Samstag, 8. Februar 2020

Mittlerer Weg: Klare Sinne und klare Wahrnehmung

(Aus meinem Buch: "Sternstunden des Buddhismus Band 1")




Hinführung

Nāgārjuna misst den Sinnesorganen des Menschen große Bedeutung für den buddhistischen Weg der Befreiung bei. In diesem Kapitel untersucht er daher folgerichtig falsche und ungenaue Vorstellungen sowie Doktrinen der Funktionen und Tätigkeiten unserer Sinne. Kurz gesagt nimmt er die Destruktion der vorbuddhistischen vedischen Doktrinen, aber auch der ungenauen und verfestigten buddhistischen Weltanschauungen seiner Zeit vor. In der vorbuddhistischen Zeit galt es sogar als spirituelles Ziel, die Sinnesorgane auszuschalten, um dadurch zur Allwissenheit zu gelangen. Noch heute trainieren Yogis, keine Schmerzen zu empfinden, wenn sie sich zum Beispiel lange Nadeln quer durch die Wangen stoßen.

Im Gegensatz dazu unterstreichen Buddha und Nāgārjuna ein pragmatisches Verständnis der Wahrnehmung, das der Wirklichkeit entspricht. So öffnet sich der Weg für das Verständnis des guten und möglichst fehlerfreien Funktionierens unserer sinnlichen Wahrnehmung. Das ist De-Konstruktion der präzisen Wahrnehmung, die frei von metaphysischen Verzerrungen ist. Das bedeutet, dass sich Nāgārjuna nicht in idealistischen, doktrinären und festgefahrenen Bereichen des Buddhismus verliert, etwa in den Doktrinen der Substantialisten und Momentanisten, sondern ganz konkret eine gute Bodenhaftung zur Wirklichkeit beibehält: Das ist die Dynamik des Lebens hier und jetzt.
In der authentisch überlieferten Lehre Buddhas über die Wahrnehmung hat zum Beispiel im Sūtta „Grundlagen der Achtsamkeit“ das Training der Sinnesorgane zu Recht eine sehr große Bedeutung.[i] Es wird zwischen den Bereichen der Sinnesorgane wie Augen, Ohren und Nase, den Vorgängen und Prozessen der Sinneswahrnehmung sowie den Bereichen der Objekte unterschieden. Eine absolute Unterteilung und Differenz zwischen Subjekt, Prozess und Objekt ist allerdings für die weiterführenden, vertiefenden Überlegungen Nāgārjunas ungeeignet. Sie entspricht nach seiner Überzeugung – und auch meiner – gerade nicht dem Buddhismus Gautama Buddhas.

Aber wir dürfen nicht bei der Destruktion stehen bleiben. So eröffnet Buddha neue wichtige Dimensionen für unseren Befreiungsweg. Dabei geht es nicht nur um die Überwindung des Leidens, sondern vor allem um die Verwirklichung der Erleuchtung und um die hierfür erforderlichen Funktionen unserer Wahrnehmung. Es ist ein Irrtum, die sinnliche Wahrnehmung als unwichtig und grundsätzlich fehlerhaft abzuqualifizieren. Das Gegenteil ist richtig: Durch Training und Achtsamkeit gewinnt die Wahrnehmung an Qualität für das Erkennen der Wirklichkeit und ist für den Befreiungsweg unbedingt erforderlich. In diesem Sinne schließen die Bereiche der Wahrnehmung direkt an das vorige Kapitel über das Gehen an, einem ebenfalls hoch komplexen Vorgang und Prozess.
Nāgārjuna untersucht in diesem Kapitel die Wahrnehmungsformen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens sowie die dazugehörigen Funktionen des Denkens, also deren „Denkbereiche“, vertieft anhand des Sehens. Auf der Grundlage der Wirklichkeit als gemeinsamem Entstehen in Wechselwirkung und der Prozessanalyse des Gehens behandelt er die möglichst unverstellte Wahrnehmung der Umgebung, in der wir leben, von uns selbst als „Subjekte“ und von anderen Menschen.

