen Analysen. Er möchte der doktrinären Erstarrung des Buddhismus seiner Zeit entgegentreten, enttarnt mit großer Lebenserfahrung und präziser Gedankenführung die Fehlentwicklungen und schafft Raum für neue fruchtbare Entwicklungen. Aus meiner Sicht geht er dabei als De-Konstruktivist[vii] vor: Er destruiert verzerrte und unklar gewordene Begriffe und Vorstellungen wie eine fiktive Eigen-Substanz, um anschließend konstruktiv eine bereinigte und klare buddhistische Lehre und Praxis vorzulegen. Dies war in seiner Zeit umso wichtiger, weil ein wiedererstarkender absolutistischer Glaubens-Brahmanismus, der von der authentischen Lehre der Befreiung und Emanzipation eklatant abgewichen war, nach einer gewissen Integration von bestimmten buddhistischen Elementen den Buddhismus selbst unter Druck setzte.
Der falsche Glaube, dass irgendetwas in der Welt total aus sich selbst entstanden sei, wird durch die Realität nicht bestätigt. Alles entsteht in Wechselwirkung und ist miteinander vernetzt. Es gibt kein magisches Ur-Entstehen aus sich selbst. Dies wird eindeutig durch die heutige Psychologie und Gehirnforschung nachgewiesen. Zu den vier Faktoren dieser Wechselwirkungen zählen die kausale Veranlassung, dass überhaupt etwas Bestimmtes passiert, Stützen (zum Beispiel der materiellen Umgebung), die zeitliche Abfolge der Prozesse und etwas Übergeordnetes, wie zum Beispiel der Sinn des Ganzen. Weitere Faktoren gibt es nach Nāgārjuna nicht. Sie sind direkt nachvollziehbar und befinden sich im Einklang mit der modernen Systemtheorie.
Durch unseren eigenen Willen und unser eigenes Handeln, also durch unsere Kräfte und Energien, können wir auf die genannten Faktoren in der Vernetzung einwirken. Wir müssen also nicht alles passiv erdulden und hinnehmen, sondern können aktiv mithilfe von Prozessen, die wir selbst steuern, eingreifen. Dabei sind gute Lehrer besonders hilfreich, schlechte aber sehr gefährlich, wie auch Zen-Meister Dōgen betont.
Wenn bei uns selbst und in der Welt dagegen nichts entsteht, also Statik oder Erstarrung vorherrscht, gibt es keine Überwindung des Leidens und keine Veränderungen zum Guten. Wir wissen heute auch, dass dadurch eine frühe Demenz eintreten kann. Dann verkümmern unser Geist und unser neuronales Netz immer mehr. Das passiert, wenn man Doktrinen nicht hinerfragt und nicht genau beobachtet, ob sie unser Leben verbessern, unabhängig davon, ob sie uns als heilig verkündet werden oder nicht. Denn: Statische Weltbilder und absolute Glaubenssätze werden nicht zuletzt von den jeweils herrschenden Eliten behauptet, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Art. Im alten Indien war eine solche Elite die Kaste der Brahmanen. Sie wollten die eigenen Privilegien durch absolute Doktrinen einer unveränderlichen Ewigkeit absichern.
In diesem Kapitel geht es auch um die wichtigen Fragen, was wir in unserem Leben realistisch erreichen und erzielen können, welche Ergebnisse wir sinnvollerweise anstreben sollten und welche romantischen Utopien uns schaden. Dafür wird in der Psychologie der Begriff Selbstwirksamkeit verwendet. Wir müssen uns davor hüten zu glauben, dass ein erwünschtes Ergebnis ohne Veränderungen und Wechselwirkungen gewissermaßen „vom Himmel fällt“, so als ob es schon fertig irgendwo vorhanden wäre. Diese Vorstellung würde zeitliche Prozesse außer Acht lassen und ein Ergebnis wie ein isoliertes unveränderliches Ding betrachten. Das ist jedoch irreführend und realitätsfremd. Es ist die behauptete Scheinwelt von weltlichen und religiösen Populisten,  die es leider auch im Buddhismus gibt.
In der vorbuddhistischen indischen Philosophie wurde angenommen, dass die Welt aus ewigen unveränderlichen Elementen aufgebaut sei. Nāgārjuna beweist in diesem Kapitel jedoch, dass wir uns die Dharmas nicht als unveränderliche und unteilbare Atome und Ideen vorstellen können. Eine solche absolute Philosophie kann Wechselwirkungen, Prozesse und Veränderungen der Realität nicht sinnvoll erklären, sie ist daher mit Buddhas Lehre und unserer Erfahrung der sich entwickelnden Veränderungen nicht vereinbar. Solche Doktrinen sind für unsere geistigen und psychischen Prozesse der wirklichen Befreiung, Emanzipation und Entwicklung völlig unbrauchbar und sogar gefährlich.
Damit legt Nāgārjuna die Grundlagen für die Lehre des Mittleren Weges der Wechselwirkungen, Kausalitäten, Lebensziele und der realistischen Ergebnisse. Er schildert, wie es möglich ist, ein gelungenes Leben zu führen und Befreiung zu erlangen. Das ist das Kernstück des MMK. Leitlinie und Hintergrund des Textes sind Buddhas authentische Schlüssellehren und -begriffe.
Im Buddhismus geht es um positive Veränderungen, deren Ergebnisse auch als Früchte bezeichnet werden. Im Volksbuddhismus gibt es zudem den Glauben und die Hoffnung, dass diese Früchte einfach und unverändert von einem Leben durch die Wiedergeburt zum nächsten weitergegeben werden. Dabei werden die Früchte als isolierte Dinge (Entitäten) und Eigen-Substanzen beschrieben, auf die Wechselwirkungen nicht zutreffen würden. Nāgārjuna destruiert einen solchen simplen Glauben und warnt uns eindringlich davor, so etwas unreflektiert zu übernehmen, da es nicht mit der erfahrbaren Wirklichkeit übereinstimmt und uns letzten Endes schaden kann. Es führt dann zu Enttäuschungen und Stillstand, und wir kommen auf dem Weg der Befreiung nicht voran. Nicht ein fernes isoliertes und erträumtes Ergebnis ist der Mittlere Weg der Überwindung von Hindernissen und Blockaden, sondern unser reales Handeln im konkreten Hier und Jetzt!




