Erleuchtung
ist die reale Erfahrung, dass wir genau hier und jetzt in der wirklichen
Welt leben,
die sich grundsätzlich von unserem Denken und von der Sinneswahrnehmung
unterscheidet und beides weit übersteigt.[1]
Es ist eigentlich eine einfache Tatsache, dass wir genau in dieser Wirklichkeit
des gegenwärtigen Augenblicks leben. Vor etwa 2.500 Jahren fand Gautama Buddha
diese Tatsache und lehrte sie vielen Menschen, welche die Wahrheit ernsthaft
studieren und erlangen wollten. Sie strengten sich sehr an, um diese Wahrheit
direkt zu erfahren. Solche menschlichen Anstrengungen wurden in den vielen
Jahrhunderten seit jener Zeit vielfach unternommen. Sie sind unauflösbar mit
der Zazen-Praxis des Buddhismus verbunden, da diese eine enorme
Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit auszeichnet, die Menschen zur Wahrheit und
zum Glück zu führen.
Die Erleuchtung im Licht der modernen Wissenschaft
Die moderne
Psychologie und Physiologie haben sich seit dem 19. Jahrhundert
glücklicherweise stark weiterentwickelt. So gelang es der wissenschaftlichen
Forschung, die Ursachen dafür zu finden, warum die Praxis des Zazen so
wirkungsvoll ist.
Heute wissen
wir, dass in unserem Körper und Geist das vegetative oder auch autonome
Nervensystem vorhanden ist, das bereits weiter oben angesprochen wurde. Es
besteht aus den sympathischen und parasympathischen Teilsystemen. Das
sympathische System ist eng mit den Funktionen des Denkens verbunden, das
parasympathische System dagegen ist mit unseren Sinneswahrnehmungen gekoppelt.
Wenn die Intensität des sympathischen und parasympathischen Systems gleich
stark ausgeprägt ist, ergibt sich ein im Buddhismus bekannter Zustand des
inneren und äußeren Gleichgewichts, der im Sanskrit Shonyata genannt wird. Körper und Geist sind dabei ruhig und
ausgeglichen. Wir sind physisch gesund, können aktiv handeln und unser
Verhalten im täglichen Leben ist von Ethik bestimmt. Wenn wir jeden Tag Zazen
praktizieren, können wir dieses Gleichgewicht erhalten und im Alltag umsetzen.
Gautama
Buddhas Lehre ist auf der Grundlage der täglichen Praxis des Zazen entstanden.
Wir haben nun auch den wissenschaftlichen Beweis für den wahren Zustand des
wertvollen Zazen, der im Sanskrit als Samadhi
bezeichnet wird.
Die Arten der Erleuchtung
Seit jeher
kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen um verschiedene Arten der
Erleuchtung, nämlich einerseits um die plötzliche Erleuchtung, japanisch Ton-go, und andererseits die allmähliche
Erleuchtung, japanisch Zen-go. Der
Begriff Ton-go bedeutet, dass
plötzlich eines Tages die Erleuchtung erscheint, wenn wir fortgesetzt und über
eine ziemlich lange Zeit Zazen praktiziert haben. Ton heißt „schnell“ und go „Erleuchtung“.
Im Gegensatz dazu bedeutet bei dem japanischen Wort Zen-go der Begriff Zen
„allmählich“. Zen-go steht also für
eine allmähliche Erleuchtung. Meister Dogen bestätigte sowohl Ton-go als auch Zen-go.
In seinem Werk
Shobogenzo beschreibt Dogen seine
Lehre, die Shushou-itsuto genannt
wird. Dabei bedeutet Shu die Praxis
des Zazen und shou „Erleuchtung“. Mit
itsu wird ein Mensch bezeichnet, der
als vollkommen angesehen wird. Und schließlich bedeutet to „gleich“. Deshalb kann man itsuto
mit „vollständig dasselbe“ übersetzen. Diese Idee der Einheit basiert auf Dogens
buddhistischem Denken, also auf der Lehre des Handelns im Gleichgewicht. Er
besteht darauf, dass es, allgemein gesprochen, im Handeln keine Trennung gibt
zwischen dem Handeln als Tätigkeit selbst und dem Ergebnis des Handelns als
sogenannte Erfahrung. Das bedeutet, dass in der Lebensphilosophie des Handelns
die sonst übliche Trennung von Praktizieren und dem Ergebnis der Praxis – also
die Erleuchtung – aufgehoben ist. Das heißt aber auch, dass Praktizieren
Erleuchtung ist und Erleuchtung genau die Praxis des Zazen selbst darstellt.
Dieser Ansatz ist von größter Bedeutung, um die gesamte buddhistische Lehre zu
verstehen, damit man nicht falschen Zielen nachjagt und falsche Erwartungen
hegt.