Übersetzung und Erläuterung der Verse
Vers 3.1
Die sechs Sinneskräfte und Prozesse der Wahrnehmung sind Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und das entsprechende Denken.
Deren Bereiche und „Tummelplatz“ sind das zu Sehende, das zu Hörende usw.

Der Vers zählt die Sinnestätigkeiten auf, die hier als Sinneskräfte oder in wörtlicher Übersetzung als Tummelplatz bezeichnet werden. Nach altindischer Tradition gehören dazu auch das Denken bzw. die auf die jeweiligen Sinnesprozesse bezogenen Denkbereiche des Sehens, Hörens usw. Die geistigen Tätigkeiten werden also auf die jeweiligen Wahrnehmungsbereiche und Prozesse bezogen, und es wird nicht allgemein vom Denken oder vom Geist gesprochen.

Die Erkenntnis der heutigen Gehirnforschung, dass es für die einzelnen Sinnestätigkeiten jeweils spezialisierte Teilsysteme und Module in unserem neuronalen Netz gibt, bestätigt den Ansatz Nāgārjunas. Diese Teilsysteme sind wiederum mit vielen anderen Bereichen des Gehirns vernetzt, zum Beispiel befinden sie sich in Wechselwirkung mit den Systemen des Bewusstseins, der Reflexion und Ethik, die vor allem im Frontalhirn lokalisiert sind. Daraus wird deutlich, dass es beispielsweise beim Sehen oder Hören erhebliche leistungsfähige Wechselwirkungen mit Bewusstsein und Ethik gibt, ethische Bewertungen und Entscheidungen also eingekoppelt werden.

Die Bedeutung der Wahrnehmung zeigt sich auch darin, dass zum Beispiel das Sehsystem etwa ein Drittel des Gehirns ausmacht und dementsprechend über eine außerordentlich hohe Leistungsfähigkeit bei der Informationsverarbeitung verfügt. Es leuchtet ein, dass der Aufbau und das Training des Sehsystems sehr wichtig sind. Die Datenmenge des eigentlichen Inputs beim Sehen hat dabei einen deutlich geringeren Umfang als die interne Informationsverarbeitung dieser Daten im Gehirn selbst. Nach der Verarbeitung im Gehirn werden die Informationen als Output zum Beispiel an die Motorik und Bewegungssteuerung weitergegeben. Die interne Informationsverarbeitung ist von großer Relevanz für das Leben in der Wirklichkeit, und ohne die externen Informationen verlieren wir eventuell die Verbindung zur Wirklichkeit.

Vers 3.2
Denn das Sehen sieht eben das eigene Selbst als Entität nicht.
Wenn aber das Sehen dieses eigene Selbst nicht sieht, fragt sich, wie es das Selbst des anderen sehen könnte.

Nāgārjuna hält sich nicht mit der spekulativen metaphysischen Frage auf, ob es überhaupt ein Substanz-Selbst oder einen ātman, die man wie eine Entität mit den Augen sehen könnte, geben kann. Ganz pragmatisch stellt er stattdessen fest, dass ein solches substanzhaftes Selbst nicht mit den Sinnesorganen gesehen werden kann.

Es ist zweifellos eine hohe spekulative Abstraktion, von einem absoluten Selbst, Ego, Ich oder ātman zu reden. Dies mag umgangssprachlich durchaus praktisch sein, aber wir sollten uns auf konkrete sichtbare Fakten beziehen, wenn es um vertiefte philosophische Analysen geht. Eine dauerhafte Essenz oder Substanz des Selbst ist eine Vorstellung und erlernte Abstraktion, die es nicht wirklich gibt. Demnach kann sie auch mit unseren Sinnesorganen nicht wahrgenommen werden, weder bei einem selbst noch bei anderen.
Dieser Vers verdeutlicht, dass das MMK sehr pragmatisch und phänomenologisch aufgebaut ist und damit eine große Nähe zum Zen-Buddhismus aufweist. 

