Donnerstag, 15. August 2019

Die Sieben Weisheiten des Mittleren Weges, der große großen Frieden

Das Meisterwerk des großen Nagarjuna 
(von Yudo J. Seggelke).



Einführung:
In meiner Kindheit sprachen die Erwachsenen von etwas ganz Wunderbarem: "Wie im tiefsten Frieden". Damals war Krieg. Haben wir jetzt den großen Frieden verwirklicht? Wohl nicht!

Hiermit möchte ich den berühmten Mittleren Weg  in sieben Weisheiten zusammenfassen. Es ist ein grundlegendes Werk des Buddhismus, das von Meister Nâgârjuna etwa 150 nach der Zeitenwende verfasst wurde. Diese Werk ist von fundamentaler Bedeutung für einen modernen Buddhismus des 21.ten Jahrhunderts, an dem ich mitarbeiten möchte. Es ist die fundierte Kritik an falschen Denk-Gewohnheiten, die ins Leiden führen und eigentlich vermeidbar sind. Im Kern sind solche Probleme heute aktueller den je, in der Scheinwelt der Medien und angeblich sozialen Netze!

Etwa 650 Jahre nach Buddha hatten sich nämlich verschiedene Schulen und Sekten vor allem in Hinayana heraus entwickelt, die aus der Sicht von Nâgârjuna fundamentale Fehl-Interpretationen des Buddha-Dharma sind. Nach seinen präzisen Untersuchungen verzerren sie die zentralen Lehraussagen Buddhas oder verkehren sie sogar in ihr Gegenteil. Dann sei es nicht möglich, dass unser Leiden zur Ruhe kommt und wir uns befreien.

Der Mittlere Weg, MMK, wird zu recht geschätzt als eines der wichtigsten Dokumente des Buddhismus und hatte nachweisbar großen Einfluss auf die buddhistischen Entwicklungen in China, Japan und Tibet. Auch im Westen ist nunmehr ein deutlich ansteigendes Interesse zu beobachten. Aber wegen seiner philosophischen Komplexität ist dieses Werk nicht einfach zu verstehen und zu entschlüsseln: es wurde wiederholt irreführend übersetzt und interpretiert. Was sind nun die Kernaussagen des MMK? Zu dieser Frage haben E. Steinbrückner und ich auf der Grundlage der fundamentalen Arbeiten meines Lehrers Nishijima Roshi eine ganz neue Übersetzung erstellt und sind bei der Interpretation teilweise zu überraschend aktuellen und präzisen Aussagen gekommen. Die Ergebnisse möchte ich mit den folgenden "Sieben Pfeiler des MMK" zusammenfassen.


Die erste Weisheit:  Gemeinsames Entstehen in Wechsel-Wirkung,  kontra Ideologien und Doktrinen der Unveränderlichkeit und Fixierung 
Co-arising in Mutual Interaction,
Alle Buddhisten waren und sind sich einig, dass das spezifische vor-buddhistische Selbst des Menschen, Âtman, abzulehnen ist (anâtman). Der menschliche Âtman galt als unveränderlich und müsse individuell durch oft Millionen von Wiedergeburten gehen, so die alte Lehre. Er werde vollständig gereinigt in das Nirvana eingehen.

Nach der alten indischen Weltanschauung und Philosophie war die Welt außerdem durch feste Bausteine, Dharmas (Plural), aufgebaut und konnte so zu größeren Einheiten zusammengesetzt werden. Die Dharmas seien grundsätzlich unteilbar, unveränderlich und voneinander unabhängig . Sie hatten daher große Ähnlichkeiten mit den unteilbaren Atomen und den ewigen unveränderlichen Ideen in der griechischen Philosophie.

