(Aus meinem neuen
Buch "Sternstunden des Buddhismus Bd. 2")
Völlig neue Übersetzung des indischen Original-Textes aus dem Sanskrit
Bindung und Befreiung auf dem Mittleren Weg des berühmten indischen Meisters Nāgārjuna, Kapitel 16 des MMK.
Hinführung
Der
Mensch wird nach den vorausgehenden Analysen in den nun folgenden Kapiteln des
MMK mit philosophischer Präzision als Ganzes untersucht. Dies geschieht
konsistent im Rahmen der wahren buddhistischen Lehre und Praxis.[i] Ziel
ist die Klärung des Seienden in Beziehung zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, zur Leerheit, Kausalität, zum
Handeln, und nicht zuletzt geht
es um die buddhistische Ethik. Dabei
destruiert Nāgārjuna den Glauben an ein substantiales unveränderliches Selbst,
das dem vorbuddistischen ātman sehr
nahe kommt.
Viele
Verse im MMK sind in der Form der sogenannten spekulativen Sätze[ii] formuliert, beginnen also mit
„falls“ oder „wenn“ und sind grundsätzlich von Aussagesätzen zu unterscheiden.
Man nennt sie auch tentative Sätze. Diese spekulativen Sätze lassen sich am
besten als Bedingungssätze verstehen, und zwar in diesem Sinn: „Wenn man das so
Formulierte annimmt, ergibt sich Folgendes.“ Bei Nāgārjuna fangen solche Sätze
allerdings nur teilweise mit „falls“ oder „wenn“ an und sind daher nicht immer
sofort als Sätze zu erkennen, in denen es um Überlegungen und Spekulationen
geht, die oft zur Destruktion und Falsifizierung führen.
Am
Anfang der Kapitel im MMK stehen häufig Behauptungen der zu destruierenden
Doktrinen. Die authentische Lehre Buddhas wird dabei als Wahrheitsbezug
verwendet. Vor allem kommt dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und der Leerheit eine zentrale Bedeutung zu. Diese pragmatische Philosophie ist zweifellos für Veränderungen,
Prozesse, Befreiungsvorgänge und Emanzipation besonders gut geeignet oder sogar
notwendig und kann die Komplexität dieser Welt sachgerecht beschreiben.
Kalupahana betont, dass die authentische buddhistische Philosophie dem Druck
des neu erstarkten Brahmanismus standhalten konnte, solange die Wechselwirkung
klar verstanden wurde.[iii] Als dieses Verständnis verloren
ging, hätten sich metaphysische spekulative Doktrinen entwickelt, die die wahre
Lehre nicht mehr richtig wiedergeben konnten. Entsprechend ist ein
Wirklichkeitsmodell, das von unveränderlichen Substanzen und abgegrenzten
Entitäten ausgeht, ungeeignet, um die zentralen Probleme des Lebens, also
Bindung und Fesselung, zu lösen und die Befreiung und Emanzipation des Menschen
fundiert zu behandeln.
Genau
um die Frage von Bindung und Befreiung geht es in diesem Kapitel. Nāgārjuna
beweist mit philosophischer Genauigkeit, dass der Ansatz eines ātman-Selbst
oder allgemeiner gesagt eines substanzhaften dauerhaften und unveränderlichen Selbst als unsichtbarem Wesenskern im
Sinne des Substantialismus ungeeignet ist, um dieses Thema zu bearbeiten. Den
simplen Glauben an einen schon immer vorhandenen ātman-Kern des Menschen, der
durch zwanghafte Bindungen und Beschmutzungen unfrei wird, lehnte bereits
Buddha ab. Ein solcher illusionärer Substantialismus erzeugt Unglück, Schmerzen
und Leiden.
Die
häufigen Destruktionen Nāgārjunas betreffen solche spekulativen und doktrinären
Sätze, die Fehlentwicklungen und falsche Interpretationen des Buddhismus zum
Inhalt haben. Wegen dieser Destruktionen und
Falsifikationen ist vermutlich die Einschätzung entstanden, Nāgārjuna sei ein
Nihilist, der nur Negationen anzubieten habe. Dieses halte ich nicht für
richtig. Außerdem folge ich nicht der Interpretation, er mache keine positiven
Aussagen, sondern destruiere nur unrichtige Doktrinen.
In
diesem Kapitel beschäftigt er sich mit der zentralen Frage, wie sich ein Mensch
aus einengenden und erdrückenden Zwangsbindungen befreien kann, wie er also
Abhängigkeiten von Gier, Hass, Verblendung, Suchtmitteln, Macht, Sex usw.
überwinden und sich durch Praxis, Achtsamkeit und Selbststeuerung einen
wachsenden Freiheitsbereich schaffen kann. Der Mensch ist dann kein willenloser
Spielball der äußeren und inneren Bedingungen und Kräfte mehr, sondern
überwindet solche fixierenden Einengungen. Er wird von ihnen nicht
deterministisch gesteuert. Es geht also darum, wann und wie weit jemand in
seinem Handeln, Denken, Fühlen, Entscheiden und Planen im Rahmen des durch die Wirklichkeit Gegebenen frei ist. Auf dem
Weg der Befreiung sind nicht nur psychische Blockaden und Begrenzungen wie
Narzissmus und Borderline-Syndrom zu überwinden, sondern auch geistig hemmende
und einengende Konzepte. Dabei ist die Selbstreflexion oder, wie es in Buddhas
Lehre heißt, die Achtsamkeit und Betrachtung seiner selbst von zentraler
Bedeutung. Nāgārjuna warnt vor der Illusion, dass es eine absolute Freiheit geben könnte, denn das wäre ein Extrem, das in
der Wirklichkeit nicht vorkommt.
