Donnerstag, 7. November 2019

Bindung und Befreiung des Menschen

(Aus meinem neuen Buch "Sternstunden des Buddhismus Bd. 2")
Völlig neue Übersetzung des indischen Original-Textes aus dem Sanskrit

Nach der Mönchs-Zeremonie von Nishijima Roshi


Bindung und Befreiung auf dem Mittleren Weg des berühmten indischen Meisters Nāgārjuna, Kapitel 16 des MMK


Hinführung

Der Mensch wird nach den vorausgehenden Analysen in den nun folgenden Kapiteln des MMK mit philosophischer Präzision als Ganzes untersucht. Dies geschieht konsistent im Rahmen der wahren buddhistischen Lehre und Praxis.[i] Ziel ist die Klärung des Seienden in Beziehung zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, zur Leerheit, Kausalität, zum Handeln, und nicht zuletzt geht es um die buddhistische Ethik. Dabei destruiert Nāgārjuna den Glauben an ein substantiales unveränderliches Selbst, das dem vorbuddistischen ātman sehr nahe kommt.

Viele Verse im MMK sind in der Form der sogenannten spekulativen Sätze[ii] formuliert, beginnen also mit „falls“ oder „wenn“ und sind grundsätzlich von Aussagesätzen zu unterscheiden. Man nennt sie auch tentative Sätze. Diese spekulativen Sätze lassen sich am besten als Bedingungssätze verstehen, und zwar in diesem Sinn: „Wenn man das so Formulierte annimmt, ergibt sich Folgendes.“ Bei Nāgārjuna fangen solche Sätze allerdings nur teilweise mit „falls“ oder „wenn“ an und sind daher nicht immer sofort als Sätze zu erkennen, in denen es um Überlegungen und Spekulationen geht, die oft zur Destruktion und Falsifizierung führen.

Am Anfang der Kapitel im MMK stehen häufig Behauptungen der zu destruierenden Doktrinen. Die authentische Lehre Buddhas wird dabei als Wahrheitsbezug verwendet. Vor allem kommt dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und der Leerheit eine zentrale Bedeutung zu. Diese pragmatische Philosophie ist zweifellos für Veränderungen, Prozesse, Befreiungsvorgänge und Emanzipation besonders gut geeignet oder sogar notwendig und kann die Komplexität dieser Welt sachgerecht beschreiben. Kalupahana betont, dass die authentische buddhistische Philosophie dem Druck des neu erstarkten Brahmanismus standhalten konnte, solange die Wechselwirkung klar verstanden wurde.[iii] Als dieses Verständnis verloren ging, hätten sich metaphysische spekulative Doktrinen entwickelt, die die wahre Lehre nicht mehr richtig wiedergeben konnten. Entsprechend ist ein Wirklichkeitsmodell, das von unveränderlichen Substanzen und abgegrenzten Entitäten ausgeht, ungeeignet, um die zentralen Probleme des Lebens, also Bindung und Fesselung, zu lösen und die Befreiung und Emanzipation des Menschen fundiert zu behandeln.

Genau um die Frage von Bindung und Befreiung geht es in diesem Kapitel. Nāgārjuna beweist mit philosophischer Genauigkeit, dass der Ansatz eines ātman-Selbst oder allgemeiner gesagt eines substanzhaften dauerhaften und unveränderlichen Selbst als unsichtbarem Wesenskern im Sinne des Substantialismus ungeeignet ist, um dieses Thema zu bearbeiten. Den simplen Glauben an einen schon immer vorhandenen ātman-Kern des Menschen, der durch zwanghafte Bindungen und Beschmutzungen unfrei wird, lehnte bereits Buddha ab. Ein solcher illusionärer Substantialismus erzeugt Unglück, Schmerzen und Leiden.

Die häufigen Destruktionen Nāgārjunas betreffen solche spekulativen und doktrinären Sätze, die Fehlentwicklungen und falsche Interpretationen des Buddhismus zum Inhalt haben. Wegen dieser Destruktionen und Falsifikationen ist vermutlich die Einschätzung entstanden, Nāgārjuna sei ein Nihilist, der nur Negationen anzubieten habe. Dieses halte ich nicht für richtig. Außerdem folge ich nicht der Interpretation, er mache keine positiven Aussagen, sondern destruiere nur unrichtige Doktrinen.

In diesem Kapitel beschäftigt er sich mit der zentralen Frage, wie sich ein Mensch aus einengenden und erdrückenden Zwangsbindungen befreien kann, wie er also Abhängigkeiten von Gier, Hass, Verblendung, Suchtmitteln, Macht, Sex usw. überwinden und sich durch Praxis, Achtsamkeit und Selbststeuerung einen wachsenden Freiheitsbereich schaffen kann. Der Mensch ist dann kein willenloser Spielball der äußeren und inneren Bedingungen und Kräfte mehr, sondern überwindet solche fixierenden Einengungen. Er wird von ihnen nicht deterministisch gesteuert. Es geht also darum, wann und wie weit jemand in seinem Handeln, Denken, Fühlen, Entscheiden und Planen im Rahmen des durch die Wirklichkeit Gegebenen frei ist. Auf dem Weg der Befreiung sind nicht nur psychische Blockaden und Begrenzungen wie Narzissmus und Borderline-Syndrom zu überwinden, sondern auch geistig hemmende und einengende Konzepte. Dabei ist die Selbstreflexion oder, wie es in Buddhas Lehre heißt, die Achtsamkeit und Betrachtung seiner selbst von zentraler Bedeutung. Nāgārjuna warnt vor der Illusion, dass es eine absolute Freiheit geben könnte, denn das wäre ein Extrem, das in der Wirklichkeit nicht vorkommt.