Lehnt Meister
Dogen mit diesem Ansatz des Zazen vielleicht die Idee des Zen-go ab? Auf keinen Fall. Er beschreibt zum Beispiel, dass
Meister Joshu Jushin und Meister Rei-un Shigon eine solche Art der
Erleuchtung in ihrem Leben erfahren haben: Obgleich sie große Meister waren,
vergingen mehr als 30 Jahre der Zazen-Praxis, bevor sie die große zweite
plötzliche Erleuchtung erlebten. Daraus können wir klar ersehen, dass Meister Dogen
zwei verschiedene Arten von Erleuchtung kannte: Eine direkte, allmähliche im
Zazen für jeden, der richtig praktiziert, und eine plötzliche Erleuchtung nach
vielen Jahren der Übungspraxis. Für ihn bestand demnach kein Widerspruch
zwischen Ton-go und Zen-go.
Die erste
Erleuchtung: Zazen und die vielen Irrtümer
Was genau ist
nun mit Satori oder Erleuchtung
gemeint? In den verschiedenen buddhistischen Gruppierungen lassen sich hierzu
recht unterschiedliche Erklärungen und Interpretationen finden und deshalb
möchte ich dieses Thema etwas gründlicher behandeln. Ich bin überzeugt, dass
eine möglichst klare und gut begründete Erläuterung hierzu wichtig und
außerordentlich nützlich ist für das Verständnis der wahren Bedeutung der
buddhistischen Lehre.
In Japan gibt
es drei wichtige Übertragungslinien des Buddhismus, die im Wesentlichen Zazen
praktizieren. Dabei sind vor allem die Rinzai- und die Soto-Linie zu nennen,
die besonders viele Anhänger haben. Beide Übertragungslinien unterscheiden sich
seit vielen Jahren gerade in der Frage, wie und mit welcher Praxis man
Erleuchtung erlangt. Allgemein gesagt, besteht Rinzai auf der plötzlichen
Erleuchtung (Ton-go) und Soto glaubt
an die allmähliche Erleuchtung (Zen-go).
Im Folgenden möchte ich diese beiden unterschiedlichen Auffassungen im Detail
vorstellen.
Die Anhänger
der Rinzai-Linie vertreten die Ansicht, dass die Erleuchtung plötzlich und auf
einmal eintritt, nachdem man viele Jahre lang hart Zazen praktiziert hat.
Demgegenüber ist man in der Soto-Linie davon überzeugt, dass die erste
Erleuchtung bereits mit dem Beginn der Zazen-Praxis eintritt, weil man fest
darauf vertraut, dass die erste Erleuchtung die Praxis des Zazen und das
Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems beinhaltet. Danach können wir Tag
für Tag Erleuchtung erlangen, wenn wir jeden Tag Zazen praktizieren.
Wenn wir nach
den Ursachen für diese unterschiedlichen Vorstellungen im Hinblick auf den Weg
zur Erleuchtung forschen, so erkennen wir, dass sie historisch begründet sind.
Meister Bodhidharma brachte die
Praxis des Zazen als die wesentliche Grundlage der buddhistischen Lehre im Jahr
527 nach Christus nach China. Danach wurde die Lehre authentisch von den
Meistern Taiso Eka, Kanchi Sosan, Dai-i
Doshin und Daiman Konin als
Vorfahren im Dharma von einem zum anderen übertragen und erreichte so den
sechsten Vorfahren im Dharma, den großen Meister Daikan Eno. Dieser hatte mehrere ausgezeichnete Nachfolger und
unter ihnen gab es wiederum zwei herausragende buddhistische Linien, die von
den Meistern Nangaku Ejo und Seigen Gyoshi begründet wurden und eine
unterschiedliche Entwicklung einleiteten. Die Übertragungslinie von Meister Nangaku Ejo wird als Rinzai-Linie und
die von Meister Seigen Gyoshi wird
als Soto-Linie bezeichnet. Beide buddhistischen Übertragungslinien bestehen
seit langer Zeit und wirken auch heute noch als kraftvolle buddhistische
Bewegungen in Japan.
Gründliche Klärung der Erleuchtung
Glücklicherweise
können wir heute diese bisher offene Frage nach der Erleuchtung, die einen ganz
wesentlichen Kernbereich des Buddhismus darstellt, viel besser verstehen.
In meinem Buch
Buddhismus als die dritte Weltsicht (Bukkyo-dai san no Seki-kann) habe ich
die enge Beziehung zwischen der Zazen-Praxis und den menschlichen physischen
Bedingungen ausführlich erklärt. Das Wichtigste soll im Folgenden
zusammengefasst dargestellt werden. Ausgangspunkt ist die Frage: Was ist die
Bedeutung des Zazen, wenn wir sie aus der Sicht der Physiologie untersuchen?