Im Hinayana, insbesondere der Linie der sogenannten Sarvastivadins, entwickelte sich dann aber auch im Buddhismus selbst der feste Glaube, dass die Entitäten, "Bausteine der Welt" (Plural), die Dharmas, ebenfalls unveränderlich, ewig und von einander isoliert existieren würden. Diese Doktrin verfälscht jedoch nach Nagarjuna grundsätzlich das wahre Fundament der Lehre Buddhas. Sie ist vor Allem mit Buddhas Grundsatz der Veränderung sowie des Entstehens und Vergehens in Wechsel-Wirkung unvereinbar, denn mit dieser Doktrin wäre gerade das Vergehen des Leidens, das Erwachen und das Entstehen der Befreiung und Erleuchtung unmöglich. Daher können nach dieser statischen Doktrin der Dharmas auch keine neue Fähigkeiten und Potentiale zur Befreiung und Emanzipation des Menschen entstehen und verwirklicht werden.

Übrigens gab es auch die doktrinäre Fehlentwicklung, dass es abgegrenzte Zeit-Bausteine und Entitäten geben würde, die den genannten substanzhaften Bausteine und Entitäten  entsprechen. Damit können sich Veränderungen beim Menschen natürlich nicht ereignen (Lehre der Sautrantika).

Genau an diesen Punkten setzt Nâgârjunas radikale Destruktion dieser Doktrinen im MMK an. Er analysiert und destruiert das falsche Grundprinzip der Statik, falschen Substanz und Isolation mit großer Präzision. Das ist die erste Säule des MMK, er sagt in der Präambel:

"Buddha, der vollkommen Erwachte, zeigte das wechsel-wirkende, gemeinsame Entstehen (in der Welt, pratitiya samutpada, co-arising in mutual interaction) und das beglückende Aufhören der wegführenden Fehlentwicklungen und Verwirrungen (durch täuschende Doktrinen)."

Was wird damit klar gesagt? Die Dharmas, die Welt und die Menschen sind gekennzeichnet durch gemeinsames vernetztes Entstehen. Die Dinge und Phänomene sind gerade nicht statisch, substanzhaft und fixiert, sondern veränderlich und nicht isoliert, nämlich wechselwirkend. Das ist die klar erkennbare Realität und so werden die Dharmas erfahren. Das Gemeinsame, Ganzheitliche und Lebendige der Dharmas wird durch den Begriff der Wechsel-Wirkung gut ausgedrückt, das heißt es geht um Vernetzungen, Rückkopplungen, eben um die Wechselwirkungen und Veränderungen, also beim Entstehen, Andauern und Vergehen. Damit werden nach Nâgârjuna sowohl die doktrinären Verwirrungen, Fehlentwicklungen, das Herumirren und ideologische Erstarren außer Kraft gesetzt.

Der Zen-Meister Shunryu Suzuki spricht in diesem Sinne von der Harmonie der Differenz und nicht von der Trennung und Dualität in Subjekt und Objekt. Die Doktrin der unveränderlichen Schein-Substanzen behauptet absolute Identität oder absolute Unterscheidung; beides ist spekulativ und schein-logisch gedacht und daher nicht wirklich.  Es handelt sich gerade nicht um die absolute Trennung von Subjekt und Objekt sondern um deren harmonisches Zusammenwirken. Die scheinbaren Paradoxien der Zen-Koans sind nur so lange paradox, wie man an die absolute Wahrheit der unveränderlicher Substanzen von Gedanken und Gefühlen glaubt. Aber solche Substanz löst sich beim wahren Handeln einfach auf. In unserem Leben gewinnen wir genau dann eine neue Richtung, neuen Sinn und neue Energien. Die doktrinären Hemmnisse und Blockaden kommen so zur Ruhe und unsere Befreiung aus Fixierungen beginnt zu wirken. Ich folge dieser fundamentalen Einschätzung ausdrücklich.

Ich möchte außerdem betonen, dass diese m. E. wirklich korrekte Übersetzung von pratitya samutpada (co-arising in mutual interaction) mit der modernen Öko-Systemforschung und der Neuro-Wissenschaft zusammen passt. Buddha hatte aus meiner Sicht diese tiefen Einsicht in die Wirklichkeit der Welt und des Menschen bereits vor 2.500 Jahren. 

Zweifellos hat diese zentrale Lehre des Buddhismus eine herausragende Bedeutung für das menschliche Zusammenleben in der Partnerschaft, Familie und im Beruf. Das beeindruckt mich sehr!