Nishijima Roshi formuliert es so: „Ob wir uns eingeengt und eingegrenzt oder frei fühlen, hängt ganz wesentlich von unserer eigenen emotionalen Situation ab. Unser psychischer und geistiger Zustand wird nach meiner festen Überzeugung ganz wesentlich durch unser vegetatives Nervensystem bestimmt“, also davon, ob es im Gleichgewicht ist oder nicht. „Es ist das natürliche Bestreben und der große Wunsch des Menschen, völlig frei und emanzipiert zu sein. Aber dies dürfte in der Wirklichkeit unmöglich sein“, betont er ferner und rät, dass wir realistisch sein und im Hier und Jetzt leben und handeln sollten. Zum einen spielen die realen Bedingungen, in denen wir leben oder leben müssen, eine wichtige Rolle, aber nicht zuletzt sind auch unsere subjektive psychische und physische Situation der Spannung oder Entspannung von entscheidender Bedeutung.

Ein wichtiges Thema in Kapitel 16 ist außerdem die Wiedergeburt. Sie hatte in verschiedenen Lebensabfolgen des Samsara im alten Indien einen selbstverständlichen Wahrheitsgehalt und wird auch von Buddha nicht grundsätzlich abgelehnt. Nachdem im Buddhismus aber der unveränderliche Wesenskern eines ātman widerlegt wurde, fragt sich natürlich, was denn wiedergeboren wird, wenn es dieses ātman-Selbst nicht gibt. Das sind keine einfachen philosophischen Probleme, die im Buddhismus in der Nachfolge Buddhas häufig kontrovers diskutiert wurden. Allerdings hat Buddha immer wieder betont, dass wir uns nicht mit Fragen und Problemen der Wiedergeburt quälen sollten, sondern uns ganz auf die Überwindung des Leidens sowie auf die Emanzipation und Erleuchtung in diesem Leben einlassen und konzentrieren sollten.

Übersetzung und Erläuterung der Verse des MMK
Vers 16.1
Wenn angenommen wird, dass die formenden Kräfte (samskāra) wandern, so wandern diese nicht als unveränderliche und ewige Entitäten.
Und sie wandern nicht als nicht-ewige Entitäten (die plötzlich zu Ende sind).
Auch für Lebewesen gelten diese gleiche Folgerung und diese Argumente.

Die formenden Kräfte gehören zu den fünf Skandhas, den Komponenten des Menschen. Nāgārjuna destruiert in diesem Vers die Doktrin, dass diese Komponenten unverändert und isoliert wiedergeboren werden, wie es zum Beispiel Vertreter des Substantialismus behaupteten. Er zeigt auf, dass die Skandhas keine unveränderlichen Substanzen oder Entitäten sind.

Es ist eine alte Frage im Buddhismus, ob die Skandhas unverändert, verändert oder überhaupt nicht in die Wiedergeburt eingehen. Nāgārjuna falsifiziert hier die beiden Extreme, dass die formenden Kräfte ganz unverändert, also identisch, oder überhaupt nicht wandern, also gar nicht wiedergeboren werden. Er hat damit keine Aussage getroffen, ob es eine solche Wiedergeburt gibt oder nicht, sondern behandelt die Bedingung, falls diese menschliche Komponente wandert.

Was für die einzelnen Komponenten gelte, sei auch für ein Lebewesen, insbesondere den Menschen, richtig. Im Falle einer Wiedergeburt schließt er demnach die Extreme aus, dass ein Mensch entweder genau derselbe oder total verschieden ist, wenn er wiedergeboren wird.

Nishijima Roshi ergänzt: „Meist wird die Aussage dieses Verses nur auf die Wiedergeburt bezogen und damit als Wandern durch das Samsara zum nächsten Leben interpretiert. Mir scheint dies viel zu eng zu sein und kann der Bedeutung dieses ganzen Kapitels nicht gerecht werden. Daher verwende ich den Begriff ,weiter gehen‘ oder ,durch das Leben gehen‘.“

Vers 16.2
Wenn angenommen wird, dass eine Person durch die Wiedergeburten wandert und in den fünf Komponenten des Menschen, den Skandhas, danach gesucht wird, so existiert eine solche Person nicht.
Die Person existiert auch nicht in den sechs Sinnen und den sechs Elementen.
Wer wird überhaupt wandern?

In diesem Vers wird untersucht, ob eine Person identisch wandert und transmigriert, nachdem in den vorangegangenen Kapiteln bereits die verschiedenen Alternativen einer dauerhaften Existenz falsifiziert wurden. Nāgārjuna führt hier die Skandhas, die Sinnesbereiche und die Elemente auf, die bei einer Wiedergeburt wandern könnten. Sie wären nach der damaligen Vorstellung für die neue Existenz maßgebend. Zunächst wird angenommen, dass der Mensch gewissermaßen als unsichtbarer Kern in den fünf Komponenten, den Skandhas, enthalten sein könnte. Selbst wenn man dort aber intensiv suchen würde, ist laut Nāgārjuna ein Substanz-Selbst nicht zu finden. Das gilt auch und gerade, wenn man wünscht, dass die Person insgesamt mit einem oder mehreren Skandhas wandert.

Nāgārjuna schließt diese Alternative aus. Im vorigen Vers wurde eine solche Transmigration für die formenden Kräfte oder Verhaltensmuster (samskāra) ausgeschlossen. Dieser zweite Vers ist nun die Verallgemeinerung des ersten und bezieht sich auf alle Skandhas, Sinnesbereiche und Elemente. Die gleiche Destruktion für die formenden Kräfte gilt also, wenn bei einer angenommenen Wiedergeburt behauptet wird, dass das Substanz-Selbst des Menschen mit einem oder mehreren der sechs Sinne oder den Elementen wandern würde. Damit wird die Doktrin des Substantialismus falsifiziert, dass etwas Unveränderliches, nämlich eine unveränderliche Person, durch die Wiedergeburten wandern würde.