Diese Frage wird unter vier verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet:
1) Das wahre
Verhalten der Muskeln
2) Steuerung
durch das Gehirn, insbesondere durch das Zwischenhirn
3) Steuerung
des vegetativen (autonomen) Nervensystems und
4)
Normalisierung der inneren Sekretion
Der dritte
Bereich, den ich hier genauer behandeln möchte, ist eng mit der physischen
Funktion des Zazen verbunden. Es handelt sich dabei um das vegetative
Nervensystem, das die autonomen physischen Steuerungsfunktionen des Körpers
umfasst und das wir nicht mit unserem menschlichen Willen steuern können.
Zwischen den
beiden gegenläufig wirkenden Teilbereichen des vegetativen Nervensystems, dem
sympathischen und dem parasympathischen System, besteht eine enge
Wechselwirkung. Wenn beide Bereiche gut und richtig arbeiten, verläuft auch die
Zusammenarbeit der geistigen und physischen Funktionen reibungslos. Körper und
Geist arbeiten dann kraftvoll und effizient. Atmung, Blutzirkulation, Verdauung
und Hormonhaushalt werden gut geregelt. Wenn jedoch das eine dieser Teilsysteme
anormal stärker ist als das andere, wird das Gleichgewicht zwischen beiden
zerstört, sodass bestimmte physische Funktionen ebenfalls aus dem Gleichgewicht
geraten und entweder übermäßig aktiviert oder im Gegenteil unterdrückt werden.
Zum Beispiel
hat die Verdauungsfunktion, die wesentlich für unsere gesamte körperliche
Gesundheit ist, ganz starke Auswirkungen auf unser Befinden und unseren
täglichen psychischen und geistigen Zustand; entsprechend fühlen wir uns
glücklich oder unglücklich. Wenn das sympathische Nervensystem im Verhältnis
zum parasympathischen System anormal überwiegt, wird die Verdauungsfunktion
stark unterdrückt und wir leiden an chronischen Verdauungsstörungen. Selbst
wenn wir die Verdauung durch bestimmte Arzneimittel zum Teil verbessern, ist
aber eine grundlegende Heilung unmöglich, weil die zusammenwirkenden
Steuerungsfunktionen der beiden Teilsysteme dadurch nicht ausgeglichen werden.
Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass sich der Krankheitszustand noch
wesentlich verschlechtert, weil die Anwendung der Medizin nichts Halbes und
nichts Ganzes bewirkt. Manchmal beruht eine ungenügende Verdauung auch auf
einer Schwäche des parasympathischen Systems selbst. Dann ist es unmöglich, die
schlechte Verdauungssituation dadurch zu verbessern, dass wir weniger essen.
Am Beispiel
der Verdauung habe ich gezeigt, dass ernste Erkrankungen entstehen können, wenn
das Gleichgewicht zwischen dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem
gestört ist.
Die beiden
Teile des vegetativen Nervensystems sind wie gesagt autonom, das heißt, sie
können nicht direkt durch den menschlichen Willen gesteuert und verändert
werden. Selbst wenn wir also sehr viele Bände buddhistischer Literatur
durchgearbeitet haben oder wenn wir ein hoch angesehener Experte in der
buddhistischen Forschung sind, können wir auf keinen Fall das vegetative
Nervensystem beherrschen und kontrollieren, da wir es nicht unter unseren
Willen zwingen können. Schon die Bezeichnung „autonomes“ Nervensystem besagt
schließlich, dass es unabhängig von unserem bewussten Willen arbeitet.
Ist aber nun
die Schlussfolgerung richtig, dass wir den Schwankungen des vegetativen
Nervensystems völlig ausgeliefert sind? Dann wären wir seine Sklaven. Wenn das
zuträfe, wäre es um die Menschen und ihre Würde wahrhaftig schlecht bestellt,
da wir doch von allen Lebewesen den am höchsten entwickelten Geist und die
höchste Spiritualität besitzen. Damit wir als Menschen leben können, ergibt
sich zwingend, dass wir eine wirksame Methode entwickeln und anwenden müssen,
um unser vegetatives Nervensystem zu steuern und unsere menschliche Würde zu
behalten. Daraus folgt für mich, dass wir die Praxis des Zazen als Methode zur
Steuerung des vegetativen Nervensystems verwenden sollten. Seit mehr als 2.500
Jahren werden wir vom Zazen sehr stark angezogen, weil das Gleichgewicht des
vegetativen Nervensystems ganz genau mit der buddhistischen Erleuchtung
zusammenhängt.