[i] Spitzer, Manfred; Bertram, Wulf: Hirnforschung für Neu(ro)gierige
[ii] Dürr, Hans-Peter: Geist, Kosmos und Physik
[iii] Kalupahana, David J.: Causality: Central Philosophy of Buddhism
[iv] vgl. in der Philosophie: Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz
[v] Kalupahana, David J.: Causality: Central Philosophy of Buddhism
[vi] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie
[vii] Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie

Samstag, 8. Februar 2020

Mittlerer Weg: Klare Sinne und klare Wahrnehmung

(Aus meinem Buch: "Sternstunden des Buddhismus Band 1")




Hinführung

Nāgārjuna misst den Sinnesorganen des Menschen große Bedeutung für den buddhistischen Weg der Befreiung bei. In diesem Kapitel untersucht er daher folgerichtig falsche und ungenaue Vorstellungen sowie Doktrinen der Funktionen und Tätigkeiten unserer Sinne. Kurz gesagt nimmt er die Destruktion der vorbuddhistischen vedischen Doktrinen, aber auch der ungenauen und verfestigten buddhistischen Weltanschauungen seiner Zeit vor. In der vorbuddhistischen Zeit galt es sogar als spirituelles Ziel, die Sinnesorgane auszuschalten, um dadurch zur Allwissenheit zu gelangen. Noch heute trainieren Yogis, keine Schmerzen zu empfinden, wenn sie sich zum Beispiel lange Nadeln quer durch die Wangen stoßen.