Schließlich stellt Nāgārjuna die generelle Frage, wer oder was überhaupt wandern könne, ohne sie an dieser Stelle zu beantworten. Das legt nahe, dass es überhaupt keine Wanderung bei der Wiedergeburt in dieser Form geben kann.

Im gesamten Vers sagt Nāgārjuna nicht eindeutig, ob es seiner Überzeugung nach eine Wiedergeburt gibt und in welcher Form diese stattfinden könnte. Es geht ihm hier um die Destruktion falscher Doktrinen. Alle Aussagen sind als Möglichkeit mit „wenn“ oder „falls“ formuliert. Die Skandhas, Sinnesbereiche und Elemente werden aber keinesfalls negiert.

Nishijima Roshi erläutert hierzu Folgendes: „Dieser Vers bezieht sich auf die fünf Komponenten des Menschen und der Welt (Skandhas): Materie, Sinneswahrnehmung, Denken, wirkliches Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten dürfen wir uns aber nicht dinghaft vorstellen, sondern sie haben sowohl eine materielle als auch eine spirituelle Dimension, beides ist eine Ganzheit, die sich ständig verändert. Die Wirklichkeit der fünf Komponenten können wir im Gleichgewicht des Samādhi, Zazen, beobachten, erforschen, also deren Wirklichkeit erkennen.

Wenn die fünf Komponenten (Skandhas) ganz verwirklicht sind, und dies ist eine Art von klarem und tiefem Erforschen, ist es für uns möglich, wirklich durch den Alltag zu gehen. Dies gilt für die Gegenwart und Zukunft.“

Vers 16.3
Eine solche Person würde von einer Form des Aneignens und Ergreifens zur anderen wandern und etwas werden, das etwas total anderes wäre, das wäre Fremd-Entstehen.
Was ist eine solche Person, die aufgehört hat zu sein und sich nichts aneignet und nichts ergreift? Und zu welcher Person hin würde sie wandern?

Die Kernaussage dieses Verses betrifft die Veränderung und das Werden bei der Wiedergeburt. Bei den bisher erörterten Annahmen gibt es jedoch keine Veränderung, weil der Substantialismus davon ausgeht, dass der Mensch, die Skandhas und alles andere unveränderlich sind. Andererseits ist die altindische Lehre der Wiedergeburt wesentlich durch das sogenannte Ergreifen bestimmt, was kurz gefasst bedeutet, dass der Wiedergeborene die vorherigen Skandhas, also seine vorherigen Komponenten, ergreift und dadurch zu einer neuen Person wird. Diese sei durch die Eigenschaften, formenden Kräfte und Verhaltensmuster seines vorherigen Lebens bestimmt. Nāgārjuna arbeitet hier den inneren Widerspruch heraus, dass einerseits bei der Wiedergeburt etwas ergriffen wird, aber andererseits im Substantialismus die Doktrin besteht, dass sich nichts verändert, also alles identisch ist mit dem Vorherigen.

Er stellt dann die logische Frage, wie eine solche Person überhaupt existieren könne und was bei der Wiedergeburt eigentlich wandere. Die Antwort muss an dieser Stelle lauten, dass überhaupt nichts Unveränderliches wandern kann und dass die Wiedergeburt bei der substantialistischen Doktrin nicht möglich ist.

Nishijima Roshi erweitert die Bedeutung auf das jetzige Leben: „Wenn wir keine klare Wahrnehmung und Einsicht haben, scheint es so, als ob unser Körper und Geist völlig ziellos durchs Leben gehen. Wenn aber die Wahrnehmung im Gleichgewicht ist und von uns selbst gesteuert wird, so gilt dies auch für Körper und Geist. Dann überschreitet die Sinneswahrnehmung die gewöhnliche materielle und daher begrenzte Wahrnehmung durch unsere Sinnesorgane.“



Vers 16.4
Das Verschwinden und Verwehen der formenden Kräfte und Prägungen des Verhaltens sind nicht irgendwie möglich.
Das Verschwinden und Verwehen der Lebewesen sind nicht irgendwie möglich.

Dieser Vers untersucht die Frage, ob Komponenten des Menschen – hier die formenden Kräfte oder Verhaltensprägungen (samskāra) – in diesem Leben „verwehen“ können. Nāgārjuna erklärt, dass es eine logische Unmöglichkeit wäre, dass eine unveränderliche Substanz, die der Substantialismus ja annimmt, zum Beispiel eine Komponente des Menschen, vergeht und verweht, also als gesonderte Einheit nicht weiterbesteht. Der innere Widerspruch ist klar: Wenn eine Komponente des Menschen unveränderlich wäre, könnte sie sich nicht plötzlich auflösen und verschwinden. Aber Befreiung in diesem Leben bedeutet gerade, dass hemmende Prägungen und Verhaltensmuster sich zum Guten verändern. Daher ist die Doktrin des Substantialismus für den Prozess der Befreiung völlig ungeeignet.

Was für die einzelnen Komponenten gilt, das gilt auch für den gesamten Menschen. Entgegen der substantialistischen Doktrin sind die Skandhas laut Buddha und Nāgārjuna miteinander in Wechselwirkung und veränderlich.

Zur Überwindung von Doktrinen sagt Nishijima Roshi: „Es ist also ganz wesentlich, dass wir im Zustand des Gleichgewichts und der Balance handeln. Sonst ist es nicht möglich, irgendetwas Wichtiges und Wertvolles zu tun. Wahres Handeln ist dann unmöglich.“

Vers 16.5
Die (wirklichen) Verhaltensmuster und formenden Kräfte (Skandhas, samskāra) werden (substantial) weder gebunden noch befreit. Sie haben die Phänomene, Dharmas, des Entstehens und Vergehens, des Aufgehens und Auseinandergehens.
Wie bereits gesagt, wird ein Lebewesen weder absolut gebunden noch absolut befreit.