Damals, im
Jahr 1967, war meine Idee nur eine Art Hypothese, die ich in den folgenden
Jahren immer wieder auf ihre Richtigkeit überprüft habe. Heute, im Jahr 2009,
gibt es überhaupt keine stichhaltigen Gründe dafür, diese Theorie zu verwerfen
oder zu verändern.
Verschmelzung der plötzlichen und allmählichen Erleuchtung
Nachdem ich
diese Theorie der Erleuchtung gefunden hatte und sie sich immer wieder als
richtig erwies, entwickelte sich bei mir durch die Praxis des Zazen Schritt für
Schritt ein Verständnis der verschiedenen buddhistischen philosophischen Fragen
und Probleme und schließlich erreichte ich das meines Erachtens vollständige
Verständnis der buddhistischen Lehre. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass
es für mich ohne die Einsicht in den klaren Zusammenhang von buddhistischer
Erleuchtung und dem Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems nicht möglich
gewesen wäre, die umfassende Bedeutung der buddhistischen Lehre und Philosophie
als Gesamtsystem überhaupt zu verstehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich sonst
niemals die höchste Bedeutung des Buddhismus überhaupt erfahren hätte.
Der Kernpunkt
der Kontroverse zwischen den Anhängern der plötzlichen Erleuchtung (Ton-go) und der allmählichen Erleuchtung
(Zen-go) kann nun geklärt und damit
dieses Problem gelöst werden. Wir bauen dabei auf der Theorie des Zazen auf,
nach der die erste Erleuchtung genau und unmittelbar das Gleichgewicht im Zazen
und des vegetativen Nervensystems ist.
Wenn wir also
annehmen, dass die erste Erleuchtung genau das Gleichgewicht des vegetativen
Nervensystems ist, kann eine solche Erleuchtung sofort eintreten, wenn wir mit
der richtigen Zazen-Praxis beginnen und die authentische Sitzhaltung einnehmen.
Dies gilt unabhängig davon, dass häufig darauf bestanden wird, in der
Rinzai-Linie trete die große Erleuchtung plötzlich, aber erst nach langer Zeit
auf. Doch sollte diese Zazen-Praxis fortlaufend und regelmäßig geübt werden,
sodass es auch in der Rinzai-Linie das Zazen als Zen-go (allmählich) gibt. Wir können daher feststellen, dass die
erste Erleuchtung des Zazen in der Rinzai-Linie sowohl die Merkmale von Ton-go (plötzlich) als auch von Zen-go aufweist.
Selbst im
Falle der zweiten Erleuchtung ist man in der Rinzai-Linie der Ansicht, dass sie
plötzlich und unmittelbar eintritt. Aber bevor diese zweite Erleuchtung erlangt
wird, muss über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder Zazen praktiziert
werden. Damit gilt auch für die zweite Erleuchtung der Rinzai-Linie, dass wir
sowohl die Merkmale von Zen-go als
auch von Ton-go vorfinden.
Anhänger der Soto-Linie
nehmen an, dass man sofort in die erste Erleuchtung eingehen kann, wenn man mit
der Zazen-Praxis beginnt, die Beine kreuzt und die Wirbelsäule gerade und
senkrecht nach oben streckt. In der Soto-Linie ist die erste Erleuchtung bei
der Zazen-Praxis also auch Ton-go,
nämlich sofort beim Zazen. Aber es ist unbedingt erforderlich, diese
Zazen-Praxis viele Jahre lang jeden Tag fortzusetzen, sodass auch in der Soto-Linie
die Merkmale von Zen-go wirksam sind.
Die zweite Erleuchtung kann man der Soto-Linie zufolge nach vielen Jahren der
Praxis erfahren – und dies dauert sicher mindestens 30 Jahre oder noch länger.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sich die erste Erleuchtung mit der
Bezeichnung Ton-go plötzlich im
gegenwärtigen Augenblick beim Zazen ereignet und dass nach vielen Jahren der
Zazen-Praxis die zweite Erleuchtung verwirklicht wird. Daher gilt auch für die
Soto-Linie, dass es sowohl die erste als auch die zweite Erleuchtung gibt und
dass dafür sowohl die Merkmale von Ton-go
und als auch von Zen-go zutreffen.
Wir sehen also, dass zwischen der Rinzai- und Soto-Linie größte Ähnlichkeit
besteht.
Um es
abschließend noch einmal in Erinnerung zu rufen: Auf der Grundlage der
genannten Prozesse ist die erste Erleuchtung im Buddhismus genau das
Gleichgewicht im Zazen und des vegetativen Nervensystems. Wenn wir diese
Annahme akzeptieren, können wir alle buddhistischen philosophischen Probleme
vollständig und eindeutig lösen. Auf diese Weise können wir die vielen
theoretischen Probleme überwinden, die uns seit über 1.000 Jahren gequält
haben. Wir sind daher jetzt im 21. Jahrhundert in der außerordentlich
glücklichen Lage, die höchste buddhistische Lehre ganz genau zu begreifen und
zu erfahren. Dieser Umstand bildet auch eine gute Grundlage für die praktische
Umsetzung.
