Freitag, 2. August 2019

Die große Energie des Mittleren Weges von Meister Nagarjuna

                                     Yudo J. Seggelke (Bitte Copyright beachten)
                                                    Arbeitsfassung vom 8.8.2019
Aus "Sternstunden des Buddhismus" 
Nach den grundlegenden Arbeiten von G. W. Nishijima


Hiermit möchte ich eine möglichst gut verständliche und brauchbare Zusammenfassung des berühmten "Mittleren Weges" des großen buddhistischen Meisters Nagarjuna vorlegen. Ich hoffe damit manche bisherigen Missverständnisse und ungenauen Interpretationen auszuräumen. Seit 19 Jahren habe ich an diesem epochalen Werk des Buddhismus gearbeitet, viele Jahre zusammen mit Nishijima Roshi und in der letzten Zeit mit der Indologin Elisabeth Steinbrückner. Nagarjuna lehrt, die Hemmnisse und Blockaden unseres Lebens klar zu erkennen und wirkungslos zu machen, um frische neue Lebensenergien zu aktivieren. Das Studium des ebenfalls fulminanten Werkes "Shobogenzo" von Zen-Meister Dôgen war für mich dabei ausgesprochen fruchtbar.


1. Einführung


2. Die Bedeutung des Mittleren Weges

3. Buddhas Lehrrede zum Mittleren Weg und zur Vermeidung von Extremen (Kaccānagotta suttam)

4. Mittlerer Weg: Lebendige Wechselwirkung und Entwicklung

Die Präambel

Kapitel 1: Verlässliche Grundlagen des Buddhismus – Kausalität, Wechselwirkung, Wirkkraft und Frucht des Handelns

Kapitel 2: Die Dynamik der Welt und des Lebens – Gehen, Bewegen und Verändern auf dem Weg des Lebens

Kapitel 3: Unsere Sinne und die Wahrnehmung

Kapitel 4: Die Gliederung der fünf Komponenten des Menschen, deren Wechselwirkung und die Leerheit

Kapitel 5: Die buddhistischen Elemente Festes, Flüssiges, Luftartiges, Heißes, Raum und Bewusstsein

Kapitel 6: Die Erregung, der Erregte und das Gleichgewicht

Kapitel 7: Die Veränderungen im Buddhismus – Entstehen, Andauern und Vergehen und die Dharma-Theorie

Kapitel 8: Akteur, Tat und Karma

Kapitel 9: Wahrnehmung und unabhängige Existenz

Kapitel 10: Brennstoff und Feuer – ein Gleichnis des wahren Lebens?

Kapitel 11: Anfang und Ende – Geburt, Leben und Tod

Kapitel 12: Leiden und Schmerzen

Kapitel 13: Formende Kräfte, Verhaltensmuster, Prägungen und Leerheit von unheilsamen Doktrinen

Kapitel 14: Verbindung von Subjekt, Wahrnehmung und Objekt

Kapitel 15: Die Wirklichkeit der Dinge, Phänomene und Ereignisse und die fiktive unveränderliche Eigen-Substanz

Kapitel 16: Bindung und Befreiung des Menschen

Kapitel 17: Handeln, Karma und Verantwortung des Menschen

Kapitel 18:
Wirklichkeit des Selbst, Âtman und Buddha-Natur

Kapitel 19:
Zeit, Augenblick und Wirklichkeit

Kapitel 20
Gesamtheit von Verursachung, Frucht und Wechselwirkung

Kapitel 21
Entwicklung, Werden, Auflösung und Entwerden
beim Menschen

Kapitel 22
Tathâgatha der Erwachte

Kapitel 23
Vertauschung, Verfälschung und Ethik

Kapitel 24
Die Vier Edlen Wahrheiten und die Leerheit

Kapitel 25
Befreiung und Nirvana

Kapitel 26
Der Befreiungsweg in zwölf Phasen

Kapitel 27
Doktrinen und Buddhas umfassende Wahrheit



1. Einführung
Dieser Text ist eine Zusammenfassung der drei Bände von Sternstunden des Buddhismus der Kapitel 1 bis 27 von Nâgârjunas Lehrgedicht über den Mittleren Weg. Dafür hat sich die Abkürzung  MMK  durchgesetzt– abgeleitet von Mûlamadhyamakakârikâ, wie es in der indischen Sprache Sanskrit heißt. Es geht um zentrale Fragen und Analysen Nâgârjunas im Hinblick auf den Menschen und auf die Dinge und Phänomene der Welt, die Dharmas. Er unterzieht dabei Weltanschauungen und falsche Doktrinen, welche die Dharmas zum Beispiel als unveränderliche Entitäten mit einem ewigen Wesenskern verstehen, einer präzisen De-Konstruktion. Sonst würde die gesamte Lehre Buddhas unglaubhaft, spekulativ und vor allem unwirksam werden. Ein spekulativ behaupteter Wesenskern ist nach vorbuddhistischem Glauben eine unveränderliche Substanz oder Essenz und charakteristisch für die Bausteine der Welt, den Dharmas. Dies ist ohne Zweifel ein falsches absolutes Verständnis der Substanz und ein unreales Extrem. Damit muss die Überwindung des Leidens in der Welt scheitern.  In Übereinstimmung mit Nishijima Roshi und Kalupahana werde ich in meiner Analyse und Interpretation des MMK die Kritik Nâgârjunas auf die Vorstellung von einer absoluten und unveränderlichen Substanz konzentrieren und dabei die Bedeutung und Funktion der Leerheit klar beschreiben [1]. 

Damit kann nunmehr ein vertieftes Verständnis des Buddhismus erreicht werden, das für die Wirksamkeit von Buddhas Praxis und Philosophie der Gegenwart von allergrößter Bedeutung ist!

In den Jahrhunderten nach Buddha hatten sich bei verschiedenen Schulen Doktrinen entwickelt, die dem vorbuddhistischen Glaubenssystem von absoluten und unveränderlichen Substanzen sowie dem âtman sehr ähnlich waren. Doris Zölls sagt dazu in ihrem neuen Buch: „Solange wir uns nach Dauerhaftigkeit und Beständigkeit sehnen, verschließen wir die Augen vor der Wirklichkeit. (...) Das Einzige, was beständig ist, ist der Wandel.“[2] Nâgârjuna untersucht diese Dogmen mit philosophischer Präzision und zeigt auf, dass sie die Kernaussagen Buddhas verzerren oder sogar in ihr Gegenteil verkehren. Damit erarbeitet er die Grundlagen für den Hauptteil des MMK, der mit Kapitel 16 über die Bindung und Freiheit des Menschen beginnt. Die Kapitel 16 und 17 werden im ersten  Band behandelt, weil sie überleiten zur Betrachtung des Menschen als Ganzem, der vor allem die Probleme der Bindung, Fesselung und Unfreiheit erkennen und lösen muss, um sein Leiden überwinden zu können.[3] Dies ist die Voraussetzung für den Entwicklungs- und Emanzipationsprozess der Befreiung, der mit zunehmender Lebensfreude und sich entwickelndem Glück im Leben des Menschen verbunden ist.

Dabei kommt der Leerheit und Befreiung von erstarrten, dogmatisierten und unheilsamen Prägungen eine große Bedeutung zu. Besonders der Begriff Leerheit ist häufig missverstanden oder mystifiziert worden, was viel Verwirrung gestiftet hat. Vereinfacht möchte ich sagen, dass sich nach der Verwirklichung der Leerheit von falschen Doktrinen von Geist und Psyche der Weg zum Erwachen und zur Erleuchtung wirkungsvoll eröffnet: durch die Leerheit zur Fülle, Freude und Kreativität des Lebens. Dieser Weg des Gleichgewichts und der Mitte vermeidet unsinnige und unnatürliche Extreme. Nach der Lehre von und dem Glauben an eine Wiedergeburt kann sich diese Entwicklung dann in einem nächsten Leben weiter fortsetzen. Buddha allerdings macht keine sehr detaillierten Aussagen für eventuell folgende Wiedergeburten und Leben. Er betrachtet das Erwachen und die Erleuchtung als Vollendung dieses Lebens im Samsara des Hier und Jetzt. Dies veranschaulicht er zum Beispiel im Gleichnis eines Massenmörders, der durch konsequente Praxis in diesem Leben sein Mörder-Karma zur Ruhe bringt, auflöst und Erleuchtung erlangt.

Aus meiner Sicht weisen die von Buddha und Nâgârjuna kritisierten Lehren Ähnlichkeiten mit der westlichen Philosophie von Parmenides und Platon auf, die maßgebend für die Entwicklung der europäischen Philosophie des sogenannten Seins war. Heidegger hat sich allerdings mit seinen späten Arbeiten zu Sein, Zeit und Ereignis offensichtlich von diesen westlichen Grundlagen der Metaphysik des Seienden und des Seins gelöst und sich dem Zen-Buddhismus stark angenähert.[4] Ohne auf Einzelheiten dieser Philosophie einzugehen, ist es erkennbar, dass Heidegger eine unauflösbare Verbindung von Ereignis, Zeit und Sein vertritt. Das bedeutet m. E. ein neues dynamisches westliches Verständnis des Seins. Im Zen-Buddhismus hat Dôgen ebenfalls ein solches dynamisches Verständnis der Sein-Zeit sowie die Erfahrung der Wahrheit im Augenblick des Handelns in seinem berühmten Werk Shôbôgenzô auf den Punkt gebracht.

Im dritten Band von Sternstunden des Buddhismus sollen weitere wichtige Grundlagen der buddhistischen Praxis und Philosophie behandelt werden, besonders das Verständnis der Zeit und der Wirklichkeit des Augenblicks. Nâgârjuna greift in den entsprechenden Kapiteln die Kernlehren des Buddhismus auf und präzisiert deren wahre Bedeutung. Vor allem geht es um das wahre Selbst, Buddha-Tathâgata, die Vier Edlen Wahrheiten, Freiheit und Nirvâna sowie die Befreiung des Menschen in zwölf Phasen. Damit gewinnt auch der "moderne" Buddhismus des Westens kräftige Impulse und neue Energien zur Gestaltung eines erfüllten und guten Lebens!


2. Die Bedeutung des Mittleren Weges

Nâgârjunas Werk Mittlerer Weg und Dôgens Shôbôgenzô markieren für mich Sternstunden des buddhistischen Lebens und Geistes. Wie beim ersten Band folge ich auch mit dem vorliegenden zweiten grundsätzlich der Zielsetzung meines Lehrers Nishijima Roshi, beide Denker und buddhistischen Meister in Beziehung zueinander zu setzen, zur fruchtbaren Wechselwirkung zu bringen und für den Westen verfügbar zu machen. Beide markieren aus seiner Sicht Höhepunkte des Buddhismus.

Kernpunkte und Gliederung der Bücher
Die Gliederung orientiert sich am Aufbau des MMK, das insgesamt 27 Kapitel umfasst. In Band 1 wurden die Präambel sowie die Kapitel 1 bis 6 behandelt. Im zweiten Band geht es um die Kapitel 7 bis 17 und im dritten Band um die Kapitel 18 bis 27. Von diesen Kapiteln werden hier die Eckpunkte zusammengestellt

Zu jedem Kapitel der Bücher des MMK führen einleitende Hinweise auf den jeweiligen Inhalt hin. Anschließend werden alle Verse übersetzt und auf der Basis der Wort-für-Wort Übersetzung und meines Verständnisses erläutert. Außerdem zitiere ich aus der englischen Fassung von Nishijima Roshi und Brad Warner sowie aus Nishijimas Internet-Blog viele von mir übersetzte Textstellen. Damit möchte ich die großartige Arbeit meines Lehrers Nishijima Roshi fortsetzen und auch im deutschsprachigen Raum noch bekannter machen.

Die Ausführungen zu den einzelnen Kapiteln des MMK werden dann jeweils durch Erläuterungen zu sinnverwandten Bereichen aus Dôgens Shôbôgenzô ergänzt. Diese Abschnitte stammen aus meinen früheren Publikationen zum Shôbôgenzô, wurden hierfür überarbeitet und an die Themen des MMK angepasst. Es ist dabei mein Ziel und meine Hoffnung, dass durch diese Zusammen- und Gegenüberstellung sowie Wechselwirkung spannende und neue Sicht- und Erfahrungsweisen dieser beiden genialen Meister offengelegt werden, auf denen weitere Arbeiten aufbauen können. Mein Anliegen ist, dass dieses Buch als fundiertes Quellenwerk des MMK verwendet werden kann und die vorhandenen englischen und deutschen Übersetzungen von Dôgens Shôbôgenzô hoffentlich bereichern wird. Mir ist bei dieser erneuten Arbeit an Dôgens Werk klar geworden, wie stark er seinerseits auf dem MMK aufbaut. Oder anders formuliert: Durch das Studium des MMK gelang es, die Texte Dôgens besser zu verstehen. In diesem Text werden die Beschreibungen der jeweiligen Hinführungen und Ergebnisse zusammengefasst.

Nâgârjunas Mittlerer Weg: Erneuerung und Weiterentwicklung von Buddhas Lehre
Das MMK ist zweifellos von zentraler Bedeutung für fast alle buddhistischen Linien des späteren Mâdhyamika und Mahâyâna in Indien, des Chan in China, des Zen in Japan und des tibetischen Buddhismus. Die gesamte buddhistische Pragmatik und Philosophie der Leerheit (shûnyatâ) geht wesentlich auf dieses Werk zurück. Gleichzeitig kann mit dem MMK manche Unklarheit des Volksbuddhismus – zum Beispiel im Mahâyâna – richtiggestellt werden. Zudem ist es ein poetisches Lehrgedicht in Versform von höchster Klangschönheit und Qualität, das in der vokalreichen Sprache des Sanskrit auch uns heutige Menschen aus dem Westen unmittelbar fasziniert.

Es bewegt sich inhaltlich auf sehr hohem philosophischem Niveau, ist charakterisiert durch kritische intellektuelle Schärfe und sicher nicht einfach zu verstehen. Keinesfalls aber ist das MMK nur negativ sezierend oder gar nihilistisch, wie es in der Vergangenheit häufiger behauptet wurde. Es eröffnet nicht nur ein klareres Verständnis der Lehre Buddhas, sondern erzeugt die Dynamik weitergehender Philosophie und Praxis. Dabei gibt es meines Erachtens erstaunliche Parallelen zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Dieses Verständnis Hegels hat besonders Georg W. Bertram in seinen Ausführungen zur Einleitung und zum letzten Kapitel von Phänomenologie des Geistes herausgearbeitet.[5]

Ich bin überzeugt, dass Nâgârjuna im MMK zwar einen Schwerpunkt auf die Destruktion und Kritik verhärteter und erstarrter philosophischer Lehren und Begriffe legt, aber bereits in der Präambel und in den darauffolgenden Kapiteln seinen konstruktiven Ansatz der lebenden wechselwirkenden Prozesse sowie wirkmächtiger Augenblicke zur Emanzipation und Weiterentwicklung der Menschen als Ganzem vorstellt. Das Grundprinzip der Wechselwirkung aus der heutigen Ökosystemforschung und Allgemeinen Systemtheorie spielte bereits in den Lehren Buddhas und Nâgârjunas eine erstaunliche Rolle. Nâgârjuna geht es wie Buddha um die Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung der Menschen und nicht nur um intelligente philosophische Konstrukte als solche. Dabei müssen statische oder gar erstarrte Lebensphilosophien überwunden werden, denn zentral im Buddhismus sind Prozesse und Veränderungen. Nâgârjuna gibt sich daher nicht mit der Destruktion allein zufrieden, sondern nimmt neue fundamentale und fruchtbare Klärungen vor.

Manche bislang schwer verständliche Passagen mit Negationen und Paradoxien erscheinen auf dieser Basis in einem viel klareren Licht. Zudem sind sie nach meinem Verständnis im Sinne Hegels als tentative oder spekulative Sätze und nicht als Sachaussagen zu verstehen. Allerdings ist dazu ein vermutlich verändertes Verständnis zum Beispiel der westlichen Begriffe der Philosophie vom Sein, Seienden und Wesen, von der Substanz (sofern absolut gedacht), der Existenz und Essenz erforderlich. Sie entspringen meines Erachtens in typischer Weise der westlichen Philosophie des ontologischen Denkens und der kühnen metaphysischen, aber zu statischen Ansätze über unveränderliche Ursprünge und absolute Ur-Wahrheiten. Solche Vorstellungen sind dem pragmatischen Vorgehen des Buddhismus recht fremd. Letzterem geht es um die konkrete Überwindung von Doktrinen und des menschlichen Leidens, um Befreiung, Emanzipation, Erwachen und Erleuchtung.

In der Fachwelt ist völlig unbestritten, dass es sich beim MMK um ein schwieriges Werk handelt. Außerdem ist es im Westen mit dem Nimbus des Unverständlichen, Negativen und Mystischen umgeben, da der verwendete Begriff der Leerheit schwer zu entschlüsseln und zudem negativ besetzt sei. Lange Zeit wurde im Westen die Leerheit mit dem absoluten oder romantisierenden Nichts verwechselt, sodass vernünftige Überlegungen ergebnislos blieben und oft abenteuerliche Erklärungsversuche entstanden sind. Zuverlässige Antworten sind aber bei Nâgârjuna selbst zu finden. In der Präambel des MMK erklärt er eindeutig, dass sich seine Arbeit unmittelbar auf die authentische Lehre Gautama Buddhas bezieht, den er als den größten Lehrer und Sprechenden bezeichnet. Deshalb werde ich bei der Erklärung der Verse in den folgenden Kapiteln auf die entsprechenden Eckpunkte des frühen Buddhismus Bezug nehmen – nicht zuletzt, weil ich fest davon überzeugt bin, dass ein solcher Bezug die Absicht Nâgârjunas war.[6]

Eine der wesentlichen Neuerungen bei Nâgârjuna gegenüber dem frühen Buddhismus war die Weiterentwicklung des Begriffs und der Lehre der Leerheit (shûnyatâ).[7] Mithilfe seiner Ausführungen können wir uns ein eigenes Verständnis dieses für den späteren Buddhismus so wichtigen Begriffs erarbeiten und damit zusammenhängende Missverständnisse ausräumen. Nâgârjuna wollte aus meiner Sicht im MMK keine völlig neue buddhistische Lehre entwickeln, sondern vielmehr den zentralen Kern der authentischen Lehre Buddhas herausarbeiten und seinem Zeitgeist entsprechend konstruktiv gestalten.[8]

Die authentische Lehre war in Indien im Verlauf von etwa 650 Jahren seit Buddha durch verschiedene, zum Teil hoch komplexe Philosophien verfremdet und durch doktrinäre Sekten und Ideologien verzerrt worden. Dies gilt interessanterweise besonders für den indisch-griechischen Buddhismus im Westen seines Verbreitungsgebiets, also vor allem in den von Alexander dem Großen eroberten Gebieten. Zudem hatte die vorbuddhistische Glaubensreligion des Brahmanismus neue Kraft und Verbreitung in der Bevölkerung erlangt und drängte den Buddhismus als Volksglauben immer weiter zurück. Diese Tendenz verstärkte sich in den folgenden Jahrhunderten zunehmend.

Viele Kapitel des MMK dienen dem Ziel der Destruktion irreführender philosophischer Meinungen, Ideologien und falscher Lehrtraditionen wie dem Substantialismus und Momentanismus. Es ist spannend zu beobachten, dass auch alte Weltanschauungen und Vorstellungen aus der vorbuddhistischen Zeit unter dem Deckmantel buddhistischer Schlüsselbegriffe oft unbemerkt wieder auftauchten.[9] Diese doktrinäre Verwendung von Begriffen hatte Buddha aber gerade als unheilsam abgelehnt. Im Gegensatz zu philosophischen Ansätzen, die das Unveränderliche und Ewige betonen, stehen bei Gautama Buddha Veränderungen, Erweiterungen, die Befreiung und Emanzipation des Menschen als Ganzes im Vordergrund, damit er aus seinen Leiden, seinem Elend und seinen Schmerzen herauskommen und sogar die höchste menschliche Lebensform des Erwachens bzw. der Erleuchtung erreichen kann.

Offenbar empfinden viele Menschen eine tiefe Sehnsucht nach dem unveränderlichen Wesen und den Ur-Ideen und Ur-Bausteinen unserer Welt, die in ewiger unveränderlicher und damit absoluter Wahrheit als sichere Fixpunkte des eigenen Lebens und der eigenen Existenz wirksam sind – die Sehnsucht nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber können der menschliche Geist und die menschliche Vernunft solche metaphysischen Sehnsüchte sinnvoll bearbeiten und die damit zusammenhängenden Fragen verlässlich beantworten? Ich habe da meine Zweifel, denn die angesprochene Komplexitat der Themen und Fragen ist unendlich und kann von unserem menschlichen Verstand nicht vollständig erfasst werden.[10] Schon bei oberflächlicher Betrachtung wird jedoch deutlich, dass bei dieser Sichtweise Glaubenskämpfe und Verhärtungen in Ideologien und Doktrinen unvermeidlich sind. Die philosophischen Grundlagen einer absoluten Ontologie sowie der tiefe Glaube an Ur-Wesen und Ur-Ideen, aus denen sich die konkreten Dinge und Phänomene angeblich entwickelt haben, werden im MMK eingehend behandelt und sorgfältig destruiert.

Für solche angenommenen, meist unsichtbaren inhärenten Substanzen und äußerlich wahrnehmbaren Merkmale verwendet Nâgârjuna unter anderem den Begriff svabhâva, der schwer ins Deutsche zu übersetzen ist, weil diese Semantik im Westen bisher aus meiner Sicht nicht genügend beachtet wurde. Er weist nach, dass diese angebliche absolute Substanz illusionär und eine Täuschung ist. Sie ist also ein unheilsames Produkt des denkenden Geistes, der sich selbst täuscht, und ist eine der Hauptursachen des Leidens. Ich möchte dafür den Begriff Eigen-Substanz, Aus-sich-selbst-Seiendes oder Selbst-Substanz verwenden, wobei Substanz weitgehend illusionär, spekulativ-metaphysisch im Sinne von Ur-Idee und Ur-Wesen, also absolut zu verstehen ist.

Eine umfassende Lebensphilosophie muss jedoch sowohl das Seiende, das weitgehend als Zustand oder Dinghaftes gedacht wird, und das Werden als auch den wirklichen Augenblick des Lebens umfassen. Nâgârjuna untersucht im MMK die einzelnen wechselwirkenden Faktoren und bringt sie mit den im Buddhismus so wichtigen Ergebnissen oder Früchten, also letztlich der buddhistischen Transformation des Menschen, in Verbindung. So beschreibt er prozesshafte Abläufe, wie zum Beispiel das scheinbar einfache Gehen, und destruiert dabei Weltanschauungen, die für lebendige Prozesse völlig ungeeignet sind. Er begeht jedoch nicht den Fehler, unklare buddhistische Lehrmeinungen in Bausch und Bogen abzulehnen und damit auszudrücken, dass diese total falsch seien und überhaupt nicht existierten. Auf diese Weise hätte er die absolutistische Methode der Extreme selbst angewendet, die er gerade überwinden möchte. Stattdessen geht er realistisch und pragmatisch vor, untersucht die fruchtbaren Beziehungen zwischen positiven und negativen Annahmen, analysiert deren Wechselwirkungen in der Wirklichkeit und stellt sie angemessen dar.

Dementsprechend sind die scheinbar radikalen Negationen bei Nâgârjuna auch in Bezug zu ihren positiven Begriffen zu verstehen und nicht als ein-eindeutige absolute negative Wahrheit. Das wurde meines Erachtens bisher zu wenig beachtet: Das europäische Denken in Gegensätzen und Extremen wurde meist unbewusst bei der Interpretation angewendet. So dürfen zum Beispiel die sogenannten acht Negationen wichtiger buddhistischer Begriffe in der Präambel des MMK nicht als extreme Aussagen im Sinne von „sie existieren nicht“ verstanden werden. Vereinfacht kann man sagen, dass Nâgârjuna diese acht Begriffe einer De-Konstruktion unterzieht, also deren falsches Verständnis destruiert, was er durch die Negativform der Begriffe deutlich macht. Aber gleichzeitig arbeitet er ihre positive wirkliche Bedeutung heraus. Dadurch gewinnt er eine erhebliche neue Freiheit bei der Interpretation der Begriffe und kann sie auf die von ihm verstandenen Bedeutungen im authentischen Buddhismus zurück- und darüber hinausführen. Extreme wie erstarrte Doktrinen und rechthaberische Machtideologien sind absolutistischer Natur und werden von Buddha und Nâgârjuna enttarnt. Dies eröffnet für die Menschen neue Horizonte der Erweiterung und Emanzipation.