Im Gegensatz dazu unterstreichen Buddha und Nāgārjuna ein pragmatisches Verständnis der Wahrnehmung, das der Wirklichkeit entspricht. So öffnet sich der Weg für das Verständnis des guten und möglichst fehlerfreien Funktionierens unserer sinnlichen Wahrnehmung. Das ist De-Konstruktion der präzisen Wahrnehmung, die frei von metaphysischen Verzerrungen ist. Das bedeutet, dass sich Nāgārjuna nicht in idealistischen, doktrinären und festgefahrenen Bereichen des Buddhismus verliert, etwa in den Doktrinen der Substantialisten und Momentanisten, sondern ganz konkret eine gute Bodenhaftung zur Wirklichkeit beibehält: Das ist die Dynamik des Lebens hier und jetzt.
In der authentisch überlieferten Lehre Buddhas über die Wahrnehmung hat zum Beispiel im Sūtta „Grundlagen der Achtsamkeit“ das Training der Sinnesorgane zu Recht eine sehr große Bedeutung.[i] Es wird zwischen den Bereichen der Sinnesorgane wie Augen, Ohren und Nase, den Vorgängen und Prozessen der Sinneswahrnehmung sowie den Bereichen der Objekte unterschieden. Eine absolute Unterteilung und Differenz zwischen Subjekt, Prozess und Objekt ist allerdings für die weiterführenden, vertiefenden Überlegungen Nāgārjunas ungeeignet. Sie entspricht nach seiner Überzeugung – und auch meiner – gerade nicht dem Buddhismus Gautama Buddhas.

Aber wir dürfen nicht bei der Destruktion stehen bleiben. So eröffnet Buddha neue wichtige Dimensionen für unseren Befreiungsweg. Dabei geht es nicht nur um die Überwindung des Leidens, sondern vor allem um die Verwirklichung der Erleuchtung und um die hierfür erforderlichen Funktionen unserer Wahrnehmung. Es ist ein Irrtum, die sinnliche Wahrnehmung als unwichtig und grundsätzlich fehlerhaft abzuqualifizieren. Das Gegenteil ist richtig: Durch Training und Achtsamkeit gewinnt die Wahrnehmung an Qualität für das Erkennen der Wirklichkeit und ist für den Befreiungsweg unbedingt erforderlich. In diesem Sinne schließen die Bereiche der Wahrnehmung direkt an das vorige Kapitel über das Gehen an, einem ebenfalls hoch komplexen Vorgang und Prozess.
Nāgārjuna untersucht in diesem Kapitel die Wahrnehmungsformen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens sowie die dazugehörigen Funktionen des Denkens, also deren „Denkbereiche“, vertieft anhand des Sehens. Auf der Grundlage der Wirklichkeit als gemeinsamem Entstehen in Wechselwirkung und der Prozessanalyse des Gehens behandelt er die möglichst unverstellte Wahrnehmung der Umgebung, in der wir leben, von uns selbst als „Subjekte“ und von anderen Menschen.

Übersetzung und Erläuterung der Verse
Vers 3.1
Die sechs Sinneskräfte und Prozesse der Wahrnehmung sind Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und das entsprechende Denken.
Deren Bereiche und „Tummelplatz“ sind das zu Sehende, das zu Hörende usw.

Der Vers zählt die Sinnestätigkeiten auf, die hier als Sinneskräfte oder in wörtlicher Übersetzung als Tummelplatz bezeichnet werden. Nach altindischer Tradition gehören dazu auch das Denken bzw. die auf die jeweiligen Sinnesprozesse bezogenen Denkbereiche des Sehens, Hörens usw. Die geistigen Tätigkeiten werden also auf die jeweiligen Wahrnehmungsbereiche und Prozesse bezogen, und es wird nicht allgemein vom Denken oder vom Geist gesprochen.