Zazen und die Lebensphilosophie des Handelns
Wenn wir die
theoretische Seite des Zazen erklären wollen, stoßen wir auf ein bestimmtes
Problem, das wir zuerst angehen sollten. Zazen kann nämlich auf keinen Fall in
den Bereich des Denkens und der gedanklichen Überlegungen eingeordnet und auch
nicht der Sinneswahrnehmung zugerechnet werden. Zazen gehört tatsächlich in den
Bereich des Handelns im Hier und Jetzt. Wir sollten bei der buddhistischen
Theorie im Wesentlichen dem Grundsatz der vier Lebensphilosophien folgen:
Idealismus, Materialismus, Handeln und die Wirklichkeit selbst. Diese vier
Lebensphilosophien kann man wiederum in zwei Gruppen gliedern, sodass wir auf
der einen Seite den Idealismus und Materialismus haben und auf der anderen
Seite das Handeln und die Wirklichkeit selbst. Dabei sind Idealismus und
Materialismus in der europäischen und amerikanischen Kultur weit verbreitet,
denn beide philosophische Richtungen und Weltanschauungen sind seit der antiken
griechisch-römischen Kultur im Westen immer weiterentwickelt worden.
Die
wichtigsten Bereiche des Lebens kann man jedoch nicht den oben genannten
intellektuellen Philosophien zuordnen, sondern der Praxis und damit einer
praktischen Lebensphilosophie. Im Buddhismus unterscheiden wir entsprechend die
beiden Bereiche, nämlich die theoretische, weltliche Wahrheit (Samvrti-satya) und die wirkliche,
umfassende Wahrheit (Paramarta-satya).
Die theoretische, weltliche Wahrheit besteht dabei aus der intellektuellen
Philosophie des Idealismus und Materialismus. Demgegenüber unterscheidet sich
die wirkliche, umfassende Wahrheit vollständig von diesen intellektuellen
philosophischen Systemen. Die wirkliche Wahrheit kann nur durch eine Lehre
begründet werden, die auf dem wirklichen Handeln aufbaut. Das wirkliche Handeln
muss dabei ganz klar und eindeutig von der Vorstellung und dem Denken
unterschieden werden, denn das wirkliche Handeln findet je genau im jetzigen
Augenblick statt. Dieses Handeln muss auch vom Denken über das Handeln unterschieden
werden.
Das wirkliche
Handeln kann niemals in der Vergangenheit stattfinden und es kann auch niemals
in der Zukunft liegen, sondern das wirkliche Handeln geschieht nur genau hier
im jetzigen Augenblick. Dagegen ist die Vergangenheit nur Erinnerung und die
Zukunft nur gedachte Erwartung. Eine solche wirkliche Zeit der Gegenwart ist
Grundlage des Handelns im gegenwärtigen Augenblick.
Obgleich wir
Menschen durch den Zusammenhang von Ursache und Wirkung gebunden sind, können
wir im gegenwärtigen Augenblick beim Handeln völlig frei sein. Der gegenwärtige
Augenblick ist sehr kurz und kann bildhaft mit der scharfen Schneide einer
Rasierklinge verglichen werden: Eine Perle, die auf dieser Schneide im
Gleichgewicht liegt, kann zufällig auf die rechte oder linke Seite hinabfallen.
Wenn wir also die Gegebenheiten des wirklichen Handelns gründlich analysieren,
stoßen wir auf die praktische Lebensphilosophie des Handelns, die sich vom
Denken grundlegend unterscheidet. Hier schließt sich nun der Kreis zu der
Zazen-Praxis im gegenwärtigen Augenblick, denn das Sitzen ist ohne Zweifel eine
solche Art des wirklichen Handelns. Durch die Zazen-Praxis und das Handeln beim
Sitzen eröffnet sich die Wirklichkeit selbst, und diese ist die buddhistische
vierte Lebensphilosophie der Wirklichkeit und Wahrheit.
Wenn wir also
die Bedeutung des Zazen analysieren, ist es notwendig und sinnvoll, die
Lebensphilosophie des Handelns wesentlich einzubeziehen.