Die zweite Weisheit:  Richtig und falsch verstandene Leerheit
Nâgârjuna gilt zu Recht als der wichtigste buddhistische Meister und Philosoph der Leerheit, die zentrale Bedeutung für die weiteren Entwicklungen des Mâhâyâna-Buddhismus in China, Japan und Tibet erlangte. Was bedeutet das? In Kapitel 24 des MMK untersucht er die wahre Bedeutung der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades, also der zentralen Lehre Buddhas. Er verbindet die Vier Edlen Wahrheiten dabei mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitiya samutpada, co-arising in mutual interaction) und vor Allem der Leerheit (shunyata). Es ist wichtig, die genaue korrekte Übersetzung und Bedeutung dieser Verses zu kennen:

"Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlere Zugang (zu Buddhas Wahrheit)."

Damit wird die Leerheit klar definiert und ist zudem ohne Mystizismus, Metaphysik und Spekulationen zu verstehen. Zur Bedeutung Leerheit gab und gibt es dagegen leider geradezu abenteuerliche Interpretationen. Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung ist nach Buddha das Grundprinzip der Welt und es wird in seiner von Doktrinen unverzerrten Form der Wirklichkeit als Leerheit angesehen und so bezeichnet. Wenn man sich diese Bezeichnung und Bedeutung angeeignet hat, ergibt sich der Zugang zum Mittleren Weg der eigenen Befreiung und Emanzipation. Das gilt vor Allem für die Überwindung des durch Unklarheiten und falsche Doktrinen erzeugten Leidens. Dadurch können die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad vom Menschen verwirklicht werden. Die Sichtweise der genau so verstandenen Leerheit eröffnet damit den Befreiungsweg Buddhas. Oder umgekehrt ausgedrückt: Wenn man die Bedeutung von Leerheit und pratitiya samutpada (co-arising in mutual interaction) falsch versteht, ist der Befreiungsweg Buddhas blockiert und versperrt. Das heißt nichts anderes, als dass die genannten Hinayana-Doktrinen der unveränderlichen, isolierten und ewigen Dharmas (Dinge und Phänomene) überhaupt nicht zur Befreiung und Überwindung des Leidens führen können. Die wichtigste Sekte dieser Hinayana Weltanschauung ist die der bereits genannten Savastivadins, die im nordwestlichen Teil des Buddhismus eine erhebliche Bedeutung hatte. Nâgârjuna sagt also unverblümt, dass mit dieser buddhistischen Doktrin der Befreiungsweg Buddhas versperrt ist.

Vereinfacht möchte ich mit Nagarjuna zu unserem Leben sagen: Zur Ruhe kommen von Täuschungen, Selbsttäuschungen, Illusionen, intellektuellen Glasperlen-Spielen usw. aber voll vom natürlichen wirklichen Leben, und mit Freude hier und jetzt. Ein solches Zur-Ruhe-Kommen gelingt, weil all dieses leer von unveränderlicher fixierter Eigen-Substanz und ohne Ur-Substanz ist. Denn all dieses kann überhaupt nicht wahrgenommen werden. Und all diese ist nicht erstarrt sondern in harmonischer Wechsel-Wirkung. Das ist wahres Erwachen!


Die dritte Weisheit:  Extreme und Ideologien blockieren das Erwachen. Die Kraft für den Frieden kommt aus der Mitte
Buddha und Nâgârjuna warnen eindringlich vor allen Extremen, sei es im Geist und bei allen Komponenten des Menschen, den Skandhas. Die weit verbreitete Vorstellung von absoluter Existenz und Nicht-Existenz destruiert Buddha selbst in einem berühmten Sûta, weil es solche Extreme in der Wirklichkeit nicht gibt und weil dadurch schädliche Doktrinen und Ideologien zum Zuge kämen. Der Mittlere Weg der eigenen Entwicklung und des Abbaus von Hemmnissen, der Überwindung von Unfreiheit und der Emanzipation hat in der Wirklichkeit keine Extreme.