Die Erkenntnis der heutigen Gehirnforschung, dass es für die einzelnen Sinnestätigkeiten jeweils spezialisierte Teilsysteme und Module in unserem neuronalen Netz gibt, bestätigt den Ansatz Nāgārjunas. Diese Teilsysteme sind wiederum mit vielen anderen Bereichen des Gehirns vernetzt, zum Beispiel befinden sie sich in Wechselwirkung mit den Systemen des Bewusstseins, der Reflexion und Ethik, die vor allem im Frontalhirn lokalisiert sind. Daraus wird deutlich, dass es beispielsweise beim Sehen oder Hören erhebliche leistungsfähige Wechselwirkungen mit Bewusstsein und Ethik gibt, ethische Bewertungen und Entscheidungen also eingekoppelt werden.

Die Bedeutung der Wahrnehmung zeigt sich auch darin, dass zum Beispiel das Sehsystem etwa ein Drittel des Gehirns ausmacht und dementsprechend über eine außerordentlich hohe Leistungsfähigkeit bei der Informationsverarbeitung verfügt. Es leuchtet ein, dass der Aufbau und das Training des Sehsystems sehr wichtig sind. Die Datenmenge des eigentlichen Inputs beim Sehen hat dabei einen deutlich geringeren Umfang als die interne Informationsverarbeitung dieser Daten im Gehirn selbst. Nach der Verarbeitung im Gehirn werden die Informationen als Output zum Beispiel an die Motorik und Bewegungssteuerung weitergegeben. Die interne Informationsverarbeitung ist von großer Relevanz für das Leben in der Wirklichkeit, und ohne die externen Informationen verlieren wir eventuell die Verbindung zur Wirklichkeit.

Vers 3.2
Denn das Sehen sieht eben das eigene Selbst als Entität nicht.
Wenn aber das Sehen dieses eigene Selbst nicht sieht, fragt sich, wie es das Selbst des anderen sehen könnte.

Nāgārjuna hält sich nicht mit der spekulativen metaphysischen Frage auf, ob es überhaupt ein Substanz-Selbst oder einen ātman, die man wie eine Entität mit den Augen sehen könnte, geben kann. Ganz pragmatisch stellt er stattdessen fest, dass ein solches substanzhaftes Selbst nicht mit den Sinnesorganen gesehen werden kann.

Es ist zweifellos eine hohe spekulative Abstraktion, von einem absoluten Selbst, Ego, Ich oder ātman zu reden. Dies mag umgangssprachlich durchaus praktisch sein, aber wir sollten uns auf konkrete sichtbare Fakten beziehen, wenn es um vertiefte philosophische Analysen geht. Eine dauerhafte Essenz oder Substanz des Selbst ist eine Vorstellung und erlernte Abstraktion, die es nicht wirklich gibt. Demnach kann sie auch mit unseren Sinnesorganen nicht wahrgenommen werden, weder bei einem selbst noch bei anderen.
Dieser Vers verdeutlicht, dass das MMK sehr pragmatisch und phänomenologisch aufgebaut ist und damit eine große Nähe zum Zen-Buddhismus aufweist. 

Es geht nicht um Spekulationen und Illusionen, nicht um geglaubte, nicht hinterfragte „heilige“ Doktrinen, sondern um das, was konkret wahrgenommen und erfahren werden kann. Und in der Tat sind Entwicklungs- und Lernprozesse unauflösbar mit der Wahrnehmung verbunden, die immer feiner werden kann und muss, und mit der möglichst genauen Selbstbeobachtung beim Erleben und Erfahren. Buddha beschreibt diese Gegebenheit ausführlich im Sūtta „Grundlagen der Achtsamkeit“. Nāgārjuna und Dōgen zeigen aber auch, dass Buddhismus nicht vollständig durch Materialismus und die Naturwissenschaft zu erfassen ist, sondern darüber hinausgeht. Auch eine idealistische Sichtweise kann wie die materialistische nur eine Teilwahrheit erfassen.