Nishijima Roshi formuliert es so: „Ob wir uns eingeengt und
eingegrenzt oder frei fühlen, hängt ganz wesentlich von unserer eigenen emotionalen Situation ab. Unser
psychischer und geistiger Zustand wird nach meiner festen Überzeugung ganz
wesentlich durch unser vegetatives Nervensystem bestimmt“, also davon, ob es im
Gleichgewicht ist oder nicht. „Es ist das natürliche Bestreben und der große
Wunsch des Menschen, völlig frei und emanzipiert zu sein. Aber dies dürfte in
der Wirklichkeit unmöglich sein“, betont er ferner und rät, dass wir
realistisch sein und im Hier und Jetzt leben und handeln sollten. Zum einen spielen
die realen Bedingungen, in denen wir leben oder leben müssen, eine wichtige
Rolle, aber nicht zuletzt sind auch unsere subjektive psychische und physische
Situation der Spannung oder Entspannung von entscheidender Bedeutung.
Ein
wichtiges Thema in Kapitel 16 ist außerdem die Wiedergeburt. Sie hatte in
verschiedenen Lebensabfolgen des Samsara im alten Indien einen
selbstverständlichen Wahrheitsgehalt und wird auch von Buddha nicht
grundsätzlich abgelehnt. Nachdem im Buddhismus aber der unveränderliche
Wesenskern eines ātman widerlegt
wurde, fragt sich natürlich, was denn wiedergeboren wird, wenn es dieses
ātman-Selbst nicht gibt. Das sind keine einfachen philosophischen Probleme, die
im Buddhismus in der Nachfolge Buddhas häufig kontrovers diskutiert wurden.
Allerdings hat Buddha immer wieder betont, dass wir uns nicht mit Fragen und
Problemen der Wiedergeburt quälen sollten, sondern uns ganz auf die Überwindung
des Leidens sowie auf die Emanzipation und Erleuchtung in diesem Leben
einlassen und konzentrieren sollten.
Übersetzung und Erläuterung der Verse des MMK
Vers 16.1
Wenn
angenommen wird, dass die formenden Kräfte (samskāra)
wandern, so wandern diese nicht als unveränderliche und ewige Entitäten.
Und
sie wandern nicht als nicht-ewige Entitäten (die plötzlich zu Ende sind).
Auch
für Lebewesen gelten diese gleiche Folgerung und diese Argumente.
Die formenden Kräfte gehören zu den fünf Skandhas,
den Komponenten des Menschen. Nāgārjuna destruiert in diesem Vers die Doktrin,
dass diese Komponenten unverändert und isoliert wiedergeboren werden, wie es
zum Beispiel Vertreter des Substantialismus behaupteten. Er zeigt auf, dass die
Skandhas keine unveränderlichen Substanzen oder Entitäten sind.
Es ist eine alte Frage im Buddhismus, ob die Skandhas
unverändert, verändert oder überhaupt nicht in die Wiedergeburt eingehen.
Nāgārjuna falsifiziert hier die beiden Extreme, dass die formenden Kräfte ganz
unverändert, also identisch, oder überhaupt nicht wandern, also gar nicht
wiedergeboren werden. Er hat damit keine Aussage getroffen, ob es eine solche
Wiedergeburt gibt oder nicht, sondern behandelt die Bedingung, falls diese menschliche
Komponente wandert.
Was für die einzelnen Komponenten gelte, sei auch für
ein Lebewesen, insbesondere den Menschen, richtig. Im Falle einer Wiedergeburt
schließt er demnach die Extreme aus, dass ein Mensch entweder genau derselbe
oder total verschieden ist, wenn er wiedergeboren wird.
Nishijima
Roshi ergänzt: „Meist wird die Aussage dieses Verses nur auf die Wiedergeburt
bezogen und damit als Wandern durch das Samsara zum nächsten Leben
interpretiert. Mir scheint dies viel zu eng zu sein und kann der Bedeutung
dieses ganzen Kapitels nicht gerecht werden. Daher verwende ich den Begriff
,weiter gehen‘ oder ,durch das Leben gehen‘.“
Vers 16.2
Wenn
angenommen wird, dass eine Person durch die Wiedergeburten wandert und in den
fünf Komponenten des Menschen, den Skandhas, danach gesucht wird, so existiert
eine solche Person nicht.
Die
Person existiert auch nicht in den sechs Sinnen und den sechs Elementen.
Wer
wird überhaupt wandern?
In
diesem Vers wird untersucht, ob eine Person identisch wandert und
transmigriert, nachdem in den vorangegangenen Kapiteln bereits die
verschiedenen Alternativen einer dauerhaften Existenz falsifiziert wurden.
Nāgārjuna führt hier die Skandhas, die Sinnesbereiche und die Elemente auf, die
bei einer Wiedergeburt wandern könnten. Sie wären nach der damaligen
Vorstellung für die neue Existenz maßgebend. Zunächst wird angenommen, dass der
Mensch gewissermaßen als unsichtbarer Kern in den fünf Komponenten, den
Skandhas, enthalten sein könnte. Selbst wenn man dort aber intensiv suchen
würde, ist laut Nāgārjuna ein Substanz-Selbst nicht zu finden. Das gilt auch
und gerade, wenn man wünscht, dass die Person insgesamt mit einem oder mehreren
Skandhas wandert.
Nāgārjuna
schließt diese Alternative aus. Im vorigen Vers wurde eine solche
Transmigration für die formenden Kräfte oder Verhaltensmuster (samskāra) ausgeschlossen. Dieser zweite
Vers ist nun die Verallgemeinerung des ersten und bezieht sich auf alle
Skandhas, Sinnesbereiche und Elemente. Die gleiche Destruktion für die formenden
Kräfte gilt also, wenn bei einer angenommenen Wiedergeburt behauptet wird, dass
das Substanz-Selbst des Menschen mit einem oder mehreren der sechs Sinne oder
den Elementen wandern würde. Damit wird
die Doktrin des Substantialismus falsifiziert, dass etwas Unveränderliches,
nämlich eine unveränderliche Person, durch die Wiedergeburten wandern würde.