In diesem Vers behandelt Nāgārjuna das Problem, inwieweit die formenden Kräfte als Komponenten des Menschen gebunden oder befreit sein können, wenn man sie als unveränderliche Substanz versteht. Aus den vorigen Versen wird klar, dass bei der substantialistischen Doktrin getrennter unveränderlicher Substanzen, die wie völlig isolierte Einheiten betrachtet werden, prozessuales Befreien und Binden gar nicht möglich ist. Solche substantialen Entitäten würden ganz selbstständig und isoliert voneinander existieren. In diesem Fall wären nur zwei Zustände möglich: total gebunden oder total befreit. Das sind jedoch völlig unrealistische Extreme.

Gemäß der Wahrheit des wechselwirkenden gemeinsamen Entstehens sind die Komponenten des Menschen gerade durch Veränderungen – oder wie es hier heißt Aufgehen und Auseinandergehen – gekennzeichnet. Ein solches Entstehen und Vergehen ist von zentraler Bedeutung für den Entwicklungs- und Befreiungsprozess des Menschen. Ohne Veränderungen, Entwicklungen und Lernprozesse macht die gesamte buddhistische Lehre keinen Sinn. Die Befreiung ist ein Entwicklungsprozess, der vor allem durch die Empfehlungen Buddhas im Achtfachen Pfad gesteuert wird.

Nishijima Roshi erläutert hierzu: „In diesem Vers geht es um die zentrale Frage der Freiheit und Bindung. Auf der logischen Ebene sind die beiden Konzepte von Freiheit und Determination unvereinbar, wenngleich viele Menschen und sogar Philosophen eine solche Ausschließlichkeit vertreten: Entweder sind wir durch die vorausgehenden Ursachen determiniert und festgelegt, dann haben wir keine Willensfreiheit, so sagen sie. Oder unser Geist sei im idealistischen Sinne frei und entscheidet, was zu tun ist und wie es in Zukunft weitergeht. In der Wirklichkeit dieser Welt gibt es beides (Befreiung und Bindung), was nur in der Theorie unvereinbar erscheint.“

Vers 16.6
Falls jemand (als Entität) bei Bindung total identisch mit Ergreifen ist, wäre er nicht gebunden.
Falls jemand total verschieden von Ergreifen ist, wäre er auch nicht gebunden.
Welchen Zustand muss jemand haben, der sodann gebunden wird?

In diesem Vers werden zwei Extreme dargestellt: Beim ersten Extrem gibt es bereits eine Einheit und Identität von Bindung und Ergreifen, sodass rein logisch nichts erneut ergriffen werden kann, was getrennt von dieser Einheit ist. Binden und Ergreifen haben in einem solchen Zustand ihre eigentliche Bedeutung verloren, dass sie etwas zusammenbringen, was vorher nicht zusammen war, also getrennt existierte. Das zweite Extrem ist das der vollständigen Trennung, bei der es keine Verbindung geben kann. Wenn ein Mensch zudem überhaupt nicht die Eigenschaft des Ergreifens hat, ist natürlich ebenfalls keine Bindung möglich, weil er ja nicht greifen kann. Es kann also die Bindung oder Unfreiheit eines Menschen, der substantialistisch verstanden wird, weder mit noch ohne Ergreifen geben. Der Begriff Ergreifen ist typisch für substantialistische Doktrinen.

Nāgārjuna stellt am Ende des Verses die Frage, welche Situation überhaupt geeignet ist, das Problem von Binden und Ergreifen zu lösen. Wenn ein Mensch eine unveränderliche und isolierte Substanz wäre, könnte er sich mit nichts verbinden und auch nichts ergreifen, weil er ja vollständig abgekapselt wäre. Daher ist die Doktrin des dinghaften Substantialismus abzulehnen.

Nishijima Roshis Interpretation hierzu lautet: „In unserem normalen Leben haben wir häufig das Gefühl, begrenzt zu sein und äußeren oder inneren Restriktionen zu unterliegen. Wenn wir jedoch die Situation im gegenwärtigen Augenblick betrachten, so gibt es eigentlich weder Restriktionen noch absolute Freiheit, weil beides nur Beschreibungen und sogar Bewertungen sind. Beschreibungen sind aber niemals die Wirklichkeit selbst und Bewertungen schon gar nicht.“

Vers 16.7
Wenn Bindung etwas wäre, das (als Entität) schon vorher entstehen und werden würde, könnte die spätere Bindung ganz nach Belieben und willkürlich erfolgen. Und so etwas existiert nicht.
Das Übrige wurde im zweiten Kapitel über das Gehen durch die Klärung von „gegenwärtig Begangenem, Begangenem, noch nicht Begangenem“ behandelt.

Der Fehler bei der Vorstellung, die dieser Vers beschreibt, liegt darin, dass Binden und Ergreifen als eigene getrennte Entitäten wie getrennte Gegenstände gedacht werden. Sie wären demnach schon vor dem Prozess des Bindens da. Dann wäre allerdings logischerweise eine völlige Beliebigkeit gegeben, was in der Wirklichkeit nicht der Fall ist, denn Binden und Ergreifen sind zeitlich und sachlich zusammengehörige wechselwirkende Prozesse.