3. Buddhas Lehrrede zum Mittleren Weg und zur Vermeidung von Extremen (Kaccānagotta suttam)
Wir befinden uns heute mehr denn je in der Gefahr, von einem Extrem ins andere zu fallen, und dabei werden wir immer unruhiger und zielloser. Die Massenmedien versuchen häufig, uns durch übertriebene Scheininformationen und Katastrophenmeldungen in den Bann zu ziehen, nicht zuletzt um höhere Einnahmen durch die eingeblendete Werbung zu erzielen. Wie können wir uns davor schützen und was kann der Buddhismus zur Lösung dieses Problems beitragen? Buddha und später auch Nâgârjuna haben den Mittleren Weg gelehrt.

Wie es in der Lehre für Kaccâna heißt, begab sich ein Mitglied des Hauses Kaccāna zu Buddha, der in dem Ort Savatthi weilte, um ihn zur Bedeutung der rechten Sichtweise zu befragen. In seiner Antwort behandelte Buddha in großartiger Dichte die Extreme, die Existenz, Nicht-Existenz, Kausalität und Befreiung in zwölf Phasen. Im MMK kommt diesen Themen eine zentrale Bedeutung zu. Nâgârjuna geht hier explizit auf dieses Sûtta ein (in Kapitel 26). Es ist daher auch ein äußerst wichtiger Schlüssel für das gesamte MMK.[11]

Die rechte Sichtweise beschreibt genau das, was man mit dem rechten Geist und der rechten Wahrnehmung in dieser Welt sieht und erkennt. Kernpunkte sind die Aussagen Buddhas über Existenz und Nicht-Existenz. Eine Grundwahrheit im Buddhismus besagt, dass sich alles verändert, im Wandel befindet und dass es nichts wirklich Dauerhaftes und Ewiges gibt. Was es mit der Nicht-Existenz auf sich hat, ist eine schwierige philosophische Frage, denn die Nicht-Existenz wäre das Nichts. Überlegungen hierzu könnten deshalb unbemerkt in einen diffusen Nihilismus abgleiten.

Buddha erläutert die Nicht-Existenz für den jungen Kaccāna. Er benutzt dabei die Formulierung „rechte Erkenntnis des Entstehens in der Welt“, hat also ein Weltbild der positiven Veränderungen und Prozesse und nicht der unveränderlichen Entitäten und Substanzen zugrunde gelegt. Dies nennt er die rechte Erkenntnis des Entstehens. Die Sichtweise der Nicht-Existenz lehnt Buddha hier eindeutig ab und präzisiert, dass dies besonders wichtig ist, wenn man das Entstehen genau beobachtet. Es ist also nicht sinnvoll zu sagen, es entsteht irgendetwas aus dem Nichts und aus der Nicht-Existenz, denn in den Prozessen und Abläufen auf der Welt gibt es immer ein Vorher, aus dem sich das Nachfolgende entwickelt. Dies gilt insbesondere beim wechselwirkenden Entstehen, das Nâgârjuna in der Präambel des MMK betont.

Etwas dauerhaft Existierendes, also die Sichtweise der Existenz, ist ebenfalls nicht zu beobachten und nicht erfahrbar. Daher ist es unsinnig zu sagen, dass etwas vergeht, das vorher eine dauerhafte Existenz hatte, denn dieses ist ein Widerspruch in sich: Wenn etwas existiert und dauerhaft da ist, kann es sich nicht verändern und nicht vergehen. Beide Extreme der Nicht-Existenz und der Existenz müssen laut Buddha in der Lebenspraxis vermieden werden. Sie sind losgelöste Denk-Konstrukte unseres Gehirns und erzeugen unheilsame Affekte. Sie haben sich von der Wirklichkeit und der Wahrnehmung entfernt und sind bei genauer Beobachtung ohne Vorurteile in der Welt nicht vorzufinden. Obwohl diese beiden Extreme real nicht erfahrbar sind, ist jedoch immer wieder eine Tendenz festzustellen, in diese Extreme zu verfallen und damit die Prozesshaftigkeit, Vernetzung, Wechselwirkung und das Gleichgewicht in den eher langfristigen Strukturen der Welt außer Acht zu lassen, was zu Leiden und Schmerz führt. Meines Erachtens ist dies genau der Grund, warum Buddha die altindische Vorstellung eines unveränderlich existierenden Selbst, des Ich-âtman, abgelehnt hat.

Buddha fasst zusammen, dass es der prozesshaften veränderlichen realen Welt nicht entspricht, wenn wir etwas als Dauerhaftes ergreifen wollen und uns damit der natürlichen Veränderung entgegenstemmen. Eine solche Weltanschauung erlaubt auch keine Lernprozesse, deren typisches Merkmal ja gerade die positive Veränderung zum Besseren ist.

Buddha erklärt Kaccāna, dass Leiden eine Wirklichkeit des Lebens ist, aber kein Ding und keine dauerhafte Entität, dass Leiden entsteht und vergeht wie jeder lebende Prozess entsteht und vergeht. Das bedeutet, dass wir das Entstehen soweit wie irgend möglich frühzeitig beobachten und vermeiden und das Vergehen des Leidens aktiv erlernen und unterstützen sollten. Diese Prozesse stellt Buddha den erstarrten extremen Weltanschauungen und Doktrinen von Existenz und Nicht-Existenz gegenüber.

Er erläutert dann, wie in einer zwölfgliedrigen Abfolge die „gesamte Masse des Leidens“ entsteht. Anhand des umgekehrten zwölfgliedrigen Weges der Befreiung schildert er schließlich, wie sich aus der Auflösung des Nichtwissens und dem Vermeiden der beiden Extreme die Befreiung entwickelt. Für eine sinnvolle Selbststeuerung ist eine solche Befreiung von zentraler Bedeutung.

Tiefgründige Gleichnisse Buddhas
In den authentischen Schriften Buddhas sind die von ihm formulierten Gleichnisse von großer Bedeutung und zeugen von seinem besonderen pädagogischen Geschick. Zudem sind sie auch heute noch gut zu kommunizieren, wie ich in diversen Vorträgen erlebt habe. Sie motivieren zum tieferen Nachdenken und treffen durch die Orientierung am Alltag gut den Kern der buddhistischen Lehre. Die mir besonders wichtig erscheinenden Gleichnisse sind in Band 1 von Sternstunden des Buddhismus zusammengestellt und erläutert.


4. Eckpunkte des Mittleren Weges von Nagarjuna, Kapitel 1 bis 27

Präambel– eine Ouvertüre
Die wichtigen Themen des MMK werden in der Präambel wie in einer Ouvertüre kompakt vorgestellt, um später in den einzelnen Kapiteln vertieft und ausführlich behandelt zu werden. Das MMK ist ein Lehrgedicht oder – wie Nishijima Roshi sagte – ein Gesang.

Die folgende inhaltliche Zusammenfassung der vier Verse der Präambel stützt sich auf Nishijima Roshi, den großen Buddhologen Kalupahana[12] und auf meine eigene Interpretation. Basis ist die präzise wörtliche Übersetzung der Indologin Elisabeth Steinbrückner.

Im ersten Teil der Präambel führt Nāgārjuna acht Negationen von zentralen buddhistischen Begriffen auf. Semantisch sollten sie auch auf ihre jeweiligen positiven Begriffe bezogen werden, um den vollen Bedeutungsumfang zu erkennen, der durch die Verbindung von positiver und negativer Formulierung erreicht wird. Das kann philosophisch dialektisch und als „Ganzheit der Unterscheidung“ verstanden werden. Dabei ist die Unterscheidung gerade nicht absolut gemeint, sondern als relative Unterscheidung bei gleichzeitiger Verbindung von positiver und negativer Form. Der positive und negative Begriff beinhalten eine inhärente Andersartigkeit, haben eine inhärente Beziehung zueinander (vgl. „Arbeit des Negativen“ bei Hegel[13]). Dieses Verständnis hat große Bedeutung für den späteren Mādhyamika- und Mahāyāna-Buddhismus, zum Beispiel für die Interpretation des Herz-Sūtra. Falsch verstandene Deutungen absoluter Negationen haben dazu beigetragen, dass Nāgārjuna immer wieder als Nihilist missverstanden wurde.

Nāgārjuna wählt exemplarisch markante Begriffspaare, die sicher in seiner Zeit im Buddhismus häufig verwendet, aber wohl auch sektiererisch falsch verstanden wurden. Für das unzureichende Verständnis verwendet er die Formen der Negation und Destruktion und kennzeichnet damit die falsche absolutistische Sichtweise, die keine Veränderungen, Entwicklungen und Emanzipation zulässt. Ein solches isoliertes und erstarrtes Verständnis sollten wir auch heute im Westen besonders gründlich analysieren, wo der Individualismus aus den Fugen geraten ist und Fake News, ein hohler Materialismus und übersteigerter Egoismus um sich greifen. Das kann helfen, damit kein falsches Verständnis des Buddhismus aufkommt.

Ein solches Begriffspaar bilden auch die Formulierungen „nicht zur Ruhe kommen“ und „beglückendes Aufhören der wegführenden Fehlentwicklungen“, denn das Gleichgewicht zu finden, zur Ruhe zu kommen und den Mittleren Weg zu gehen, sind zentrale Eckpunkte des Buddhismus. Sie können aber nur verstanden werden, wenn die prozesshafte Wechselwirkung, das Werden und die Emanzipation einbezogen werden. Das heißt, dass wir in unserem Leben nicht zur Ruhe kommen, wenn wir von isolierten, dinghaften Phänomenen und ewigen unsichtbaren illusorischen Substanzen ausgehen, denn dadurch entstehen Unruhe und Hektik, und die erkennbaren wechselwirkenden Veränderungsprozesse werden vernachlässigt oder verdrängt. Dies allerdings ist ein typisches Merkmal statischer und erstarrter Doktrinen, Weltanschauungen und Ideologien.

In der Präambel führen zwei Schlüsselbegriffe in das große Werk MMK ein: das „wechselwirkende gemeinsame Entstehen“ als konstruktive positive Aussage der buddhistischen Befreiung und des Neuanfangs sowie das „Nicht-Entstehen“ als Verharren und Festhalten an alten, verhärtenden und leidbringenden Mustern, Prägungen und Verhaltensweisen, welche die Befreiung und den Weg zur Erleuchtung verhindern.

Aber auch der Begriff „Nicht-Entstehen“ kann inhärent dialektisch verstanden werden[14], denn ohne wechselwirkende Beziehung zum positiven „Entstehen“ ist er absolut und unbrauchbar. Beide Male verwendet Nāgārjuna den Sanskrit-Begriff utpada, der „Entstehen“ bedeutet – einmal positiv in der Verbindung mit sam, was „zusammen“, „gemeinsam“ und „kombiniert“ heißt, also „gemeinsames Entstehen“, und einmal in der Form der Negation, die gewissermaßen die fehlende Entwicklung, das Nicht-Entstehen bedeutet. Nāgārjuna verneint auf diese Weise eine verengte dinghafte und erstarrte Vorstellung und Ideologie des isolierten Nicht-Entstehens von Phänomenen, die wirkliche Veränderungen und einen Prozesscharakter ausschließt.

Lebendiges Entstehen gelingt nur in Wechselwirkung und nicht isoliert allein aus sich selbst heraus. Die Wechselwirkung kann nur in zeitlichen, vernetzten Prozessen ablaufen. Dies ist ein unverzichtbares Verständnis der dynamischen Wirklichkeit und flows in der Welt, ganz gleich wie genau man sie im Detail oder als Ganzes analysieren und verstehen kann. Denn die Wirklichkeit von vernetzten Systemen, zum Beispiel von Ökosystemen und vom neuronalen Netz des menschlichen Gehirns, kann nach heutiger gesicherter Kenntnis nur durch rückgekoppelte Prozesse in Verbindung mit entsprechenden Strukturen sinnvoll beschrieben werden. Wechselwirkung ist daher für alles Lebendige typisch und charakteristisch. Eine Beschreibung der Wirklichkeit durch eindimensionales, unidirektionales „abhängiges Entstehen“, wie es bisher im Buddhismus bisweilen üblich war, ist eine verengte Sichtweise, die nach meiner Überzeugung manche Irrtümer zur Folge hatte. Mit diesem Paradigmenwechsel werden nun die Verständlichkeit, Klarheit und Wirkkraft des MMK nachhaltig verbessert.

Kapitel 1: Verlässliche Grundlagen des Buddhismus – Kausalität, Wechselwirkung, Wirkkraft und Frucht des Handelns
Für unseren Weg der Befreiung benötigen wir verlässliche Fakten und Grundlagen über die Wahrheit des Lebens, sonst folgen wir irgendwelchen spekulativen Versprechen, Doktrinen oder sogar Dogmen, die nicht einzulösen sind, und werden enttäuscht. Diese Grundlagen für Wahrheit und Ethik finden wir in aller Klarheit bei Buddha und Nāgārjuna. Sie verstehen die Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und bauen darauf den Weg des Menschen als Prozess der Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung auf. Dazu gehört auch die Meditation, zum Beispiel des Zazen: die Entleerung des Geistes von Störungen durch Denken, Gefühle, Willen und Planungen, also auch von Verhärtungen, Vorurteilen und schädlichen Doktrinen.

Im ersten Kapitel des MMK widerlegt Nāgārjuna überzeugend verschiedene Dogmatisierungen, naiven Volksbuddhismus, Populismus und unnötige intellektuelle Verwirrungen. Es bildet die Grundlage für seine folgenden scharfsinnigen Analysen. Er möchte der doktrinären Erstarrung des Buddhismus seiner Zeit entgegentreten, enttarnt mit großer Lebenserfahrung und präziser Gedankenführung die Fehlentwicklungen und schafft Raum für neue fruchtbare Entwicklungen. Aus meiner Sicht geht er dabei als De-Konstruktivist[15] vor: Er destruiert verzerrte und unklar gewordene Begriffe und Vorstellungen wie eine fiktive ewige Eigen-Substanz für Dinge und Phänomene (Dharmas), um anschließend konstruktiv eine bereinigte und klare buddhistische Lehre und Praxis vorzulegen. Dies war in seiner Zeit umso wichtiger, weil ein wieder erstarkender absolutistischer Glaubens-Brahmanismus, der von der authentischen Lehre der Befreiung und Emanzipation eklatant abgewichen war, nach einer gewissen Integration von bestimmten buddhistischen Elementen den Buddhismus selbst unter Druck setzte.

Der falsche Glaube, dass irgendetwas in der Welt total aus sich selbst entstanden sei, wird durch die Realität nicht bestätigt. Alles entsteht in Wechselwirkung, ist miteinander vernetzt und enthält die Beziehung von Ursache und Wirkung. Es gibt kein magisches Ur-Entstehen aus sich selbst. Dies wird eindeutig durch die heutige Psychologie und Gehirnforschung nachgewiesen. Zu den vier Faktoren dieser Wechselwirkungen zählen die kausale Veranlassung, dass überhaupt etwas Bestimmtes passiert, Stützen, zum Beispiel durch die materielle Umgebung, die zeitliche Abfolge der Prozesse und etwas Übergeordnetes, wie zum Beispiel der Sinn des Ganzen oder auch das Göttliche. Diese Faktoren sind direkt nachvollziehbar und befinden sich im Einklang mit der modernen Systemtheorie. Weitere Faktoren gibt es nach Nāgārjuna nicht.

Durch unseren eigenen Willen und unser eigenes Handeln, also durch unsere Kräfte und Energien, können wir auf die genannten Faktoren in der Vernetzung einwirken. Wir müssen also nicht alles passiv erdulden, ertragen und hinnehmen, sondern können aktiv mithilfe von Prozessen eingreifen, die wir selbst steuern. Dabei sind gute Lehrer besonders hilfreich, schlechte aber sehr gefährlich, wie auch Zen-Meister Dōgen betont.

Wenn bei uns selbst und in der Welt dagegen nichts entsteht, also Statik oder Erstarrung vorherrscht, gibt es keine Überwindung des Leidens und keine Veränderungen zum Guten. Wir wissen heute auch, dass dadurch beim Menschen wegen fehlender Aktivierung des Gehirns eine frühe Demenz eintreten kann. Dann verkümmern unser Geist und unser neuronales Netz immer mehr. Das passiert nicht zuletzt, wenn man Doktrinen nicht erkennt und hinterfragt und nicht genau beobachtet, ob sie unser Leben verbessern. Dies sollte unabhängig davon sein, ob sie uns als heilig verkündet werden oder nicht. Denn: Statische Weltbilder und absolute Glaubenssätze werden häufig von den jeweils herrschenden Eliten behauptet, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Art. Im alten Indien war eine solche Elite die Kaste der Brahmanen, die auch die eigenen Privilegien durch absolute Doktrinen einer unveränderlichen Ewigkeit absichern wollten.

In diesem Kapitel geht es zudem um die wichtigen Fragen, was wir in unserem Leben realistisch erreichen und erzielen können, welche Ergebnisse wir sinnvollerweise anstreben sollten und welche romantischen Utopien uns schaden. Dafür wird in der Psychologie der Begriff Selbstwirksamkeit verwendet. Wir müssen uns davor hüten zu glauben, dass ein erwünschtes Ergebnis ohne Veränderungen und Wechselwirkungen gewissermaßen „vom Himmel fällt“, so als ob es schon fertig irgendwo vorhanden wäre.

Oder um es mit Wilhelm Busch zu sagen: „Der Schnupfen hockt auf der Terrasse, auf dass er sich ein Opfer fasse.“ Das ist philosophisch betrachtet Substantialismus: Das Opfer als Ding und Entität. Diese Vorstellung würde zeitliche Veränderungsprozesse außer Acht lassen und die Ursache sowie das Ergebnis jeweils wie ein isoliertes unveränderliches Ding betrachten. Das ist jedoch irreführend und total realitätsfremd. Es ist auch die behauptete Scheinwelt von weltlichen und religiösen Populisten, die es leider auch im Buddhismus gibt.

In der vorbuddhistischen indischen Philosophie wurde angenommen, dass die Welt aus ewigen unveränderlichen Elementen aufgebaut sei. Nāgārjuna beweist in diesem Kapitel jedoch, dass wir uns diese Dharmas gerade nicht als unveränderliche und unteilbare Atome und Ideen vorstellen können. Eine solche absolute Substanz-Philosophie kann Wechselwirkungen, Prozesse und Veränderungen der Realität nicht sinnvoll erklären, sie ist daher mit Buddhas Lehre und unserer Lebenserfahrung der sich entwickelnden Veränderungen nicht vereinbar. Solche Doktrinen sind für unsere geistigen und psychischen Prozesse der wirklichen Befreiung, Emanzipation und Entwicklung völlig unbrauchbar und sogar gefährlich.

Damit legt Nāgārjuna die Grundlagen für die Lehre des Mittleren Weges der Wechselwirkungen, Kausalitäten, Lebensziele und der realistischen Ergebnisse. Er schildert, wie es möglich ist, ein gelungenes Leben zu führen und Befreiung zu erlangen. Das ist das Kernstück des MMK. Leitlinie und Hintergrund des Textes sind Buddhas authentische Schlüssellehren und -begriffe.

Im Buddhismus geht es um positive Veränderungen, deren Ergebnisse auch als Früchte bezeichnet werden können. Im Volksbuddhismus gibt es zudem den Glauben und die Hoffnung, dass diese Früchte einfach und unverändert von einem Leben durch die Wiedergeburt zum nächsten weitergegeben werden. Dabei werden die Früchte als isolierte Dinge (Entitäten) und Eigen-Substanzen gedacht, auf die Wechselwirkungen nicht zutreffen würden. Nāgārjuna destruiert einen solchen simplen Glauben und warnt uns eindringlich davor, so etwas unreflektiert zu übernehmen, da es nicht mit der erfahrbaren Wirklichkeit übereinstimmt und uns letzten Endes schaden kann. Es führt also zu Enttäuschungen und Stillstand, und wir kommen auf dem Weg der Befreiung nicht voran. Nicht ein fernes isoliertes und erträumtes Ergebnis ist der Mittlere Weg der Überwindung von Hindernissen und Blockaden, sondern unser reales Handeln im konkreten Hier und Jetzt!

Kapitel 2: Die Dynamik der Welt und des Lebens – Gehen, Bewegen und Verändern auf dem Weg des Lebens
Das Kapitel über das Gehen und den Geher ist von zentraler Bedeutung für das gesamte MMK, aber nicht leicht zu verstehen und zu deuten. Für viele dürfte dieser Text in den bisher vorliegenden Fassungen zunächst fast unverständlich sein, sodass die Relevanz fraglich erscheint. Ist der Inhalt nur noch die ausgebrannte intellektuelle Schlacke alter buddhistischer Spitzfindigkeiten und Kontroversen? Wo ist der Funke, der heute zu uns überspringt, mag sich vielleicht mancher Leser fragen.

Das Kapitel ist in fünf Bereiche gegliedert. Zuerst geht es um den Weg, den wir begehen, also das Begangene. Wir können ihn als konkreten Weg verstehen, den wir jeden Tag gehen, oder symbolisch und gleichnishaft als buddhistischen Weg. Wir können den Weg auch als unsere geistige und psychische Bewegung begreifen, wie zum Beispiel Buddhas Achtfachen Pfad und den Weg der Mitte. Nāgārjuna beschreibt hier, wie und auf welche Weise solche Wege von uns tatsächlich begangen werden können und sollten und welche Wege nur unbrauchbare oder sogar gefährliche Doktrinen sind. So gab es in der vorbuddhistischen Zeit Lehrmeinungen, die behaupteten, dass alle Bewegungen unwirklich und Fiktion seien, weil es in der Wirklichkeit keine Veränderungen gäbe. Ähnliche Strömungen waren auch in der antiken griechischen Philosophie, zum Beispiel bei Zenon und sogar bei Pamenides, zu finden.

Für Buddha waren jedoch Veränderungen und wechselwirkende Prozesse für das Verstehen, die Überwindung des Leidens und die Befreiung wesentlich. Entsprechend klar sagt auch Nāgārjuna, dass wir nur in der Gegenwart wirklich gehen und der Weg wirklich begangen wird. Denn in der Vergangenheit und Zukunft gibt es unser Gehen nur in unserem Geist oder Gehirn als Vorstellung, Erinnerung oder Erwartung. Ein gedachter buddhistischer Weg ist nicht die Wirklichkeit hier und jetzt als Handeln und Leben – so wird es im Zen-Buddhismus ausgedrückt. Und wenn der buddhistische Weg durch erstarrte, unethische und machtorientierte Doktrinen beeinträchtigt ist, kommen wir auf ihm überhaupt nicht voran, denn ein solcher Weg kann von uns nicht wirklich begangen werden!

Es mag sein, dass wir in unserem Gehirn eine feste Vorstellung vom Befreiungsweg haben, aber wenn wir ihn nicht selbst konkret begehen, gibt es laut Nāgārjuna scheinbar zwei begangene Wege: den wirklichen und den nur erdachten, geglaubten und theoretisch erlernten. Das führt zu Verwirrungen und „wegführenden Fehlentwicklungen“, wie es in der Präambel heißt.

Im zweiten Teil untersucht Nāgārjuna, wer eigentlich auf dem Weg geht. Er fragt uns, ob wir wirklich von einem Geher sprechen können, wenn dieser gerade steht, sitzt oder liegt. Ist er immer ein Geher bis an sein Lebensende? Und war er schon immer als Wesenskern oder als geglaubte unsichtbare unveränderliche Substanz ein Geher, vielleicht sogar bevor er gehen lernte? Eine solche unsichtbare unveränderliche Substanz oder Essenz ist natürlich Spekulation und nicht reale Metaphysik. Aber dieser Glaube ist auch heute noch weit verbreitet. An diese Fragen schließen sich allgemeinere Untersuchungen an, zum Beispiel: Wenn ein Lügner nicht lügt, ist er dann auch ein Lügner? Buddha beschreibt einen furchtbaren Mörder, der dann in seine Sangha eintrat und Erleuchtung erlangte.

War er dann noch ein Mörder oder war schon immer ein Erleuchteter? Und wenn er wieder aus der Erleuchtung zurückfällt, ist er dann noch ein Erleuchteter? Wir sehen an diesen Beispielen, dass die Sprache oft falsche unveränderliche Fakten behauptet und Veränderungen sowie Emanzipationsprozesse ungenau oder sogar fehlerhaft beschreibt. Solche Doktrinen können den Weg der eigenen Entwicklung und Befreiung fundamental stören oder unmöglich machen. Das Gegenteil gilt für den Augenblick der Gegenwart in unseren vernetzten Lebensprozessen: In ihm liegt ein Maximum an Wirklichkeit und Erleben. Beim buddhistischen Weg geht es um den Prozess der Überwindung des Leidens durch das von uns selbst gesteuerte Training von Körper, Gefühlen und Geist: Das sind vernetzte Wechselwirkungen und keine Fiktionen, wie bereits in der Präambel unmissverständlich erklärt wird.