Schließlich
stellt Nāgārjuna die generelle Frage, wer oder was überhaupt wandern könne,
ohne sie an dieser Stelle zu beantworten. Das legt nahe, dass es überhaupt
keine Wanderung bei der Wiedergeburt in dieser Form geben kann.
Im
gesamten Vers sagt Nāgārjuna nicht eindeutig, ob es seiner Überzeugung nach
eine Wiedergeburt gibt und in welcher Form diese stattfinden könnte. Es geht
ihm hier um die Destruktion falscher Doktrinen. Alle Aussagen sind als
Möglichkeit mit „wenn“ oder „falls“ formuliert. Die Skandhas, Sinnesbereiche
und Elemente werden aber keinesfalls negiert.
Nishijima
Roshi erläutert hierzu Folgendes: „Dieser Vers bezieht sich auf die fünf
Komponenten des Menschen und der Welt (Skandhas): Materie, Sinneswahrnehmung,
Denken, wirkliches Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten dürfen wir uns
aber nicht dinghaft vorstellen, sondern sie haben sowohl eine materielle als
auch eine spirituelle Dimension, beides ist eine Ganzheit, die sich ständig
verändert. Die Wirklichkeit der fünf Komponenten können wir im Gleichgewicht
des Samādhi, Zazen, beobachten, erforschen, also deren Wirklichkeit erkennen.
Wenn
die fünf Komponenten (Skandhas) ganz verwirklicht sind, und dies ist eine Art
von klarem und tiefem Erforschen, ist es für uns möglich, wirklich durch den Alltag zu gehen. Dies gilt für die
Gegenwart und Zukunft.“
Vers 16.3
Eine
solche Person würde von einer Form des Aneignens und Ergreifens zur anderen
wandern und etwas werden, das etwas total anderes wäre, das wäre
Fremd-Entstehen.
Was
ist eine solche Person, die aufgehört hat zu sein und sich nichts aneignet und
nichts ergreift? Und zu welcher Person hin würde sie wandern?
Die
Kernaussage dieses Verses betrifft die Veränderung und das Werden bei der
Wiedergeburt. Bei den bisher erörterten Annahmen gibt es jedoch keine
Veränderung, weil der Substantialismus davon ausgeht, dass der Mensch, die
Skandhas und alles andere unveränderlich sind. Andererseits ist die altindische
Lehre der Wiedergeburt wesentlich durch das sogenannte Ergreifen bestimmt, was
kurz gefasst bedeutet, dass der Wiedergeborene die vorherigen Skandhas, also
seine vorherigen Komponenten, ergreift und dadurch zu einer neuen Person wird.
Diese sei durch die Eigenschaften, formenden Kräfte und Verhaltensmuster seines
vorherigen Lebens bestimmt. Nāgārjuna arbeitet hier den inneren Widerspruch
heraus, dass einerseits bei der Wiedergeburt etwas ergriffen wird, aber
andererseits im Substantialismus die Doktrin besteht, dass sich nichts
verändert, also alles identisch ist mit dem Vorherigen.
Er
stellt dann die logische Frage, wie eine solche Person überhaupt existieren
könne und was bei der Wiedergeburt eigentlich wandere. Die Antwort muss an
dieser Stelle lauten, dass überhaupt nichts Unveränderliches wandern kann und
dass die Wiedergeburt bei der substantialistischen Doktrin nicht möglich ist.
Nishijima
Roshi erweitert die Bedeutung auf das jetzige Leben: „Wenn wir keine klare
Wahrnehmung und Einsicht haben, scheint es so, als ob unser Körper und Geist
völlig ziellos durchs Leben gehen. Wenn aber die Wahrnehmung im Gleichgewicht
ist und von uns selbst gesteuert wird, so gilt dies auch für Körper und Geist.
Dann überschreitet die Sinneswahrnehmung die gewöhnliche materielle und daher
begrenzte Wahrnehmung durch unsere Sinnesorgane.“
Vers 16.4
Das Verschwinden
und Verwehen der formenden Kräfte und
Prägungen des Verhaltens sind nicht irgendwie möglich.
Das
Verschwinden und Verwehen der Lebewesen
sind nicht irgendwie möglich.
Dieser
Vers untersucht die Frage, ob Komponenten des Menschen – hier die formenden
Kräfte oder Verhaltensprägungen (samskāra)
– in diesem Leben „verwehen“ können. Nāgārjuna erklärt, dass es eine logische
Unmöglichkeit wäre, dass eine unveränderliche Substanz, die der
Substantialismus ja annimmt, zum Beispiel eine Komponente des Menschen, vergeht
und verweht, also als gesonderte Einheit nicht weiterbesteht. Der innere
Widerspruch ist klar: Wenn eine Komponente des Menschen unveränderlich wäre,
könnte sie sich nicht plötzlich auflösen und verschwinden. Aber Befreiung in
diesem Leben bedeutet gerade, dass hemmende Prägungen und Verhaltensmuster sich
zum Guten verändern. Daher ist die Doktrin des Substantialismus für den Prozess
der Befreiung völlig ungeeignet.
Was für
die einzelnen Komponenten gilt, das gilt auch für den gesamten Menschen.
Entgegen der substantialistischen Doktrin sind die Skandhas laut Buddha und
Nāgārjuna miteinander in Wechselwirkung und veränderlich.
Zur
Überwindung von Doktrinen sagt Nishijima Roshi: „Es ist also ganz wesentlich,
dass wir im Zustand des Gleichgewichts und der Balance handeln. Sonst ist es
nicht möglich, irgendetwas Wichtiges und Wertvolles zu tun. Wahres Handeln ist
dann unmöglich.“
Vers 16.5
Die
(wirklichen) Verhaltensmuster und formenden Kräfte (Skandhas, samskāra) werden
(substantial) weder gebunden noch befreit. Sie haben die Phänomene, Dharmas,
des Entstehens und Vergehens, des Aufgehens und Auseinandergehens.