Schon im zweiten Kapitel des MMK über das Gehen hat Nāgārjuna die Idee getrennter Entitäten und Substanzen falsifiziert und dadurch die entstehenden doktrinären Widersprüche beseitigt. Er hat detailliert analysiert, dass der Prozess des Gehens und Begangen-Werdens zusammenhängend, also als wechselwirkender Prozess, verstanden werden muss, damit es nicht zu Widersprüchen und unauflösbaren Paradoxien kommt. Das in der Vergangenheit Begangene, das gegenwärtig Begangene und das zukünftig zu Begehende hängen selbstverständlich zusammen, sind aber niemals total identisch, weil sonst zum Beispiel die Vergangenheit und Zukunft dasselbe wären, und das ist natürlich sinnlos. Daraus ergibt sich, dass eine Unterteilung in abgegrenzte dinghafte Entitäten beim Prozess des Gehens und der Bewegung eine grundsätzlich falsche Weltanschauung und ein falsches Konzept ist, um die Wirklichkeit zu verstehen.

Für die Wirklichkeit des Begangenen ist eine substantialistische Doktrin genauso ungeeignet wie für das Binden und Fesseln in der Unfreiheit. Beides ist richtig als Entstehen in Wechselwirkung zu erklären. Ohne den Ansatz des wechselwirkenden gemeinsamen Entstehens gibt es kein sinnvolles Erklärungsmodell für die Prozesse und vernetzten zeitlichen Veränderungen in der Wirklichkeit.

Nishijima Roshi sagt zu Bindung und Befreiung: „Die reinen Tatsachen sind unabhängig vom Reden und Denken (und von Doktrinen). Damit eröffnet sich die wirkliche Freiheit im Augenblick.“

Vers 16.8
(Mit der Doktrin des Substantialismus) wird ein Gebundener nicht befreit. Allerdings wird auch ein Nicht-Gebundener eben nicht befreit.
Wenn man behauptet, dass ein Gebundener befreit wird, würden Bindung und Befreien gleichzeitig sein.

Nun geht es um die im Buddhismus so zentrale Frage, wie sich ein Mensch aus einengenden oder sogar erdrückenden Bindungen befreien kann, wie er also Abhängigkeiten wie zum Beispiel Gier, Hass, Verblendung oder Machtgier überwinden und sich durch Selbststeuerung einen Freiheitsbereich schaffen kann. Der Mensch ist dann nicht mehr ein Spielball der äußeren und inneren Bedingungen, sondern überwindet solche deterministischen Einengungen und wird von ihnen nicht mehr zwangsläufig fremdgesteuert. Es geht also darum, wann jemand in seinem Handeln, Denken, Entscheiden und Planen im Rahmen des durch die Wirklichkeit Gegebenen frei ist und wie er den Weg der Befreiung gehen kann.

Dabei sind nicht zuletzt psychische Blockaden, begrenzende Muster, verfestigte unheilsame Prägungen und geistig hemmende Konzepte zu überwinden. Es leuchtet ein, dass hierfür Selbstreflexion oder, wie es in Buddhas Lehre heißt, Achtsamkeit und Betrachtung seiner selbst notwendig sind. Die Achtsamkeit ist das wichtige siebte Glied im Achtfachen Pfad im Sūtra über die Grundlagen der Achtsamkeit. Auch das achte Glied – die Meditation mit verschiedenen praktischen Übungen – ist von sehr großer Bedeutung für den Befreiungsprozess. Nach der Lehre Buddhas geht es also nicht ohne Meditation. Ein rein intellektueller Befreiungsprozess, der meist implizit in der westlichen Philosophie angenommen wird, ist damit wenig Erfolg versprechend.

Nishijima Roshi fasst zusammen, dass es in der Wirklichkeit immer die Ganzheit von Restriktion und Emanzipation gibt und nicht das absolute Entweder-Oder.

Vers 16.9
(Jemand könnte sagen:) „Ich werde befreit sein und verwehen und ohne Ergreifen und Festhalten sein. Dann wird für mich Freiheit und Verwehen, also Nirvāna, entstehen und werden.“
Aber für Menschen wäre ein solches Festhalten (an dieser Doktrin) gerade ein großes Festhalten am Ergreifen.

Nāgārjuna kritisiert hier, dass jemand voller Selbststolz glaubt, er sei vollständig frei und erleuchtet, um nicht zu sagen heilig. Dadurch ist der Betreffende jedoch an diese Doktrin seiner angeblichen, aber nicht wirklichen Freiheit gefesselt und deshalb erstarrt und gebunden. Die doktrinäre Fiktion blockiert dann die tatsächliche Befreiung und Emanzipation. Das könnte man als „Mauern im Gehirn“ bezeichnen. Die totale Freiheit würde bedeuten, dass es keine Regeln, soziale Bindungen, keine Kooperationen und kein Glauben an irgendeine Lehre, auch nicht an eine heilsame, gibt. Bei einer solchen unrealen Weltanschauung sind ungesteuerter Egoismus und das soziale Chaos nicht mehr weit. Kein Mensch kann jedoch eine totale Freiheit in diesem Leben erlangen, denn er ist immer in Wechselwirkung mit anderen Menschen und der besonderen Situation, in der er lebt. Die Behauptung, man sei vollständig frei, ist daher keine Aussage der Wirklichkeit, sondern ein schwerer Irrtum des denkenden Geistes.

Ähnlich verhält es sich übrigens mit der eingebildeten Erleuchtung, die der Wirklichkeit von Körper, Geist und Psyche widerspricht und nur der doktrinäre Glaube an die Illusion der eigenen Erleuchtung ist. Befreien ist ein kontinuierlicher Prozess, der von Buddha treffend im Achtfachen Pfad beschrieben wird. Er lässt erstarrte Handlungsmuster und Prägungen, zum Beispiel negative formende Kräfte (samskāra), zur Ruhe kommen und eröffnet damit neue Bereiche des Handelns, Denkens und Fühlens und nicht zuletzt der Kreativität. Im Hinblick auf das Handeln und die Verantwortung des Menschen geht es im Buddhismus darum, in der Gegenwart verantwortungsvoll zu handeln und in klarer Ethik anderen und sich selbst Gutes zu tun, also heilsam tätig zu werden. Auch im Zen-Buddhismus steht nicht an erster Stelle, auf die eigenen Verdienste, Ergebnisse und die sogenannten Früchte fixiert zu sein, sondern im Handeln selbst Klarheit zu gewinnen und das Handeln eines Bodhisattva zu verwirklichen.