Vers 3.3
Das Gleichnis des Feuers ist nicht hinreichend für das Zustandekommen des Sehens.
Ein solches Gleichnis des Sehens wurde durch die Aussagen zum Begangenen der Vergangenheit, der Gegenwart und noch nicht Begangenen der Zukunft untersucht.

Das historische Gleichnis vom Feuer trennt total zwischen Brennstoff und Flamme. Somit unterscheidet es sich fundamental vom Gehen als Prozess, der nicht zerteilt ist in Entitäten oder fiktive Eigen-Substanzen, sondern in Wechselwirkung abläuft, wie Nāgārjuna im vorigen Kapitel erläutert hat. Auch beim Feuer darf nicht absolut zwischen Zündstoff und Flamme unterschieden werden, denn beide befinden sich in Wechselwirkung miteinander. Nāgārjuna falsifiziert diese Meinung der fundamentalen Trennung. Wir sollen uns hinsichtlich des Sehens und der Wahrnehmung allgemein davor hüten, in unveränderlichen Entitäten zu denken. Es geht um Dharmas, Dinge und Phänomene, die in Wechselwirkung entstehen, und nicht um solche, die eine unsichtbare unveränderliche Substanz haben und erst durch bestimmte Merkmale sichtbar werden.

Die Destruktion des Substanz- und Entitätsdenkens hat ergeben, dass es weder ein Gehen, noch einen Geher oder das, was begangen werden kann, getrennt voneinander gibt. Ähnlich wie beim Gehen muss man auch beim Sehen von der Wechselwirkung des „Subjekts“, also hier dem „Seher“, dem Vorgang des Sehens und dem „Objekt“, das gesehen wird, ausgehen. Es handelt sich um einen zusammenhängenden Prozess, nicht um voneinander getrennte, isolierte Entitäten.

Den Seher, der zum Beispiel nicht sieht, gibt es also genauso wenig wie den Geher, der nicht geht. Der „Seher“ ist immer eine Abstraktion, die die Wirklichkeit dieses Prozesses nicht angemessen beschreibt. Letztlich ist ohne Veränderung in der Zeit eine präzise Aussage gar nicht möglich. Das Sehen kann nur ungenau nach der Vergangenheit erinnert und noch ungenauer für die Zukunft erwartet werden, denn dieser wahre Prozess vollzieht sich der Wirklichkeit entsprechend genau im Augenblick des Sehens.
Das alte Gleichnis des Feuers erschien Nāgārjuna nicht geeignet, um die Prozesse der Wahrnehmung wie das Sehen zu beschreiben. Aus unserer Sicht gilt dies darüber hinaus schon deshalb, weil es sich beim Feuer nicht um Menschen, soziale Gruppen und Lebewesen sowie deren Empathie, Leiden und Erleuchtung handelt, sondern um einen physikalischen und chemischen Vorgang, welcher der materiellen, unlebendigen Dimension der Welt angehört. Er hat nur begrenzte Aussagekraft für menschliche Vorgänge, Prozesse und Entwicklungen.

Vers 3.4
Was passiert, wenn irgendein Sehen, das gerade nicht sieht, nicht entsteht oder wird?
Und wie passt dazu die Aussage: „Das Sehen sieht“?

Ein unveränderliches eigenständiges Sehen als Substanz würde dauerhaft bestehen, auch wenn es gerade nicht sieht. Aber es entsteht nicht und vergeht nicht, weil es sich nicht verändern kann. Der erste Satz des Verses legt also offen, dass dieser Ansatz ohne Sinn ist, denn ein solches Sehen gibt es nicht.

Die Aussage „Das Sehen sieht“ erweist sich genauso wenig als sinnvoll wie die Aussage „Das Gehen geht“, denn auch dabei würde unterstellt, dass das Sehen eine unveränderliche Substanz oder Essenz ist. Wir sehen jedoch nur genau im Augenblick. Jede Substantialisierung und Vorstellung von Essenzen, dauerhaften Substanzen und Entitäten kann den wechselwirkenden Prozessen des Lebens und der Wirklichkeit nicht gerecht werden.