Wie
bereits gesagt, wird ein Lebewesen
weder absolut gebunden noch absolut befreit.
In
diesem Vers behandelt Nāgārjuna das Problem, inwieweit die formenden Kräfte als
Komponenten des Menschen gebunden oder befreit sein können, wenn man sie als
unveränderliche Substanz versteht. Aus den vorigen Versen wird klar, dass bei
der substantialistischen Doktrin getrennter unveränderlicher Substanzen, die
wie völlig isolierte Einheiten betrachtet werden, prozessuales Befreien und
Binden gar nicht möglich ist. Solche substantialen Entitäten würden ganz
selbstständig und isoliert voneinander existieren. In diesem Fall wären nur
zwei Zustände möglich: total gebunden oder total befreit. Das sind jedoch
völlig unrealistische Extreme.
Gemäß
der Wahrheit des wechselwirkenden gemeinsamen Entstehens sind die Komponenten
des Menschen gerade durch Veränderungen – oder wie es hier heißt Aufgehen und
Auseinandergehen – gekennzeichnet. Ein solches Entstehen und Vergehen ist von
zentraler Bedeutung für den Entwicklungs- und Befreiungsprozess des Menschen.
Ohne Veränderungen, Entwicklungen und Lernprozesse macht die gesamte
buddhistische Lehre keinen Sinn. Die Befreiung ist ein Entwicklungsprozess, der
vor allem durch die Empfehlungen Buddhas im Achtfachen Pfad gesteuert wird.
Nishijima
Roshi erläutert hierzu: „In diesem Vers geht es um die zentrale Frage der Freiheit und Bindung. Auf der logischen
Ebene sind die beiden Konzepte von Freiheit und Determination unvereinbar,
wenngleich viele Menschen und sogar Philosophen eine solche Ausschließlichkeit
vertreten: Entweder sind wir durch die vorausgehenden Ursachen determiniert und festgelegt, dann haben
wir keine Willensfreiheit, so sagen sie. Oder unser Geist sei im idealistischen
Sinne frei und entscheidet, was zu tun ist und wie es in Zukunft weitergeht. In
der Wirklichkeit dieser Welt gibt es beides (Befreiung und Bindung), was nur in
der Theorie unvereinbar erscheint.“
Vers 16.6
Falls
jemand (als Entität) bei Bindung total identisch
mit Ergreifen ist, wäre er nicht
gebunden.
Falls
jemand total verschieden von Ergreifen
ist, wäre er auch nicht gebunden.
Welchen
Zustand muss jemand haben, der sodann gebunden wird?
In diesem Vers werden zwei Extreme dargestellt: Beim
ersten Extrem gibt es bereits eine Einheit und Identität von Bindung und
Ergreifen, sodass rein logisch nichts erneut ergriffen werden kann, was
getrennt von dieser Einheit ist. Binden und Ergreifen haben in einem solchen
Zustand ihre eigentliche Bedeutung verloren, dass sie etwas zusammenbringen,
was vorher nicht zusammen war, also getrennt existierte. Das zweite Extrem ist
das der vollständigen Trennung, bei der es keine Verbindung geben kann. Wenn ein
Mensch zudem überhaupt nicht die Eigenschaft des Ergreifens hat, ist natürlich
ebenfalls keine Bindung möglich, weil er ja nicht greifen kann. Es kann also
die Bindung oder Unfreiheit eines Menschen, der substantialistisch verstanden
wird, weder mit noch ohne Ergreifen geben. Der Begriff Ergreifen ist typisch für substantialistische
Doktrinen.
Nāgārjuna stellt am Ende des Verses die Frage, welche
Situation überhaupt geeignet ist, das Problem von Binden und Ergreifen zu
lösen. Wenn ein Mensch eine unveränderliche und isolierte Substanz wäre, könnte
er sich mit nichts verbinden und auch nichts ergreifen, weil er ja vollständig
abgekapselt wäre. Daher ist die Doktrin des dinghaften Substantialismus
abzulehnen.
Nishijima
Roshis Interpretation hierzu lautet: „In unserem normalen Leben haben wir
häufig das Gefühl, begrenzt zu sein und äußeren oder inneren Restriktionen zu
unterliegen. Wenn wir jedoch die Situation im gegenwärtigen Augenblick
betrachten, so gibt es eigentlich weder Restriktionen noch absolute Freiheit,
weil beides nur Beschreibungen und sogar Bewertungen sind. Beschreibungen sind
aber niemals die Wirklichkeit selbst und Bewertungen schon gar nicht.“
Vers 16.7
Wenn
Bindung etwas wäre, das (als Entität) schon vorher entstehen und werden würde,
könnte die spätere Bindung ganz nach Belieben und willkürlich erfolgen. Und so
etwas existiert nicht.
Das
Übrige wurde im zweiten Kapitel über das Gehen durch die Klärung von
„gegenwärtig Begangenem, Begangenem, noch nicht Begangenem“ behandelt.
Der Fehler bei der Vorstellung, die dieser Vers
beschreibt, liegt darin, dass Binden und Ergreifen als eigene getrennte
Entitäten wie getrennte Gegenstände gedacht werden. Sie wären demnach schon vor
dem Prozess des Bindens da. Dann wäre allerdings logischerweise eine völlige
Beliebigkeit gegeben, was in der Wirklichkeit nicht der Fall ist, denn Binden
und Ergreifen sind zeitlich und sachlich zusammengehörige wechselwirkende
Prozesse.