Eine besondere Gefahr der ontologischen Verdinglichung und Verhärtung zur Substanzhaftigkeit und Essenz besteht besonders, wenn Lehren der menschlichen Veränderung und Prozesse wie von Gautama Buddha historisch übermittelt werden und nach einigen hundert Jahren das Maßgebliche der ursprünglichen Lehre nicht mehr angemessen wiedergeben. Mit Kalupahana stimme ich darin überein, dass dies auf die Situation zur Zeit Nāgārjunas, etwa 600 Jahre nach Gautama Buddha, zutrifft.[16] Die beiden Doktrinen, nämlich einerseits der Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit von Dingen und Phänomenen (Sarvastivadins of Buddhist Philosophy bzw. Substantialismus) und andererseits deren plötzliches existenzielles Ende oder plötzlicher Beginn aus dem Nichts (Sautrantikas bzw. Momentanismus), drücken diese Erstarrung der buddhistischen Lehre aus.

Nāgārjuna beweist mit logischer Präzision, dass es bei einem erstarrten Denken und Reden über das Gehen zwei Geher geben müsste, einen wirklichen und einen, den wir uns in unserem Gehirn vorstellen. Nishijima Roshi sagt hierzu: „Die nicht reale Welt gibt es in unserer Vorstellung und unserem Denken. Wie wir tagtäglich beobachten können, beeinflussen solche Fiktionen und Ideen unser Handeln erheblich. Insofern existieren derartige Ideen sozusagen als Scheinrealitäten in unserem Gehirn.“ Aber die Wirklichkeit des gehenden Menschen ist nicht mehrfach dualistisch gespalten, sondern ein Ganzes: Ein Mensch geht auf dem Weg. Nāgārjuna arbeitet hier den gravierenden Unterschied zwischen Wirklichkeit und Theorien sowie Doktrinen heraus. Für unseren Befreiungsweg benötigen wir verlässliche Grundlagen und keine weltfremden Philosophien. Deshalb ist dieses Kapitel so wichtig.

Im dritten Teil wird scharfsinnig bewiesen, dass es beim Gehen auf einem Weg dann keinen Anfang und kein Ende geben dürfte, wenn man sich an Worte und bestimmte Theorien klammert und das Gehen wie ein Ding und als metaphysische unveränderliche Entität und Substanz versteht. Das erweist sich natürlich bei genauer Analyse als falsch, wenn wir die Wirklichkeit unverstellt und direkt erfahren und beobachten. Denn wir Menschen gehen, schlendern, wandern oder eilen ganz selbstverständlich und weitgehend unbewusst, und ebenso beginnen und beenden wir das Gehen. Daraus folgt, dass wir die lebenden vernetzten Prozesse und die Wechselwirkungen des gehenden Menschen ganzheitlich verstehen müssen.

Im vierten und fünften Teil geht es um den gesamten Zusammenhang von begangenem Weg, dem Gehen als Handeln und dem gehenden Menschen. Dabei stellt Nāgārjuna fest, dass wir keinen Gang, keinen begangenen Weg und keinen Geher finden, wenn wir erstarrten statischen Doktrinen anhängen. Das klingt paradox, ist es aber nicht: Er meint die unwirkliche Welt der Einbildungen, Theorien und wegführenden Fehlentwicklungen. Demgegenüber verstehen Buddha und Nāgārjuna die Wirklichkeit der Welt als „gemeinsames wechselwirkendes Entstehen“ – und zwar ohne Extreme. Ein solches Enstehen ist von uns selbst beeinflussbar und steuerbar. Wenn wir den buddhistischen Weg so begreifen und praktizieren, kann man zwischen dem Passiv des begangenen Weges und dem Aktiv des gehenden Menschen nicht mehr sinnvoll als totale Trennung unterscheiden, auch wenn die Sprache das nahelegen mag. Gehen und Begangen-Werden bilden zusammen eine ganze Wirklichkeit.

Das direkte Handeln übersteigt dabei die Theorie, die Logik, die Sprache und Grammatik. Es kommt genau auf den Augenblick unseres achtsamen unverstellten Handelns und Bewegens an. Eine solche Wirklichkeit ist ein lebendiges Ganzes auf dem Achtfachen Pfad und dem Mittleren Weg, eben das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Und wenn wir dies ungeteilt und ohne Ablenkung erfahren, erfüllt es uns mit Freude und Klarheit und befreit uns von Stress und sogar Angst. Diese Tatsache hat auch die heutige Gehirnforschung eindeutig nachgewiesen. Buddha, Nāgārjuna und Zen-Meister Dōgen wussten es schon erheblich früher.

Wenn die Prozesse der Welt ohne Scheinwelten von Doktrinen, Begriffen, Weltanschauungen und Illusionen, ohne isolierte und als dauerhaft angesehene Essenzen in gemeinsamer Wechselwirkung entstehen, wird die Welt im Sinne Nāgārjunas als leer bezeichnet – im Zen-Buddhismus heißt es: die Wirklichkeit, „wie sie ist“. Dann kann sich die nahezu unbegrenzte Fülle der wirklichen menschlichen Potenziale entfalten.

In diesem fundamentalen Kapitel geht es also um das klare Verständnis von Handeln, Bewegen und Prozessen. In den folgenden Kapiteln des MMK wird sich zeigen, dass die ausführliche Analyse und Argumentation zum Gehen auch für andere Prozesse und Vorgänge in gleicher Weise erfolgen kann und muss. Nāgārjuna wird daher im Hinblick auf Zusammenhänge und Schlussfolgerungen häufiger auf das zweite Kapitel verweisen. Es bildet die Grundlage für die Bearbeitung zentraler buddhistischer Fragen in späteren Kapiteln, zum Beispiel in Kapitel 23 (Nirvāna) und 24 (Vier Edle Wahrheiten).

Kapitel 3: Unsere Sinne und die Wahrnehmung
Nāgārjuna analysiert anhand des Sehens die verschiedenen Wahrnehmungsarten des Menschen, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, sowie die zugehörigen Funktionen des Denkens, das heißt die „Denkbereiche“. Auf der Grundlage des bereits in der Präambel erarbeiteten Verständnisses der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und der Prozessanalyse des Gehens – im übertragenen Sinn auch der buddhistischen Entwicklung und Emanzipation – behandelt Kapitel 3 des MMK die möglichst unverstellte Wahrnehmung der Umgebung, in der wir leben. Es geht also um die Analyse von uns selbst als „Subjekte“ und unsere Wahrnehmung anderer Menschen. Dabei möchte Nāgārjuna für die weiteren Analysen Klarheit schaffen und sich von spekulativen metaphysischen Doktrinen absetzen. Das gilt besonders im Hinblick auf die Illusion von unveränderlichen und isolierten Substanzen für die Objekte der Wahrnehmung. Eine solche Doktrin ist dualistisch und daher nur scheinbar realistisch.

Nâgârjuna vermittelt eine positive praktische Lebensphilosophie des Sehens und der übrigen Wahrnehmungsarten. Dabei leugnet er die mögliche Fehlerhaftigkeit der sinnlichen Wahrnehmung keineswegs. Aber nicht zufällig stellt er sie an den Anfang der konkreten Einzelanalysen, denn eine gut geschulte Wahrnehmung ist für die von ihm verwendeten Methoden der Phänomenologie und der Empirie von zentraler Bedeutung.
Vor allem die folgenden Fragen stehen im Vordergrund: Gibt es eigentlich getrennte äußere Objekte, die in unserem Geist abgebildet werden und die wir daher sehen? Oder ist ein solches Modell zu einfach, obgleich wir es so selbstverständlich finden? Gibt es ein übergeordnetes ewiges Selbst, das uns als Mensch, der sieht und handelt, beobachtet und steuert? Da es ein isoliertes unveränderliches Selbst wie den vorbuddhistischen ātman nicht gibt, können wir ein solches Selbst phänomenologisch mit den Augen logischerweise auch nicht sehen. Es ist, weil es unsichtbar ist, objektiv als empirische Entität nicht zu sehen.

Das von den Doktrinen totaler Identität und totaler Differenz abgeleitete Gleichnis von Brennstoff und Feuer ist für die Beschreibung des Sehvorgangs nicht tragfähig, denn die Wahrnehmungsprozesse sind durch eine intensive lebende Wechselwirkung gekennzeichnet. Der Brennstoff wurde im Volksbuddhismus auch als Vorstellung für das folgende Leben bei der Wiedergeburt verwendet. Das lässt Nāgārjuna in dieser naiven Form nicht gelten.

Außerdem widerlegt er, dass es unveränderliche gesonderte Substanzen als Entitäten gibt, das gilt besonders für die Prozesse von Sehen und Gesehenwerden sowie für den Seher. Nāgārjuna verweist in diesem Zusammenhang auf die ausführlichen Analysen zum Gehen in Kapitel 2 des MMK. Der typische Charakter des rückgekoppelten und vernetzten Sehprozesses würde bei der Vorstellung von Entitäten völlig unberücksichtigt bleiben. Die Aussage „Das Sehen sieht“ ist daher entweder banal und tautologisch oder beinhaltet den Glauben an eine unsichtbare ewige Substanz, die sieht, und ist daher unsinnig.

Um die Wechselwirkung von Auge und Form sowie deren unlösbaren Zusammenhang beim Sehen deutlich zu machen, verweist Nāgārjuna auf die lebende enge Beziehung von Vater, Mutter und Sohn.

Schließlich zeigt er auf, dass man eine Wirklichkeit ohne Wechselwirkung nicht nachweisen kann. Ein solcher Nachweis gelingt auch dann nicht, wenn man eine ausgefeilte Logik verwendet. Die Klarstellungen in diesem Kapitel bilden eine belastbare Grundlage für den Fortgang der weiteren Untersuchungen.


Kapitel 4: Die Gliederung der fünf Komponenten des Menschen, deren Wechselwirkung und die Leerheit
Nāgārjuna betont die wechselseitige Vernetzung der fünf Komponenten des Menschen, der Skandhas, und gleichzeitig die unauflösbare Verbindung mit den jeweiligen Grundlagen, zum Beispiel den Elementen. Bei der Form sind dies die entsprechenden physikalischen, materiellen Elemente des Körpers. Gleichzeitig gibt es die Verbindungen und Wechselwirkungen mit den anderen Komponenten, wie den Gefühlen, dem Denken, dem Bewusstsein und den formenden Kräften.

Nach der heutigen Gehirnforschung ist unbestritten, dass Denken und Gefühle wechselwirkend gekoppelt sind. Dies gilt besonders für die Strukturen, Prozesse und Informationen des Gehirns, also die Nervenzellen, Nervenfasern und synaptischen Verbindungen. Diese sind wiederum mit dem Sehsystem, der Motorik und vielen anderen Teilsystemen vernetzt. Dadurch sind sie ausgesprochen leistungsfähig und von größter Bedeutung für den Weg der Befreiung und Emanzipation, denn je leistungsfähiger die Interaktionen sind, desto intensiver sind die vernetzten Wechselwirkungen und desto besser verlaufen die Lernprozesse. Zwischen diesen modernen Erkenntnissen sowie der Praxis und Philosophie Buddhas und Nāgārjunas besteht eine erstaunliche Übereinstimmung.

Es ist denkbar, dass Nāgārjuna mit diesem Kapitel den allzu naiven volksbuddhistischen Vorstellungen von der Wiedergeburt einen Riegel vorschieben wollte. Denn es ist eindeutig, dass weder eines der fünf Skandhas noch deren Kombination unverändert wiedergeboren werden kann, da die entsprechenden materiellen Grundlagen unlösbar mit ihnen verbunden sind. Manchmal wird auch das Skandha der formenden Kräfte (samskâra) mit den Tatabsichten am Ende eines Lebens gleichgesetzt, die dann die Wiedergeburt und die neue Persönlichkeit bestimmen sollen. Eine solche Argumentation wird von Nāgārjuna nicht bestätigt und auch nicht erwähnt.

Die beiden letzten Verse 4.8 und 4.9 beziehen sich meines Erachtens auf die Destruktion des Arguments eines Kontrahenten, der die von Nāgārjuna eingebrachte Leerheit nicht richtig versteht und mit dem Nichts, dem Nihilismus und der Nicht-Existenz verwechselt. Das ergäbe ohne Zweifel eine Blockade auf dem buddhistischen Weg.

Nishijima Roshi sagt zu diesem Kapitel des MMK, dass nach buddhistischer Lehre „das Handeln im Augenblick von zentraler Bedeutung (ist), denn es ist die Grundlage unseres Lebens und Überlebens. Denken und Erinnern können wir daher eher als Hilfsfunktionen des Lebens bezeichnen. Das Bewusstsein ergibt sich vor allem aus der Kombination von Denken und Wahrnehmung.“

Man dürfe die Skandhas allerdings nicht als getrennte und isolierte Bereiche des Lebens verstehen, sondern sie bilden nach der buddhistischen Lehre und Praxis ein umfassendes zusammenwirkendes Ganzes. Auf der Ebene der buddhistischen Wirklichkeit könne es daher keine Trennung zwischen Körper, Gefühlen, Geist usw. geben. Das sei genau die Lehre des Mittleren Weges. „Wenn Form und Inhalt (fälschlich) getrennt sind, verengt sich die Sichtweise des Menschen auf die Form. Dadurch entsteht das materialistische Weltbild, das immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbildet und meist zur Verödung des spirituellen und psychischen Lebens führt“, erläutert Nishijima Roshi.

Außerdem betont er: „Fehlerhafte Ideen und Doktrinen führen zu falschem und oft unmoralischem Handeln. Insofern haben derartige Ideen eine sehr begrenzte Realität, die von der wahren Wirklichkeit stark abweicht, und sie sind eine große Gefahr für die Menschen. Dann kann man nicht mehr klar die Zusammenhänge und Folgen erkennen und sogar materielle Fakten werden ideologisch verzerrt wahrgenommen.“

Nishijima Roshi versteht die Leerheit als Gleichgewicht. Ich erinnere mich, dass er selten den Begriff Leerheit verwendete, denn „Gleichgewicht“ lässt die Doktrinen verschwinden, im Sinne von „Körper und Geist fallen lassen“ bei der Zazen-Praxis. Und in aller Klarheit stellt er fest: „Wer im Gleichgewicht ist, kann seine Aufmerksamkeit aufrechterhalten und gefestigt über alles reden, ohne in Extreme zu verfallen.“ Dann könne man mit größter Klarheit wahrnehmen, wirklich sehen und die vernetzten Prozesse, die man nicht ändern oder beeinflussen kann, in ruhiger, unaufgeregter Haltung akzeptieren. Dann lasse man sich nicht aus der Ruhe bringen und sei ohne Panik oder Euphorie auf dem Mittleren Weg. Wer selbst im Gleichgewicht sei, begehe keine gravierenden Fehler, so Nishijima. Wenn man anderen einen Rat erteile und auf wahrgenommene Fehler hinweise, müsse das frei von Egoismus, unkontrolliertem Narzissmus und grandioser Selbstdarstellung geschehen. Diesen Zustand bezeichnet Nāgārjuna als Leerheit (shūnyatā).
Indem Nāgārjuna in diesem vierten Kapitel die Bedeutung der fünf Komponenten des Menschen (skandhas) herausarbeitet, hat er gleichzeitig die Grundlage für die weitere Analyse der Dinge und Phänomene (Dharmas) sowie des ganzen Menschen geschaffen.


Kapitel 5: Die buddhistischen Elemente Festes, Flüssiges, Luftartiges, Heißes, Raum und Bewusstsein
Buddha hatte in recht klarer Weise die vier materiellen Elemente des Festen bzw. Erdartigen, des Flüssigen, des Luftartigen und des Heißen, also des Feuerartigen, nicht zuletzt für den menschlichen Körper gelehrt. Seine gesamte Lehre und den Weg der Befreiung baute er mit erstaunlicher Stringenz überzeugend auf. Er behandelte die menschlichen Gefühle, den Geist, die Hemmnisse auf dem Weg, die Wahrnehmungsfelder des Menschen (z.B. das Sehen) sowie die Weiterentwicklung und Befreiung mithilfe der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades.
Buddhas revolutionierende Lehre fußt also nicht zuletzt auf dem klaren Verständnis des materiellen Anteils unseres Körpers und der Welt, denn ohne eine materielle Grundlage können wir nicht leben, und eine esoterische Abwertung oder Leugnung des Materiellen führt unweigerlich in illusionäre Scheinwelten, bei denen es keine wahre Freude geben kann, und zum Leiden. Im Achtfachen Pfad wird die Ganzheit und Wechselwirkung aller menschlichen Bereiche einschließlich des Materiellen präzisiert und wirkungsvoll für die Lebenspraxis beschrieben. Das ist die buddhistische Lehre ohne geistige und materielle Verwirrungen. Und dabei gibt es keine statischen unveränderlichen Ur-Substanzen, die angeblich erst durch hinzukommende Merkmale und Charakteristika sichtbar werden.

In den auf Buddha folgenden Jahrhunderten wurde die vorbuddhistische Philosophie der Ur-Substanzen und Ur-Wesen wieder neu belebt. Gleichzeitig wurden die Elemente „Raum“ und „Bewusstsein“ zu den Elementen hinzugefügt und teilweise dem Raum sogar metaphysische Qualitäten wie die des Nirvāna zugesprochen. In diesem fünften Kapitel des MMK destruiert Nāgārjuna derartige Überdehnungen des Buddhismus. Im Hinblick auf den Raum argumentiert er dabei wie folgt: Es ist kein „reiner“ Raum ohne Merkmale zu finden, zum Beispiel ohne Gegenstände und Bewegungen. Der Raum kann nicht vor seinen Merkmalen als „Ur-Substanz“ existieren. Was für den Raum gilt, ist auch für alles andere auf der Welt, also die Dinge und Phänomene, richtig: Ewige unveränderliche und isolierte Ur-Substanzen oder Ur-Identitäten des Materiellen, zu denen dann die erkennbaren Merkmale hinzukommen und sich entwickeln sollen, gibt es nicht.

Wenn man an solche Substanzen und ihre Merkmale glaubt, kann man das Materielle und Raumhafte unserer Welt überhaupt nicht erkennen. Zudem lässt sich die räumliche Dimension von den Objekten des Hier und Jetzt gar nicht trennen, sonst gäbe es überhaupt keine Wirklichkeit, und alles würde sich in imaginäre Scheinwelten auflösen – eine Befreiung zur Klarheit ist dann ausgeschlossen. Solche Scheinwelten führen zu den falschen extremen Unterscheidungen, dass etwas total existiert oder total nicht existiert. Unsere Sprache bezeichnet dann etwas Unwirkliches.

Die Annahme einer immer schon vorhandenen „Ur-Substanz“ und ihrer hinzukommenden Merkmale führt also nicht weiter, weder in Bezug auf den Raum noch auf die anderen materiellen Elemente. Um es mit Nāgārjunas Worten auszudrücken: Die Menschen mit einem schwachen Verstand sehen nicht das „beglückende Aufhören“ der doktrinären Scheinobjekte, die sie zu sehen glauben. Damit meint er auch, dass wir die Objekte entmystifizieren sollen, wodurch sie „zur Ruhe kommen“. Das bedeutet reale Wirklichkeit, denn es gibt eine direkte Wechselwirkung mit unserem Körper, mit anderen Menschen und auch mit der beglückenden räumlichen Schönheit der Natur.

Was wären unser Leben und das Naturerlebnis ohne die räumliche Tiefe, Gestalt und räumliche Schönheit? In Asien wurden die Klöster meist in besonders schönen Landschaften erbaut. Die Klosteranlagen sind häufig in wunderbarer Harmonie mit der Landschaft, den Gärten, Bäumen, Teichen und oft künstlerisch angelegten Bächen gestaltet. Es gibt viele Geschichten über Erleuchtungserlebnisse in und mit der Natur, und es heißt: Wer in der Natur erleuchtet ist, fällt nicht mehr zurück. Warum? Die Natur ist, wie sie ist. Sie verbreitet keine Ideologien und Doktrinen, sie will uns nicht zu irgendetwas überreden, will uns nichts verkaufen und will uns nicht bei einer politischen Wahl beeinflussen.


Kapitel 6: Die Erregung, der Erregte und das Gleichgewicht
In diesem Kapitel gibt Nāgārjuna einen Einstieg in die Analyse und Praxis, wie wir im Buddhismus auf dem Mittleren Weg mit starken Gefühlen, Affekten, Erregung, großer Liebe, großem Mitgefühl und letztlich mit Gier, Neid und Hass richtig umgehen. Das Ziel ist, extreme Affekte, Ideologien, Abhängigkeiten, Fremdsteuerungen usw. klar zu erkennen und zur Ruhe kommen zu lassen. Extreme sollten wir vermeiden, um uns selbst und anderen nicht zu schaden und unsere eigene Befreiung voranzubringen. In der wahren und befreiten Lebensform gibt es keine Extreme wie Materialismus, Ideologien, Aktionismus und geistige Fragmentierung.
Nāgārjuna destruiert unbrauchbare und gefährliche Doktrinen und Ideologien, die oft die Gefühle und Affekte noch verstärken, aber in die Irre gehen und zum Leiden führen, weil sie dem Wandel und der Emanzipation des Menschen nicht gerecht werden können, da ihnen ein statisches und häufig exaltiertes lernfeindliches Weltbild zugrunde liegt. Zudem gehen sie von spekulativen philosophischen Annahmen aus, die der Vernunft widersprechen und somit nicht im Einklang mit der Philosophie Buddhas und Nāgārjunas stehen. Das gilt vor allem für den Substantialismus.
In den Originalversen in Sanskrit verwendet Nāgārjuna in diesem Kapitel den Begriff rāga für „Erregung“ und „Leidenschaft“; er ist von „färben“ abgeleitet. Die wichtigen Fragen lauten: Wie werden Geist, Psyche und Körper durch Affekte, zu starke unkontrollierte Gefühle oder durch emotionale Fesseln und eruptive Durchbrüche verändert und gefärbt? Wie kann man sie aber steuern, wie kommen sie zur Ruhe? Welches belastbare buddhistische Wissen gibt es dazu und was ist falsches Scheinwissen, das heute im Internet zu Recht als fake bezeichnet wird?

Fake-Informationen sind zunehmend zum drückenden Problem der Gegenwart geworden, denn sie sollen gerade extreme Affekte, vor allem Hass und Verachtung erzeugen. Aber auch im Buddhismus gibt es Verführungen des kommerziellen Marktes, zum Beispiel das Angebot einer „Schnell-Erleuchtung“ und Befrei
ung von Stress und Affekten durch Unterwerfung und den Glauben an eine unseriöse Methode. Es ist daher unsere Aufgabe, die zum Teil verzerrte Lehre Buddhas über die Erregung und emotionale Extreme gründlich zu analysieren. Zur Überwindung von Erregung und unkontrollierter Leidenschaft nennt er die hilfreichen Faktoren des Erwachens: Achtsamkeit, Energie, Gestilltheit und vor allem die Freude. Damit gibt er die Richtung für unsere Weiterentwicklung vor, nämlich die Überwindung von Erregung und Leidenschaft, um damit Kummer, Jammer, Gram, Verzweiflung, Angst, Stress, Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst, unter denen heute so viele Menschen leiden, zu bewältigen. Bei der Betrachtung unserer eigenen Gefühle rät uns Buddha, mit Achtsamkeit Folgendes zu erkennen: „Ich empfinde ein freudiges Gefühl“ oder „Ich empfinde ein leidiges Gefühl“. Das sei der Ausgangspunkt der eigenen Weiterentwicklung.

Wichtig ist, das Entstehen und Vergehen von starken Affekten zu betrachten und zu „verstehen“, um daraus für die Gestaltung und Veränderung des eigenen Lebens Klarheit zu gewinnen: So entstehen neue Impulse und Energien und werden für unsere Lebenspraxis wirksam. Dabei ergeben sich die Kraft, Motivation und der Mut zur Veränderung besonders durch Freude und nicht durch depressive und zerstörerische Selbstvorwürfe, wie es uns manche tradierte Religionen vielleicht weismachen wollen!
Nāgārjuna beschreibt in diesem Kapitel die vorbuddhistische Auffassung und die späteren sektiererischen Doktrinen, dass die Erregung und der erregte Mensch verschiedene und getrennte Dinge und Entitäten seien. Die Erregung wird dabei wie eine getrennte Wesenheit oder Substanz betrachtet, die irgendwie schon vorhanden ist, herbeikommt und den Menschen ergreift oder in ihn fährt und ihn besetzt. Das erscheint recht skurril, ist aber als Weltanschauung auch in unserer Kultur in ähnlicher Form durchaus zu finden, allerdings oft unbewusst.

Diese Doktrinen vereinfachen laut Nāgārjuna einen lebenden psychischen und wechselwirkenden Prozess viel zu stark, indem sie von einem unveränderlichen substantialen Kern ausgehen, der dann sichtbar werde, wenn er qualifizierende Merkmale bekomme. Habe er nicht mindestens ein Merkmal, sei er unsichtbar. So sei zum Beispiel der „Substanzkern“ des Apfels unsichtbar und neutral; er habe keine Eigenschaft und Qualität. Um sichtbar zu werden, benötige er Merkmale wie Farbe, Größe und Reifegrad. Dieses Modell überträgt Nāgārjuna auf den Erregten und die Erregung und analysiert es auf innere Widersprüche, um sie zu destruieren.