Es geht nicht um Spekulationen und Illusionen, nicht um geglaubte, nicht hinterfragte „heilige“ Doktrinen, sondern um das, was konkret wahrgenommen und erfahren werden kann. Und in der Tat sind Entwicklungs- und Lernprozesse unauflösbar mit der Wahrnehmung verbunden, die immer feiner werden kann und muss, und mit der möglichst genauen Selbstbeobachtung beim Erleben und Erfahren. Buddha beschreibt diese Gegebenheit ausführlich im Sūtta „Grundlagen der Achtsamkeit“. Nāgārjuna und Dōgen zeigen aber auch, dass Buddhismus nicht vollständig durch Materialismus und die Naturwissenschaft zu erfassen ist, sondern darüber hinausgeht. Auch eine idealistische Sichtweise kann wie die materialistische nur eine Teilwahrheit erfassen.

Vers 3.3
Das Gleichnis des Feuers ist nicht hinreichend für das Zustandekommen des Sehens.
Ein solches Gleichnis des Sehens wurde durch die Aussagen zum Begangenen der Vergangenheit, der Gegenwart und noch nicht Begangenen der Zukunft untersucht.

Das historische Gleichnis vom Feuer trennt total zwischen Brennstoff und Flamme. Somit unterscheidet es sich fundamental vom Gehen als Prozess, der nicht zerteilt ist in Entitäten oder fiktive Eigen-Substanzen, sondern in Wechselwirkung abläuft, wie Nāgārjuna im vorigen Kapitel erläutert hat. Auch beim Feuer darf nicht absolut zwischen Zündstoff und Flamme unterschieden werden, denn beide befinden sich in Wechselwirkung miteinander. Nāgārjuna falsifiziert diese Meinung der fundamentalen Trennung. Wir sollen uns hinsichtlich des Sehens und der Wahrnehmung allgemein davor hüten, in unveränderlichen Entitäten zu denken. Es geht um Dharmas, Dinge und Phänomene, die in Wechselwirkung entstehen, und nicht um solche, die eine unsichtbare unveränderliche Substanz haben und erst durch bestimmte Merkmale sichtbar werden.

Die Destruktion des Substanz- und Entitätsdenkens hat ergeben, dass es weder ein Gehen, noch einen Geher oder das, was begangen werden kann, getrennt voneinander gibt. Ähnlich wie beim Gehen muss man auch beim Sehen von der Wechselwirkung des „Subjekts“, also hier dem „Seher“, dem Vorgang des Sehens und dem „Objekt“, das gesehen wird, ausgehen. Es handelt sich um einen zusammenhängenden Prozess, nicht um voneinander getrennte, isolierte Entitäten.

Den Seher, der zum Beispiel nicht sieht, gibt es also genauso wenig wie den Geher, der nicht geht. Der „Seher“ ist immer eine Abstraktion, die die Wirklichkeit dieses Prozesses nicht angemessen beschreibt. Letztlich ist ohne Veränderung in der Zeit eine präzise Aussage gar nicht möglich. Das Sehen kann nur ungenau nach der Vergangenheit erinnert und noch ungenauer für die Zukunft erwartet werden, denn dieser wahre Prozess vollzieht sich der Wirklichkeit entsprechend genau im Augenblick des Sehens.
Das alte Gleichnis des Feuers erschien Nāgārjuna nicht geeignet, um die Prozesse der Wahrnehmung wie das Sehen zu beschreiben. Aus unserer Sicht gilt dies darüber hinaus schon deshalb, weil es sich beim Feuer nicht um Menschen, soziale Gruppen und Lebewesen sowie deren Empathie, Leiden und Erleuchtung handelt, sondern um einen physikalischen und chemischen Vorgang, welcher der materiellen, unlebendigen Dimension der Welt angehört. Er hat nur begrenzte Aussagekraft für menschliche Vorgänge, Prozesse und Entwicklungen.

Vers 3.4
Was passiert, wenn irgendein Sehen, das gerade nicht sieht, nicht entsteht oder wird?
Und wie passt dazu die Aussage: „Das Sehen sieht“?

Ein unveränderliches eigenständiges Sehen als Substanz würde dauerhaft bestehen, auch wenn es gerade nicht sieht. Aber es entsteht nicht und vergeht nicht, weil es sich nicht verändern kann. Der erste Satz des Verses legt also offen, dass dieser Ansatz ohne Sinn ist, denn ein solches Sehen gibt es nicht.