Schon im zweiten Kapitel des MMK über das Gehen hat
Nāgārjuna die Idee getrennter Entitäten und Substanzen falsifiziert und dadurch
die entstehenden doktrinären Widersprüche beseitigt. Er hat detailliert analysiert, dass der Prozess des Gehens und
Begangen-Werdens zusammenhängend, also als wechselwirkender Prozess, verstanden
werden muss, damit es nicht zu Widersprüchen und unauflösbaren Paradoxien
kommt. Das in der Vergangenheit Begangene, das gegenwärtig Begangene und das
zukünftig zu Begehende hängen selbstverständlich zusammen, sind aber niemals
total identisch, weil sonst zum Beispiel die Vergangenheit und Zukunft dasselbe
wären, und das ist natürlich sinnlos. Daraus ergibt sich, dass eine
Unterteilung in abgegrenzte dinghafte Entitäten beim Prozess des Gehens und der
Bewegung eine grundsätzlich falsche Weltanschauung und ein falsches Konzept
ist, um die Wirklichkeit zu verstehen.
Für die Wirklichkeit des
Begangenen ist eine substantialistische Doktrin genauso ungeeignet wie für das
Binden und Fesseln in der Unfreiheit. Beides ist richtig als Entstehen in
Wechselwirkung zu erklären. Ohne den
Ansatz des wechselwirkenden gemeinsamen Entstehens gibt es kein sinnvolles
Erklärungsmodell für die Prozesse und vernetzten zeitlichen Veränderungen in
der Wirklichkeit.
Nishijima
Roshi sagt zu Bindung und Befreiung: „Die reinen Tatsachen sind unabhängig vom
Reden und Denken (und von Doktrinen). Damit eröffnet sich die wirkliche
Freiheit im Augenblick.“
Vers 16.8
(Mit
der Doktrin des Substantialismus) wird ein Gebundener nicht befreit. Allerdings
wird auch ein Nicht-Gebundener eben nicht
befreit.
Wenn
man behauptet, dass ein Gebundener befreit wird, würden Bindung und Befreien
gleichzeitig sein.
Nun
geht es um die im Buddhismus so zentrale Frage, wie sich ein Mensch aus
einengenden oder sogar erdrückenden Bindungen befreien kann, wie er also Abhängigkeiten
wie zum Beispiel Gier, Hass, Verblendung oder Machtgier überwinden und sich
durch Selbststeuerung einen Freiheitsbereich schaffen kann. Der Mensch ist dann
nicht mehr ein Spielball der äußeren und inneren Bedingungen, sondern
überwindet solche deterministischen Einengungen und wird von ihnen nicht mehr
zwangsläufig fremdgesteuert. Es geht also darum, wann jemand in seinem Handeln,
Denken, Entscheiden und Planen im Rahmen des durch die Wirklichkeit Gegebenen
frei ist und wie er den Weg der Befreiung gehen kann.
Dabei
sind nicht zuletzt psychische Blockaden, begrenzende Muster, verfestigte
unheilsame Prägungen und geistig hemmende Konzepte zu überwinden. Es leuchtet
ein, dass hierfür Selbstreflexion oder, wie es in Buddhas Lehre heißt,
Achtsamkeit und Betrachtung seiner selbst notwendig sind. Die Achtsamkeit ist
das wichtige siebte Glied im Achtfachen Pfad im Sūtra über die Grundlagen der
Achtsamkeit. Auch das achte Glied – die Meditation mit verschiedenen
praktischen Übungen – ist von sehr großer Bedeutung für den Befreiungsprozess.
Nach der Lehre Buddhas geht es also nicht
ohne Meditation. Ein rein intellektueller Befreiungsprozess, der meist
implizit in der westlichen Philosophie angenommen wird, ist damit wenig Erfolg
versprechend.
Nishijima
Roshi fasst zusammen, dass es in der Wirklichkeit immer die Ganzheit von Restriktion und Emanzipation
gibt und nicht das absolute Entweder-Oder.
Vers 16.9
(Jemand könnte sagen:) „Ich werde befreit
sein und verwehen und ohne Ergreifen und Festhalten sein. Dann wird für mich Freiheit und Verwehen, also Nirvāna, entstehen und werden.“
Aber
für Menschen wäre ein solches Festhalten (an dieser Doktrin) gerade ein großes Festhalten am Ergreifen.
Nāgārjuna
kritisiert hier, dass jemand voller Selbststolz glaubt, er sei vollständig frei
und erleuchtet, um nicht zu sagen heilig. Dadurch ist der Betreffende jedoch an
diese Doktrin seiner angeblichen, aber nicht wirklichen Freiheit gefesselt und
deshalb erstarrt und gebunden. Die doktrinäre Fiktion blockiert dann die
tatsächliche Befreiung und Emanzipation. Das könnte man als „Mauern im Gehirn“
bezeichnen. Die totale Freiheit würde bedeuten, dass es keine Regeln, soziale
Bindungen, keine Kooperationen und kein Glauben an irgendeine Lehre, auch nicht
an eine heilsame, gibt. Bei einer solchen unrealen Weltanschauung sind
ungesteuerter Egoismus und das soziale Chaos nicht mehr weit. Kein Mensch kann
jedoch eine totale Freiheit in diesem Leben erlangen, denn er ist immer in
Wechselwirkung mit anderen Menschen und der besonderen Situation, in der er
lebt. Die Behauptung, man sei vollständig frei, ist daher keine Aussage der
Wirklichkeit, sondern ein schwerer Irrtum des denkenden Geistes.
Ähnlich
verhält es sich übrigens mit der eingebildeten Erleuchtung, die der
Wirklichkeit von Körper, Geist und Psyche widerspricht und nur der doktrinäre
Glaube an die Illusion der eigenen Erleuchtung ist. Befreien ist ein
kontinuierlicher Prozess, der von Buddha treffend im Achtfachen Pfad
beschrieben wird. Er lässt erstarrte Handlungsmuster und Prägungen, zum
Beispiel negative formende Kräfte (samskāra), zur Ruhe kommen und eröffnet
damit neue Bereiche des Handelns, Denkens und Fühlens und nicht zuletzt der
Kreativität. Im Hinblick auf das Handeln und die Verantwortung des Menschen
geht es im Buddhismus darum, in der Gegenwart verantwortungsvoll zu handeln und
in klarer Ethik anderen und sich selbst Gutes zu tun, also heilsam tätig zu
werden. Auch im Zen-Buddhismus steht nicht an erster Stelle, auf die eigenen
Verdienste, Ergebnisse und die sogenannten Früchte fixiert zu sein, sondern im
Handeln selbst Klarheit zu gewinnen und das Handeln eines Bodhisattva zu
verwirklichen.