Derartige Extremvorstellungen und Behauptungen können in der Wirklichkeit nicht gefunden werden, werden also durch unseren eigenen Geist und unseren Intellekt künstlich erzeugt und so konstruiert. Der Mittlere Weg hat gerade keine Mittelmäßigkeit, sondern im Gegenteil, es ergeben sich durch die Vermeidung der Extreme neue vitale Kräfte und vor allem die Möglichkeit der nachhaltigen eigenen Entwicklung und Emanzipation. Im Übrigen kennen wir in den lebenden Systemen der Ökologie und des neuronalen Netzes derartige Extreme überhaupt nicht, sie sind also durch unsolide oder fantastische Weltanschauungen künstlich erzeugt. Besonders schädliche und brutale Gruppierungen, Sekten und politische Strömungen wie in die NS-Zeit und des islamischen IS sind schlagende Beweise für die Schädlichkeit derartiger Extrem-Ideologien.

Die vierte Weisheit Sehnsucht der Menschen nach der ewigen Eigen-Substanz und ewigem Ego
Sogar im Buddhismus hatten sich bestimmte Doktrinen und Sekten entwickelt, die der alten Menschen-Sehnsucht gehorchten, dass es doch im Leben etwas Unveränderliches, Dauerhaftes, Ewiges und Verlässliches geben müsse. Genau dies hatte Buddha aber als gefährlich und schädlich erkannt, da es der Wirklichkeit überhaupt nicht entspricht und zu Leiden und Schmerzen führt. In der Welt und beim Menschen entstehen und vergehen Dinge und Phänomene in Wechselwirkung. Es geht gerade darum, die Veränderungen zur eigenen Befreiung zu nutzen. Trotzdem gibt es natürlich Kontinuitäten und langsame und schnelle Veränderungen

Eine weit verbreitete sich verstärkende Lehrtradition des Buddhismus behauptete wie gesagt, dass die Dharmas als Bausteine des Lebens und der Welt unveränderlich, ewig und isoliert seien, sie würden der Wechselwirkung nicht entsprechen. Die wichtigste dieser Hinayana Linien sind die genannten Savastivadins, die eben für die Dharmas behaupteten, dass sie dauerhaft existieren: sie seien teilweise unsichtbar und teilweise manifestierten sie sichtbar und erkennbar. Was würde das bedeuten? Diese Sekte sagten zwar nicht, dass es einen dauerhaften Seelen-Kern wie den Âtman gäbe, aber sie behaupteten, dass die Unveränderlichkeit, Ewigkeit und Dauerhaftigkeit der Dharmas als statische Bausteine, Entitäten, des Lebens und der Welt existieren. Ist das mit Buddha Weisheit vereinbar? Sicher nicht!

Der zentrale Begriff dieser Sekte für die Bausteine der Welt heißt in Sanskrit svabhâva. Dies sei die unveränderliche, ewige Substanz; sie sei in sich gleichbleibend und zu Ur-Zeiten allein aus sich selbst entstanden. Ich habe im MMK dafür den Begriff fiktive unveränderliche Eigen-Substanz verwendet. Es handelt sich wohlgemerkt um eine ideologisch und fiktive gedachte ewige Substanz in den Dingen und Phänomenen, den Dharmas. Nâgârjuna destruiert und falsifiziert eine solche Eigen-Substanz, svabhâva, umissverständlich und eindeutig in allen wichtigen Kapiteln des MMK. Er weist nach, dass mit dieser irrigen buddhistischen Ideologie die gesamte Lehre Buddhas zur Überwindung des Leidens und der Befreiung hinfällig ist. Eine kurze Erklärung dafür kann wie folgt formuliert werden: Wenn die Bausteine, die Dharmas dieser Welt unveränderlich, ewig und isoliert wären, kann es auch durch deren Zusammenfügen keine dynamische Entwicklung, keine Weiterentwicklung, keine Befreiung und kein Erwachen geben. Das ist besonders für die Menschen richtig.