Wer sich zu sehr auf die angestrebten oder ersehnten großartigen Ergebnisse konzentriert, ist in Gefahr, im Handeln selbst bereits einen verengten und egoistischen Geist zu entwickeln. Er geht ein hohes Risiko ein, unklar darüber zu werden, was überhaupt für jemand anderen wirklich sinnvoll und gut ist. Unstrittig ist hingegen, dass ein Handeln im Augenblick, das heute auch als Flow bezeichnet wird, ein besonders gutes Lebensgefühl vermittelt und in der Lage ist, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten.

Vers 16.10
Wo es weder das Verwehen ins Nirvāna als Bewegung dorthin gibt, noch das Wegziehen des Wanderns aus dieser Welt, fragt sich,
welches Wandern in der Welt und welches Verwehen aus der Welt man auf diese Weise doktrinär und künstlich konstruiert.

Nāgārjuna zeigt hier auf, dass mit dem Substantialismus die Realität der Befreiung und des wahren Nirvāna nicht sinnvoll erklärt werden kann. Nach dem substantialistischen Modell gibt es eine unveränderliche und reine Substanz, zu der verschiedene substantiale Merkmale und Eigenschaften hinzukommen. In diesem Falle wäre es zum Beispiel ein materiales Merkmal der Bindung. In manchen buddhistischen Linien wird implizit wie im Brahmanismus geglaubt, dass die menschliche Substanz, ähnlich dem ātman, von Natur aus absolut rein sei und im Lauf des Lebens verschmutzt und befleckt werde. Nach der substantialistischen Doktrin müsste dann das substantiale Merkmal „Bindung“ total entfernt und durch das ebenfalls substantiale Merkmal „Befreiung“ oder „Nirvāna“ ersetzt werden. Genau diese zwar romantische, aber unrealistische Doktrin destruiert Nāgārjuna in diesem Vers, weil sie nicht tragfähig ist und ins Leiden führt.

Damit stellt er die zu seiner Zeit durchaus anerkannte buddhistische Lehre von Nirvāna, Freiheit und Beendigung des Kreislaufs der Wiedergeburten in der Welt des Samsara infrage. Dies gilt wohlgemerkt für die irrigen oder ungenauen Theorien und eine Weltanschauung fester unveränderlicher Substanzen, die fundamental von Buddhas authentischer Lehre abweichen und von Nāgārjuna scharfsinnig falsifiziert werden.

Ergebnis
Alle Theorien mit unveränderlichen Substanzen und Entitäten sind für die Befreiung aus bindenden Abhängigkeiten in unserem Leben, für das Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und die Entwicklung der bestmöglichen menschlichen Freiheit unbrauchbar, zudem in sich widersprüchlich und logisch falsch. Eine Lösung bietet nur das realistische Welt- und Menschenbild des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung.

Für viele Buddhisten war und ist es eine große unerfüllbare Sehnsucht, sich selbst im Nirvāna aufzulösen, alle Leiden auszulöschen und ein seliges Glück zu erfahren. Sie meinen, dass es ein solches Nirvāna in einer jenseitigen Welt geben würde, die sie erreichen könnten, wenn sie die buddhistischen Regeln einhalten und der Lehre treu ergeben sind. Sie versteifen sich immer mehr auf die Vorstellung, dass für sie selbst ein solches „Verwehen“ im Nirvāna möglich ist und dann alle Schwierigkeiten der hiesigen Wirklichkeit zu Ende sind. Das betrachten sie als die totale Freiheit, die man sogar schon in diesem Leben vorbereiten könne.

Nāgārjuna hält ein solches fixiertes und romantisierendes Konzept, das allein Doktrinen und dem denkenden Geist entspringt, für unsinnig und sagt in aller Klarheit, dass dieses Konzept genau das Ergreifen ist, das gerade überwunden werden soll. Wer sich also auf eine solche Vorstellung eines zukünftigen Nirvāna versteift, ist durch diese Fixierungen, die im Buddhismus auch Ergreifen genannt werden, festgelegt, statisch und kann sein Ziel eben nicht erreichen. Nāgārjuna wird im folgenden Teil seine eigenen vertieften Vorstellungen zum Nirvāna entwickeln.

Nishijima Roshi sagt dazu Folgendes: „Der Zustand der Balance in unserem Leben ist gleichzeitig das Nirvāna. Es ist nicht ein jenseitiges erträumtes Paradies, sondern genau das tägliche Leben im Hier und Jetzt. Ein solches Leben im Gleichgewicht ist daher kein Gegensatz zum Nirvāna und nicht etwas anderes oder Zukünftiges. Aber die Worte und unsere Sprache reichen nicht aus, um das Nirvāna vollständig und erschöpfend zu beschreiben. Die Wirklichkeit ist mehr als die Sprache. Aber selbst auf der sprachlichen Ebene ist es unsinnig, ein erfülltes reales Leben im Gleichgewicht mit einem erträumten Nirvāna zu vertauschen.“

Nāgārjuna falsifiziere die zu seiner Zeit gängige buddhistische Doktrin vom „Verwehen“ ins Nirvāna und von der Beendigung des Kreislaufs der Wiedergeburten in dieser Welt des Samsara. Die irrige oder ungenaue substantialistische Doktrin unveränderlicher substanzhafter Entitäten kritisiere er radikal und falsifiziere sie scharfsinnig. Eine solche Doktrin weiche gravierend von Buddhas bewährter Lehre ab, die keine statischen und unveränderlichen Entitäten oder Substanzen kenne, sondern vernetztes Entstehen und Vergehen und vor allem das Handeln im Gleichgewicht des Augenblicks.