Wer
sich zu sehr auf die angestrebten oder ersehnten großartigen Ergebnisse
konzentriert, ist in Gefahr, im Handeln selbst bereits einen verengten und
egoistischen Geist zu entwickeln. Er geht ein hohes Risiko ein, unklar darüber
zu werden, was überhaupt für jemand anderen wirklich sinnvoll und gut ist.
Unstrittig ist hingegen, dass ein Handeln im Augenblick, das heute auch als
Flow bezeichnet wird, ein besonders gutes Lebensgefühl vermittelt und in der
Lage ist, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten.
Vers 16.10
Wo
es weder das Verwehen ins Nirvāna als Bewegung dorthin gibt, noch das Wegziehen
des Wanderns aus dieser Welt, fragt sich,
welches
Wandern in der Welt und welches Verwehen aus der Welt man auf diese Weise
doktrinär und künstlich konstruiert.
Nāgārjuna zeigt hier auf, dass mit dem Substantialismus
die Realität der Befreiung und des wahren Nirvāna nicht sinnvoll erklärt werden
kann. Nach dem substantialistischen Modell gibt es eine unveränderliche und
reine Substanz, zu der verschiedene substantiale Merkmale und Eigenschaften
hinzukommen. In diesem Falle wäre es zum Beispiel ein materiales Merkmal der
Bindung. In manchen buddhistischen Linien wird implizit wie im Brahmanismus
geglaubt, dass die menschliche Substanz, ähnlich dem ātman, von Natur aus
absolut rein sei und im Lauf des Lebens verschmutzt und befleckt werde. Nach
der substantialistischen Doktrin müsste dann das substantiale Merkmal „Bindung“
total entfernt und durch das ebenfalls substantiale Merkmal „Befreiung“ oder
„Nirvāna“ ersetzt werden. Genau diese zwar romantische, aber unrealistische
Doktrin destruiert Nāgārjuna in diesem Vers, weil sie nicht tragfähig ist und
ins Leiden führt.
Damit stellt er die zu
seiner Zeit durchaus anerkannte buddhistische Lehre von Nirvāna, Freiheit und
Beendigung des Kreislaufs der Wiedergeburten in der Welt des Samsara infrage.
Dies gilt wohlgemerkt für die irrigen oder ungenauen Theorien und eine
Weltanschauung fester unveränderlicher
Substanzen, die fundamental von Buddhas authentischer Lehre abweichen und
von Nāgārjuna scharfsinnig falsifiziert werden.
Ergebnis
Alle Theorien mit
unveränderlichen Substanzen und Entitäten sind für die Befreiung aus bindenden
Abhängigkeiten in unserem Leben, für das Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und die
Entwicklung der bestmöglichen menschlichen Freiheit unbrauchbar, zudem in sich
widersprüchlich und logisch falsch. Eine Lösung bietet nur das realistische
Welt- und Menschenbild des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung.
Für
viele Buddhisten war und ist es eine große unerfüllbare Sehnsucht, sich selbst
im Nirvāna aufzulösen, alle Leiden auszulöschen und ein seliges Glück zu
erfahren. Sie meinen, dass es ein solches Nirvāna in einer jenseitigen Welt
geben würde, die sie erreichen könnten, wenn sie die buddhistischen Regeln
einhalten und der Lehre treu ergeben sind. Sie versteifen sich immer mehr auf
die Vorstellung, dass für sie selbst ein solches „Verwehen“ im Nirvāna möglich
ist und dann alle Schwierigkeiten der hiesigen Wirklichkeit zu Ende sind. Das
betrachten sie als die totale Freiheit, die man sogar schon in diesem Leben
vorbereiten könne.
Nāgārjuna
hält ein solches fixiertes und romantisierendes Konzept, das allein Doktrinen
und dem denkenden Geist entspringt, für unsinnig und sagt in aller Klarheit,
dass dieses Konzept genau das Ergreifen ist, das gerade überwunden werden soll.
Wer sich also auf eine solche Vorstellung eines zukünftigen Nirvāna versteift,
ist durch diese Fixierungen, die im Buddhismus auch Ergreifen genannt werden,
festgelegt, statisch und kann sein Ziel eben nicht erreichen. Nāgārjuna wird im
folgenden Teil seine eigenen vertieften Vorstellungen zum Nirvāna entwickeln.
Nishijima
Roshi sagt dazu Folgendes: „Der Zustand der Balance in unserem Leben ist
gleichzeitig das Nirvāna. Es ist
nicht ein jenseitiges erträumtes Paradies, sondern genau das tägliche Leben im
Hier und Jetzt. Ein solches Leben im Gleichgewicht ist daher kein Gegensatz zum
Nirvāna und nicht etwas anderes oder Zukünftiges. Aber die Worte und unsere
Sprache reichen nicht aus, um das Nirvāna vollständig und erschöpfend zu beschreiben.
Die Wirklichkeit ist mehr als die Sprache. Aber selbst auf der sprachlichen
Ebene ist es unsinnig, ein erfülltes reales Leben im Gleichgewicht mit einem
erträumten Nirvāna zu vertauschen.“
Nāgārjuna falsifiziere die zu seiner Zeit gängige
buddhistische Doktrin vom „Verwehen“ ins Nirvāna und von der Beendigung des
Kreislaufs der Wiedergeburten in dieser Welt des Samsara. Die irrige oder
ungenaue substantialistische Doktrin unveränderlicher
substanzhafter Entitäten kritisiere er radikal und falsifiziere sie
scharfsinnig. Eine solche Doktrin weiche gravierend von Buddhas bewährter Lehre
ab, die keine statischen und unveränderlichen Entitäten oder Substanzen kenne,
sondern vernetztes Entstehen und Vergehen und vor allem das Handeln im
Gleichgewicht des Augenblicks.