Bei den meisten Autoren wird für svabhāva (ähnlich Âtman) der Begriff self nature, also Selbst-Natur verwendet. Ich rate von diesem Begriff ab. Es muss betont werden, dass es sich gerade nicht um die Natur und deren Wirklichkeit der Dharmas handelt, sondern gerade um die metaphysische Ideologie, dass es eine derartige unveränderliche Eigen-Natur geben würde. Das ist Spekulation und allein aus dem Geist konstruiert. Es ist eine fälschlich behauptete Ur-Natur, die überhaupt nicht beobachtet oder erfahren werden kann. Große Teile der Argumentationen Nâgârjunas im MMK sind der Destruktion dieser Ideologie einer falschen Selbst-Natur, svabhāva (ähnlich Âtman), gewidmet, die bei realistischer Sicht fiktiv, ideologisch und ausgedacht ist. Es ist einleuchtend, dass eine derartige unveränderliche Selbst-Natur oder fiktive Eigen-Substanz mit der Grundaussage des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung im eklatanten Widerspruch steht. Damit würde die belastbare Grundlage des Buddha-Dharma zerstört.


Die fünfte Weisheit:  Wahres Handeln und Karma befreit und schafft gute Energien zum Leben
Für eine gute Veränderung des Menschen bedarf es des Tuns und Handelns, sei es geistiger, psychischer oder körperlich-materieller Art. Im Mâhâyana Buddhismus wird dies Bodhisattva-Handeln genannt. Es hat damit eine wichtige ethische Komponente, dass unser Handeln nämlich anderen hilft und sie auf ihrem Weg der Befreiung unterstützt. Nishijima Roshi bezeichnet auch die Zazen-Meditation als Handeln in der richtigen Sitzhaltung, um sich im Gleichgewicht, Ruhe und Sammlung zu verwirklichen. Er nennt Zazen die erste Erleuchtung. Durch aktives und nicht zuletzt bewusstes Handeln können wir unser Leben nachhaltig positiv gestalten, wenn wir nach der buddhistischen Lehre eine rechte Sichtweise haben, um Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Denn Handeln kann auch aus egoistischem oder gar verbrecherischem Wollen entstehen und geleitet werden. Daraus wird deutlich, dass nicht alles und jedes Handeln im buddhistischen Sinne unterstützend und nützlich für den eigenen und fremden Befreiungsweg ist. Man denke an die ideologischen Verbrechen aus der NS-Zeit und des sog. islamischen States.

Im Buddhismus haben die sogenannten Früchte des Handelns, also die Ergebnisse, eine hohe Bedeutung. Hier warnt Nâgârjuna in aller Klarheit, dass eine falsche Doktrin von statischen Entitäten und Substanzen den buddhistischen Handlungs-Prozess schadet oder sogar sinnlos macht. Das dinghafte, statische  oder gar materielle Verständnis der Früchte führt in die Sackgasse. Mit einer solchen Doktrin könne es nicht gelingen, den Achtfachen Pfad zu beschreiten und Befreiung zu erlangen. Wer also die Früchte dinghaft, materiell und substanzhaft annimmt, kann die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas grundsätzlich nicht verwirklichen.

In diesem Sinne wird besonders im Zen-Buddhismus das rechte Handeln hervorgehoben, um Änderungs-Prozesse in die richtige Richtung zu lenken und voranzubringen. Das Entscheidende der Wirkung sei das Handeln selbst im Augenblick oder, wie es in der Psychologie auch heißt, der Flow. Durch die Fokussierung auf waches Handeln wird die ungute Fixierung auf ersehnte und erwünschte Ergebnisse gemindert und das gute und genaue Handeln im Augenblick kann viel besser kontrolliert und gesteuert werden.