Zazen und das unterscheidende Denken des Dualismus
Wenn wir das
Wort „Zazen“ benutzen, vermuten wir zunächst, dass es dabei um Inhalte des
Denkens und der Überlegung geht, also um Inhalte der Meditation und die
Konzentration auf ein Thema oder Bild. Weil wir Menschen Lebewesen sind, die
das am höchsten entwickelte Gehirn besitzen, sind wir daran gewöhnt, bei den
verschiedensten Problemen des täglichen Lebens das Denken zu benutzen und die
Probleme verstandesmäßig zu bearbeiten, um sie zu lösen. Daher liegt es nahe,
dass wir auch die Fragen des Zazen mit dem Verstand angehen und entsprechende
Überlegungen anstellen. Aber das Wesen des Zazen kann auf keinen Fall im
Verstand und in der Überlegung gefunden werden. Daher erklärte bereits Meister Yakusan Igen, ein chinesischer
buddhistischer Meister aus dem 8. und 9. Jahrhundert, dass Zazen ganz genau
Folgendes ist: „Nicht denken (Hishiryo)!“
Manche sehen
Zazen als Methode an, um die Erleuchtung zu erlangen. Sie praktizieren mit dem
Ziel, bestimmte schwierige philosophische Probleme zu durchdenken, um die
richtigen Antworten zu finden und die Erleuchtung zu erlangen. Aber ein solches
Verständnis von Zazen ist total falsch. Ich verstehe deshalb nicht, dass einige
buddhistische Mönche von ihren Meistern buddhistische Fragen und Paradoxien (Koan)
erhalten, deren Bedeutung sie während der Praxis des Zazen durchdenken sollen.
Beides muss getrennt werden. Natürlich spielen auch Koan-Geschichten im
Buddhismus eine wichtige Rolle. Meister Dogen hat sie im Shinji Shobogenzo zusammengestellt und ich habe Erläuterungen dazu
verfasst. Für mich steht es aber außer Zweifel, dass die Verwechslung mit der
Zazen-Praxis auf einem extremen und folgenschweren Missverständnis beruht: Der
wahre Inhalt von Zazen ist es nämlich gerade nicht, irgendetwas zu durchdenken,
sondern er besteht im Gegenteil darin, sich zu bemühen, das Denken an
irgendwelche Dinge und Phänomene abzustellen.
Es ist
zweifellos richtig, dass der ausgezeichneten Fähigkeit der Menschen, etwas mit
dem Verstand zu durchdenken, ein äußerst hoher Wert in der menschlichen
Geschichte zukommt. Aber leider ist diese hervorragende menschliche Fähigkeit
selbst auch die Ursache für sehr viele Missverständnisse, für leidvolles
Denken, große Sorgen und überhaupt das Leiden. Das Denken ist oft die Ursache
für schwere Fehler, verbissene Kämpfe, Depressionen, Ideologien, Aggressionen
usw. Diese äußerst unerfreulichen menschlichen Eigenschaften können wir auf
keinen Fall leugnen, gleichwohl sind sie durch die eigentlich hervorragenden
menschlichen Fähigkeiten des Denkens und der Überlegung entstanden!
Wir können
daher vermuten, dass auch Gautama Buddha erhebliche Sorgen hatte und große
Anstrengungen darauf verwendete, seine eigene Denktätigkeit während der
Zazen-Praxis zu stoppen. Mit Sicherheit hat er bemerkt, dass es oft sehr
schwierig oder manchmal sogar fast unmöglich für ihn war, seine theoretischen
und scharfsinnigen Überlegungen zu beenden. Es ist in der Tat außerordentlich
schwierig für uns, in unserem täglichen Leben die Gedanken und Überlegungen zum
Stillstand zu bringen, wie dies beim Zazen möglich und sinnvoll ist. Deshalb
können wir auch bei Gautama Buddha davon ausgehen, dass er unter den
Schwierigkeiten gelitten hat, die oft endlose, sinnlose und quälende
Gedankentätigkeit zu stoppen, und dass er genau aus diesem Grund in die Praxis
des Zazen eingetreten ist und dabei dessen große heilende Wirkung entdeckt hat.
Die praktische
Seite des Zazen
Meister Dogen
hat uns in seinen Werken klare Ratschläge erteilt, wie der Ort beschaffen sein
sollte, an dem wir Zazen praktizieren: zum Beispiel in Fukan zazengi, das in Kapitel 11 zitiert und von mir erläutert
wird. Im Shobogenzo wird unter
anderem im Kapitel Zazengi die Praxis
des Zazen sehr genau beschrieben. In der folgenden Darstellung beziehe ich mich
deshalb auf diese Werke:
Wir sollten
möglichst in einem geschlossenen Raum Zazen praktizieren.
Einige
buddhistische Linien halten es manchmal für vorteilhaft, Zazen im Freien zu
praktizieren, aber Meister Dogen empfiehlt uns eindeutig Plätze in Innenräumen.