B. Zen-Buddhismus: Befreiung und Handeln im Gleichgewicht bei ZEN-Meister Dōgen
Der Alltag im Hier und Jetzt
Die Übereinstimmung der buddhistischen Lehre mit
dem Handeln stellt im Shōbōgenzō ein
ganz zentrales und häufig wiederkehrendes Thema dar.[iv] Wenn
sich religiöse, doktrinäre und spirituelle Verhärtungen entwickelt haben, ist
eine solche Übereinstimmung von Handeln und Wahrheit jedoch kaum noch möglich.
Auch der Buddhismus ist nicht frei davon, dass äußerliche Zeremonien und bis
ins Kleinste festgelegte Handlungsabläufe sich verselbstständigen und vom
wirklichen freien Erleben abtrennen. Eine ähnliche Fehlentwicklung kann leider
entstehen, wenn asketische Bestrebungen überhandnehmen. Die extremen
körperlichen und psychischen Beanspruchungen des Menschen signalisieren dann
eine scheinbare Dichte und Kraft des Erlebens und Erfahrens.
Aber in Wirklichkeit gibt es dabei keine innere
Freude, keine reale Kraft und Klarheit, und damit fehlt die Fülle der
Lebendigkeit. Schon Gautama Buddha hat die übertriebene Askese, die einer
falschen Doktrin folgt, als Sackgasse auf dem Weg zur Befreiung und zum
Erwachen klar erkannt. Meister Dōgen stellt die Bescheidenheit und Einfachheit
auf dem buddhistischen Weg sehr in den Mittelpunkt seiner Lehre. Er warnt uns
vor dem Streben nach Ruhm, vor Selbstgerechtigkeit und aufgeblasenem Verhalten,
das auch durch perfektes Beherrschen von Ritualen und Zeremonien zum Ausdruck
kommen kann.
In diesem markanten Kapitel (Kajō) erläutert Dōgen im Einklang mit seinem Lehrer Tendō Nyojō die Bedeutung des klaren
Handelns im Alltag als Weg und Ergebnis der Befreiung von doktrinären Mustern,
Prägungen und Bindungen. Das Handeln sollte vom Buddha-Dharma durchdrungen sein
und mit der großen Ruhe und Klarheit des buddhistischen Gleichgewichts
vollzogen werden – das ist schon Befreiung. Ein solches Gleichgewicht wird vor
allem bei der Zazen-Praxis im Hier und Jetzt erlernt und strahlt auf unser
ganzes Leben, also auch auf unseren Alltag, aus. In einem solch freudigen und
klaren Gleichgewicht bekommt jedes Handeln im Alltag gewissermaßen einen neuen
Glanz, eine neue Tiefenschärfe und neuen Sinn. Es offenbart uns zugleich das
Wunder des Menschen, der Natur, der Welt und des Universums.
Wir mögen es vielleicht seltsam finden, dass Dōgen
hervorhebt, der Buddha-Dharma sei die Verwirklichung beim „Teetrinken und Essen
der Mahlzeiten“, also bei Handlungen des Alltags im Leben der Menschen. Er
zitiert hierzu den Meister Foyō Dōkai:
„Der Sinn der Worte der Buddhas und Vorfahren ist wie der tägliche Tee und die
Mahlzeiten. Gibt es außerdem noch etwas anderes, mit dem die Buddhas und
Vorfahren die Menschen lehren oder nicht?“
Die Lehren finden oft ohne Worte und immer ohne
verhärtete Doktrinen durch Handeln statt. Die entsprechenden Geschehnisse, bei
denen die alten Meister die Lehre verwirklichten, werden allerdings für die
Nachwelt berichtet, und insofern ist die Sprache wiederum erforderlich, um
solche Lehrinhalte überhaupt weiterzugeben. Dōgen erklärt deshalb:
„Daher solltet ihr darauf vertrauen,
dass der Sinn der Worte der Buddhas und Vorfahren ihr täglicher Tee und ihre
Mahlzeiten sind, und ihr solltet dies bewahren.“ Und weiter: „Die Buddhas und
Vorfahren bereiteten den Tee und die Mahlzeiten, und der Tee und die Mahlzeiten
tragen und erhalten die Buddhas und Vorfahren.“
Mit dieser Äußerung stellt er klar, wie wichtig das
Handeln selbst ist, und hebt hervor, dass sich der Buddha-Dharma verwirklicht,
wenn wir Tee trinken und Mahlzeiten einnehmen. Das ist auch soziales Handeln,
also gemeinsames Entstehen der Freiheit in Wechselwirkung. Indem er diese
Aussage auch umgekehrt verwendet, macht er deutlich, dass der Buddha-Dharma
wesentlich davon getragen wird, dass wir gemeinsam Tee trinken und essen und in
eine Gesamtsituation der Klarheit und Lebensfreude eingebettet sind. Dōgen
bezeichnet dies an anderer Stelle als das „Etwas“, das sich jäh ereignet, wenn
wir offen und im Gleichgewicht sind. Aber dieses Etwas ist keine Substanz,
sondern ein Prozess der Befreiung.
Man kann daher auch sagen, dass das Teetrinken im
Hier und Jetzt stattfindet und sich das „Etwas“ als Wahrheit dabei offenbart,
wenn wir unsere Mahlzeiten im Sinne der buddhistischen Lehre und Praxis zu uns
nehmen. Diese alltäglichen Handlungen strahlen Ruhe und Zufriedenheit aus, sind
nicht von Gier, Ungeduld und Hektik verzerrt, sondern stellen einfaches Handeln
je im Augenblick der Gegenwart dar.