Aus diesem falschen Modell ergeben sich spitzfindige philosophische Fragen, wie zum Beispiel ob die Erregung vor dem Menschen da war und ihn dann ergriffen hat oder ob die Erregung umgekehrt erst später hinzugekommen ist. Wenn die Erregung nun den Menschen ergriffen hat, stellt sich die Frage, ob die Erregung und der erregte Mensch dann eine Einheit sind oder nicht – also die Frage nach Identität oder Differenz, die auch in der westlichen Philosophie intensiv diskutiert wird. Nāgārjuna macht deutlich, dass die Extreme von absoluter Identität oder absoluter Differenz in der Wirklichkeit nicht vorkommen.

Buddha lehrt im Achtfachen Pfad ganz direkt, wie wir uns selbst von Affekten und ungesteuerter Leidenschaft befreien und emanzipieren können, und verzichtet auf philosophische Spitzfindigkeiten, die auch praktisch wenig helfen. Auch Nāgārjuna erklärt, dass er von einer metaphysischen Substanz und der Verdinglichung psychischer Prozesse wenig hält. Aus der Gehirnforschung wissen wir, dass es um Bahnungen, synaptische Spuren und dynamische Informationen im neuronalen Netz und deren Veränderungen geht. Damit ist die dargestellte Philosophie von getrennten und weitgehend statischen Entitäten oder Eigen-Substanzen der Erregung und des erregten Menschen auch wissenschaftlich eindeutig widerlegt.

Zu weiteren theoretischen Überlegungen zur Erregung äußert sich Nāgārjuna folgendermaßen: Es kann keinen Erregten geben, der immer und dauernd ein Erregter war und ist, und es kann keine Erregung geben, wenn kein erregter Mensch da ist. Wenn Erregung und Erregter zwar gleichzeitig, aber unabhängig und getrennt voneinander entstehen oder da sind, gibt es ebenfalls keine Wechselwirkung und keinen Bezug zur Wirklichkeit. Die Erregung und den erregten Menschen kann man nicht wie „Gefährten“ verstehen, wenn sie getrennt sind. Nāgārjuna spricht die damaligen irreführenden buddhistischen Doktrinen an und betont, dass es nicht um ein dringend erwünschtes Ziel geht, bei dem zunächst getrennte dauerhafte Entitäten, also Dualitäten, von erregtem Menschen und Erregung unterstellt werden. Diese getrennten Entitäten können nicht durch die Religion wie ein Wunder zur Einheit gebracht werden.

Schließlich verallgemeinert er den geklärten Zusammenhang auf alle Dharmas, also die Dinge, Phänomene und Prozesse dieser Welt. Das ist der allgemeine Bezug zum Seienden. Er stellt fest, dass es in der Wirklichkeit weder die totale Gleichheit noch den totalen Unterschied gibt. Eine solche Vorstellung ist ein Problem unseres Denkens oder unserer Sprache, aber nicht der zusammenwirkenden Wirklichkeit. Dies wurde im Zen-Buddhismus besonders überzeugend herausgearbeitet und in der Praxis gelehrt.

Nāgārjuna lehnt am Beispiel von Erregung und Erregtem eine Doktrin metaphysischer getrennter Entitäten, die uns überfallartig ergreifen, radikal ab. Sie stimmen mit dem authentischen Buddhismus nicht überein. Der buddhistische Weg der Befreiung und Emanzipation, den Buddha im Achtfachen Pfad konkret darstellt, führt uns zum Gleichgewicht, zur Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Er umfasst die rechte Sichtweise, rechte Rede, rechtes Handeln, rechten Lebenswandel, rechte Bemühung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung (Meditation). Mit seiner Hilfe überwinden wir die Abhängigkeit von Erregungszuständen oder explodierenden Affekten. Am besten kann dieser Pfad als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung verstanden und konkret gegangen werden. Auf diese Wechselwirkung können wir selbst aktiv einwirken und gerade bei Erregung und ungesteuerter Leidenschaft zunehmende Lernprozesse der Klarheit und des Selbstvertrauens vollziehen


Kapitel 7: Die Veränderungen im Buddhismus – Entstehen, Andauern und Vergehen und die Dharma-Theorie

Im Mittelpunkt dieses wichtigen Kapitels stehen die zentralen Veränderungen und Lernprozesse des Entstehens, Andauerns und Daseins sowie des Vergehens und des Zur-Ruhe-Kommens beim Menschen und in der Welt. Diese Veränderungen haben im Buddhismus fundamentale Bedeutung, denn es geht um die Überwindung des Leidens, das Abbauen von Hemmnissen, das Entstehen und Dasein der Faktoren der Erleuchtung sowie um die Eröffnung des Mittleren Weges zur Vermeidung unheilsamer Doktrinen und gefährlicher Extreme. Sehr prägnant und komprimiert werden solche Veränderungen in Buddhas Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit beschrieben. Er schildert dabei die Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der geistigen Phänomene und Prozesse sowie das Entstehen, Andauern und Vergehen dieser Dharmas.[17]

Nâgârjuna destruiert in diesem Kapitel die Doktrinen des Substantialismus, Momentanismus und Nihilismus, indem er nachweist, dass mit ihnen der wahre Buddhismus verfälscht und teilweise sogar in sein Gegenteil verkehrt wird.[18] Dieses Kapitel ist das zweitlängste im MMK, nur das 24. über die Vier Edlen Wahrheiten ist noch umfangreicher. Es muss daher für Nâgârjuna von fundamentaler Bedeutung sein.
Bevor seine Analysen detailliert behandelt werden, möchte ich Buddha zitieren, um deutlich zu machen, dass sich Nâgârjunas Destruktionen falscher Doktrinen auf Buddhas Aussagen beziehen. Im Sûtra über die Grundlagen der Achtsamkeit erklärt dieser zu den Fünf Hemmnissen:

 „Da erkennt, ihr Mönche, ein Mönch, wenn in ihm auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen da ist: ‚In mir ist auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen.‘ Er erkennt, wenn in ihm kein auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen da ist: ‚In mir ist kein auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen.‘ Wie nicht entstandenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen entsteht, auch das erkennt er. Wie entstandenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen vergeht, auch das erkennt er. Und wie vergangenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen künftig nicht mehr entsteht, auch das erkennt er.“[19]

Mithilfe der Achtsamkeit kann man laut Buddha also bei den Hemmnissen auf dem Weg der Befreiung und Erleuchtung bei sich selbst klar erkennen, ob zum Beispiel ein auf „Sinnlichkeit gerichtetes Wollen“ zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorhanden ist. Dann untersucht man weiter, wie dieses Wollen entsteht, wenn es noch nicht vorhanden ist. Es geht also um das „nicht entstandene auf Sinnlichkeit gerichtete Wollen“. Das Wollen war demnach bisher nicht da, es war nicht entstanden, aber es ist im Prozess des Entstehens. Diesen Prozess kann man bei sich selbst erkennen. Umgekehrt wird ebenfalls beobachtet, wie das bereits entstandene Wollen vergeht. Es wird also der Prozess des Entstehens und Vergehens genauer untersucht. Schließlich wird drittens das künftige auf Sinnlichkeit gerichtete Wollen besprochen und wie man erkennt, wie dieses Wollen nicht entsteht.

Im gleichen Sûtra führt Buddha die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad für die eigene Befreiung ein. Damit ergibt sich die Verbindung zum aktiven eigenen Verändern und Handeln. Voraussetzung dafür ist, die Phänomene sehr genau zu analysieren und zu beobachten und nicht voreilig absolute ethische Ziele anzustreben. Sonst besteht die Gefahr der verzerrten Beobachtung, sodass die realen Zusammenhänge der Phänomene und deren prozessualen Veränderungen nicht mehr erkennbar sind.

In analoger Weise wie die Hemmnisse auf dem Weg des Erwachens behandelt Buddha die Sieben Faktoren des Erwachens: die Achtsamkeit, die Unterscheidung der Dinge und Phänomene, die Energie, Freude, Gestilltheit, Sammlung und den Gleichmut. Über die Freude sagt er:

„(Der Mönch) erkennt, wenn in ihm das Glied des Erwachens ‚Freude‘ da ist: ‚In mir ist das Glied des Erwachens ‚Freude‘ da.‘ Er erkennt, wenn in ihm das Glied des Erwachens ‚Freude‘ nicht da ist: ‚In mir ist das Glied des Erwachens ‚Freude‘ nicht da.‘ Wie das unentstandene Glied des Erwachens ‚Freude‘ entsteht, auch das erkennt er; wie das entstandene Glied des Erwachens ‚Freude‘ sich völlig entfaltet, auch das erkennt er.“[20]
Auch hier ist zunächst wieder das Erkennen des Zustands, ob die Freude in uns selbst vorhanden ist oder nicht, von Bedeutung. Implizit ist damit verbunden, dass man keinen Täuschungen unterliegt, ob es sich um echte Freude handelt oder oberflächlichen Selbstbetrug. Wichtig ist also die sehr gründliche, pragmatische Analyse unseres eigenen Zustands. Anschließend spricht Buddha davon, wie die Freude entsteht und wie sie sich völlig entfaltet.

Kurz gesagt geht es zunächst um die klare Beobachtung, ob das Unheilsame da ist oder nicht und ob das Heilsame da ist oder nicht. Dann folgt das Erkennen, wie das Unheilsame vergeht und das Heilsame entsteht. Und schließlich wird erwähnt, wie man bereits frühzeitig klar erkennt, dass das unheilsame Hemmnis nicht entsteht und das Heilsame des Erwachens entsteht und sich allmählich voll entfaltet.

Kalupahana fasst die Bedeutung des MMK-Kapitels 7 wie folgt zusammen: „Die Ideen des Entstehens, Andauerns und Vergehens werden dann als illusorisch abgelehnt, wenn (und nur wenn) sie substantialistisch verstanden werden.“[21] Er übersetzt den Sanskrit-Begriff samskrita mit conditioned, was auf Deutsch „bedingt“ heißt. Diese Übersetzung habe ich nicht übernommen, sondern verwende dafür die Formulierung „zusammen geschaffen“. Sie kommt der wörtlichen Übersetzung des Sanskrit-Begriffs – „zusammen gemacht“ – recht nahe und ist, wie ich hoffe, besser verständlich.

Kalupahana erklärt, dass Nâgârjuna in diesem Kapitel die Destruktion der Ideologie und Doktrin des Substantialismus vornimmt, der vor allem von den Sarvastivadins vertreten wurde. Wenn man an eine solche Doktrin von ewigen unveränderlichen Entitäten glaube, ergeben sich im Zusammenhang mit den Phänomenen des Entstehens, Andauerns und Vergehens unlösbare Widersprüche, die damit eindeutig beweisen, dass die gesamte Doktrin unbrauchbar ist und falsifiziert werden muss. Und genau das tut Nâgârjuna in diesem siebten Kapitel. Kalupahana betont auch, dass es keinesfalls darum geht, die Prozesse des Entstehens, Andauerns und Vergehens zu falsifizieren, sondern darum, mit der Doktrin des absolut Substanzhaften durch die inneren Widersprüche zu beweisen, dass diese Doktrin falsch ist, während die Wirklichkeit dieser drei Phasen unbestritten ist. Bis auf die oben erwähnte Übersetzung des Sanskrit-Begriffs samskrita folge ich dem Verständnis Kalupahanas ausdrücklich.
Seit Buddha hatten sich vor allem zwei Doktrinen und sektenartige Gruppierungen in der Theorie des Abhidharma herausgebildet, die beide auf unterschiedliche Weise den prozessualen Zusammenhang der drei Phasen ablehnten und getrennte Entitäten statt eines ganzheitlichen Prozesses postulierten.

Die erste buddhistische Gruppierung, die Sarvastivadins – ich bezeichne sie als Substantialisten –, unterstellte eine ewige unveränderliche Substanz im Sinne eines unsichtbaren Kerns, der gleich bleibt und dauernd existiert. Diese kernhafte Substanz ergebe nur zusammen mit mindestens einem markanten Merkmal etwas sichtbar Seiendes. Die Kombination von Substanz und Merkmal sei als Manifestation die für uns erkennbare Welt, in der wir leben. Die Sehnsucht der Inder nach Unveränderlichkeit und Ewigkeit muss dabei eine fundamentale mystische Energie entwickelt haben. Die markanten Sanskrit-Begriffe in diesem Zusammenhang sind bhâva für ein unveränderliches Seiendes und svabhâva für ein unveränderliches und aus sich selbst entstandenes Seiendes. Beide Begriffe markieren die unveränderliche ewige Existenz. Durch diese grundsätzliche semantische Verschiebung der buddhistischen Begriffe entwickelte sich unversehens eine alarmierende existenzielle Ähnlichkeit zum Glauben an den vorbuddhistischen âtman, der nach Buddha unausweichlich ins Leiden führt.

Nach dieser Lehre würde sich der unveränderliche Substanzkern eines Dharmas jeweils mit den drei Merkmalen Entstehen, Andauern und Vergehen manifestieren und auf diese Weise sichtbar und erkennbar sein. Es leuchtet philosophisch betrachtet unmittelbar ein, dass mit diesem Dharma-Modell die von Buddha gelehrten Veränderungen und Befreiungen des Menschen kaum stimmig zu erklären sind. Nâgârjuna destruiert daher diese Doktrin im MMK konsequent und scharfsinnig, um die wahre Lehre Buddhas herauszuarbeiten.

In radikaler Opposition zum Substantialismus vertrat die Gruppe der Sautrantikas die Doktrin des Momentanismus. Sie lehnten jede Dauerhaftigkeit ab und wollten auf diese Weise der wahren buddhistischen Lehre entsprechen. Sie behaupteten, dass die Welt aus zeitlich getrennten Ereignissen bestehen würde, die nicht miteinander verbunden seien, sondern schlagartig ohne Übergang da wären und sofort wieder ohne Übergang verschwinden würden. Die Anhänger dieser Doktrin waren davon überzeugt, dass dadurch Buddhas Lehre vom gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) philosophisch widerspruchsfrei erklärt werden könne, weil es überhaupt kein Andauern, keine Unveränderlichkeit oder gar ewige Existenz mehr gäbe.

Das kaum lösbare Problem der Momentanisten war jedoch die wie auch immer geartete Verbindung der Momente, das heißt, wie also ein momentanes Ereignis zum nächsten überleitet. Dieses Grundmodell wird auch heute noch zum Teil fälschlich im Zen verwendet, wenn für den Augenblick die Metapher einer Perlenkette der Momente ohne Schnur herangezogen wird. Ich halte diese Metapher nicht für fruchtbar und sehe sie durch Nâgârjunas Argumentation klar destruiert. Die Momentanisten waren gezwungen zu behaupten, dass das folgende momentane Ereignis bereits vor dem Entstehen des vorherigen Ereignisses existiere. Dieser Ansatz wird von Nâgârjuna ebenfalls unmissverständlich destruiert, denn der von Buddha gelehrte Prozess der Befreiung und des Erwachens ist damit nicht stimmig zu erklären.

Das bereits in Band 1 analysierte zweite MMK-Kapitel behandelt das Gehen und den Prozess der Bewegung im Zusammenhang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nâgârjuna destruiert dort ungenaue Vorstellungen und verzerrende Doktrinen des Gehens und Bewegens, die keine Beziehung zur Wirklichkeit von Prozessen und Veränderungen haben, folglich in die Irre führen und Erweiterungs- und Emanzipationsprozesse des Menschen verhindern. Die Analogie zu Kapitel 7 liegt auf der Hand. Hier behandelt Nâgârjuna die Ganzheit und das Zusammenwirken von Entstehen, Andauern und Vergehen nach der authentischen Lehre Buddhas. Das bedeutet gleichzeitig, dass er die erwähnten nicht-authentischen Doktrinen falsifiziert.

Buddha hat erkannt, dass die Natur der Welt und des Menschen vier zentrale Charakteristika hat, die konkret beobachtet und erfahren werden können und evident sind:
– Die Welt ist veränderlich und nicht statisch oder dauerhaft.
– Sie entsteht und vergeht in Wechselwirkung, ist also vernetzt.
– Sie bildet eine Ganzheit, ist also zusammengesetzt.
– Wir können aktiv durch Handeln auf uns selbst und die Umwelt einwirken.

Außerdem lehrt er in aller Klarheit, dass es in der Welt keine Extreme im folgenden Sinn gibt: Wir können keine absolute Existenz oder Nicht-Existenz von irgendwelchen Entitäten beobachten oder erfahren. Unabhängige und isolierte Entitäten gibt es in der Wirklichkeit nicht. Solche absoluten Behauptungen sind daher auf keinen Fall wahr, sondern ideologische und absolutistische Nicht-Wahrheiten. Wer daran glaubt und danach handelt, erfährt unweigerlich die „ganze Masse des Leidens“, wie es Buddha ausdrückte. Jeder, der sich die Ideologien des deutschen Nationalismus und des katholischen Absolutismus des späten Mittelalters vor Augen führt, wird dem sicher zustimmen.

Noch einmal eine kurze Rückblende zum zweiten Kapitel: Ein gehender Mensch wird umgangssprachlich meist als „Geher“ bezeichnet. Aber diese Bezeichnung lehnt Nâgârjuna aus guten Gründen ab, weil sie eine Dauerhaftigkeit der Geh-Eigenschaft des Menschen voraussetzt, die es in Wirklichkeit natürlich nicht gibt. Die Frage ist: Wenn ein Mensch, der vorher gegangen ist, nun steht, sitzt oder liegt, ist er dann auch ein Geher? Sicher nicht, weil er ja nicht geht! Das Wort „Geher“ suggeriert also eine permanente Eigenschaft und Charakterisierung des Menschen, die aber nur temporär zutrifft und eben nicht dauerhaft ist. Es bezeichnet bestenfalls einen bestimmten Zustand während eines Prozesses und einer Zeitdauer. Eigentlich ist es ein Widerspruch in sich, weil das Gehen ein Prozess, aber keine Entität und kein Ding ist.

In konsequenter Fortsetzung dieser Analyse bearbeitet Nâgârjuna in Kapitel 7 die Frage des Entstehens, Andauerns und Vergehens bei verschiedenen Prozessen. Er bezieht sich dabei auf eine zentrale Aussage Buddhas zum Befreiungsweg, der im Sûtra „Grundlagen der Achtsamkeit“ sehr genau geschildert wird.[22] Es heißt dort wiederholt, dass wir das Entstehen, Andauern und Vergehen von Gedanken und Gefühlen genau beobachten und analysieren sollen, um nicht unreflektiert von Affekten, Gefühlen und bohrenden Gedanken besetzt und durch sie fixiert zu werden. Auch hierbei handelt es sich um ein zeitliches Nacheinander, also um einen zusammengesetzten Prozess, der – vereinfacht ausgedrückt – in die drei Bereiche Entstehen, Andauern und Vergehen gegliedert wird. Dabei darf aber niemals vernachlässigt werden, dass es sich nicht um getrennte und isolierte Abschnitte oder Entitäten handelt, sondern dass ein kontinuierlicher Zusammenhang und eine fortlaufende Wechselwirkung bestehen. Die Wechselwirkung als Prozess steht in einem klaren Widerspruch zu dem Modell von unveränderlichen zusammengesetzten Entitäten nach der Doktrin der Substantialisten. Und genau dieser Widerspruch führt in diesem Kapitel zur Falsifizierung von deren Doktrin.

Wir können ohne Zweifel von den Phänomenen (Dharmas) mit den Phasen des Entstehens, Andauerns und Vergehens sprechen. Da der Buddhismus den prozesshaften Veränderungen des Menschen in einem oder auch in mehreren Leben zentrale Bedeutung beimisst, muss folglich die Frage nach dem Entstehen, Andauern und Vergehen genau untersucht werden, um Fehlinterpretationen, unrichtige Doktrinen und den falschen Substantialismus zu vermeiden.

Was können wir uns nun unter einem solchen Prozess des gemeinsamen Entstehens und Vergehens konkret vorstellen? Ein Beispiel: Beim Dialog zwischen zwei oder mehreren Menschen entstehen in der jeweiligen Interaktion und Wechselwirkung bestimmte neue Gedanken und Ideen. Wenn also ein Dialogpartner zu einem Thema etwas einbringt, entsteht bei dem anderen Menschen ein damit vernetzter und gekoppelter Gedanke, der sowohl durch den „Input“ seines Gesprächspartners als auch durch eigene Vor-Erfahrungen, Erinnerungen und vor allem durch Denk- und Gefühlsmuster im jeweiligen neuronalen Netz geprägt ist.

Die neuen Assoziationen sowie weiterführenden Ideen und Gefühle können wiederum in die Kommunikation eingebracht werden und beim Anderen entsprechende weiterführende Prozesse in Gang setzen. Derartige Dialoge sind dann besonders fruchtbar, wenn sie mit Empathie und einem gewissen Gleichklang auf der Gefühlsebene verbunden sind, denn beim Menschen entstehen selten innovative und kreative Ideen isoliert von Gefühlen. Kreativität und Stress, der Angst erzeugt, schließen sich gemäß der Erkenntnisse der Gehirnforschung aus. Unter Stress und Angst kann man dem Leiden nicht entkommen, und das Erwachen ist ausgeschlossen.

Die Gedanken und Gefühle können wir auch als Phänomene oder Gegebenheiten bezeichnen, die im Buddhismus Dharmas genannt werden und eine fundamentale Bedeutung für den Aufbau der buddhistischen Lehre und das buddhistische Weltverständnis haben. Es ist in der buddhistischen Historie allerdings nicht ausgeblieben, dass in diesem Zusammenhang tief greifende Missverständnisse und Irrlehren entstanden sind. In diesem Kapitel werden sie von Nâgârjuna destruiert und richtiggestellt.

Die Semantik des Begriffs Dharma ist für uns westliche Menschen nicht einfach zu verstehen. Eine direkte Übersetzung, die Nishijima Roshi gern für Dharmas verwendete, lautet „Dinge und Phänomene“, wobei die Dinge eher einen statischen Aspekt benennen. Phänomene kann man dagegen eher als prozesshaft und nicht-materiell verstehen.

Im vorbuddhistischen Indien wurde der Begriff Dharma vor allem für Gedanken und Dinge verwendet, die als unveränderlich betrachtet wurden. Bei Buddha geht es dagegen hauptsächlich um Veränderungsprozesse, sodass die Vorstellung von unveränderlichen Entitäten wenig sinnvoll ist. Die Veränderungsprozesse betreffen zum Beispiel das Entstehen von Leiden und andererseits die Überwindung und das Vergehen von Leiden sowie die Entwicklung zum Erwachen und zur Erleuchtung. Veränderungen haben also eine zentrale Bedeutung im Buddhismus, und sie sind in der Tat für wichtige Lernprozesse unabdingbar. Wenn man konstante unveränderliche Entitäten mit einer ewigen inneren Substanz annehmen würde, könnte es überhaupt keine grundsätzliche Veränderung, kein Lernen und keine positive Entwicklung geben. Besonderns deutlich wird dies bei Buddhas Darstellung der sogenannten Zwölffachen Kette der menschlichen Entwicklung. Diese Enwicklung kann zum Leiden oder zur Befreiung führen, je nachdem, ob die einzelnen Phasen heilsam oder unheilsam verlaufen. Ausgangspunkt dabei sind das rechte Wissen und die rechte Erkenntnis, die entsprechende positive Handlungsimpulse in Gang setzen und die Entwicklung zur Befreiung ermöglichen.

Vielfache Entwicklungsprozesse finden beim Menschen vor allem in der Kindheit und Jugend statt. Zum Beispiel lernen Kinder, sich in der Welt zurechtzufinden, die Motorik und Feinmotorik auszubilden und zu trainieren, die Sprache zu erlernen und für die Kommunikation einzusetzen. Mit zunehmendem Alter tritt häufig eine Art von Erstarrung ein und Lernprozesse stagnieren. Friedrich Nietzsche sagte dazu: „Wehe, wenn wir nicht mehr den Pfeil über uns hinauswerfen. Wehe, wenn die Sehne nicht mehr schwirrt.“[23] Da nach den Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung unser „Glückszentrum“ gleichzeitig unser Lernzentrum ist, sinkt die Lebensfreude im Alter deshalb bei vielen Menschen immer mehr, was nicht selten in eine Altersdepression mündet: Die wichtigen Befreiungs- und Entwicklungsprozesse erlahmen oder sind zu Ende.

Nâgârjuna hat dieses Phänomen sicher erkannt und spricht daher von dem statischen „Geworden-Seienden“ der Dharmas, das einer dauerhaften unveränderlichen Existenz recht nahe kommt. Eine solche unveränderliche Existenz kann materiell wie ein Ding oder eine Sache und ideell wie eine Idee als Entität verstanden werden. Wenn dieser Zusammenhang verabsolutiert wird, handelt es sich um die Doktrin einer unveränderlichen metaphysischen Substanz oder nicht-materiellen Essenz. Beide Weltanschauungen sind aus Nâgârjunas Sicht nicht korrekt und erzeugen früher oder später menschliches Leiden.