Für das rechte Handeln sind im Buddhismus die zehn sog. Bodhidsattva-Gelöbnisse entwickelt worden, mit denen ethisch rechtes Handeln erleichtert und gebündelt wird. Jedes physische Handeln zum Beispiel der Senso-Motorik, z. B. Bewegungen,  bewirkt im Übrigen Veränderungen in unserem Gehirn, wie die moderne Gehirnforschung weiß. Dieses Zusammenwirken der körperlichen mit den geistigen und psychischen Bereichen des Menschen ergibt sich durch die Vernetzung all dieser Funktionen im Gehirn und ganzheitlich im Körper. Im selben Sinne hat Buddha die Ganzheit und Vernetzung der fünf Komponenten des Menschen (Skandhas) gerade beim Handeln und bei den buddhistischen Früchten hervorgehoben. Bewegung und Handeln wirken also unauflösbar zusammen und lassen sich weder körperlich noch geistig trennen. Nâgârjuna betont eindeutig ein solches Handeln von Karma und Früchten; das ist die Bedeutung der wahren Lehre Buddhas. Damit wird die Gefahr der Blockade und Unwirksamkeit durch Doktrinen der Statik, Selbst-Gerechtigkeit, Unveränderlichkeit und Substanzhaftigkeit für Handeln und Karma außer Kraft gesetzt. Der Befreiungs-Weg kommt so in Gang und geht immer weiter.

Die sechste Weisheit: Nirvana und die wirkliche Befreiung zum großen Frieden
Das Kapitel über Befreiung und Nirvana ist ohne Zweifel ein Höhepunkt des gesamten MMK.
Aber Nirvana ist keine Entität und nichts Substanzhaftes. Buddha und Nâgârjuna vertreten in aller Klarheit die Wirklichkeit von Prozesse der Veränderung, der Befreiung und Emanzipation und nicht zuletzt der Überwindung des Leidens. es genauer heißt, dass das „Leiden zur Ruhe kommt“. Abruptes Umschlagen von substanzhaftem Leiden in substanzhafte unveränderliche Befreiung werden abgelehnt, denn sie sind in der Wirklichkeit nicht vorfindbar und daher doktrinäre Extreme des Denkens und von Doktrinen.

Es geht um das große Lebensziel der Befreiung und Emanzipation des Menschen in diesem Leben im Hier und Jetzt. Nâgârjuna  nennt diese Befreiung Nirvana und distanziert sich damit von dem Glauben, das Nirvana wäre in einer jenseitigen transzendenten Welt, die total verschieden von der hiesigen realen Welt sei. Oder kurz gefasst: die buddhistische Lehre und Praxis gibt uns die Möglichkeit, jetzt in unserem Leben sich so weiter zu entwickeln, dass wir ein befreites Leben führen können. Dies ist gleichzeitig ein gutes und freudiges Leben, das die Hemmnisse überwunden hat und durch die sieben Faktoren der Erleuchtung von Buddha authentisch beschrieben wurde.

Aber wir sollten uns im Hier und Jetzt vor den Illusionen eines grenzenlosen himmlischen Lebens hüten, in dem andauerndes unbedingtes Glück und nur Glückseeligkeit herrschen. Wir werden auch zukünftig mit Problemen konfrontiert sein, aber wir können unnötiges Leiden durch die buddhistische Praxis und Lehre vermeiden. Nishijima Roshi’s bezeichnet das mentale und physische Gleichgewicht der Zazen-Praxis als „Nirvana oder den freien und friedlichen Zustand“.

Buddha und Nagarjuna haben nicht gelehrt, dass es einen radikalen Unterschied von Nirvāṇa und Samsara gibt. Wenn wir das Nirvana in diesem Leben verwirklichen, dann verwirklichen wir den großen Frieden. Wir können uns aus dem fatalen Kreislauf des selbst erzeugten Leidens befreien.

Für die zentralen Probleme und Fragen der Befreiung, der Überwindung des Leidens und letztlich der Erleuchtung präzisiert Nâgârjuna mit großer Exaktheit verschiednen Fehlentwicklungen, Illusionen und enttäuschte Hoffnungen. Sie entstehen vor allem durch ungenaue oder sogar falsche Doktrinen. Er destruiert deren philosophische Hilfskonstruktion als ungenau und in sich widersprüchlich.

Was sagt Zen-Meister Dogen dazu: "Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen". Das ist für ihn der Flow im Nirvana. Und bei der Zazen-Meditation "lassen wir Körper und Geist fallen". Das kann man Denken aus dem ´Nirvana-Denken´ bezeichnen.