Vers 3.5
Daraus folgt: Weder sieht eben das Sehen, noch sieht eben das Nicht-Sehen.
Das Untersuchte und mit dem Sehen auch der Seher müssen durch die Wechselwirkung verstanden werden!

Analog zum Kapitel des Gehens wiederholt Nāgārjuna hier, dass bei der Doktrin einer unveränderlichen Substanz weder das Sehen noch das Nicht-Sehen sieht. Das Nicht-Sehen kann natürlich schon rein logisch überhaupt nicht sehen.

Es gibt weder einen dauerhaft existierenden Geher noch einen solchen Seher, sondern nur die Prozesse des Sehens, die aufeinander einwirken und in Wechselwirkung sind. Gleiches gilt für einen Menschen, der als unveränderliche Essenz oder Substanz und als ātman verstanden wird. Durch bewusste Reflexion können unser Entscheiden und Handeln in gewissem Umfang verstanden werden, indem die Prozesse des Sehens, Denkens und Handelns miteinander verknüpft werden.

Die zentrale Aussage in der Präambel über das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung erklärt die Wirklichkeit des Sehens am sinnvollsten.

Vers 3.6
Ein Seher existiert nicht, und zwar weder mit Sehen noch ohne Sehen.
Wenn der Seher aber nicht existiert: Woher stammen dann das zu Sehende und eben das Sehen?

Die Analogie zum Gehen wird hier fortgesetzt. Daher kann ein Seher als Substanz nicht existieren, wenn er nämlich abstrahiert ist vom Prozess und dem Zusammenwirken des Sehens. Den Seher gibt es weder in totaler Identität noch in totaler Differenz vom Sehen. Im Mittelpunkt steht der Prozess, nicht abstrakte Vorstellungen von illusionären dauerhaften Substanzen und Entitäten.
Im letzten Satz des Verses wird gefragt, woher dann das zu Sehende, das Objekt, und eben das Sehen stammen, wenn es keinen Seher gibt? Daraus folgt, dass es eine Trennung in unabhängige Entitäten nicht geben kann, da der Seher, das Sehen und das Gesehene sich in veränderlicher Wechselwirkung miteinander befinden.

Vers 3.7
Das Zusammen-Werden eines Sohnes wird als wechselwirkend mit Mutter und Vater genannt.
Das Zusammen-Werden gibt es wechselwirkend mit Auge und Form, so wird es gesagt.

Am Beispiel von Sohn, Vater und Mutter wird klargestellt, dass es sinnlos ist, eine totale Trennung dieser drei anzunehmen. In gleicher Weise entspricht eine absolute Trennung von Subjekt und Objekt bei der Wahrnehmung nicht der Wirklichkeit. Es geht dabei um die Wechselwirkung und das gemeinsame Entstehen.

Vers 3.8
Es heißt: „Wegen des Nicht-Seienden des zu sehenden Objekts und des Sehens existieren auch nicht die vier anderen Skandhas: Fühlen, Wahrnehmung, formende Kräfte und Bewusstsein.”
Wie könnte wiederum dann Ergreifen und Aneignen usw. sein?

Nāgārjuna besteht auf der Kritik, dass das Sehen nicht etwas dauerhaftes Sustanzhaftes sei, das unverändert und ohne Wechselwirkung existiert. Wenn ein Gegner Nāgārjunas diese Aussage nun aber akzeptiert, könnte er im Analogieschluss behaupten, dass auch die anderen Komponenten des Menschen, die Skandhas, nicht existieren. Nāgārjuna entgegnet dazu, dass es dann auch kein Ergreifen und Aneignen der Skandhas geben kann. Die Aussagen des Kontrahenten werden an dieser Stelle noch nicht analysiert. Allerdings erscheint die Behauptung, dass es grundsätzlich keine Skandhas und kein Ergreifen von ihnen geben kann, nicht überzeugend.