Für den Menschen, der nach buddhistischer Vorstellung in fünf Komponenten (skandhas) gegliedert ist und keinen gesonderten Ich-Kern im Sinne der vorbuddhistischen Âtman-Lehre hat, sind Erstarrungen und Festlegungen, die eine Weiterentwicklung erschweren oder unmöglich machen, jedoch in keinem Lebensalter zwingend. Sie entstehen vermutlich durch das Streben nach Sicherheit und Dauerhaftigkeit und die Angst vor negativen Entwicklungen und Verlusten. Aber wie Buddha überzeugend sagte, sind es gerade die Scheinsicherheiten, die den Prozess des Lebens verhärten oder sogar unmöglich machen. Sie verleihen keine Sicherheit, sondern erzeugen im Gegenteil Ängste. Wie wir aus der Gehirnforschung wissen, reduzieren Ängste nicht nur die Denk- und Reflexionsmöglichkeiten, sondern verhindern auch Kreativität bei Entwicklungsprozessen. Verkürzt könnte man sagen: „Angst und Stress machen dumm.“ Dagegen bietet Veränderung die Chance, dass sich etwas Neues entwickelt und der Mensch sich durch Erfahrung und Lernen befreit und emanzipiert. In der Terminologie des Buddhismus geht es um den Prozess des Erwachens und der Erleuchtung, den Buddha im Achtfachen Pfad und in der Zwölffachen Kette der menschlichen Entwicklung überzeugend ausgearbeitet und gelehrt hat.

Der zusammenhängende Prozess des Entstehens, Andauerns und Vergehens kann auch bei Gefühlen beobachtet werden. Es ist ein Hauptanliegen des Buddhismus, vergiftende Gefühle wie Gier, Neid, Hass und Übelwollen entweder gar nicht erst entstehen oder aber zur Ruhe kommen zu lassen. Gautama Buddha hat in seiner fulminanten Rede über die Grundlagen der Achtsamkeit ein solches Entstehen, Andauern und Vergehen negativer Gefühle sehr präzise beschrieben. Auf ähnliche Weise schildert er die positiven Gefühle und betont zum Beispiel, dass liebevolle Zuwendung entstehen soll und wir genau beobachten sollen, dass solche Gefühle wirklich in uns da sind und wirken.

Die moderne Gehirnforschung sagt kurz gefasst: „Das Gehirn ist genau das, was es macht.“ Wenn wir also positive Gefühle und Gedanken in uns entstehen lassen, wird unser Gehirn grundsätzlich in dieser Weise gebahnt und entwickelt geeignete Muster und Bahnungen für weitere Assoziationen und kreative Gedanken und Gefühle. Nach meinem Verständnis gehört dieser Aspekt zur Bedeutung des Sanskritbegriffs samskâra, der in der Literatur oft missverständlich oder verwirrend verwendet wird. Es gibt eine intensive Wechselwirkung in unserem neuronalen Netz, sodass eine enge dynamische Verknüpfung von Gefühlen und Gedanken besteht. Wer umgekehrt überwiegend auf negative Gefühle und Gedanken fixiert ist, programmiert selbst sein Gehirn in diesem negativen Sinn. Als Ergebnis wird er in der Welt und bei anderen Menschen überwiegend die negativen Bereiche wahrnehmen und abspeichern, die genau für sein Gehirn typisch sind. Diese bilden dann eine negative Grundstrukturierung als entsprechende Bahnung für die folgenden Ideen, Erlebnisse und Erfahrungen.

Aus der hohen Komplexität der Welt wird infolgedessen das Negative selektiert und verstärkt, sodass depressive Stimmungen und Leiden entstehen. Bei den Fünf Hemmnissen der Befreiung bezeichnet Buddha dies als Zweifelsucht. Sie hat wohlgemerkt wenig mit einer ausgewogenen Sicht der Welt zu tun, in der die positiven und negativen Seiten realistisch betrachtet und in einem geistigen Prozess der Reflexion und Selbstreflexion bedacht und gewichtet werden.

Das siebte Kapitel des MMK wird von verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich interpretiert und eingeschätzt. Dies hat aus meiner Sicht verständliche Gründe, denn in den meisten Beschreibungen der Dharmas der indischen Philosophie und auch des Buddhismus werden die Dharmas nur als Dinge und Phänomene verstanden. Damit entfällt aber weitgehend der wichtige Aspekt der Veränderung, Befreiung und Emanzipation, also der zentralen Prozesse der Welt und des Lebens. Für Buddha ist gerade die Veränderung als Überwinden des Leidens und Weiterentwicklung zur Klarheit, zum Erwachen und zur Erleuchtung das zentrale Anliegen seines Lebens gewesen. Dies ist bei allen Autoren letztlich unbestritten.

In der Präambel wurde Buddhas sowie Nâgârjunas Welt- und Lebensverständnis mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und der Vermeidung von Extremen dargestellt, und in den Kapiteln 1 bis 6 hat Nâgârjuna Fehlentwicklungen wie statische und spekulative Doktrinen analysiert und dekonstruiert. In Kapitel 7 geht es nun darum, das als wahr und richtig erkannte gemeinsame Entstehen genauer zu untersuchen. Die Einzelprozesse der Veränderungen werden von Nâgârjuna detailliert herausgearbeitet, wobei er gleichzeitig erneut die unrichtigen, vor allem statischen Doktrinen benennt und falsifiziert.

In der frühen buddhistischen Lehre geht es um tief greifende nachhaltige Veränderungen beim Menschen und in der Welt, also um das Entstehen und die Überwindung des Leidens, um Prozesse der Befreiung und Emanzipation sowie das Erwachen. Buddha begnügte sich bei seiner Weisheitslehre nicht mit der reinen Erkenntnis, die typisch für die westliche Philosophie ist, sondern er lehrte ganz praktisch fundamentale und wirkungsvolle Befreiungs- und Emanzipationsprozesse des Menschen, wobei es um die Frage geht, wie unser eigenes Leben und das der anderen wirklich gelingen kann. Die rechte Sichtweise, das rechte Verständnis und Wissen der Wirklichkeit, also das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada, vgl. Präambel des MMK), bilden dabei das Fundament.

Von zentraler Bedeutung sind die Ablehnung absoluter Extreme, die ideologiefreie Lehre der Kausalität und Verursachung und nicht zuletzt eine praktikable Ethik. Buddha geht es um positive Veränderungen in unserem Leben und in der Welt, also um das Entstehen, Andauern und Zur-Ruhe-Kommen der Dinge, Phänomene und Gegebenheiten (Dharmas): das Vergehen des Leidens und Entstehen von Freude, Ausgeglichenheit und Kreativität. Sie betreffen alle Bereiche der Menschen und der Welt und sind die Grundlage der buddhistischen Lehre. Durch Selbst-Verwirklichung und Selbst-Transformation stoßen wir laut Buddha in neue Lebensbereiche vor.

Im Sûtra über die Grundlagen der Achtsamkeit erklärt Buddha die Prozesse des Entstehens, Andauerns und Vergehens für die Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der materiellen Elemente. Er spricht über das Lustverlangen, den Hass, die Zerstreuung, die fünf Hemmnisse, die Komponenten des Menschen (Skandhas), die Sieben Glieder des Erwachens und nicht zuletzt die Wahrheit und Überwindung des Leidens. Um Klarheit für diese Bereiche zu schaffen und Veränderungen zu ermöglichen, müssen diese Prozesse genau und verlässlich analysiert werden. Es reicht nicht, heilsame und unheilsame Zustände nur allgemein oder metaphysisch zu benennen.

In Kapitel 7 des MMK widmet sich Nâgârjuna einer solchen Klärung und analysiert mit großem Scharfsinn die Fehlentwicklungen bestimmter Philosophien und Doktrinen seiner Zeit. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei buddhistische Sekten: Die Sarvastivadins[24] vertraten das Dogma der absoluten unveränderlichen Substanz der Dharmas und glaubten an einen unveränderlichen ewigen und oft unsichtbaren Kern der Dinge und Phänomene. Diese Doktrin bezeichne ich als Substantialismus. Die Sautrantikas behaupteten das Gegenteil, nämlich die absolute und unverbundene Momenthaftigkeit von Ereignissen, was ich Momentanismus nenne. Beide Doktrinen enthalten verdeckte spekulativ-metaphysische Grundlagen, die ich durchaus als magisch bezeichnen möchte und die bei genauer Analyse in sich widersprüchlich sind.

Nâgârjuna setzt sich mit den beiden dogmatischen Fehlentwicklungen des Verständnisses der zusammengesetzten Dharmas (samskrita) auseinander. Er unterteilt bei seiner Analyse den Vorgang der Veränderungen von Dharmas in drei Merkmale, die zusammen das zusammengesetzte und dynamische Dharma kennzeichnen.

Im Substantialismus werden die Dharmas als abgegrenzte absolute und vor allem unveränderliche Entitäten verstanden, um so dem Dogma der Unveränderlichkeit zu genügen. Damit geht jedoch das Verständnis der dynamischen Wirklichkeit zugunsten der substantialistischen Spekulation verloren, und laut Nâgârjuna widerspricht diese metaphysische Annahme radikal Buddhas Wort, Praxis und Sinn. Es liegt auf der Hand, dass gewaltige Probleme auftauchen, wenn die empirisch und phänomenologisch zusammenhängenden Prozesse der Veränderungen mit dem Substantialismus widerspruchsfrei erklärt werden sollen. Wenn die Dharmas unveränderlich und statisch sind, müssen für die Merkmale Entstehen, Andauern und Vergehen jeweils unveränderliche eigenständige Dharmas gefordert werden, die einen eigenen unzerstörbaren Kern besitzen. Den Anhängern dieser Lehre waren offensichtlich die unlösbaren Widersprüche im Hinblick auf die authentische buddhistische Lehre wenig oder überhaupt nicht bewusst. Ich folge Nâgârjunas Feststellung, dass bei solchen metaphysischen Annahmen Buddhas Lehre der Befreiung und Emanzipation nicht mehr stimmig und daher wirkungslos in der Lebenspraxis ist.

Der Momentanismus stellt die Augenblicklichkeit in den Mittelpunkt. Er basiert auf der Annahme von isolierten, extrem kurzen zeitlichen Momenten der Wirklichkeit, also von „zeitlichen Atomen“, und versucht so, den Vorwurf der Statik, Erstarrung und Unveränderlichkeit zu entkräften.[25] Aber bei dieser Doktrin fragt sich, wie die aufeinanderfolgenden getrennten Momente eigentlich zusammenwirken und wie sie kausal verknüpft werden können, wenn sie gerade als unverbunden und voneinander isoliert definiert sind. Die Verbindung zwischen den einzelnen Phänomenen muss dann spekulativ und metaphysisch behauptet werden. Es bleibt offen, wie dabei zusammenhängende und sich bedingende Prozesse, zum Beispiel Entstehen und Vergehen, funktionieren können. Mit diesem Ansatz kann die Kausalität, die für die Lern- und Emanzipationsprozesse des praktischen Buddhismus unverzichtbar ist, ebenfalls nicht widerspruchsfrei und stimmig erklärt werden. Nâgârjuna destruiert auch diese Lehre der Momenthaftigkeit und betont, dass sie mit der authentischen Lehre Buddhas nicht vereinbar ist.

Nâgârjuna deckt die genannten gravierenden Widersprüche und Halbwahrheiten auf, indem er sich auf Buddhas Verständnis der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada), der Veränderlichkeit und der Ganzheitlichkeit der Welt bezieht. In dem maßgeblichen Vers heißt es im Gegensatz zu den einseitigen verfälschenden Doktrinen: „Was auch immer in Wechselwirkung wird und entsteht, das ist beruhigt und im Gleichgewicht.“ Das heißt auch, dass die beiden Doktrinen des Substantialismus und Momentanismus kein Gleichgewicht des Menschen bewirken, sondern im Gegenteil zu Unruhe, Zerrissenheit, Leiden, zur Vereinsamung und Depression führen.

Abschließend möchte ich noch einige Anmerkungen zur Verbindung zwischen Buddhas Lehre und aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen anfügen. Die Frage ist, was sich in unserem Gehirn ereignet, wenn wir Gefühle der Freude und des Glücks erleben. Der Stand der Forschung hierzu ist etwa wie folgt: Glücksgefühle werden vor allem dann ausgelöst, wenn unerwartet etwas Gutes und Glückhaftes erlebt wird. Im sogenannten Nucleus accumbens werden körpereigene Endorphine, also Glückshormone, ausgeschüttet, die in das gesamte Gehirn eingebracht werden. Sie lassen dort verstärkte Prozesse der Informationsverarbeitung entstehen, die mit positiven Gefühlen, eben Glücksgefühlen, verbunden sind. Dies gilt für alle Bereiche der Informationsverarbeitung, der Wahrnehmung, des Denkens, des Erinnerns usw. Nicht zuletzt ermöglicht dies einen positiven Schub von Lernprozessen, die zum Beispiel neue kreative Möglichkeiten im neuronalen Netz eröffnen. Der Gehirnforscher Manfred Spitzer spricht daher davon, dass unser Glückssystem gleichzeitig das Lernsystem ist, das sich in der Evolution des Menschen entwickelt und bewährt hat.

Eine derartige Glücksphase dauert etwa zehn Sekunden an. Das heißt, sie hat also eine Phase des Entstehens, des Andauerns und dann des Vergehens. Natürlich kannten Buddha und Nâgârjuna diese heute gesicherten Forschungsergebnisse noch nicht. Allerdings vermute ich, dass sie auch aufgrund ihrer scharfen phänomenologischen Beobachtungsgabe ein recht genaues intuitives Wissen besaßen und in ihre Lehre eingebracht haben. Ich möchte deshalb sagen, dass Buddhas Lehre weitgehend durch die experimentelle Gehirnforschung bestätigt wird.

Dass der gesamte Glücksprozess nur zehn Sekunden andauert, mag manche enttäuschen und desillusionieren. Mir scheint allerdings, dass das eine recht gute Erklärung dafür ist, dass zum Beispiel materiell erzeugte Glücksgefühle nicht lange anhalten, also überhaupt nicht von Dauer sein können. Ganz im Gegenteil, sie lassen möglicherweise Enttäuschung zurück und müssen in einem Teufelskreis durch immer neue materiell erzeugte oder durch Gier gesteuerte Glücksmomente fortgesetzt werden. Wenn es sich nur um die Teilwahrheiten des Materialismus handelt – wie Nishijima Roshi dies nennt –, kann es auf diese Weise also keine Weiterentwicklung des Menschen geben. Es kommt stattdessen darauf an, solche natürlichen Glücksimpulse für sinnvolle Lebensaufgaben und die Befreiung und Emanzipation zu nutzen, zum Beispiel um wichtige Lernprozesse zu ermöglichen und dabei vor allem Kreativität bei der eigenen Weiterentwicklung zu erzeugen. Dadurch werden die angestrebten Ver-Lernprozesse des Leidens und der Hemmnisse und die Lernprozesse zur Befreiung und Erleuchtung in Gang gesetzt


Kapitel 8: Akteur, Tat und Karma
Im vorigen Kapitel untersuchte Nâgârjuna die Prozesse von Entstehen und Vergehen, ohne die es keine Überwindung des Leidens und keine Befreiung im dynamischen Ablauf des Lebens geben könnte.

In diesem Kapitel steht nun die Dynamik des Handelns im Mittelpunkt. Das Handeln ist durch gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung charakterisiert, und wir müssen es aktiv gestalten, also Planung, Willen, Energie, Ausdauer und psychisch-geistige Kräfte einsetzen, um eine Selbstkontrolle, Selbststeuerung und Entwicklung zum Guten zu erwirken. Nach meinem Verständnis ist dabei zunächst die Frage der Wiedergeburt weniger wichtig, sondern es geht um weitgehend konkrete Phänomene (Dharmas) hier und jetzt in ihrer sozialen Umgebung mit den entsprechenden Aufgaben und Verantwortungen.

Nâgârjuna analysiert gründlich das Handeln, den handelnden Akteur und das Ergebnis bzw. die Frucht des Handelns.[26] Nach einer ausführlichen Untersuchung der unbrauchbaren Doktrinen kommt er zur Beschreibung der Wirklichkeit als wechselwirkendes gemeinsames Entstehen für Tat und Akteur. Beim Handeln geht es nicht nur um körperliche und physische Phänomene, sondern um den ganzen Menschen und nicht zuletzt um sein geistiges und psychisches Handeln. Dazu gehört auch die Verantwortung des Akteurs für sein Handeln und die Tat.

Fassen wir den ganzen Prozess zusammen: Am Anfang steht eine mehr oder minder bewusste Tatabsicht, dann beginnt und entsteht das eigentliche Handeln und dauert eine Zeit lang an, wobei eine intensive Wechselwirkung mit der Umwelt, anderen Menschen und sich selbst, also mit den Komponenten des Menschen, besteht. Danach kommt das Handeln zur Ruhe und erzeugt Wirkungen und Ergebnisse bei den anderen und beim Akteur selbst. Manche schlechten Lehrer, die ihre Schülerinnen oder Schüler missbrauchen, argumentieren, dass sie es ja so gut gemeint hätten, dass ihre Tatabsichten also edel und ohne Makel gewesen seien. Aber das reicht nicht, denn es geht um die Wirkungen, Schäden bei den anderen und die nicht aufzuhebende Verantwortung des Lehrers. Diese wichtigen ganzheitlichen Fragen von Handeln, Ethik, Folgewirkungen, Ergebnissen und Verantwortung des Menschen werden in einem späteren Kapitel des MMK wieder aufgegriffen und vertieft. Hier stehen die Phänomene und Prozesse (Dharmas) im Vordergrund, die nach der buddhistischen Philosophie vereinfacht als „Elemente der Welt und des Menschen“ verstanden werden.

Nâgârjuna gelingt es, mit den Klarstellungen zum rechten Verständnis der Phänomene und Prozesse von Tat und Akteur die Grundlagen für die weiteren Analysen im MMK zu legen. Vor allem wird die Doktrin von unveränderlichen isolierten Substanzen als Kern der Dharmas falsifiziert. Gleiches gilt für die Doktrin des Momentanismus, die eine Folge isolierter Momente und Ereignisse („Zeit-Atome“) behauptet. Auch sie ist für die Erklärung von zusammenhängenden Prozessen unbrauchbar und für wirkliche Befreiungs- und Emanzipationsprozesse völlig ungeeignet.

Nachdem Nâgârjuna die Beispiele von einem statischen, isolierten und sogar erstarrten Akteur, einer isolierten Tat und einem isolierten Ergebnis der Tat falsifiziert hat, kommt er zu seiner positiven und klaren Aussage vom wahren Handeln als lebendiger Prozess im wirklichen Augenblick, also zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada). Allein mit diesem Ansatz sei die buddhistische Lehre der Wirklichkeit sinnvoll und praktikabel.

Im Rahmen der Wechselwirkungen in unserem Leben ist es das Ziel des buddhistischen Weges, den Raum für Entscheidungen und Handlungen nach ethischen Gesichtspunkten zu vergrößern. In der Wechselwirkung entsteht nach der buddhistischen Theorie und Praxis die Kraft zur Selbststeuerung für das eigene Handeln, die eigene Planung und die Verarbeitung von schwierigen psychischen Erlebnissen der Vergangenheit. Aus meiner Sicht sind das die wesentlichen Aspekte der Überwindung des Leidens, die Buddha bei den Vier Edlen Wahrheiten und im Achtfachen Pfad beschrieben hat. Sie sind unauflösbar mit unserem Handeln als dynamische Phänomene verbunden.

Eine große Bedeutung hat dabei die unmittelbare Erfahrung des Handelns im Augenblick. Hier sind der Ablauf des Prozesses und der genaue Augenblick im Prozess nicht voneinander zu Mittlerer Weg (MMK) von Nagarjuna trennen, sondern bedingen sich gegenseitig: Die größtmögliche Wirklichkeit wird im Augenblick erreicht, aber sie ist ohne den zeitlichen Prozessablauf nicht wirklich. Beide bedingen sich gegenseitig und können nicht sinnvoll getrennt werden. Dies wird besonders im Zen herausgearbeitet.
Außerdem ist das Handeln die wesentliche Grundlage des Erwachens und der Erleuchtung, die sich weder durch Idealismus noch durch Materialismus verwirklichen lassen. Nâgârjuna beschäftigt sich sehr präzise mit dem Handeln und hält eine Verkürzung auf die Frage der Wiedergeburt nicht für sinnvoll.
Nâgârjuna warnt in diesem Kapitel davor, an Doktrinen von isolierten unveränderlich existierenden Phänomenen (Dharmas), Taten, Ergebnissen und Akteuren zu glauben, weil sie dem Kern der buddhistischen Lehre von Wandel, Befreiung und Emanzipation radikal widersprechen. Die guten Ergebnisse des Handelns, auch Früchte genannt, sind Phasen eines dynamischen Prozesses, der in Wechselwirkung mit anderen dynamischen Faktoren ist. Die Doktrinen des Substantialismus und Momentanismus werden daher von Nâgârjuna destruiert, weil sie die buddhistische Lehre der Befreiung vom Leiden und der Weiterentwicklung und Emanzipation gefährden.

Statik und Erstarrung durch Vorurteile, Dogmen, fixierte Selbstbiografien, narzisstische Blasiertheit und idealistische Leidensstarre sind mit dieser Dynamik gerade nicht in Einklang zu bringen. Fundamental ist dagegen das feste Vertrauen auf Veränderungen im Leben. Ein solches Vertrauen erfordert selbstverständlich den Mut zur eigenen Veränderung.
Im Buddhismus kommt dem Begriff Ergreifen eine große Bedeutung zu. Ergreifen heißt, dass wir uns bestimmte Konzepte, Strukturen, aber auch Vorurteile und Weisheiten im Lauf unseres Lebens wie unveränderliche Dinge und Entitäten aneignen. Nâgârjuna hat daher bei dieser Semantik grundsätzliche Bedenken. Wir dürfen uns dabei auch nicht wie dressierte Tiere oder elektronisch gesteuerte Automaten verhalten, denn diese haben keinen Geist, keine Psyche, keinen Willen und keine eigene Entscheidungskraft. Im Rahmen der Wechselwirkungen unseres Lebens ist es allerdings das Ziel des buddhistischen Weges, den Freiraum für Entscheidungen und Handlungen nach ethischen Gesichtspunkten auszuweiten. Durch einen solchen Gewinn an Freiheit vergrößern wir unsere Zufriedenheit und Lebensqualität ganz erheblich. Auf diese Weise entsteht durch die buddhistische Theorie und Praxis zunehmend die Kraft der Selbststeuerung für das eigene Handeln und die Fähigkeit zur Überwindung des Leidens. Auch Dôgen betont die große Bedeutung des Handelns auf dem Achtfachen Pfad.
Nishijima Roshi sagt: „Obgleich es immer wieder Momente gibt, in denen wir handeln, ohne dass wir uns dessen voll bewusst sind, ist es die reale Wirklichkeit, genau wenn wir handeln. Beim Handeln gibt es zwar ein mitlaufendes Bewusstsein, und viele Handlungen im täglichen Leben sollten bewusst und achtsam durchgeführt werden. Aber das Denken steht beim Handeln nicht im Vordergrund und ist oft sogar störend. Dies gilt besonders, wenn wir intensiv oder krampfhaft auf das Ergebnis unseres Handelns, das wir anstreben oder fürchten, fixiert sind, weil wir vielleicht versagen könnten.“ Demnach ist oft die Maxime „Just do it!“ sehr sinnvoll.


Kapitel 9: Wahrnehmung, unabhängige Existenz und das buddhistische Selbst
In diesem Kapitel untersucht Nâgârjuna die Doktrin, dass eine Entität bereits vor der Wahrnehmung existiert, also dass jemand schon da ist, bevor die Sinnestätigkeiten wie Sehen, Hören, Fühlen usw. in Funktion sind.[27] Auch die Sinnesorgane werden dabei als selbstständige Entitäten betrachtet. Dies war die Vorstellung der vorbuddhistischen Inder, der Upanishaden. Sie glaubten an einen ewigen unveränderlichen Wesenskern, das âtman-Selbst, das unverändert durch sehr viele Wiedergeburten wandert und dann jeweils neu die entsprechenden Sinnestätigkeiten ergreift.