Die siebter Weisheit Zwölf Faktoren der großen Befreiung oder aus dem überwindbaren Leiden
Nâgârjuna schließt mit der genauen Analyse des praktischen und theoretischen Befreiungsweges den fundamentalen Zyklus des MMK zur Bereinigung und weiteren Entwicklung des wahren Buddhismus ab. Es nennt zwölf Faktoren der menschlichen Wechselwirkungen  und Entwicklung Buddhas, an dessen Anfang der von Unwissen und  nicht heilsamer Doktrinen „umhüllte“ Mensch steht, der vom Substanz-Glauben  gefangen ist und daher seine Lebens-Dynamik nicht verwirklicht. Die formenden Kräften bedingen dann Erstarrung und Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung. Ein unwissender Mensch, der in unreflektierten Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien verfangener ist, geht einen zwangsläufigen und vorgegebenen Weg seines Lebens. Dabei wiederholen sich Zyklen, die durch Probleme entstehen und sich zu großem meist unnötigen Leiden auftürmen. Umgekehrt gibt es in jeder Phase und bei jedem Schritt unseres Lebens die reale Möglichkeit der Emanzipation und Befreiung von einer solchen abhängigen Zwangsläufigkeit, sodass Leiden und Elend weitgehend aus unserem Leben verschwinden und überwunden werden.

Nagarjuna fasst im Kapitel 26 des MMK die beiden grundsätzlich möglichen Abläufe menschlichen Lebens der Befreiung oder der unfreien Abhängigkeit vom Leiden zusammen. Die unfreie Zwangsläufigkeit ohne die buddhistische Lehre führt zum Leiden, oft in zyklischer Wiederholungen der falschen Schritte, wie in einem Teufelskreis.

Von großer Bedeutung sind Aussagen, in denen die Befreiung von Abhängigkeit, Ergreifen von angeblichen Substanzen und deren Determinierung durch unheilsame Doktrinen herausgearbeitet werden. Mit der Befreiung aus den fataler Vorprogrammierung wird der nicht heilsamen Ablauf zum Leiden durchbrochen. Das ist Erwachen und Erleuchtung. Dann verwirklicht sich die Buddha-Natur, nicht zuletzt bei der Meditation, im Flow und beim Handeln eines Bodhisattvas.

Vers 26.10
Von daher prägt ein Nicht-Wissende selbst die Wurzeln seiner Wanderung durch das Leben: die Wurzeln sind die formenden Kräfte. Von daher ist ein Nicht-Wissender selbst ein (blinder) Ausführer (der formenden Kräfte).
Im Gegensatz dazu ist ein Wissender gerade kein (blinder) Ausführer der (unbewussten) formenden Kräfte, denn er sieht diese Wirklichkeit und die Wahrheit des Buddhismus.

Ein Unwissender kennt nicht die Entstehung und die Wechselwirkungen seiner Schmerzen und Leiden. Vor allem weiß er nicht, dass er sie weitgehend selbst verursacht hat und damit seine formenden Kräfte und seinen Gang durch das Leben in die falsche und nicht heilsame Richtung lenkt. Er kann also den Befreiungsweg gehen!
Es gibt  für jeden Menschen die Möglichkeit der Befreiung und Erleuchtung: Das ist ein Wissender und so Fühlender und Handelnder. Von zentraler Bedeutung sind dabei die rechte Sichtweise und die rechte Entscheidung sowie die übrigen sechs Bereiche des Achtfachen Pfades, z. B. der Meditation. Weiterhin geht es um die Vermeidung der fünf Hemmnisse und die Verwirklichung der achtfach gegliederten Erleuchtung des Buddhismus. Besonders wichtig sind die formenden Kräfte des Menschen, also vor Allem seine Ethik, seine Werte und seine Semantik, also die Bedeutungen. Dazu bedarf es der genauen Selbst-Beobachtung, also der Achtsamkeit des Körpers, der Gefühle und des Geistes.


Damit wird in aller Klarheit formuliert, dass wir selbst die Wurzeln der Freiheit und des Leidens erzeugen, formieren und in die Dynamik der formenden Kräfte einbringen, die uns zum Glück und zur Freude oder zum Leiden und Elend vorantreiben.  Nâgârjuna verwendet den wichtigen Begriff „zur Ruhe kommen“ des Leidens, um den großen Frieden bei gleichzeitigem klaren Handeln verwirklichen.