Die Aussage „Das Sehen sieht“ erweist sich genauso wenig als sinnvoll wie die Aussage „Das Gehen geht“, denn auch dabei würde unterstellt, dass das Sehen eine unveränderliche Substanz oder Essenz ist. Wir sehen jedoch nur genau im Augenblick. Jede Substantialisierung und Vorstellung von Essenzen, dauerhaften Substanzen und Entitäten kann den wechselwirkenden Prozessen des Lebens und der Wirklichkeit nicht gerecht werden.

Vers 3.5
Daraus folgt: Weder sieht eben das Sehen, noch sieht eben das Nicht-Sehen.
Das Untersuchte und mit dem Sehen auch der Seher müssen durch die Wechselwirkung verstanden werden!

Analog zum Kapitel des Gehens wiederholt Nāgārjuna hier, dass bei der Doktrin einer unveränderlichen Substanz weder das Sehen noch das Nicht-Sehen sieht. Das Nicht-Sehen kann natürlich schon rein logisch überhaupt nicht sehen.

Es gibt weder einen dauerhaft existierenden Geher noch einen solchen Seher, sondern nur die Prozesse des Sehens, die aufeinander einwirken und in Wechselwirkung sind. Gleiches gilt für einen Menschen, der als unveränderliche Essenz oder Substanz und als ātman verstanden wird. Durch bewusste Reflexion können unser Entscheiden und Handeln in gewissem Umfang verstanden werden, indem die Prozesse des Sehens, Denkens und Handelns miteinander verknüpft werden.

Die zentrale Aussage in der Präambel über das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung erklärt die Wirklichkeit des Sehens am sinnvollsten.

Vers 3.6
Ein Seher existiert nicht, und zwar weder mit Sehen noch ohne Sehen.
Wenn der Seher aber nicht existiert: Woher stammen dann das zu Sehende und eben das Sehen?

Die Analogie zum Gehen wird hier fortgesetzt. Daher kann ein Seher als Substanz nicht existieren, wenn er nämlich abstrahiert ist vom Prozess und dem Zusammenwirken des Sehens. Den Seher gibt es weder in totaler Identität noch in totaler Differenz vom Sehen. Im Mittelpunkt steht der Prozess, nicht abstrakte Vorstellungen von illusionären dauerhaften Substanzen und Entitäten.
Im letzten Satz des Verses wird gefragt, woher dann das zu Sehende, das Objekt, und eben das Sehen stammen, wenn es keinen Seher gibt? Daraus folgt, dass es eine Trennung in unabhängige Entitäten nicht geben kann, da der Seher, das Sehen und das Gesehene sich in veränderlicher Wechselwirkung miteinander befinden.

Vers 3.7
Das Zusammen-Werden eines Sohnes wird als wechselwirkend mit Mutter und Vater genannt.
Das Zusammen-Werden gibt es wechselwirkend mit Auge und Form, so wird es gesagt.

Am Beispiel von Sohn, Vater und Mutter wird klargestellt, dass es sinnlos ist, eine totale Trennung dieser drei anzunehmen. In gleicher Weise entspricht eine absolute Trennung von Subjekt und Objekt bei der Wahrnehmung nicht der Wirklichkeit. Es geht dabei um die Wechselwirkung und das gemeinsame Entstehen.

Vers 3.8
Es heißt: „Wegen des Nicht-Seienden des zu sehenden Objekts und des Sehens existieren auch nicht die vier anderen Skandhas: Fühlen, Wahrnehmung, formende Kräfte und Bewusstsein.”
Wie könnte wiederum dann Ergreifen und Aneignen usw. sein?

Nāgārjuna besteht auf der Kritik, dass das Sehen nicht etwas dauerhaftes Sustanzhaftes sei, das unverändert und ohne Wechselwirkung existiert. Wenn ein Gegner Nāgārjunas diese Aussage nun aber akzeptiert, könnte er im Analogieschluss behaupten, dass auch die anderen Komponenten des Menschen, die Skandhas, nicht existieren. Nāgārjuna entgegnet dazu, dass es dann auch kein Ergreifen und Aneignen der Skandhas geben kann. Die Aussagen des Kontrahenten werden an dieser Stelle noch nicht analysiert. Allerdings erscheint die Behauptung, dass es grundsätzlich keine Skandhas und kein Ergreifen von ihnen geben kann, nicht überzeugend.