Aber auch im Buddhismus entwickelten sich ähnliche Doktrinen, zum Beispiel der Substantialismus der Sarvastivadins. Diese hielten zwar an Buddhas Lehre fest, dass der Mensch insgesamt veränderlich und ohne âtman sei, aber sie behaupteten, dass die Elemente der Welt und des Menschen, die Dinge und Phänomene (Dharmas), unveränderlich und ewig seien. Auch die fünf Komponenten des Menschen, die Skandhas (körperliche Form, Empfindung, Denken, formende und prägende Kräfte sowie Handeln und Bewusstsein), und die anderen Dharmas der Sinnestätigkeiten seien ewig und nicht veränderlich. Das Grundmodell dieser Doktrin ist letztlich auch, dass der wesenhafte Kern des Menschen bei der Wiedergeburt die verschiedenen spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten für das jeweilige neue Leben ergreift. Durch ethisch schlechtes Handeln (Karma) erlange er eine schlechte Wiedergeburt und durch ethisch gutes Handeln entsprechend eine gute Wiedergeburt.

Diese Doktrin war verbunden mit dem Glauben an eine unveränderliche Substanz (svabhâva) der Dharmas, die mit unseren Sinnesorganen nicht wahrzunehmen, also unsichtbar sei. Demnach wäre ein solcher substantialistischer Kern der Dinge und Phänomene schon vorher da, und erst danach würden die jeweiligen Eigenschaften und Fähigkeiten des Sehens, Hörens, Fühlens usw. hinzukommen.

Der wahre Buddhismus lehnt den Glauben an einen unveränderlichen âtman oder eine ewige Substanz jedoch ab und bietet gerade keine scheinbar einfache Lehre für die Wiedergeburt und das „Ergreifen“ der Wahrnehmung an. Dementsprechend kritisiert Nâgârjuna die substantialistische Doktrin ganz entschieden und destruiert sie in diesem Kapitel mit philosophischer Präzision, indem er die inneren Widersprüche deutlich aufzeigt. Dabei untersucht er, ob es nach der authentischen buddhistischen Lehre möglich ist, dass ein irgendwie geartetes unabhängiges substantialistisches Dharma oder Selbst von den wichtigen Sinnesfunktionen getrennt existieren kann, um sich dann auf irgendeine metaphysische Weise mit ihnen zu verbinden.

Ohne Frage haben Menschen schon immer die Sehnsucht nach einem Wesenskern gehabt, der von Natur aus eigentlich rein, unbefleckt und möglichst unveränderlich ist, allerdings aber im Lauf des Lebens durch falsches Denken und Handeln „Befleckungen“ aufweist. Was sagt der Buddhismus dazu?

Solche Doktrinen stimmen mit Buddhas Lehre nicht überein. Die Skandhas des Menschen entwickeln sich nach den bisherigen Untersuchungen in einem zeitlichen interaktiven Prozess wechselwirkend und dynamisch vernetzt. Buddha und Nâgârjuna nennen diese Vernetzung pratitya samutpada, „gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung“. Wir dürfen also nicht den Fehler machen, uns auf Extreme zu fixieren, zum Beispiel dass „etwas total existiert“ oder „etwas total nicht existiert“. Solche Extreme gehören zu einer Kategorie von metaphysischen Aussagen im Sinne eines logischen exklusiven „Entweder-Oder“. Beide extreme Ansichten lassen sich in der Wirklichkeit nicht finden und sind gedankliche und konzeptuelle Übertreibungen, mit denen man den Mittleren Weg verfehlt. Dies trifft auch auf die Doktrin vom Selbst und den Sinnesfunktionen als Entitäten zu. Solche Ideologien sind gefährliche Ursachen des menschlichen Leidens und wurden von Buddha im Sûtra für Kaccâna präzise destruiert. Nâgârjuna führt eine entsprechende Destruierung in den folgenden Versen durch.

Nâgârjuna zeigt in diesem Kapitel auf, dass es niemanden gibt, der unabhängig von seinen eigenen Wahrnehmungen und Komponenten (skandhas) existiert. Dies gilt sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart und Zukunft. Die Trennung und Unabhängigkeit der Sinneswahrnehmungen sowie der Empfindungen von einem ebenfalls unabhängigen Selbst erweist sich als ein Denk- und Glaubenskonstrukt, ein Fantasiegebilde und eine realitätsferne unbrauchbare Doktrin. Sie kann das Werden und Entstehen sowie die Wechselwirkung der Wahrnehmungen untereinander und mit dem lebenden Menschen als Prozess nicht sinnvoll erfassen. Die Befreiung und Emanzipation der Sinneswahrnehmungen von falschen und unheilsamen Ideologien und Dogmen sind von großer Bedeutung. Die Wirklichkeit der Sinneswahrnehmung muss ohne Ideologien erfahren und gedacht werden.


Kapitel 10: Brennstoff und Feuer – ein Gleichnis des wahren Lebens?
Die Extreme der absoluten Identität oder Differenz

Das Thema Feuer und Brennstoff hatte schon vor der Zeit Buddhas eine große Bedeutung für die Menschen in Indien und gab Anlass zu vielfältigen philosophischen Überlegungen, aber auch zu abstrakten Spekulationen. Feuer oder Wärme ist im Weltbild der alten Inder ein materielles Element. Dies mag uns überraschen, da wir uns unter Materiellem etwas Festes, Flüssiges oder Gasförmiges vorstellen, aber nicht Wärme, Feuer und Hitze. Gleichwohl ist Wärme auch aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht mit den materiellen physikalischen oder chemischen Prozessen der Oxidation verbunden.

Den physikalischen Prozess des Brennens und der Freisetzung von Hitze kann man wie folgt erklären: Die materielle Bindungsenergie des Brennstoffes oder Feuerholzes wird nach dem Anzünden in Wärme umgewandelt und zum Beispiel in die Luft abgegeben. Das heißt, durch die Trennung der in der Materie gebundenen Elemente wird deren Bindungsenergie freigesetzt. Die Masse bleibt beim Verbrennungsvorgang erhalten, und der Brennstoff wandelt sich in Asche und Gase um, die in die Luft entweichen. Hauptsächlich wird dabei Kohlendioxid frei.

Beim Brennen handelt es sich also um einen wechselwirkenden Prozess zwischen Brennstoff und umgebender Luft. Das Feuer brennt so lange, wie frischer Brennstoff vorhanden ist. Nur ein systemhafter Ansatz kann diese materielle Wirklichkeit einigermaßen zufriedenstellend beschreiben. Während die Lichtenergie, die beim Brennen abgegeben wird, direkt wahrgenommen werden kann, sind die entstehenden Gase für unsere Augen unsichtbar. Wenn fester Kohlenstoff als Verbrennungsrückstand in Form von Rauch abgegeben wird, ist er wiederum sichtbar. Ohne dieses heutige physikalische Verständnis, das den Indern noch nicht zur Verfügung stand, ist der Prozess des Verbrennens naturwissenschaftlich nicht zu verstehen, wenngleich er durchaus plausibel beschrieben werden kann.

Aus den obigen rein materiellen Überlegungen wird bereits deutlich, dass die naiven Aussagen, der Brennstoff sei total identisch mit dem Feuer oder total verschieden vom Feuer, ein unzureichendes und zu sehr vereinfachtes Modell des Gesamtsystems sind. Das Modell von Feuer und Brennstoff war einer der zentralen Beweise der Substantialisten für die absolute Trennung und Differenz von Dingen und Phänomenen, den Dharmas.[28] Hier setzt Nâgârjuna seine De-Konstruktion mit seiner typischen philosophischen Präzision an. Er untersucht in diesem Kapitel die beiden extremen damaligen Doktrinen der absoluten Differenz und der absoluten Identität, die Folgendes postulierten:

– Brennstoff und Feuer sind total identisch, und daher muss das Feuer im Brennstoff bereits vollständig enthalten sein, oder

– Brennstoff und Feuer sind total verschieden, getrennt und voneinander unabhängig.[29]

Dabei muss mitgedacht werden, dass das Feuer häufig mit dem âtman-Selbst der vorbuddhistischen Zeit gleichgesetzt und der Brennstoff auch mit dem Karma aus vorherigen Leben identifiziert wurde. Zweifellos handelt es sich beim Feuer und Brennen um komplexe und stark vernetzte Vorgänge, die Ähnlichkeiten mit lebenden Systemen haben. Trotzdem halte ich solche Analogien für grundsätzlich problematisch, wenngleich sie gerade im Volksbuddhismus immer wieder anzutreffen sind. Oft sind sie wenig geeignet oder sogar irreführend, um psychische, soziale, biologische und vor allem spirituelle Wechselwirkungen zu beschreiben.

Nâgârjuna baut seine Destruktion der falschen Lehre von Brennstoff und Feuer darauf auf, dass er sie zunächst aus der Perspektive der Substantialisten als konstante, unveränderliche und isolierte Entitäten beschreibt (bhâva). Die Substantialisten behaupteten, es gebe keine Übergänge zwischen den Entitäten: Helligkeit schlage unvermittelt und abrupt in Dunkelheit um. Nâgârjuna argumentiert mit dem Begriff der Leerheit und verneint eine substantialistische konstante und inhärente Entität, also eine unveränderliche Existenz im Feuer und Brennstoff. Zudem schlägt er die Brücke zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada), das in der Präambel des MMK als richtiger und authentischer Buddha-Dharma bezeichnet wird und zu einer klaren Sicht der Wirklichkeit und damit zu erfülltem und freudigem Leben führt.

Kurz gesagt destruiert Nâgârjuna anhand des Gleichnisses von Feuer und Brennstoff die Doktrin der konstanten unveränderlichen und jeweils getrennten Entitäten. Mit diesem Kapitel erarbeitet er eine wichtige Grundlage für die folgenden Analysen und Richtigstellungen. Brennstoff und Feuer sind vernünftigerweise nur als verbundener Prozess zu verstehen. Gerade für das Feuer und den Verbrennungsprozess sind sowohl phänomenologische Klarheit als auch die mögliche symbolische Bedeutung im Buddhismus von großer Wichtigkeit: Das Feuer verzehrt den Brennstoff, nachdem es einmal entzündet wurde, und zwar so lange, bis der Brennstoff aufgebraucht ist. Dieser Prozess legt zwar eine gewisse Analogie zum Leben nahe, die aber nicht überdehnt werden darf. Menschen leben nicht isoliert, sondern sind in dauernder Wechselwirkung mit anderen, mit der Umwelt sowie mit schriftlichen und mündlichen Informationen. Sie verändern sich dauernd, wie die aktuelle Gehirnforschung einwandfrei nachgewiesen hat. Das wechselwirkende gemeinsame Entstehen bezeichnen Buddha und Nâgârjuna als bestmögliche Beschreibung und bestmögliches Verständnis der Wirklichkeit. Dem folge ich.

Nâgârjuna untersucht auch, welche Verbindungen und Trennungen zwischen verschiedenen Dingen und Phänomenen, den Dharmas, vorkommen und welcher Ansatz dabei unsinnig und welcher wirklichkeitsnah ist. Auf dieser Grundlage gilt es zu untersuchen, was Buddhas Ablehnung der Aussagen „etwas existiert“ oder „etwas existiert nicht“ bedeutet. Diese beiden Extreme werden als realitätsfremd charakterisiert. „Etwas existiert“ würde bedeuten, dass es als Entität aus sich selbst entstanden, unverändert, unabhängig von allem anderen existiert und sich nicht in Wechselwirkung mit irgendetwas anderem befinden würde. Diese Doktrin der Sarvastivadins lehnte Nâgârjuna ab.

„Etwas existiert nicht“ bedeutet, dass ein Ding oder Phänomen, das wirklich beobachtet werden kann, aus dem Nichts oder etwas ganz anderem entstanden sein müsste und wieder total und abrupt im Nichts verschwinden würde. Diese Doktrin der Sautrantikas behauptete total abgegrenzte zeitlich aufeinander folgende Ereignisse (Momentanismus), um damit Veränderungen und Prozesse im Zeitverlauf zu beschreiben. Das Problem dabei war, die Verbindung zwischen diesen Ereignissen phänomenologisch zu begründen. Die Sautrantikas postulierten deshalb irgendeine Essenz der Verbindung, die nicht sichtbar, aber doch wirksam sei. Diese Doktrin darf nicht mit der Lehre des Augenblicks im Zen-Buddhismus verwechselt werden.

Nâgârjuna baut auf vorherigen Kapiteln auf, wobei in Kapitel 10 des MMK die Verbindung von Dharmas oder Objekten im Mittelpunkt steht. Neben der Verbrennung führt er das Sehen als System auf, das er bereits untersucht hat. Es besteht aus dem Objekt, dem Sehprozess als solchem und dem Seher, also dem Menschen, der sieht. Wenn diese Bereiche als Entitäten aus sich selbst entstanden, unabhängig und unveränderlich wären, würde es zwischen ihnen keine Verbindung geben. Man könnte dann nicht von einem wechselwirkenden System reden.

Diese Dreiheit von Subjekt, Objekt und Prozess zeigt Nâgârjuna exemplarisch auch für andere Bereiche auf. Dabei betont er, dass etwas nur verbunden werden kann, was nicht total identisch ist. Es könne aber auch keine totale Verschiedenheit oder Differenz zwischen Subjekt und Objekt und Phänomenen geben. Er analysiert hier das Grundproblem der Philosophie von Identität und Differenz und macht deutlich, dass das Prinzip der Wechselwirkung in der Lage ist, dieses angebliche philosophische Paradox der Wirklichkeit aufzulösen.

Nishijima Roshi bemerkt zu diesem Kapitel: „Das Feuer hat für das praktische Leben der Menschen seit seiner Kultivierung eine sehr große Bedeutung, zum Beispiel für die Zubereitung des Essens, beim Kochen und Braten. Dadurch konnte die Ernährung der Menschen schon in archaischen Zeiten wesentlich verbessert werden. In kalten Regionen wurde das Feuer darüber hinaus zum Heizen verwendet. In der frühindischen Religion spielt der Feuergott eine große Rolle, und die Feuerzeremonien, die von den Brahmanen ausgeführt wurden, hatten zentrale Bedeutung für das religiöse Leben und den Glauben.“ Nach Nishijima sind damit drei fundamentale Bedeutungsfelder des Feuers angesprochen: erstens das Feuer als konkretes materielles Element, zweitens seine Funktion für den Menschen und drittens, nicht minder wichtig, die Abstraktion und Vorstellung sowie der Glaube und die Doktrin, was etwa bei den Feuerzeremonien deutlich wird.

Mit diesem Kapitel schließt Nâgârjuna seine Untersuchungen zur absoluten Identität und Differenz ab, wobei er die falsch benutzte Metapher von Feuer und Brennstoff destruiert. Die Extreme der Identität oder Differenz sind zur Beschreibung und Erklärung der Wirklichkeit nicht geeignet, und sie führen zu Ideologien und Fundamentalismus. Durch religiöse Absicherung können daraus unethische Privilegien der Macht- und Religionseliten zementiert werden. Dies galt zum Beispiel für die „heilige“ Sanktionierung des Kastensystems und die Privilegien der Brahmanen im vorbuddhistischen Ariertum der Inder.

Aber auch heute sind die Extreme von dogmatischer Identität und Differenz weit verbreitet. Sie verhindern genaue phänomenologische Untersuchungen und Erkenntnisse, die für ein gelungenes Leben nützlich, wenn nicht erforderlich sind. Dafür benötigen wir das Verständnis des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung (pratitya samutpada).


Kapitel 11: Anfang und Ende – Geburt, Leben und Tod
Der Tod, also das Ende dieses Lebens, wird in der modernen westlichen Welt weitgehend tabuisiert. Man empfindet ihn meist als größte Katastrophe des Lebens überhaupt, wenn er wirklich eintritt. Nur in den virtuellen Scheinwelten der Massenmedien wie Film, Fernsehen und Playstation dienen Mord und Sterben der alltäglichen Unterhaltung; sie werden verfremdet, verharmlost, optisch aufwendig gestaltet. Das ermöglicht es der westlichen Wohlstandsgesellschaft offenbar, die Auseinandersetzung mit dem realen Tod zu vermeiden.

Kann die Lehre Gautama Buddhas Lösungen anbieten, die das mit dem Sterben und Tod verbundene psychische und physische Leiden überwinden oder zumindest erträglich machen? Das Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und der Lebensängste war eine zentrale Schicksalsfrage des jungen Gautama, die ihn schließlich sein angenehmes und wohlhabendes Leben beenden und in die sogenannte Hauslosigkeit gehen ließ. Er wollte die Wahrheit der Erleuchtung finden. Nach intensiver, aber letztlich erfolgloser vedischer Meditation sowie vielen Jahren härtester Askese wurde ihm klar, dass diese beiden Wege nicht weiterführten: weder der religiöse Idealismus der damaligen Zeit noch die körperzentrierte Askese. Das Ziel der damaligen Meditation war es, Allwissenheit wie Brahman zu erlangen.[30] Da dieses Ziel für einen Menschen nicht erreichbar ist, musste die gesamte Meditation scheitern. Buddha hat dann das erreichbare Erwachen als pragmatisches Lebensziel erkannt und nicht zuletzt durch seine neue Lehre und Praxis der Menschheit neue Möglichkeiten eröffnet. Verkürzt kann man sagen: Buddha empfahl statt der unerreichbaren Allwissenheit die realisierbare Befreiung und Erleuchtung in diesem Leben.

Wie verlässlich berichtet wird, erlangte er die große Erleuchtung und Befreiung der Überwindung des Leidens, als er in der Morgendämmerung den Morgenstern erblickte. Oder erblickte der Morgenstern Gautama Buddha? Denn die Auflösung des Dualismus von denkendem Geist und externen Denkobjekten ist wesentlich für seinen radikal neuen Entwicklungsweg der Befreiung. Dieser Weg vermeidet alle Extreme, die immer doktrinär überzogen sind und damit die Wirklichkeit und das Handeln verzerren und verstellen. Die Allwissenheit und die absolute Wahrheit sind zum Beispiel solche Extreme, die auch im MMK abgelehnt werden.

Extreme wie überzogene Doktrinen zum absoluten Anfang und absoluten Ende untersucht Nâgârjuna in diesem Kapitel. Er geht den Fragen nach, was es mit dem Anfang und Ende von Dingen und Prozessen in der Welt auf sich hat und was wir über den Anfang und das Ende des Menschen wissen. Dabei falsifiziert er unbrauchbare buddhistische Doktrinen seiner Zeit, die substantialistische Verdinglichungen und Entitäten beinhalten und den wechselwirkenden Prozessen des Lebens und des Universums nicht gerecht werden können. Bereits Buddha hatte klar gesagt, dass der absolute Anfang und das absolute Ende nicht erforschbar seien und es wenig Sinn mache, sich zu viel damit zu beschäftigen und so den eigenen Geist nutzlos einzusetzen. Später wurde diese Aussage Buddhas durch eine ungenaue Übertragung aus dem Pali in Sanskrit so verändert, dass sie lautete, es gebe keinen Anfang und kein Ende. Es muss also statt „Anfangslos ist die Welt“ richtig heißen: „Der Anfang der Welt kann nicht erfasst werden.“

Nâgârjuna arbeitet heraus, welche unsinnigen Konsequenzen sich aus der Annahme von substantialistischen Entitäten oder isolierten, unverbundenen Dingen ergeben.[31] Dann hätten diese jeweils ein eigenes ewiges Wesen, es gäbe auch keine Mitte und kein Jetzt, keinen gegenwärtigen Augenblick und keine Sein-Zeit, denn dabei sind prozesshafte Veränderungen maßgebend. Daher bedarf es auch im Buddhismus mutiger Reformatoren, die zu neuen Ufern der Menschlichkeit aufbrechen. Für mich ist Gautama Buddha wie kaum ein anderer ein solcher großer Mensch und wahrer Humanist. Nâgârjuna und Dôgen führen diese Arbeit fort und bringen sie in unsere moderne Zeit.
Alter und Tod sind Wirklichkeiten in dieser Welt, die nicht wegdiskutiert werden können und bei allen philosophischen Untersuchungen als Realität vorauszusetzen sind. Besonders große Ängste vor dem Tod sind bei Menschen zu beobachten, die am Ende ihres Lebens den Eindruck haben, dass sie zu wenig aus ihrem Leben gemacht und zu wenig gehandelt haben. Wenn dagegen aufgrund eigener Aktivitäten bestimmte Fehler entstanden sind, wird dies im Allgemeinen weniger negativ empfunden, als wenn man vielfältige Chancen nicht genutzt hat. Leider zielt die finanzstarke Unterhaltungsindustrie der Massenmedien oft genau darauf ab, durch spannungsreiche Darstellungen die Langeweile und Einsamkeit vieler oft alter Menschen scheinbar zu vertreiben. In den letzten Jahren sind zusätzlich die angeblich sozialen digitalen Netzwerke hinzugekommen, die weitgehend sinnentleerte Informationen beinhalten und die Isolation gerade älterer Menschen weiter verschärfen.[32]

In diesem Kapitel warnt Nâgârjuna vor spekulativen und oft Angst auslösenden Gedanken über das Altern und Sterben. Er destruiert absolutistische Doktrinen, die einen absoluten Anfang des Lebens postulieren, ohne dafür plausible Gründe oder Beweise anzugeben. Der naive Glaube an die Wiedergeburt ist in diesem Zusammenhang auch heute in manchen esoterischen Gruppen anzutreffen: Viele behaupten zum Beispiel, die Wiedergeburt von berühmten Persönlichkeiten wie Kleopatra oder Alexander dem Großen zu sein. Buddha und Nâgârjuna empfehlen aber eindeutig, sich nicht mit solchen Spekulationen und doktrinären Fantasien zu beschäftigen. Wenn endloses Grübeln den eigenen Geist beherrscht und verdunkelt, bleiben nämlich die Pragmatik des Lebens, die Lebensfreude, die Überwindung des Leidens und die Befreiung zu einem glücklichen Leben auf der Strecke.


Kapitel 12: Leiden und Schmerzen sind nicht dauerhaft und können zur Ruhe kommen
Die Überwindung von Leiden und Schmerzen ist ohne Zweifel die wichtigste praktische Lehre Gautama Buddhas und von größter Bedeutung in der Geschichte der Menschheit.[33] Aus der Überwindung können wir unsere Freiheit, Kreativität und unser Erwachen entwickeln. Aus meiner Sicht ist Buddhas Lehre der erste große Schritt zu einer humaneren Lebenswelt. In den berühmten Vier Edlen Wahrheiten wird in einer klaren Sprache vermittelt, dass das Leiden in dieser Welt eine oft bedrückende Wirklichkeit ist, die zwar nicht wegdiskutiert werden kann, aber das Leiden kann zur Ruhe kommen und überwunden werden.

In den vier Schritten zur Wahrheit werden zunächst die Hauptbereiche des Leidens geschildert, danach folgen die grundsätzlichen Aussagen zum Entstehen und die Anleitung, wie das Leiden überwunden werden kann. Im Achtfachen Pfad beschreibt Buddha schließlich im Einzelnen in acht Gliedern und Prozessen, wie wir den Weg aus dem Leiden und den Schmerzen gehen können. Dabei lautet eine typische Formulierung des ersten Glieds, dass wir die rechte Sichtweise haben sollten, und im achten Glied, dass wir die rechte Meditation und Vertiefung praktizieren sollten. Der Begriff „recht“ hat hierbei zwei zentrale Aspekte: Zum einen geht es darum, korrekt, sachgerecht und richtig zu handeln, und zum anderen, dass das Handeln ethisch einwandfrei ist. Denn ohne Ethik und Moral gibt es nach Buddha keine Überwindung des Leidens, keine Erleuchtung und keine Befreiung.

Die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad sind als Lern- und Emanzipationsprozess formuliert. Und es handelt sich ja zweifellos um einen fundamentalen Lernprozess für die Menschen, aus oft unnötigen und selbst erzeugten Leiden herauszukommen und schließlich Erleuchtung zu erlangen. Gautama Buddha erklärt, dass dies im jetzigen Leben grundsätzlich für jeden möglich sei. Besonders aufschlussreich ist zum Beispiel sein Gleichnis, das von einem Massenmörder handelt, der in die Sangha eintritt und durch ausdauernde Praxis und Schulung tatsächlich Erleuchtung erlangt.

Mit dem Achtfachen Pfad möchte Buddha meines Erachtens deutlich machen, dass es unbedingt notwendig ist, eine gründliche Selbstanalyse von Körper, Gefühlen, Geist und Psyche durchzuführen. Ein guter Lehrer oder Therapeut kann hierbei natürlich sehr hilfreich sein. Nach meinem Verständnis ist es erst im Einklang mit einer solchen Selbstanalyse überhaupt möglich, Klarheit über sich selbst und die Welt zu erlangen. Im Buddhismus gelten keine dogmatischen moralischen Regeln, die eventuell sogar mit Gewalt durchgesetzt werden, sondern es bedarf einer gründlichen, möglichst vorurteilsfreien und konzeptfreien Betrachtung von sich selbst, die in einem immer feiner werdenden Lernprozess die nötige Transparenz ermöglicht. Sie ist die wesentliche Voraussetzung für klares ethisches Verhalten, für rechtes und verantwortungsvolles Denken, Handeln und Reden. Dafür müssen wir aus egoistischer Verhärtung und narzisstischer Isolierung herauskommen, denn negative Bewertungen und Vorurteile erzeugen meist Starrheit und Unbeweglichkeit sowohl anderen als auch sich selbst gegenüber (Näheres zu den Vier Edlen Wahrheiten und zum Achtfachen Pfad siehe Hauptkapitel 2 im vorliegenden Band, Unterkapitel „Worte des Erwachten“).