Ertrag: 
Harmonie der Wechselwirkung und Leerheit der Illusionen, Fixierungen und Täuschungen. 
Die Fülle der lebendigen Natur und der Wirklichkeit. 
Die Kraft des Handelns, das ist gutes Karma. 
Freude, Glück und Nirvana sind hier und jetzt. 
Die Befreiung des Menschen in zwölf Schritten

Wenn man ideologisch die unveränderliche Statik und Entität aus ewiger Substanz der Dinge und Phänomene (Dharmas) behauptet, ergeben sich bei genauer Analyse unlösbare Widersprüche zur authentischen buddhistischen Lehre. Nâgârjuna destruiert und falsifiziert daher im gesamten MMK eine derartige Substanz-Ideologie, die dazu führt, dass Buddhas Lehren unterminiert und gegenstandslos sind. Bei genauer Untersuchung ist mit der Doktrin unveränderlicher isolierter Bausteine der Welt, Dharmas, kein Überwinden des Leidens und keine Befreiung möglich. Hierfür verwendet er den Begriff der Leerheit.

Diese Argumentation wird für mich durch die Übersetzungen und Kommentierungen der wissenschaftlichen Autoren D. J.  Kalupahana und J. L. Garfield grundsätzlich überzeugend dargelegt. Allerdings rate ich auch zu einigen Präzisierungen und Weiterentwicklungen durch eine wirklich genaue Übersetzung aus dem Sanskrit und den sich daraus ergebenden Interpretationen. Besonders wertvoll erweist sich die Arbeit meines Lehrers und großen Zen-Meisters G. W. Nishijima. Durch Nâgârjunas Arbeiten zur Leerheit der fiktive, illusionären und daher unrealistische Eigen-Substanz oder Selbst-Natur wird der wahre vitale Kern der buddhistischen Lehre von Fehl-Deutungen und Fehl-Ideologien befreit. Dies ist sicher auch die wichtige Grundlage für die folgenden Weiterentwicklungen des Buddhismus, z. B. im chinesischen Chan sowie japanischen Zen und auch heute im Westen

Durch Formulierungen von Negationen im MMK wie Nicht-Entstehen und Nicht-Vergehen werden die unwirksame Ideologie der unveränderlichen Substanzen oder einer ewigen Eigen-Natur radikal destruiert. Bestimmte negative Formulierungen sind also keinesfalls Kernpunkte einer neuen buddhistische Lehre Nagarjunas, wie bisweilen behauptet, weil er derartiges unveränderliches Substanz-Denken gerade falsifiziert. Er behandelt tiefgründig die Ganzheit der buddhistischen Aussagen zum Beispiel der Wirkungen, Früchte, der Bindung und Befreiung, des Entstehens und Vergehens, der Vier Edlen Wahrheiten, des Achtfachen Pfades, der Einheit und Differenz usw.. Er verbindet sie mit dem gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, der Leerheit von falschen Doktrinen und dem Mittleren Weg. Das eröffnet die wirkliche Befreiung und Emanzipation des Menschen.

Unmissverständlich erklärt Nagarjuna, dass die Leerheit keinesfalls das Nichts oder Nihilismus bedeutet. Im Gegenteil man kann sich  damit für die harmonische Wechsel-Wirkung öffnen und sich von falschen Doktrinen und Täuschungen einer unveränderlichen Entität aus ewiger Substanz und Essenz befreien. Und man erkennt grundsätzlich, dass Doktrinen, Gedanken, Vorstellungen und Gefühle eben genau Doktrinen, Gedanken, Vorstellungen und Gefühle sind, und nicht die Wirklichkeit. Sie können heilsam oder nicht heilsam wirken. Illusionen und Täuschungen  sind eben genau Illusionen und Täuschungen. Aber dann sind die Berge eben wirkliche Berge und die Blumen eben wirkliche Blumen, genau im Augenblick. Das ist die Verwirklichung des Buddha-Dharma in unserem Leben!