Die Entwicklung des Menschen und seine enge Verflechtung mit seiner Umwelt werden im Buddhismus häufig als das Ergreifen der Skandhas bezeichnet. Nāgārjuna stellt fest, dass ein solches Ergreifen überhaupt keinen Sinn macht, wenn die Skandhas nicht wirklich sind. Vor allem muss das Sehen selbst immer als Prozess und Vorgang in Wechselwirkung erfahren werden. Aber was und wie wird bei der Wechselwirkung ergriffen? Die Vorstellung des Ergreifens entstammt einer Lebensphilosophie der abgegrenzten Objekte, also Dinge, Sachen und Ideen, und ist in der Wirklichkeit sorgfältig zu untersuchen, da dieses stark vereinfachte Modell zu vielfältigen Verwirrungen führt. Nāgārjuna wird diese Frage noch gründlich analysieren.

Den Sinnesorganen kommt bei der Wahrnehmung der Welt eine zentrale Funktion zu. Wir wissen heute zudem, dass zum Beispiel Lernprozesse bei Kindern maßgeblich davon abhängen, dass über möglichst viele Sinneskanäle gelernt wird, und dass dabei die Unterstützung durch reale lebende Menschen wichtig ist. So wurde nachgewiesen, dass digitales Lernen allein mithilfe elektronischer Medien bei kleinen Kindern nahezu wirkungslos ist. Außerdem verstärken sich die Gehirnprozesse verschiedener Sinnestätigkeiten beim Lernen im positiven Sinne, sodass auch hier das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung die bekannten Vorgänge im neuronalen Netz besser beschreibt als metaphysische Annahmen.

Vers 3.9
Mit dem Sehen werden auch Wahrnehmungsprozesse des Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens und das jeweilige Denken erklärt. Der Zusammenhang zwischen dem Hörer und dem zu Hörenden, dem Riecher und dem zu Riechenden usw. soll im gleichen Sinne verstanden werden.

Anhand des Sehens erklärt Nāgārjuna die Grundprinzipien der sinnlichen Wahrnehmung und erweitert in diesem Vers seine Aussagen auch auf die anderen Wahrnehmungsprozesse wie Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und die jeweiligen Denkprozesse im zusammenwirkenden neuronalen Netz.

Die wirkliche Welt besteht aber nicht allein aus Ideen und Gedanken, wie die Idealisten meinen, und auch über das rein materielle Sehen von Formen und Farben müssen wir hinausgehen, um zur Wirklichkeit zu gelangen. In diesem Zusammenhang möchte ich Nishiima Roshi zu Wort kommen lassen: Bei der „Untersuchung der Augen wird die Wirklichkeit ganz klar von Vorstellungen, Einbildungen, Illusionen und Täuschungen abgegrenzt.“ Wichtig sei dabei auch die Frage, inwieweit Begriffe und Gedanken in der Lage seien, die Wirklichkeit möglichst richtig und detailliert zu erfassen.

Laut Nishijima führt Nāgārjuna „die Wirklichkeit auf das Handeln im Augenblick zurück, während der Mensch“ eine Verallgemeinerung und Abstraktion sei, die zwar mit dem Handeln verbunden sei, aber als eigenständige Entität und fiktive Eigen-Substanz verstanden werde. Und er fährt fort: „Aus materialistischer Sicht halten wir den menschlichen Körper und überhaupt die Dinge und Formen für das Wesentliche. Zweifellos gibt es eine materielle Dimension der Welt, die auch keine Nebensächlichkeit ist, wie viele Idealisten denken und behaupten.“