Anschließend berichtet Dōgen von einer Versammlung
mit Meister Tendō Nyojō, bei der
dieser gefragt wurde: „Was ist etwas Wunderbares?“ Und er antwortete: „Es sind
meine Essschalen aus (meinem früheren Kloster Jōji), die ich jetzt in diesem
(Kloster) Tendō zum Essen benutze.“ Dōgen bestätigt diese Ansicht: „Es ist für
jeden Menschen wunderbar, die Mahlzeiten zu essen. Auf dem großen und erhabenen
Berg (eines Klosters) zu sitzen, ist also nichts anderes, als eine Mahlzeit zu
essen.“
Hierzu muss man wissen, dass die Klöster im alten
China meistens in besonders schönen Gebirgslandschaften lagen. Man konnte
sicher leicht ins Schwärmen geraten, wenn man dort auf einem erhabenen Gipfel
des Berges saß, die Täler und Flüsse unter sich liegen sah und der Blick in die
Weite zu den anderen Berggipfeln schweifen konnte. In einer solchen Situation
werden wir leicht von romantischen Gefühlen fortgetragen und wollen der realen
anstrengenden Welt entfliehen.
Dies ist aber keineswegs ganz im Sinne von Dōgen,
der immer wieder auf das einfache Handeln im Hier und Jetzt zurückkommt. In
diesem Kapitel über den Alltag und dessen Wechselwirkungen arbeitet er heraus,
dass der Buddha-Dharma „Teetrinken und das Einnehmen von Mahlzeiten“ ist und
dass darin eine tiefe Befriedigung liegt. Im täglichen Handeln des Alltags, zum
Beispiel wenn wir uns waschen, wenn wir essen, wenn wir Tee trinken, wird eine
ausgezeichnete Schulung zur Einfachheit und Ehrlichkeit ermöglicht. Das ist
ganz anders als überspannte Abstraktionen zu Bindung und Befreiung nach der
dichotomen Doktrin des Substantialismus, die Nāgārjuna so eindeutig als
Fehlentwicklung des Buddhismus kritisiert.
Dōgen zitiert wieder seinen Meister mit den Worten:
„Wenn der Hunger kommt, esse ich, und wenn die Müdigkeit kommt, schlafe ich.
Der Schmiedeofen (der Übungspraxis) reicht bis zum Himmel.“ Er beschreibt also
das Lernen und die Weiterentwicklung im Alltag als einen Schmiedeofen, in dem
das Metall durch die Flammen so erhitzt wird, dass es geschmiedet und zu einem
Gebrauchsgegenstand oder einem Kunstwerk umgeformt werden kann. Im Kapitel „Der
ewige Spiegel oder das intuitive Wissen“ schildert Dōgen, wie das Metall
verwendet wird, um den großen Spiegel (Symbol des intuitiven Geistes) zu
schmieden oder eine Statue Buddhas herzustellen. Damit rückt Dōgen nicht die
rituellen Handlungen, das Zitieren heiliger Verse oder die Konzentration auf
ein religiöses Bild in den Mittelpunkt des Buddha-Dharma, sondern hebt das
Handeln des Alltags auf dem Buddha-Weg als Königsweg hervor.
Das ist in der Tat verblüffend einfach, zumindest
auf den ersten Blick. Dass man schläft, wenn man müde ist, sollten wir im
obigen Zitat nämlich nicht so verstehen, dass wir uns hängen lassen und schlaff
sind, oder wie es heute auch heißt „abhängen“. Es bedeutet auch nicht, dass wir
uns einer geistigen Müdigkeit hingeben oder sie uns selbst einreden, weil wir
zu bequem sind, bestimmte Dinge des Alltags zu besorgen. Das ist schon ein
zentraler Punkt des Achtfachen Pfades und eines der fünf Hemmnisse im Sūtra der
Achtsamkeit. Vielmehr geht es um die Müdigkeit nach einem erfüllten Tag des
„Handelns und Geschehen-Lassens“. Die Gier nach überfeinertem Essen und
ungesunden Leckereien wird von Tendō
Nyojō im obigen Zitat gewiss ebenfalls nicht angesprochen, denn sie würde
gerade den Geist verdunkeln und einengen, und man könnte dann die „kraftvolle
Energie des Essens der Mahlzeiten“ nicht verwirklichen.
Das Handeln des Alltags vollzieht sich immer im
Hier und Jetzt. Dies klingt einfach und selbstverständlich, ist es aber im
„normalen“ Leben vieler Menschen überhaupt nicht. So zitiert Dōgen am Ende
dieses Kapitels einen berühmten Ausspruch: „Hier ist der Ort, wo etwas
(Unfassbares) wirkt.“ Das Hier und Jetzt können wir nur richtig erleben und
erfahren, wenn wir über ein hohes Maß an Freiheit von vorgefassten Meinungen,
von abstrakten Denkgebäuden, Doktrinen, falschen Prägungen und künstlichen
Bildern verfügen. Das ist heute in der Welt der virtuellen Realität der Medien
sicher wichtiger denn je. Es ist von großer Bedeutung, dass wir genau das
wahrnehmen, was direkt vor uns ist, aber gleichzeitig dieses große „Wahre“
anwesend ist und mitschwingt.
Dōgen schließt dieses Kapitel ab, wie er es
begonnen hat: „Kurz gesagt, ist der Alltag der Buddhas und Vorfahren nichts
anderes als Tee zu trinken und Mahlzeiten zu essen.“
[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 235ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 149 ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 149 ff.
[ii] Nach Kant, zitiert in: Bertram, Georg W.:
Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein systematischer Kommentar
[iii] Nāgārjuna: The
Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 51f.
[iv] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 59ff.
ZEN Schatzkammer, Kap. 64, Bd. 3, S. 54ff.: „Der Alltag im Hier und Jetzt (Kajō)“
ZEN Schatzkammer, Kap. 64, Bd. 3, S. 54ff.: „Der Alltag im Hier und Jetzt (Kajō)“