Die Entwicklung des Menschen und seine enge Verflechtung mit seiner Umwelt werden im Buddhismus häufig als das Ergreifen der Skandhas bezeichnet. Nāgārjuna stellt fest, dass ein solches Ergreifen überhaupt keinen Sinn macht, wenn die Skandhas nicht wirklich sind. Vor allem muss das Sehen selbst immer als Prozess und Vorgang in Wechselwirkung erfahren werden. Aber was und wie wird bei der Wechselwirkung ergriffen? Die Vorstellung des Ergreifens entstammt einer Lebensphilosophie der abgegrenzten Objekte, also Dinge, Sachen und Ideen, und ist in der Wirklichkeit sorgfältig zu untersuchen, da dieses stark vereinfachte Modell zu vielfältigen Verwirrungen führt. Nāgārjuna wird diese Frage noch gründlich analysieren.

Den Sinnesorganen kommt bei der Wahrnehmung der Welt eine zentrale Funktion zu. Wir wissen heute zudem, dass zum Beispiel Lernprozesse bei Kindern maßgeblich davon abhängen, dass über möglichst viele Sinneskanäle gelernt wird, und dass dabei die Unterstützung durch reale lebende Menschen wichtig ist. So wurde nachgewiesen, dass digitales Lernen allein mithilfe elektronischer Medien bei kleinen Kindern nahezu wirkungslos ist. Außerdem verstärken sich die Gehirnprozesse verschiedener Sinnestätigkeiten beim Lernen im positiven Sinne, sodass auch hier das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung die bekannten Vorgänge im neuronalen Netz besser beschreibt als metaphysische Annahmen.

Vers 3.9
Mit dem Sehen werden auch Wahrnehmungsprozesse des Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens und das jeweilige Denken erklärt. Der Zusammenhang zwischen dem Hörer und dem zu Hörenden, dem Riecher und dem zu Riechenden usw. soll im gleichen Sinne verstanden werden.

Anhand des Sehens erklärt Nāgārjuna die Grundprinzipien der sinnlichen Wahrnehmung und erweitert in diesem Vers seine Aussagen auch auf die anderen Wahrnehmungsprozesse wie Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und die jeweiligen Denkprozesse im zusammenwirkenden neuronalen Netz.

Die wirkliche Welt besteht aber nicht allein aus Ideen und Gedanken, wie die Idealisten meinen, und auch über das rein materielle Sehen von Formen und Farben müssen wir hinausgehen, um zur Wirklichkeit zu gelangen. In diesem Zusammenhang möchte ich Nishiima Roshi zu Wort kommen lassen: Bei der „Untersuchung der Augen wird die Wirklichkeit ganz klar von Vorstellungen, Einbildungen, Illusionen und Täuschungen abgegrenzt.“ Wichtig sei dabei auch die Frage, inwieweit Begriffe und Gedanken in der Lage seien, die Wirklichkeit möglichst richtig und detailliert zu erfassen.

Laut Nishijima führt Nāgārjuna „die Wirklichkeit auf das Handeln im Augenblick zurück, während der Mensch“ eine Verallgemeinerung und Abstraktion sei, die zwar mit dem Handeln verbunden sei, aber als eigenständige Entität und fiktive Eigen-Substanz verstanden werde. Und er fährt fort: „Aus materialistischer Sicht halten wir den menschlichen Körper und überhaupt die Dinge und Formen für das Wesentliche. Zweifellos gibt es eine materielle Dimension der Welt, die auch keine Nebensächlichkeit ist, wie viele Idealisten denken und behaupten.“

Allgemein gilt: Unsere Sinne arbeiten letztlich unvollständig, machen Fehler, und die entsprechenden Denkprozesse ergeben zusätzliche Unschärfen. Schließlich kann es keine perfekte Kommunikation mit Worten zwischen den Menschen geben. Obgleich zum Beispiel die Funktion des Sehens für uns von zentraler Bedeutung ist, dürfen wir also nicht naiv glauben, dass wir die ganze vielfältige Wirklichkeit vollständig sehen und anderen mitteilen könnten. Stattdessen kommt es darauf an, die Grenzen der Wahrnehmung zu kennen, einzubeziehen und zu lernen, so klar wie möglich zu sehen. Nāgārjuna leugnet nach Nishijimas Überzeugung trotz der Unzulänglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung nicht die Wirklichkeit: „Er ist kein Nihilist.“