Häufig hört und liest man, der Buddhismus würde lehren, dass alles, also unser ganzes Leben, Leiden sei und dass wir uns in angeblich glücklichen Augenblicken nur einbilden, wirklich glücklich zu sein. Dies seien aber alles nur oberflächliche Illusionen. Ich bin dagegen der festen Überzeugung, dass der Buddhismus eine optimistische, praktische Philosophie ist, die vor allem soteriologische und therapeutische Wirkungen entfaltet. Buddha hat im Sûtra für Kaccâna (siehe Hauptkapitel 2, Abschnitt „Worte des Erwachten“) ganz klar gesagt, dass die Extreme „Etwas existiert“ oder „Etwas existiert nicht“ wenig sinnvoll und nicht realitätsgerecht sind, beide Extrem-Aussagen seien für den buddhistischen Weg unbrauchbar. Die Aussage „Alles ist Leiden“ ist aus meiner Sicht ebenfalls eine solche Extrem-Aussage, die genauso falsch ist wie die Aussage „Das Leiden ist das Nichts“. Sie wird daher auch von Nâgârjuna für die praktische Mittlere Philosophie und den Mittleren Weg grundsätzlich abgelehnt.

Der Mittlere Weg meidet alle Extreme, die ideologisch verzerrt und überzogen sind, und entwickelt gerade dadurch seine große Nähe zur Wirklichkeit und Wahrheit. Extreme Ideologien und Doktrinen unwirksam zu machen, ist aus meiner Sicht eine ganz wesentliche Bedeutung des Begriffs Leerheit. Nâgârjuna bezieht sich nachdrücklich auf die Vermeidung von Extremen und empfiehlt den Mittleren Weg, der Voraussetzung für ein gelungenes Leben sei, große Kräfte entwickle und zur Erleuchtung führen könne.

Nishijima Roshi ergänzt zum Thema Leiden: „Der Begriff des Leidens hat ein weites Spektrum von Bedeutungen. Er bezeichnet zum einen physisches Leiden, zum Beispiel körperliche Schmerzen bei Verletzungen oder Krankheiten oder sogar absichtlich zugefügte Schmerzen bei der Folter.“ In diesem Zusammenhang möchte ich noch Vergewaltigungen und Kindesmissbrauch nennen. Besonders in der modernen westlichen Welt gäbe es zudem sehr schwere psychische Leiden, die eigentlich keine körperliche Ursache hätten, so Nishijima. Sie könnten durch den Stress, die ruhelose Hektik und Einsamkeit des modernen Menschen entstehen. Oft handle es sich um unerklärbare Ängste vor Gefahren, die kaum konkret bestimmt werden könnten. Für einen Außenstehenden sei es häufig kaum nachvollziehbar, warum diese psychischen Leiden so virulent seien. „Besonders seelisch-psychisches Leiden und große Schmerzen können gewaltige negative Kräfte entwickeln, die für den leidenden Menschen an die Grenzen des Ertragbaren gehen können“, fasst er zusammen.

„Der Mittlere Weg ist wesentlich mit der einzigartigen Praxis des Zazen, also des Samâdhi im frühen Buddhismus, und den Sûttas Gautama Buddhas verknüpft. Wer das Gleichgewicht der Zen-Meditation realisiert, kann sein Leiden im Leben ganz wesentlich verringern“, betont Nishijima. Schon Buddha habe mit dem Weg der Vier Edlen Wahrheiten die klare Richtung vorgezeichnet, wie das Leiden erkannt, lokalisiert und überwunden werden könne. Nicht zuletzt darin liege die große Kraft des Buddhismus. Dieser Weg sei sehr konkret und eigentlich eher therapeutisch und nüchtern: „Er ist frei von Mystifizierungen und magischen Täuschungen und Beschwörungen.“

Nâgârjuna behandelt das Problem des Leidens und der Schmerzen im MMK verhältnismäßig kurz und kompakt. Es geht ihm vor allem darum, die weitgehend unbrauchbaren oder sogar falschen Annahmen einiger buddhistischer Doktrinen seiner Zeit genauer zu analysieren. Dazu zählt hauptsächlich der Substantialismus, der davon ausgeht, dass die Dinge und Phänomene (Dharmas) einen unveränderlichen und sogar ewigen Kern, also eine Substanz, haben. Diese Substanz soll zwar irgendwie geworden und entstanden sein, aber sie wird als konstant, unveränderlich und isoliert von anderem angenommen. Da ein solches Substanzmodell der Dharmas und sogar des Menschen wegen der fehlenden Wechselwirkung mit anderen sehr abstrakt und wirklichkeitsfremd ist, kommt Nâgârjuna zu dem Schluss, dass mit diesem Ansatz das Leiden überhaupt nicht sinnvoll erkannt und nicht überwunden werden kann: Wenn der Kern oder die Substanz des Menschen unveränderlich wäre, dann wäre auch sein Leiden unveränderlich und hätte Substanzcharakter. Leiden und Schmerzen wären unheilbar und könnten nicht zur Ruhe kommen. Das kann aber bei genauer Analyse in der Wirklichkeit nicht beobachtet werden.

Nâgârjuna untersucht in diesem Kapitel des MMK detailliert die möglichen Varianten, die sich aus der Doktrin des Substantialismus ergeben können, und zeigt auf, dass sich alle als unsinnig erweisen. Ihnen stellt er die zentrale Botschaft Buddhas gegenüber, nämlich dass wir uns in Wechselwirkung unserer eigenen Komponenten, mit anderen Menschen und der Umgebung aus Schmerz und Leiden befreien können. Das ist der wirkungsvolle emanzipatorische und therapeutische Weg Buddhas. Er kann aber nur wirklich begangen werden, wenn wir die Doktrinen und Weltanschauungen getrennter isolierter Entitäten oder Substanzen aufgeben und das in der Präambel vorgestellte gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung klar erkennen und zur Grundlage unseres eigenen Lebensweges machen, unseren Geist und unsere Psyche also von unheilsamen Dogmen und Doktrinen befreien. Diese Befreiung und Emanzipation bezeichnet Nâgârjuna als Leerheit.

Das Leiden und der Schmerz können weder verstanden werden noch zur Ruhe kommen, wenn die Doktrin von isolierten, unveränderlichen und substantialen Entitäten angewendet wird. Vielmehr muss die Lehre des gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens zugrunde gelegt werden.

Nâgârjunas Beweisführung gilt nicht nur für Leiden und Schmerzen, sondern generell für unser Leben, alle Lebewesen, das Seiende sowie alle Dinge und Phänomene dieser Welt, die ebenfalls durch wechselwirkendes Entstehen gekennzeichnet sind. Nichts kann ohne kausale Verknüpfungen bzw. veranlassende Impulse, die sich in Wechselwirkung befinden, entstehen oder gemacht werden.

In diesem Kapitel analysiert Nâgârjuna die zentrale Botschaft vom wirkungsvollen emanzipatorischen und therapeutischen Weg Buddhas. Dieser Weg ist aber nur wirksam, wenn wir die Doktrinen und Weltanschauungen getrennter isolierter Entitäten aufgeben und die in der Präambel des MMK vorgestellte Lösung des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung realisieren. Nishijima Roshi formuliert dies so: „Der Mittlere Weg ist mit der einzigartigen Praxis des Zazen, also des Samâdhi im Zen, verknüpft. Wer das Gleichgewicht der Zen-Meditation realisiert, kann sein Leiden im Leben ganz wesentlich verringern.“ Das gelte für die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad. „Darin liegt nicht zuletzt die große Kraft des Buddhismus. Dieser Weg ist sehr konkret und eigentlich eher therapeutisch und nüchtern. Er ist frei von Mystifizierungen, magischen Täuschungen und Beschwörungen.“


Kapitel 13: Formende Kräfte, Verhaltensmuster, Prägungen und die Leerheit von unheilsamen Doktrinen
Erstarrte, unheilsame und doktrinäre Verhaltens- und Denkmuster führen zu Unfreiheit und Leiden. Wir müssen sie also überwinden, zur Ruhe kommen lassen und zur Leerheit gelangen.[34] Diese Leerheit eröffnet uns den Zugang zum Befreiungsweg der Mitte, wie Nâgârjuna es sagt.[35] Die Mitte bedeutet unser Gleichgewicht in der Dynamik des Lebens, das sind unser guter Flow und die Überwindung von Extremen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Aber das ist sicher einfacher gesagt als verwirklicht. Viele Menschen identifizieren sich sogar mit ihren Vorurteilen, Mustern und eigentlich unheilsamen formenden Kräften und meinen, diese seien ihr Wesen, ihre Persönlichkeit.

In diesem Kapitel des MMK geht es um Verhaltensmuster, Prägungen und formende psychische und geistige Kräfte sowie deren Veränderung, es geht um Wandel und vor allem um Befreiung von Fixierungen. Damit erarbeitet Nâgârjuna wichtige Grundlagen für die weiteren Analysen im MMK, wie das Leiden zur Ruhe kommen kann, wie festgefahrene restriktive Muster und hemmende Strukturen von Psyche und Geist überwunden werden und Körper, Geist und Psyche zu neuem Leben und zum Heilsamen verändert werden können. Denn im Buddhismus gibt es die klare Wahrheit, dass sich alles verändert, im Wandel ist und dass es nichts Dauerhaftes, Absolutes und Ewiges gibt. Unveränderliches existiert nur in Doktrinen, Ideologien und unheilsamen Sichtweisen, aber nicht in der erlebbaren Wirklichkeit. Auch wenn Idealisten und Romantiker dies vielleicht bedauern mögen, ich verstehe es als Chance und Hoffnung.

Die ständig stattfindenden Veränderungen gelten nicht nur für Lebewesen, sondern auch für Materie. Wir wissen, dass unsere Erde etwa sechs Milliarden Jahre alt ist und sich dauernd verändert. Nach heutiger Forschung gibt es seit mindestens etwa drei Milliarden Jahren Lebewesen auf der Erde und seit rund 700 Millionen den wichtigen Botenstoff Serotonin, der wesentliche Funktionen der Lebewesen  – vor allem des Gehirns – steuert.

Zu den sehr schellen Veränderungen der Erde gehören nicht nur Vulkanausbrüche, Wärme- und Kaltperioden, sondern auch Katastrophen wie Sturmfluten, Tsunamis, Hurrikans oder Einschläge von Meteoriten. Jeder, der die Welt beobachtet, wird zustimmen, dass es auch über längere Zeitperioden immer zu Veränderungen kommt. Beim Menschen können es zum Beispiel Veränderungen zum Schlechteren, etwa Krankheiten, Trennungen, depressive Phasen oder Verarmung sein, es können aber auch Veränderungen zum Besseren geschehen, beispielsweise durch Lernprozesse, Befreiungsprozesse, materiellen Fortschritt, eine neue gute Partnerschaft oder Genesung von einer schweren Krankheit. Es ist einleuchtend, dass es keine dauerhaften unveränderlichen Existenzen in der realen Welt geben kann, weder bei der Materie noch bei den Lebewesen. Hier unterscheidet sich der Buddhismus von den westlichen Philosophien, die unveränderliche Ideen (Platon) oder das unveränderliche Sein in den Mittelpunkt der geistigen Analysen stellen.

Wenn man an eine ideelle oder religiöse Andersartigkeit glaubt, zum Beispiel einen Gott, den Aristoteles den „Unbewegten Beweger“ nennt, gäbe es eine dauerhafte Existenz. Im Brahmanismus gilt die ewige Unveränderlickeit vor allem für Brahman und Âtman. Buddha und Nâgârjuna konzentrieren sich jedoch auf die Welt der Beobachtungen und auf die Erfahrungen unseres Lebens, in dem es eben keine dauerhafte unveränderliche Existenz und keinen plötzlichen totalen zeitlichen Abbruch der Phänomene und Prozesse gibt, sondern das Entstehen in Wechselwirkungen. Um diese genau zu beobachten und zu erfahren, bedarf es der geschulten Achtsamkeit. Sie ist gewissermaßen die Richtschnur und wichtige Methode der eigenen Entwicklung und Befreiung. Die Frage ist nun, wie wir unser Leben emanzipativ und therapeutisch gestalten können, um Hemmnisse zu überwinden und die Prozesse des Erwachens zu beleben und zu aktivieren.

Nâgârjuna behandelt in diesem Kapitel grundlegende Zusammenhänge von psychischen und geistigen Mustern (in Sanskrit samskâra), die mit den formenden Kräften unseres Lebens zusammenwirken, die Chancen der Veränderung und Emanzipation eröffnen und einengende Doktrinen zur Ruhe kommen lassen. Dabei wird zum ersten Mal im MMK direkt auf die Leerheit verwiesen, die Freiheit von fixierenden unheilsamen Verhaltensmustern bedeutet.

Nishijima Roshi sagt dazu: „In Chinesisch und Japanisch wird dieser wichtige Sanskritbegriff samskâra durch ein Zeichen repräsentiert, das Handeln oder Tun bedeutet.“ Ähnliches wird im Wörterbuch Sanskrit – Englisch von Monier-Williams für den verwandten Sanskritbegriff aufgeführt, nämlich die Bedeutungen zusammenfügen, gut formen, perfekt machen, vervollständigen, schmücken, reinigen, fertigmachen, vorbereiten usw.[36] „Damit wird deutlich, dass dieser Begriff ganz eng mit dem wirklichen Handeln zusammenhängt. Er unterscheidet sich damit von abstrakten Vorstellungen und Konzepten oder einem losgelösten Geist. In diesem Kapitel geht es um den Zusammenhang der subjektiven Existenz mit den vielfältigen Gegebenheiten der Dinge und Phänomene und mit dem augenblicklichen Handeln in der wirklichen Welt im gegenwärtigen Augenblick“, erläutert Nishijima und unterstreicht: „Ich habe daher den Begriff „wirkliches Handeln“ als Übersetzung für das Wort samskâra gewählt. Für mich ist damit das wirkliche Handeln in der wirklichen Welt im gegenwärtigen Augenblick bezeichnet.“ Das wirkliche Handeln sei als Schnittstelle zwischen dem subjektiven Erleben und der heterogenen Welt zu verstehen. Und das wirkliche Handeln in der Realität könne sich nur vollziehen, wenn wir im Gleichgewicht des Mittleren Weges seien.

Aus meiner Sicht sollte das Handeln und Verändern festgefahrener Verhaltensmuster für das Verständnis des Begriffes samskâra in den Mittelpunkt gerückt werden: Unheilsame und fixierte psychische und geistige Muster sollen verlernt und in heilsame „umgelernt“ werden. Diese Bedeutung halte ich für umfassender als die bisher häufig gebräuchlichen Übersetzungen wie „Tatabsichten“, „Zusammensetzungen“, „Dispositionen“, „Bestimmungen“ oder „Veranlagungen“, weil das Tun und Handeln sowie deren wirkliche Steuerung zentrale befreiende Komponenten unseres Lebens sind. Demgegenüber sind Absichten und Bestimmungen im besten Fall die Teil-Ursachen für das Handeln, aber nicht die ganze Wirklichkeit des Handelns selbst. Peter Gäng verwendet den Begriff „formende Kräfte“, der auch für mich überzeugend ist.[37] Ich möchte den Ausdruck „formende Kräfte und Handeln“ verwenden, aber auch weitere Begriffe wie „Prägungen“ und „Handlungsmuster“ benutzen.

Aus der Gehirnforschung haben wir heute recht gute Kenntnis über die entsprechenden Funktionen des neuronalen Netzes. Es handelt sich um Bahnungen, Teilnetze und sogar Module, die einerseits prägend sind und eine gewisse Dauerhaftigkeit haben, aber andererseits selbst durch Lernprozesse verändert werden können. Diese Erkenntnisse entsprechen nach meinem Verständnis ziemlich genau der Bedeutung des Begriffs samskâra.

Auch wenn im MMK der Bezug zu vielen Stellen aus den authentischen Reden und Schriften Buddhas erkennbar ist, so erwähnt Nâgârjuna im MMK nur ein einziges originales sutta von Buddha, das Kaccānagotta suttam – Buddhas Lehrrede zum Mittleren Weg und zur Vermeidung von Extremen (siehe Hauptkapitel 2 des vorliegenden Bandes, Abschnitt „Worte des Erwachten“). Der Mittlere Weg hat eine enge Beziehung zur Leerheit, um die es hier geht.[38] Dieses sutta hat also eine herausgehobene Bedeutung für das gesamte MMK, weshalb es sinnvoll und notwendig ist, diesen Text genau zu analysieren. Er enthält in sehr kompakter Form die wesentlichen Eckpunkte, an denen Nâgârjuna mit seiner Arbeit anknüpft.

Buddha erläuterte dem verehrten Kaccāna die beiden extremen Alternativen der Existenz und der Nicht-Existenz oder anders ausgedrückt: „Es ist“ oder „Es ist nicht“. Diese Extreme und unvereinbaren Positionen sowie deren Destruktion sind für die fulminante Lehre des Mittleren Weges von größter Bedeutung und wesentliche Grundlage des MMK. Beide Extreme sind in der Welt nicht erkennbar: „Existenz“ würde Dauerhaftigkeit und unveränderte Ewigkeit bedeuten, „Nicht-Existenz“ das Nichts. Das Nichts darf aber auf keinen Fall mit der Leerheit verwechselt werden, mit der Nâgârjuna das wechselwirkende gemeinsame Entstehen (pratitya samutpada) bezeichnet.

Buddha erklärte die Nicht-Existenz im ersten Teil des Sûtra und seiner Antwort für den jungen Kaccāna. Er legte dabei ein Weltbild der positiven Veränderungen und Prozesse und nicht der unveränderlichen Entitäten und Substanzen zugrunde. Dies nennt er die „rechte Erkenntnis des Entstehens in der Welt“. Die Sichtweise der Nicht-Existenz lehnte Buddha besonders im Hinblick auf das Entstehen eindeutig ab. Es ist also nicht sinnvoll zu sagen, es entsteht irgendetwas aus dem absoluten Nichts oder aus der Nicht-Existenz, denn in den Prozessen und Abläufen der Welt gibt es immer ein Vorher, aus dem sich das Nachfolgende entwickelt. Dies gilt vor allem beim wechselwirkenden Entstehen.

Bei allen Veränderungen im Verlauf der Zeit dürfen wir jedoch die herausragende Bedeutung des Augenblicks und des Jetzt für unser Erleben und Erfahren nicht aus den Augen verlieren. Die unmittelbare Wirklichkeit ist uns im Augenblick zugänglich, und besonders beim wahren Handeln und in der Meditation ohne Vorstellungen von Gegenständen, Gedanken und Doktrinen, also im Chan- und Zen-Buddhismus. Zusammenfassend kann man sagen: Die Klarheit und Weite des Augenblicks als Zeitpunkt und der zeitliche Prozess der Veränderungen lassen sich nicht trennen. Oder anders ausgedrückt: Der wahre Augenblick gibt den lebenden Impuls für Veränderungen und die Emanzipation des Menschen auf dem Befreiungsweg, wie Buddha überzeugend selbst erfahren und gelehrt hat.

Augenblick und zeitlicher Prozess gehören zusammen und bedingen sich in Wechselwirkung. Daher spricht Dôgen von vier verbundenen Zeiten der höchsten Weisheit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Augenblick.[39] In der Klarheit des Augenblicks unterscheiden sich verschiedene Menschen radikal. Die große umfassende Klarheit kann man mit dem Erleuchtungserlebnis, dem Erwachen oder Hellblick gleichsetzen. Ohne Klarheit im Augenblick gibt es keine Klarheit im Leben.
Aus der Gehirnforschung wissen wir, dass unsere Erinnerung nicht wie die unveränderliche Speicherung beim Computer funktioniert. Die reaktivierten menschlichen Informationen der erinnerten Vergangenheit werden je nach Zustand von Körper-und-Geist-und-Gefühlen im Augenblick wieder abgespeichert, sie werden gewissermaßen jeweils gefärbt und verändern sich eventuell deutlich im Lauf des Lebens: Wer mit einem Geist des Ingrimms und Hasses etwas erinnert, verändert damit das Erinnerte selbst immer mehr zum Negativen. Auch das Umgekehrte kann man häufig beobachten: Die gute alte Zeit und das damalige Erleben, das sicher nicht vollständig angenehm war, werden im Lauf des Lebens immer goldener. Aber wenn man diese Verhaltenweisen und Funktionen unseres Gehirns kennt, kann man mit gründlicher Reflexion und Selbstreflexion wirkungsvoll gegensteuern.

Die formenden Kräfte des Geistes und der Psyche sind also eng mit unseren Weltanschauungen und Doktrinen verbunden. Unheilsame formende Kräfte führen zwangsläufig ins Leiden. Nâgârjuna erläutert nun, wie das wahre und falsche Verständnis dieser Kräfte unterschieden werden können.

Nâgârjuna zieht in diesem Kapitel die Schlussfolgerung, dass Leerheit der maßgebliche Begriff für das wechselwirkende gemeinsame Entstehen und die formenden Kräfte von Geist und Psyche ist. Durch die Leerheit von falschen Prägungen und unheilsamen formenden Kräften kann sich der Zugang zur Emanzipation und zum Erwachen eröffnen. Daher steht die Leerheit für die Veränderlichkeit aller Dinge, Phänomene und Prozesse in dieser wirklichen Welt. Das Leere ist ohne täuschende Doktrinen sowie erstarrte Denk- und Handlungsmuster und für die formenden Kräfte besonders wichtig. Verkürzt ausgedrückt sagt Nâgârjuna, dass es die höchste Wahrheit ist, dass die Welt leer von der Doktrin einer absoluten Wahrheit ist: Absolute Doktrinen sind nicht wirklich, nicht leer und damit unwahr. Sie führen zum Schmerz und Leiden.

Wer die Veränderlichkeit ablehnt und eine dauerhafte unveränderliche Substanz, Essenz, Existenz, Entität oder die fiktive Wirklichkeit des âtman oder des Substanz-Selbst behauptet, steht im fundamentalen Widerspruch zu Gautama Buddha. Seine Befreiungslehre beinhaltet als buddhistische Kern-Weisheit gerade die Veränderlichkeit und Umwandlung sowie das Zur-Ruhe-Kommen der Gifte Gier, Hass und Verblendung. Um aus dem Leiden dieser Welt herauszukommen, sind Veränderungs- sowie Lern- und Verlernprozesse voller Kreativität unabdingbar. Absolute Doktrinen sind dagegen verhängnisvoll. Sie müssen erkannt und tatkräftig mithilfe der Empfehlungen Buddhas zum Beispiel nach dem Achtfachen Pfad aufgelöst werden. Durch die Leerheit können sich die formenden Kräfte dann voll entfalten und neue kreative Entwicklungen ermöglichen.


Kapitel 14: Verbindung von Subjekt, Wahrnehmung, Objekt und Dualismus
Bei der Wahrnehmung bilden die Sinnesorgane und -funktionen mit den wahrgenommenen Objekten ein wechselwirkendes Ganzes.[40] Es ist deshalb unsinnig, eine totale und duale Trennung und Differenz zwischen den Sinnesorganen, zum Beispiel den Augen, dem Vorgang des Sehens und den Objekten, also dem Gesehenen, zu behaupten. Es handelt sich dabei jeweils nicht um substantiale isolierte Entitäten, wie es die Doktrin des Substantialismus vorgibt. Das genaue Gegenteil wäre die Behauptung, dass eine totale Identität dieser drei Bereiche besteht. Beide Ansichten lehnt Nâgârjuna folgerichtig und überzeugend ab und führt stattdessen die Wechselwirkung und Vernetzung ein.

In diesem Kapitel über Identität, Differenz und Verbindung von Gleichem, Ähnlichem und Andersartigem wird am Beispiel der Wahrnehmung – also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – stringent nachgewiesen, dass nur die Wechselwirkung zwischen Dingen und Phänomenen die Wirklichkeit sinnvoll beschreiben und erklären kann. Jede Art von totaler Trennung in einzelne isolierte und duale Substanzen und Entitäten wird präzise destruiert.

Der zentrale Begriff, den Nâgârjuna in den folgenden Versen vewendet, heißt samsarga und bedeutet „Zusammentreffen“, „Verbindung“, „Vereinigung“, „Kontakt“ und „Zusammenhang“. Zudem hat er die Bedeutung von „Freude der Sinne“ im Zusammenwirken von Subjekt, Sinnestätigkeit und Objekten –ohne Zusammenwirken also keine Freude.