B. Zen-Buddhismus: Befreiung und Handeln im Gleichgewicht bei ZEN-Meister Dōgen


Der Alltag im Hier und Jetzt
Die Übereinstimmung der buddhistischen Lehre mit dem Handeln stellt im Shōbōgenzō ein ganz zentrales und häufig wiederkehrendes Thema dar.[iv] Wenn sich religiöse, doktrinäre und spirituelle Verhärtungen entwickelt haben, ist eine solche Übereinstimmung von Handeln und Wahrheit jedoch kaum noch möglich. Auch der Buddhismus ist nicht frei davon, dass äußerliche Zeremonien und bis ins Kleinste festgelegte Handlungsabläufe sich verselbstständigen und vom wirklichen freien Erleben abtrennen. Eine ähnliche Fehlentwicklung kann leider entstehen, wenn asketische Bestrebungen überhandnehmen. Die extremen körperlichen und psychischen Beanspruchungen des Menschen signalisieren dann eine scheinbare Dichte und Kraft des Erlebens und Erfahrens.

Aber in Wirklichkeit gibt es dabei keine innere Freude, keine reale Kraft und Klarheit, und damit fehlt die Fülle der Lebendigkeit. Schon Gautama Buddha hat die übertriebene Askese, die einer falschen Doktrin folgt, als Sackgasse auf dem Weg zur Befreiung und zum Erwachen klar erkannt. Meister Dōgen stellt die Bescheidenheit und Einfachheit auf dem buddhistischen Weg sehr in den Mittelpunkt seiner Lehre. Er warnt uns vor dem Streben nach Ruhm, vor Selbstgerechtigkeit und aufgeblasenem Verhalten, das auch durch perfektes Beherrschen von Ritualen und Zeremonien zum Ausdruck kommen kann.

In diesem markanten Kapitel (Kajō) erläutert Dōgen im Einklang mit seinem Lehrer Tendō Nyojō die Bedeutung des klaren Handelns im Alltag als Weg und Ergebnis der Befreiung von doktrinären Mustern, Prägungen und Bindungen. Das Handeln sollte vom Buddha-Dharma durchdrungen sein und mit der großen Ruhe und Klarheit des buddhistischen Gleichgewichts vollzogen werden – das ist schon Befreiung. Ein solches Gleichgewicht wird vor allem bei der Zazen-Praxis im Hier und Jetzt erlernt und strahlt auf unser ganzes Leben, also auch auf unseren Alltag, aus. In einem solch freudigen und klaren Gleichgewicht bekommt jedes Handeln im Alltag gewissermaßen einen neuen Glanz, eine neue Tiefenschärfe und neuen Sinn. Es offenbart uns zugleich das Wunder des Menschen, der Natur, der Welt und des Universums.

Wir mögen es vielleicht seltsam finden, dass Dōgen hervorhebt, der Buddha-Dharma sei die Verwirklichung beim „Teetrinken und Essen der Mahlzeiten“, also bei Handlungen des Alltags im Leben der Menschen. Er zitiert hierzu den Meister Foyō Dōkai: „Der Sinn der Worte der Buddhas und Vorfahren ist wie der tägliche Tee und die Mahlzeiten. Gibt es außerdem noch etwas anderes, mit dem die Buddhas und Vorfahren die Menschen lehren oder nicht?“

Die Lehren finden oft ohne Worte und immer ohne verhärtete Doktrinen durch Handeln statt. Die entsprechenden Geschehnisse, bei denen die alten Meister die Lehre verwirklichten, werden allerdings für die Nachwelt berichtet, und insofern ist die Sprache wiederum erforderlich, um solche Lehrinhalte überhaupt weiterzugeben. Dōgen erklärt deshalb:

„Daher solltet ihr darauf vertrauen, dass der Sinn der Worte der Buddhas und Vorfahren ihr täglicher Tee und ihre Mahlzeiten sind, und ihr solltet dies bewahren.“ Und weiter: „Die Buddhas und Vorfahren bereiteten den Tee und die Mahlzeiten, und der Tee und die Mahlzeiten tragen und erhalten die Buddhas und Vorfahren.“

Mit dieser Äußerung stellt er klar, wie wichtig das Handeln selbst ist, und hebt hervor, dass sich der Buddha-Dharma verwirklicht, wenn wir Tee trinken und Mahlzeiten einnehmen. Das ist auch soziales Handeln, also gemeinsames Entstehen der Freiheit in Wechselwirkung. Indem er diese Aussage auch umgekehrt verwendet, macht er deutlich, dass der Buddha-Dharma wesentlich davon getragen wird, dass wir gemeinsam Tee trinken und essen und in eine Gesamtsituation der Klarheit und Lebensfreude eingebettet sind. Dōgen bezeichnet dies an anderer Stelle als das „Etwas“, das sich jäh ereignet, wenn wir offen und im Gleichgewicht sind. Aber dieses Etwas ist keine Substanz, sondern ein Prozess der Befreiung.