Allgemein gilt: Unsere Sinne arbeiten letztlich unvollständig, machen Fehler, und die entsprechenden Denkprozesse ergeben zusätzliche Unschärfen. Schließlich kann es keine perfekte Kommunikation mit Worten zwischen den Menschen geben. Obgleich zum Beispiel die Funktion des Sehens für uns von zentraler Bedeutung ist, dürfen wir also nicht naiv glauben, dass wir die ganze vielfältige Wirklichkeit vollständig sehen und anderen mitteilen könnten. Stattdessen kommt es darauf an, die Grenzen der Wahrnehmung zu kennen, einzubeziehen und zu lernen, so klar wie möglich zu sehen. Nāgārjuna leugnet nach Nishijimas Überzeugung trotz der Unzulänglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung nicht die Wirklichkeit: „Er ist kein Nihilist.“

Ergebnis
Nāgārjuna analysiert anhand des Sehens die verschiedenen Wahrnehmungsarten des Menschen, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, sowie die zugehörigen Funktionen des Denkens, d. h. die „Denkbereiche“. Auf der Grundlage des bereits in der Präambel erarbeiteten Verständnisses der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und der Prozessanalyse des Gehens – im übertragenen Sinn auch der buddhistischen Entwicklung und Emanzipation – geht es in Kapitel 3 des MMK um die möglichst unverstellte Wahrnehmung der Umgebung, in der wir leben, von uns selbst als „Subjekte“ und der anderen Menschen.

Dabei möchte Nāgārjuna für die weiteren Analysen Klarheit schaffen und sich von spekulativen metaphysischen Doktrinen absetzen.
Er vermittelt eine positive praktische Lebensphilosophie des Sehens und der Wahrnehmung. Dabei leugnet er die Unzulänglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung keineswegs, aber nicht zufällig stellt er sie an den Anfang der konkreten Einzelanalysen, denn eine gut geschulte Wahrnehmung ist für die von ihm verwendeten Methoden der Phänomenologie und Empirie von zentraler Bedeutung.

Thema sind vor allem die folgenden Fragen: Gibt es eigentlich getrennte äußere Objekte, die in unserem Gehirn abgebildet werden und die wir daher sehen? Oder ist ein solches Modell zu einfach, obgleich wir es so selbstverständlich finden? Gibt es ein übergeordnetes ewiges Selbst, das uns als Mensch, der sieht und handelt, beobachtet? Da es ein isoliertes Selbst wie den vorbuddhistischen ātman nicht gibt, können wir ein solches Selbst empirisch mit den Augen logischerweise auch nicht sehen. Es ist, weil es unsichtbar ist, objektiv als empirische Entität nicht zu sehen.

Das von den Doktrinen totaler Identität und totaler Differenz abgeleitete Gleichnis von Brennstoff und Feuer ist für die Beschreibung des Sehvorgangs nicht tragfähig, denn dieser Prozess ist durch eine intensive lebende Wechselwirkung gekennzeichnet. Der Brennstoff wurde im Volksbuddhismus auch als Vorstellung für das folgende Leben bei der Wiedergeburt verwendet. Das lässt Nāgārjuna in dieser naiven Form nicht gelten.
Außerdem widerlegt er, dass unveränderliche gesonderte Substanzen als Entitäten, wie Sehen, Seher und Gesehenwerden, existieren würden und verweist in diesem Zusammenhang auf die ausführlichen Analysen zum Gehen in Kapitel 2. Der typische Charakter des rückgekoppelten und vernetzten Sehprozesses würde bei der Vorstellung von einer Entität völlig unberücksichtigt bleiben. Die Aussage „Das Sehen sieht“ ist daher entweder banal und tautologisch oder beinhaltet den Glauben an eine unsichtbare ewige Substanz und ist daher unsinnig.

Um die Wechselwirkung von Auge und Form sowie deren unlösbaren Zusammenhang beim Sehen deutlich zu machen, verweist Nāgārjuna auf die unauflösbare lebende Beziehung von Vater, Mutter und Sohn.
Schließlich zeigt er auf, dass man das Gegenteil der Wirklichkeit als Wechselwirkung auch mit einer ausgefeilten Logik nicht beweisen kann. Die Klarstellungen in diesem Kapitel bilden eine belastbare Grundlage für den Fortgang der weiteren Untersuchungen.




[i] Gäng, Peter: Buddhismus, S. 46f. und 59ff.