Im Freien gibt es eventuell störenden Wind, Rauch oder sonstige
Beeinträchtigungen, sodass die Bedingungen für Zazen ungünstig sein könnten.
Der Ort für
die Zazen-Praxis sollte bei Tag und Nacht hell sein.
Neuerdings
wird in Japan manchmal geraten, Zazen in einem dunklen Dharma-Raum (Zendo) zu
praktizieren, aber diese Angewohnheit steht im vollständigen Gegensatz zu den
Darstellungen von Meister Dogen.
Der Ort für
Zazen sollte in der kalten Jahreszeit warm und in der warmen Jahreszeit kühl
sein.
Wenn jemand in
der kalten Jahreszeit an einem kalten Ort Zazen praktiziert oder umgekehrt in
der heißen Zeit an einem heißen Ort, widerspricht auch dies den Vorschlägen Dogens
völlig. Buddhismus kann niemals Ähnlichkeiten mit irgendeiner Art von Askese
haben.
Der Ort für
Zazen sollte möglichst ruhig sein.
Aber wir
sollten dabei nicht zu perfektionistisch vorgehen und darin keine unnötigen
Probleme sehen, denn es ist heute fast unmöglich, auf dieser Erde überhaupt
einen absolut ruhigen, natürlichen Ort zu finden.
Der Ort für
die Zazen-Praxis muss nicht unbedingt sehr groß sein.
Meister Dogen
formulierte im Kapitel Zazengi des Shobogenzo: „Wähle einen Bereich, der
den Körper aufnehmen kann.“
Der Ort für
die Zazen-Praxis sollte sinnvollerweise in einem Dorf in den Bergen oder auch
in einer Stadt sein.
Es ist nicht
erforderlich, dass wir unbedingt auf einer besonders schönen natürlichen
Umgebung bestehen.
Meister Dogen
beschreibt in Kapitel 93 des Shobogenzo,
„Der Wille zur Wahrheit“ (Doshin),
dass wir immer die Kashaya tragen,
wenn wir im Zazen sitzen. Diese Worte sind so zu verstehen, dass nicht nur
buddhistische Mönche und Nonnen, sondern auch alle anderen Männer und Frauen,
also die Laien, die Kashaya oder das Rakusu tragen sollten, wenn sie Zazen
praktizieren. Wir dürfen davon ausgehen, dass dieses Kapitel nicht nur für
Mönche und Nonnen, sondern auch für Laien geschrieben wurde. Es zeichnet sich
nämlich durch eine freundliche, entgegenkommende und sanfte Ausdrucksweise aus,
wenn man es mit anderen Kapiteln des Shobogenzo
vergleicht, die sich nur an Mönche und Nonnen richten.
Ich habe die
große Hoffnung, dass alle Mitglieder der Dogen-Sangha International, also
sowohl buddhistische Mönche und Nonnen als auch alle anderen Männer und Frauen,
immer die Kashaya tragen, wenn sie
Zazen praktizieren. Dies erscheint mir für alle Mitglieder sehr erstrebenswert
zu sein. Allerdings haben wir vorher einige Schwierigkeiten zu lösen, wenn wir
dies realisieren wollen. Ich will sie im Folgenden kurz aufführen.
Eine Kashaya aus wertvollen Stoffen, zum
Beispiel Seide, ist heute in einem Fachgeschäft sehr teuer. Für buddhistische
Mönche und Nonnen mag es angehen, dass sie so viel Geld für dieses Gewand
ausgeben, weil sie es ihr ganzes Leben lang für ihre Übungen benutzen. Aber bei
den Laien ist die Bereitschaft dazu vielleicht geringer, da sie es viel weniger
benutzen. Deshalb sollten wir auf dem Markt eine preiswertere Kashaya erwerben oder sie selbst nähen.
Wir müssen nicht unbedingt von Hand nähen, sondern können eine Nähmaschine
benutzen. Außerdem ist es nicht erforderlich, teuren Seidenstoff zu verwenden,
preiswerte synthetische Stoffe sind ebenfalls geeignet. Mir erscheint es
sinnvoll, dass wir uns bei der Größe der Kashaya
für alle auf eine mittlere Größe einigen. Genauso sollten wir uns bei der Farbe
abstimmen und können zum Beispiel Mokuran-ji
wählen, die in der Soto-Linie gegenwärtig gern verwendet wird. Dieser Farbton
liegt zwischen einem hellen Gelb und einem Braun.
Ich halte es
durchaus für möglich, dass es realisierbar ist, auch preiswerte Kashayas
herzustellen. Es kann allerdings noch mehrere Jahre dauern, bis wir einen
Menschen oder eine Firma finden, um diesen Plan in die Tat umzusetzen.