Man kann daher auch sagen, dass das Teetrinken im Hier und Jetzt stattfindet und sich das „Etwas“ als Wahrheit dabei offenbart, wenn wir unsere Mahlzeiten im Sinne der buddhistischen Lehre und Praxis zu uns nehmen. Diese alltäglichen Handlungen strahlen Ruhe und Zufriedenheit aus, sind nicht von Gier, Ungeduld und Hektik verzerrt, sondern stellen einfaches Handeln je im Augenblick der Gegenwart dar.
Anschließend berichtet Dōgen von einer Versammlung mit Meister Tendō Nyojō, bei der dieser gefragt wurde: „Was ist etwas Wunderbares?“ Und er antwortete: „Es sind meine Essschalen aus (meinem früheren Kloster Jōji), die ich jetzt in diesem (Kloster) Tendō zum Essen benutze.“ Dōgen bestätigt diese Ansicht: „Es ist für jeden Menschen wunderbar, die Mahlzeiten zu essen. Auf dem großen und erhabenen Berg (eines Klosters) zu sitzen, ist also nichts anderes, als eine Mahlzeit zu essen.“
Hierzu muss man wissen, dass die Klöster im alten China meistens in besonders schönen Gebirgslandschaften lagen. Man konnte sicher leicht ins Schwärmen geraten, wenn man dort auf einem erhabenen Gipfel des Berges saß, die Täler und Flüsse unter sich liegen sah und der Blick in die Weite zu den anderen Berggipfeln schweifen konnte. In einer solchen Situation werden wir leicht von romantischen Gefühlen fortgetragen und wollen der realen anstrengenden Welt entfliehen.

Dies ist aber keineswegs ganz im Sinne von Dōgen, der immer wieder auf das einfache Handeln im Hier und Jetzt zurückkommt. In diesem Kapitel über den Alltag und dessen Wechselwirkungen arbeitet er heraus, dass der Buddha-Dharma „Teetrinken und das Einnehmen von Mahlzeiten“ ist und dass darin eine tiefe Befriedigung liegt. Im täglichen Handeln des Alltags, zum Beispiel wenn wir uns waschen, wenn wir essen, wenn wir Tee trinken, wird eine ausgezeichnete Schulung zur Einfachheit und Ehrlichkeit ermöglicht. Das ist ganz anders als überspannte Abstraktionen zu Bindung und Befreiung nach der dichotomen Doktrin des Substantialismus, die Nāgārjuna so eindeutig als Fehlentwicklung des Buddhismus kritisiert.

Dōgen zitiert wieder seinen Meister mit den Worten: „Wenn der Hunger kommt, esse ich, und wenn die Müdigkeit kommt, schlafe ich. Der Schmiedeofen (der Übungspraxis) reicht bis zum Himmel.“ Er beschreibt also das Lernen und die Weiterentwicklung im Alltag als einen Schmiedeofen, in dem das Metall durch die Flammen so erhitzt wird, dass es geschmiedet und zu einem Gebrauchsgegenstand oder einem Kunstwerk umgeformt werden kann. Im Kapitel „Der ewige Spiegel oder das intuitive Wissen“ schildert Dōgen, wie das Metall verwendet wird, um den großen Spiegel (Symbol des intuitiven Geistes) zu schmieden oder eine Statue Buddhas herzustellen. Damit rückt Dōgen nicht die rituellen Handlungen, das Zitieren heiliger Verse oder die Konzentration auf ein religiöses Bild in den Mittelpunkt des Buddha-Dharma, sondern hebt das Handeln des Alltags auf dem Buddha-Weg als Königsweg hervor.

Das ist in der Tat verblüffend einfach, zumindest auf den ersten Blick. Dass man schläft, wenn man müde ist, sollten wir im obigen Zitat nämlich nicht so verstehen, dass wir uns hängen lassen und schlaff sind, oder wie es heute auch heißt „abhängen“. Es bedeutet auch nicht, dass wir uns einer geistigen Müdigkeit hingeben oder sie uns selbst einreden, weil wir zu bequem sind, bestimmte Dinge des Alltags zu besorgen. Das ist schon ein zentraler Punkt des Achtfachen Pfades und eines der fünf Hemmnisse im Sūtra der Achtsamkeit. Vielmehr geht es um die Müdigkeit nach einem erfüllten Tag des „Handelns und Geschehen-Lassens“. Die Gier nach überfeinertem Essen und ungesunden Leckereien wird von Tendō Nyojō im obigen Zitat gewiss ebenfalls nicht angesprochen, denn sie würde gerade den Geist verdunkeln und einengen, und man könnte dann die „kraftvolle Energie des Essens der Mahlzeiten“ nicht verwirklichen.

Das Handeln des Alltags vollzieht sich immer im Hier und Jetzt. Dies klingt einfach und selbstverständlich, ist es aber im „normalen“ Leben vieler Menschen überhaupt nicht. So zitiert Dōgen am Ende dieses Kapitels einen berühmten Ausspruch: „Hier ist der Ort, wo etwas (Unfassbares) wirkt.“ Das Hier und Jetzt können wir nur richtig erleben und erfahren, wenn wir über ein hohes Maß an Freiheit von vorgefassten Meinungen, von abstrakten Denkgebäuden, Doktrinen, falschen Prägungen und künstlichen Bildern verfügen. Das ist heute in der Welt der virtuellen Realität der Medien sicher wichtiger denn je. Es ist von großer Bedeutung, dass wir genau das wahrnehmen, was direkt vor uns ist, aber gleichzeitig dieses große „Wahre“ anwesend ist und mitschwingt.

Dōgen schließt dieses Kapitel ab, wie er es begonnen hat: „Kurz gesagt, ist der Alltag der Buddhas und Vorfahren nichts anderes als Tee zu trinken und Mahlzeiten zu essen.“





[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 235ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 149 ff.
[ii] Nach Kant, zitiert in: Bertram, Georg W.: Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein systematischer Kommentar
[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 51f.
[iv] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 59ff.
ZEN Schatzkammer, Kap. 64, Bd. 3, S. 54ff.: „Der Alltag im Hier und Jetzt (Kajō)