Ergebnis
Nāgārjuna analysiert anhand des Sehens die verschiedenen Wahrnehmungsarten des Menschen, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, sowie die zugehörigen Funktionen des Denkens, d. h. die „Denkbereiche“. Auf der Grundlage des bereits in der Präambel erarbeiteten Verständnisses der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und der Prozessanalyse des Gehens – im übertragenen Sinn auch der buddhistischen Entwicklung und Emanzipation – geht es in Kapitel 3 des MMK um die möglichst unverstellte Wahrnehmung der Umgebung, in der wir leben, von uns selbst als „Subjekte“ und der anderen Menschen.

Dabei möchte Nāgārjuna für die weiteren Analysen Klarheit schaffen und sich von spekulativen metaphysischen Doktrinen absetzen.
Er vermittelt eine positive praktische Lebensphilosophie des Sehens und der Wahrnehmung. Dabei leugnet er die Unzulänglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung keineswegs, aber nicht zufällig stellt er sie an den Anfang der konkreten Einzelanalysen, denn eine gut geschulte Wahrnehmung ist für die von ihm verwendeten Methoden der Phänomenologie und Empirie von zentraler Bedeutung.

Thema sind vor allem die folgenden Fragen: Gibt es eigentlich getrennte äußere Objekte, die in unserem Gehirn abgebildet werden und die wir daher sehen? Oder ist ein solches Modell zu einfach, obgleich wir es so selbstverständlich finden? Gibt es ein übergeordnetes ewiges Selbst, das uns als Mensch, der sieht und handelt, beobachtet? Da es ein isoliertes Selbst wie den vorbuddhistischen ātman nicht gibt, können wir ein solches Selbst empirisch mit den Augen logischerweise auch nicht sehen. Es ist, weil es unsichtbar ist, objektiv als empirische Entität nicht zu sehen.

Das von den Doktrinen totaler Identität und totaler Differenz abgeleitete Gleichnis von Brennstoff und Feuer ist für die Beschreibung des Sehvorgangs nicht tragfähig, denn dieser Prozess ist durch eine intensive lebende Wechselwirkung gekennzeichnet. Der Brennstoff wurde im Volksbuddhismus auch als Vorstellung für das folgende Leben bei der Wiedergeburt verwendet. Das lässt Nāgārjuna in dieser naiven Form nicht gelten.
Außerdem widerlegt er, dass unveränderliche gesonderte Substanzen als Entitäten, wie Sehen, Seher und Gesehenwerden, existieren würden und verweist in diesem Zusammenhang auf die ausführlichen Analysen zum Gehen in Kapitel 2. Der typische Charakter des rückgekoppelten und vernetzten Sehprozesses würde bei der Vorstellung von einer Entität völlig unberücksichtigt bleiben. Die Aussage „Das Sehen sieht“ ist daher entweder banal und tautologisch oder beinhaltet den Glauben an eine unsichtbare ewige Substanz und ist daher unsinnig.

Um die Wechselwirkung von Auge und Form sowie deren unlösbaren Zusammenhang beim Sehen deutlich zu machen, verweist Nāgārjuna auf die unauflösbare lebende Beziehung von Vater, Mutter und Sohn.
Schließlich zeigt er auf, dass man das Gegenteil der Wirklichkeit als Wechselwirkung auch mit einer ausgefeilten Logik nicht beweisen kann. Die Klarstellungen in diesem Kapitel bilden eine belastbare Grundlage für den Fortgang der weiteren Untersuchungen.




[i] Gäng, Peter: Buddhismus, S. 46f. und 59ff.