Vielleicht gelingt dies nicht mehr vor meinem Tod. Aber ich hoffe aufrichtig,
dass es einmal möglich sein wird, auch wenn dies vielleicht eher ein
romantischer Traum für die Zukunft bleibt.
Es ist auch
für Mönche und Nonnen angemessen, die Kashaya über der normalen Kleidung zu
tragen. Wer keine Kashaya besitzt, darf in seiner normalen Kleidung Zazen
praktizieren. Ein Rakusu, das man als
verkürzte Kashaya bezeichnen könnte, ist ebenfalls geeignet.
Das
Sitzkissen, das man beim Zazen verwendet, heißt auf Japanisch Zafu. In der Regel ist es ein schwarzes
rundes Kissen. Im Fukan zazengi wird
es Futon genannt. Dabei bedeutet Fu „Kissen“ und ton „rund“, sodass wir den Begriff „Futon“ zur Zeit von Meister Dogen
als Bezeichnung für ein schwarzes rundes Sitzkissen für Zazen verstehen können.
Heute hat das Wort Futon dagegen die
Bedeutung einer besonderen Matratze und eines speziellen Bettes angenommen.
Das Zafu besitzt einen Durchmesser von etwa 46
Zentimeter. Es ist mit Kapok gefüllt und muss die nötige Festigkeit haben,
sodass sich eine Sitzhöhe von etwa 15 bis 25 Zentimeter ergibt, wenn der
Praktizierende auf dem Kissen sitzt. Verwenden wir dagegen zum Beispiel
Baumwolle als Füllung, wird sie im Laufe der Zeit stark zusammengedrückt und
sehr hart, weshalb dann das Sitzen schmerzhaft werden kann. Wir sollten daher
Kapok als Kissenfüllung bevorzugen. Ich empfehle auch nicht die in Europa häufige
Füllung mit Getreidespelzen, da diese Kissen bei längerem Sitzen ebenfalls
recht hart werden und daher weniger angenehm sind. Gute Zafus kann man heute
auch über das Internet bestellen.
Ist kein Zafu
vorhanden, kann man eine mehrfach gefaltete Decke benutzen, die ebenfalls eine
Höhe von etwa 15 bis 25 Zentimeter haben sollte. Außerdem können drei oder vier
feste japanische Kissen, die Zabuton
genannt werden, als Unterlage dienen. Grundsätzlich sind auch andere feste
Kissen der richtigen Höhe brauchbar. Wenn man sich selbst ein Zafu herstellen
möchte, sollte man darauf achten, dass der äußere Stoff nicht zu glatt ist und
sich bei Benutzung nicht zu sehr dehnt. Er muss nicht unbedingt sehr teuer
sein, sollte aber aus einem festen Material bestehen und einfach zu nähen sein.
Ist der
Zazen-Raum mit der sogenannten Tatami,
also einer japanischen Matte aus bestimmten Binsen ausgelegt, benötigen wir
eine nicht zu harte Unterlage oder einen Zabuton, damit möglichst wenig
Schmerzen in den Beinen auftreten.
In einigen
buddhistischen Gruppen werden kleine rechteckige Kissen zum Zazen verwendet,
die einem kleinen Zabuton ähnlich
sind. Ich fürchte allerdings, dass es damit zu schwerfällt, das Rückgrat gerade
und senkrecht gestreckt zu halten, weil das Kissen zu dünn ist. Diese Situation
erschwert es, die fortlaufenden Gedanken und Gefühle zu stoppen. Ich empfehle
daher ein normales Zafu für Zazen.
Im Folgenden
soll der Ablauf der Zazen-Praxis kurz erläutert werden. Zunächst verbeugen wir
uns zum Sitzkissen hin und dann in die entgegengesetzte Richtung, um unsere
Ehrerbietung für Zazen auszudrücken.
Danach lassen
wir uns auf dem Kissen nieder und nehmen entweder den halben oder den ganzen
Lotossitz ein. Beim ganzen Lotossitz sind beide Beine und Füße miteinander verschränkt.
Anschließend
ordnen wir die Kashaya und unsere übrige Kleidung locker, aber mit einer
gewissen Sorgfalt, sodass die Knie bedeckt sind. Die Hände werden so
ineinandergelegt, dass sich die Daumen leicht berühren.
Beim Zazen
selbst sitzen wir aufrecht und halten die Wirbelsäule so senkrecht wie möglich.
Nach dem Zazen
verbeugen wir uns, während wir noch sitzen. Dann erheben wir uns und drücken
das Sitzkissen seitlich zusammen, sodass es wieder locker und höher ist.
Zum Schluss
verbeugen wir uns wie zu Beginn mit zusammengelegten Händen zum Kissen hin und
in entgegengesetzter Richtung.