Unsere Sinnestätigkeiten zur Wahrnehmung von Objekten sind ein zusammenwirkendes Ganzes, das nicht sinnvoll in voneinander unabhängige Bereiche getrennt werden kann. Es gibt aber auch keine vollständige Identität mit den Objekten bei der Wahrnehmung. Daher sind die Doktrinen der totalen Trennung und totalen Identität unbrauchbar für die Wirklichkeit der Wahrnehmung. In diesem Kapitel werden noch nicht die Wechselwirkung und Vernetzung mit den anderen Komponenten des ganzen Menschen analysiert. Von besonderer Bedeutung sind Verzerrungen, Selektionen und Täuschungen, die bei der Wahrnehmung durch Bewertungen, Gefühle und Erregung stattfinden. Im Kapitel 26 des MMK wird Nâgârjuna solche Täuschungen als „Verhüllung des Geistes“ bezeichnen.

Nishijima Roshi fasst das Kapitel folgendermaßen zusammen: „Nâgârjuna betont hier, dass die Ganzheit beziehungsweise Verschmelzung die Wirklichkeit selbst ist. Sie ist im Augenblick des Handelns wirksam.“


Kapitel 15: Die Wirklichkeit der Dinge, Phänomene und Ereignisse sowie die fiktive unveränderliche Eigen-Substanz
Mit diesem Kapitel beendet Nâgârjuna den zweiten Hauptteil seiner scharfsinnigen Analysen, in denen es um die Dharmas in der Welt geht, also zum Beispiel um Dinge, Phänomene, Ideen, Ereignisse, Zustände und Prozesse.[41] Er behandelt die Einzelheiten und die Vielfalt in der Welt, um die Grundlage für den nächsten Teil, das Ganze des Menschen (ab Kapitel 16), zu erarbeiten.

Er geht darauf ein, welche wirklichen Eigenschaften die wirklichen Dharmas haben, die im vorbuddhistischen Indien als weitgehend unveränderliche „Bausteine“ der gesamten Welt und des Lebens verstanden wurden. Er stellt fest, dass solche statischen und unveränderlichen Bausteine der zentralen buddhistischen Lehre von Veränderung, gemeinsamem Entstehen in Wechselwirkung und Kausalität widersprechen. Außerdem beschäftigt er sich damit, wie eine substantiale Doktrin das Erwachen und die Befreiung des Menschen erklären kann. Die wichtigsten Eckpunkte des Buddhismus sind in diesem Zusammenhang:

– Veränderung und Bewegung, aber keine Statik und Unveränderlichkeit,
– zusammenhängende Prozesse und Ereignisse, aber kein plötzlicher Beginn aus dem Nichts und kein plötzliches Ende in das Nichts,
– kein Nihilismus,
– keine Extreme wie absolute Existenz oder Nicht-Existenz, sondern die Realität des Mittleren Weges,
– gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, aber keine isolierten unveränderlichen Entitäten,
– keine absolute Differenz und keine absolute Identität,
– Kausalität und Leerheit als Sichtweise für das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung,
– Einklang mit den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad Buddhas,
– Einklang mit den ethischen Regeln der buddhistischen Gelöbnisse.

Nâgârjuna destruiert mit philosophischer Präzision die Doktrin des Substantialismus, also einer illusionären unveränderlichen Substanz im Seienden und in den Dharmas. Diese Doktrin, die sich auch innerhalb des Buddhismus entwickelt hatte, behauptet sogar, dass eine solche Substanz die wahre Eigen-Natur aller Dinge, Phänomene und Ereignisse sei. Das ist aber völliger Unsinn und eine naive unbegründete Metaphysik. Mit den Methoden der Phänomenologie kann eine solche fiktive Eigen-Natur nicht begründet werden. Bei dieser Doktrin wären grundsätzlich keine Veränderung, Dynamik, Befreiung vom Leiden und kein Erwachen möglich. In den folgenden Versen analysiert Nâgârjuna gründlich die Illusion einer unveränderlichen Substanz des Seienden, in Sanskrit svabhâva. Dieser Begriff und dessen Semantik sind also ein zentraler Schlüssel zum Verständnis des gesamten MMK. Die substantialistische Doktrin für das umfassende Selbst und das âtman-Selbst des Menschen ist dann Thema von Kapitel 18 des MMK.

Durch die Destruktion einer doktrinären Substanz im Seienden und in falsch verstandenen Dharmas erarbeitet Nâgârjuna die Voraussetzungen, um die zentralen Fragen und fundamentalen Probleme des Menschen, des Selbst, der Befreiung, Kausalität, Emanzipation und Erleuchtung zu behandeln. Damit schafft er die tragfähigen Grundlagen, um die Überwindung des Leidens nach den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad sowie die Vermeidung von Extremen der Existenz und Nicht-Existenz wirkungsvoll zu erreichen.

Die Semantik des in diesem Kapitel verwendeten Sanskritbegriffs bhâva hat nach meinem Verständnis eine beachtliche Ähnlichkeit mit dem unveränderlichen Sein des Seienden der westlichen Philosophie. Bei Nâgârjuna ist damit besonders das Substanzhafte des Seienden gemeint, das er als doktrinär-metaphysisch ablehnt. Er hat aber keine Vorbehalte gegen das dynamische und damit realistische Seiende. Die Doktrin der Substanz des Seienden bezeichne ich im Einklang mit anderen Autoren als Substantialismus. In diesem Kapitel wird also vor allem das Substantialistische des Seienden (svabhâva) destruiert, das ich Eigen-Substanz nenne. Daraus wird sich die Frage ableiten, was das Selbst oder das Ich des Menschen wirklich ist.

Der Buddhismus stellt das Entstehen, Werden, die Emanzipation und Therapie sowie das Zur-Ruhe-Kommen des Menschen in den Mittelpunkt. Wie breits erläutert, gibt es im Sanskrit für „Werden“ und „Entstehen“ den Begriff bhava und für das Statische oder nicht veränderliche Substanzhafte den Begriff bhâva. In diesem MMK-Kapitel steht der zusammengesetzte Begriff svabhâva im Zentrum, also die Illusion des unveränderlichen und aus sich selbst entstandenen Seienden, das Nâgârjuna als illusionären und täuschenden „Wesenskern“ oder „Substanzkern“ der Dharmas bezeichnet – die Eigen-Substanz. Er destruiert hier ein solches Substanz-Seiendes und beweist, dass es illusionär ist, weil es unveränderlich und isoliert sein müsste. Es müsste sogar ohne Wechselwirkung aus sich selbst allein entstanden sei. Aber das sei eine fundamentale Täuschung.

In dem Sanskritwort bhâva für das statische Seiende schwingt zwar ein Rest von Werden und Entstehen mit, aber die Hauptbedeutung zur Zeit Nâgârjunas beinhaltet Unveränderlichkeit, Dauer und Substantialität des Seienden oder der Dharmas. Eine genaue Übersetzung könnte „aus sich selbst gewordenes, unveränderliches substantiales Seiendes“ lauten, weil damit auch die „Gewordenheit“ angesprochen wird. Diese semantisch treffende Formulierung, die Elisabeth Steinbrückner in der wörtlichen Übersetzung verwendet, ist jedoch im Rahmen dieser Untersuchung und Interpretation des MMK gewöhnungsbedürftig. Daher möchte ich vor allem den kürzeren Begriff „Eigen-Substanz“, aber auch „substantiales Seiendes“ oder „Substanz-Seiendes“ verwenden. Weitgehend synonym damit werde ich auch den etwas einfacheren Begriff „Substanzhaftes“ benutzen. In der MMK-Literatur finden sich vielfältige Alternativen für den zentralen Begriff svabhâva, zum Beispiel Selbstnatur, Self-Nature, Eigennatur, Eigenselbst, Eigenwesen und Selbst-Existenz, die mich aber nicht überzeugen. Den Begriff „Natur“ halte ich sogar für irreführend.

Der Sanskritbegriff svabhâva hat etwa 150 Jahre nach Nâgârjuna bei Meister Vasubandhu (geboren vermutlich 316) zentrale Bedeutung.[42] Allerdings ist sein entsprechendes Lehrgedicht („Die Drei Svabhâva“), vermutlich seine letzte Arbeit, sehr schwierig zu verstehen. So gibt es seit seiner Formulierung vor etwa 1650 Jahren bislang keinen Kommentar und keine Interpretation, obgleich es sicher von großer Relevanz ist, da Vasubandhu zu Recht als grundlegender Meister des Yogacara sowie des Chan-, Zen- und tibetischen Buddhismus gilt. Hier wartet also wichtige Forschungsarbeit zur Entschlüsselung dieses bedeutenden Textes.[43]

Nishijima Roshi erwähnt in diesem Zusammenhang weitere wichtige Aspekte: Das Seiende des Selbst und die subjektive Existenz des Menschen würden zwar häufig aus dem Sanskrit (svabhâva) mit „Selbstnatur“ oder „Selbstexistenz“ übersetzt, allerdings möchte er sie begrifflich dem Begriff Idealismus zuordnen, „also dem Weltbild und der Lebensphilosophie, die dahinter stehen, nämlich dass das Denken, die Ideen und Ideale als die wahre oder höchste Wirklichkeit verstanden werden. Entsprechend wird das Materielle (und auch das dynamische Handeln) abgewertet oder sogar als unwirklich bezeichnet.“ Der Buddhismus gehe jedoch über den Idealismus hinaus und nehme „die umfassende dynamische Wirklichkeit als Lebensgrundlage“.

Nâgârjuna kritisiert, dass zu seiner Zeit die eigentlich überholten Ideen, Vorstellungen und Doktrinen, die Buddha gerade als Leid bringend abgelehnt hatte, sich in manchen buddhistischen Traditionen wieder unterschwellig entwickelten und unter Verwendung buddhistischer Begriffe mit veränderter Semantik neu durchsetzten. Dadurch würde der wahre Kern der Lehre verwässert und zum Teil sogar ins Gegenteil verkehrt.

In der Präambel des MMK wird das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung auf dieser Erde und für die Menschen als zentrale Aussage Buddhas herausgehoben. Schon bei oberflächlicher Untersuchung wird deutlich, dass ein unveränderliches und zudem isoliertes Selbst oder eine unveränderliche Substanz mit der praktischen Lebensphilosophie Buddhas nicht zusammenpasst, denn diese ist auf Veränderung, Entwicklung, Lernen und Emanzipation ausgerichtet. Es scheint jedoch vor allem in der indischen Kultur eine erstaunliche Sehnsucht nach einer unzerstörbaren, unveränderlichen Substanz oder Essenz in der Welt und im Menschen gegeben zu haben, die in den Wiedergeburten durch diese Welt gehen sollte. Durch ethisch ungutes Denken und Handeln werde dabei schlechtes Karma angesammelt, sodass der endlose Prozess der Wiedergeburten des Wesenskerns nicht aufhöre. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass zufriedene Menschen nicht gern von dem jetzigen Leben Abschied nehmen wollen und leidende, unzufriedene Menschen dieses Leben beenden wollen, um im nächsten Leben bessere Bedingungen zu haben. Ähnliches kann man sicher auch heute beobachten.

Gautama Buddha hat sich zur Frage der Wiedergeburt nur wenig geäußert, und es scheint so, dass sie für ihn keine sehr große Bedeutung hatte, ohne dass er den Glauben an die Wiedergeburt grundsätzlich abgelehnt hätte. Dieses Leben hier und jetzt stand jedoch für ihn eindeutig im Vordergrund. Eine solche Lebensphilosophie ist in besonderer Weise auch für den Zen kennzeichnend.

Es gibt eine sehr wichtige Lehrrede Buddhas, die einen großen Einfluss auf dieses Kapitel und generell das MMK hat, nämlich der Dharma-Vortrag über die rechte Sichtweise für den jungen Mann Kaccâna. In diesem Sûtra werden die Extreme totaler dauerhafter Existenz einerseits und totaler Nicht-Existenz, also das Nichts, abgelehnt. Buddha weist nach, dass diese beiden Extreme in der Wirklichkeit gar nicht vorkommen. Es handelt sich nämlich um Vorstellungen und Doktrinen, die für die menschliche Weiterentwicklung und Emanzipation ausgesprochen schädlich und unheilsam sind. Wer zum Beispiel an die Unveränderlichkeit des Leidens glaubt, wird kaum in der Lage sein, Schmerzen, Klagen, Niedergeschlagenheit, Depressivität, Mutlosigkeit, sein Elend und seinen Jammer aktiv zu überwinden. Das erfordert intensive Verlern- und Lernprozesse.

Nishijima Roshi erklärt, dass bei der Wahrnehmung der materiellen Welt mit unseren Sinnesorganen unser Gehirn nicht vollkommen exakt arbeite, denn bei diesen Abbildungen werde nur ein gewisser Teil der Wirklichkeit erkannt: „Wir müssen uns davor hüten, dass wir das, was wir sehen, hören, fühlen usw. als die vollkommene umfassende Realität verstehen.“ Dann sei der Schritt zu einer fiktiven, aber metaphysischen „Eigen-Natur“ nicht mehr weit. Das wäre ein naives Verständnis der Natur und der Wirklichkeit. Aber gerade um diese große Realität gehe es, „wenn wir aus den (doktrinären) Täuschungen des Lebens herauskommen wollen, um unsere Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen“.

Mit diesem zusammenfassenden Kapitel schafft Nâgârjuna eine tragfähige Grundlage für die folgenden Kapitel, die sich mit dem ganzen wirklichen Menschen beschäftigen. Er wird sich vor allem auf den altindischen Glauben an einen âtman beziehen, also die ewige Ich-Substanz, und einen ewigen nicht-materiellen und unsichtbaren Ich-Kern des Menschen untersuchen. Im alten Indien glaubten die Menschen daran, dass dieser Ich-Kern endlos durch die Wiedergeburten wandern würde, bis er in der Ewigkeit im Nirvâna aufgehen und „verwehen“ würde.

Nâgârjuna begründet prägnant, dass sich aus den als absolut behaupteten Zuständen von „es existiert” und „es existiert nicht“ eine unveränderliche isolierte Eigen-Substanz des Seienden und der Dharmas in der Welt ergeben müsste. Er stellt fest, dass eine solche Eigen-Substanz jedoch nicht beobachtet werden kann und dass es sie nicht gibt. Damit hat er die Doktrin des Substantialismus destruiert! Das Gleiche gilt für die Lehre des Nichts und damit des Nihilismus, die auch Buddha grundsätzlich ablehnte.


Kapitel 16: Bindung und Befreiung des Menschen als Entitäten oder als Wechselwirkung und Prozess?
Der Mensch wird nach den vorausgehenden Analysen in den nun folgenden Kapiteln des MMK mit philosophischer Präzision als Ganzes untersucht. Dies geschieht konsistent im Rahmen der wahren buddhistischen Lehre und Praxis.[44] Ziel ist die Klärung des Seienden in Beziehung zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, zur Leerheit, Kausalität, zum Handeln, und nicht zuletzt geht es um die buddhistische Ethik. Dabei destruiert Nâgârjuna den Glauben an ein substantiales unveränderliches Selbst, das dem vorbuddistischen âtman sehr nahe kommt.

Viele Verse im MMK sind in der Form der sogenannten spekulativen Sätze[45] formuliert, beginnen also mit „falls“ oder „wenn“ und sind grundsätzlich von Aussagesätzen zu unterscheiden. Man nennt sie auch tentative Sätze. Diese spekulativen Sätze lassen sich am besten als Bedingungssätze verstehen, und zwar in diesem Sinn: „Wenn man das so Formulierte annimmt, ergibt sich Folgendes.“ Bei Nâgârjuna fangen solche Sätze allerdings nur teilweise mit „falls“ oder „wenn“ an und sind daher nicht immer sofort als Sätze zu erkennen, in denen es um Überlegungen und Spekulationen geht, die oft zur Destruktion und Falsifizierung führen.

Am Anfang der Kapitel im MMK stehen häufig Behauptungen der zu destruierenden Doktrinen. Die authentische Lehre Buddhas wird dabei als Wahrheitsbezug verwendet. Vor allem kommt dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und der Leerheit eine zentrale Bedeutung zu. Diese pragmatische Philosophie ist zweifellos für Veränderungen, Prozesse, Befreiungsvorgänge und Emanzipation besonders gut geeignet oder sogar notwendig und kann die Komplexität dieser Welt sachgerecht beschreiben. Kalupahana betont, dass die authentische buddhistische Philosophie dem Druck des neu erstarkten Brahmanismus standhalten konnte, solange die Wechselwirkung klar verstanden wurde.[46] Als dieses Verständnis verloren ging, hätten sich metaphysische spekulative Doktrinen entwickelt, die die wahre Lehre nicht mehr richtig wiedergeben konnten. Entsprechend ist ein Wirklichkeitsmodell, das von unveränderlichen Substanzen und abgegrenzten Entitäten ausgeht, ungeeignet, um die zentralen Probleme des Lebens, also Bindung und Fesselung, zu lösen und die Befreiung und Emanzipation des Menschen fundiert zu behandeln.

Genau um die Frage von Bindung und Befreiung geht es in diesem Kapitel. Nâgârjuna beweist mit philosophischer Genauigkeit, dass der Ansatz eines âtman-Selbst oder allgemeiner gesagt eines substanzhaften dauerhaften und unveränderlichen Selbst als unsichtbarem Wesenskern im Sinne des Substantialismus ungeeignet ist, um dieses Thema zu bearbeiten. Den simplen Glauben an einen schon immer vorhandenen âtman-Kern des Menschen, der durch zwanghafte Bindungen und Beschmutzungen unfrei wird, lehnte bereits Buddha ab. Ein solcher illusionärer Substantialismus erzeugt Unglück, Schmerzen und Leiden.

Die häufigen Destruktionen Nâgârjunas betreffen solche spekulativen und doktrinären Sätze, die Fehlentwicklungen und falsche Interpretationen des Buddhismus zum Inhalt haben. Wegen dieser Destruktionen und Falsifikationen ist vermutlich die Einschätzung entstanden, Nâgârjuna sei ein Nihilist, der nur Negationen anzubieten habe. Dieses halte ich nicht für richtig. Außerdem folge ich nicht der Interpretation, er mache keine positiven Aussagen, sondern destruiere nur unrichtige Doktrinen.

In diesem Kapitel beschäftigt er sich mit der zentralen Frage, wie sich ein Mensch aus einengenden und erdrückenden Zwangsbindungen befreien kann, wie er also Abhängigkeiten von Gier, Hass, Verblendung, Suchtmitteln, Macht, Sex usw. überwinden und sich durch Praxis, Achtsamkeit und Selbststeuerung einen wachsenden Freiheitsbereich schaffen kann. Der Mensch ist dann kein willenloser Spielball der äußeren und inneren Bedingungen und Kräfte mehr, sondern überwindet solche fixierenden Einengungen. Er wird von ihnen nicht deterministisch gesteuert. Es geht also darum, wann und wie weit jemand in seinem Handeln, Denken, Fühlen, Entscheiden und Planen im Rahmen des durch die Wirklichkeit Gegebenen frei ist. Auf dem Weg der Befreiung sind nicht nur psychische Blockaden und Begrenzungen wie Narzissmus und Borderline-Syndrom zu überwinden, sondern auch geistig hemmende und einengende Konzepte. Dabei ist die Selbstreflexion oder, wie es in Buddhas Lehre heißt, die Achtsamkeit und Betrachtung seiner selbst von zentraler Bedeutung. Nâgârjuna warnt vor der Illusion, dass es eine absolute Freiheit geben könnte, denn das wäre ein Extrem, das in der Wirklichkeit nicht vorkommt.

Nishijima Roshi formuliert es so: „Ob wir uns eingeengt und eingegrenzt oder frei fühlen, hängt ganz wesentlich von unserer eigenen emotionalen Situation ab. Unser psychischer und geistiger Zustand wird nach meiner festen Überzeugung ganz wesentlich durch unser vegetatives Nervensystem bestimmt“, also davon, ob es im Gleichgewicht ist oder nicht. „Es ist das natürliche Bestreben und der große Wunsch des Menschen, völlig frei und emanzipiert zu sein. Aber dies dürfte in der Wirklichkeit unmöglich sein“, betont er ferner und rät, dass wir realistisch sein und im Hier und Jetzt leben und handeln sollten. Zum einen spielen die realen Bedingungen, in denen wir leben oder leben müssen, eine wichtige Rolle, aber nicht zuletzt sind auch unsere subjektive psychische und physische Situation der Spannung oder Entspannung von entscheidender Bedeutung.

Ein wichtiges Thema in Kapitel 16 ist außerdem die Wiedergeburt. Sie hatte in verschiedenen Lebensabfolgen des Samsara im alten Indien einen selbstverständlichen Wahrheitsgehalt und wird auch von Buddha nicht grundsätzlich abgelehnt. Nachdem im Buddhismus aber der unveränderliche Wesenskern eines âtman widerlegt wurde, fragt sich natürlich, was denn wiedergeboren wird, wenn es dieses âtman-Selbst nicht gibt. Das sind keine einfachen philosophischen Probleme, die im Buddhismus in der Nachfolge Buddhas häufig kontrovers diskutiert wurden. Allerdings hat Buddha immer wieder betont, dass wir uns nicht mit Fragen und Problemen der Wiedergeburt quälen sollten, sondern uns ganz auf die Überwindung des Leidens sowie auf die Emanzipation und Erleuchtung in diesem Leben einlassen und konzentrieren sollten.

Alle Theorien mit unveränderlichen Substanzen und Entitäten sind für die Befreiung aus bindenden Abhängigkeiten in unserem Leben, für das Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und die Entwicklung der bestmöglichen menschlichen Freiheit unbrauchbar, zudem in sich widersprüchlich und logisch falsch. Eine Lösung bietet nur das realistische Welt- und Menschenbild des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung.

Für viele Buddhisten war und ist es eine große unerfüllbare Sehnsucht, sich selbst im Nirvâna aufzulösen, alle Leiden auszulöschen und ein seliges Glück zu erfahren. Sie meinen, dass es ein solches Nirvâna in einer jenseitigen Welt geben würde, die sie erreichen könnten, wenn sie die buddhistischen Regeln einhalten und der Lehre treu ergeben sind. Sie versteifen sich immer mehr auf die Vorstellung, dass für sie selbst ein solches „Verwehen“ im Nirvâna möglich ist und dann alle Schwierigkeiten der hiesigen Wirklichkeit zu Ende sind. Das betrachten sie als die totale Freiheit, die man sogar schon in diesem Leben vorbereiten könne.

Nâgârjuna hält ein solches fixiertes und romantisierendes Konzept, das allein Doktrinen und dem denkenden Geist entspringt, für unsinnig und sagt in aller Klarheit, dass dieses Konzept genau das Ergreifen ist, das gerade überwunden werden soll. Wer sich also auf eine solche Vorstellung eines zukünftigen Nirvâna versteift, ist durch diese Fixierungen, die im Buddhismus auch Ergreifen genannt werden, festgelegt, statisch und kann sein Ziel eben nicht erreichen. Nâgârjuna wird im folgenden Teil seine eigenen vertieften Vorstellungen zum Nirvâna entwickeln.

Nishijima Roshi sagt dazu Folgendes: „Der Zustand der Balance in unserem Leben ist gleichzeitig das Nirvâna. Es ist nicht ein jenseitiges erträumtes Paradies, sondern genau das tägliche Leben im Hier und Jetzt. Ein solches Leben im Gleichgewicht ist daher kein Gegensatz zum Nirvâna und nicht etwas anderes oder Zukünftiges. Aber die Worte und unsere Sprache reichen nicht aus, um das Nirvâna vollständig und erschöpfend zu beschreiben. Die Wirklichkeit ist mehr als die Sprache. Aber selbst auf der sprachlichen Ebene ist es unsinnig, ein erfülltes reales Leben im Gleichgewicht mit einem erträumten Nirvâna zu vertauschen.“

Nâgârjuna falsifiziere die zu seiner Zeit gängige buddhistische Doktrin vom „Verwehen“ ins Nirvâna und von der Beendigung des Kreislaufs der Wiedergeburten in dieser Welt des Samsara. Die irrige oder ungenaue substantialistische Doktrin unveränderlicher substanzhafter Entitäten kritisiere er radikal und falsifiziere sie scharfsinnig. Eine solche Doktrin weiche gravierend von Buddhas bewährter Lehre ab, die keine statischen und unveränderlichen Entitäten oder Substanzen kenne, sondern vernetztes Entstehen und Vergehen und vor allem das Handeln im Gleichgewicht des Augenblicks.


Kapitel 17: Handeln, Karma, Früchte und Verantwortung des Menschen
Buddha hat das Handeln des Menschen und damit die Verantwortung für das eigene Handeln in den Mittelpunkt seiner neuen praktischen Lehre der Befreiung gerückt. Die Verantwortung für die Konsequenzen oder wie es im Sanskrit heißt die Frucht des eigenen Handelns bzw. das Karma trägt also jeder selbst. Vereinfacht ausgedrückt ergibt gutes Handeln gute Konsequenzen und gutes Karma für uns und für andere, schlechtes Handeln hat schlechte Konsequenzen zur Folge. Viele buddhistischen Meister warnen aber davor, eine solche Beziehung von Ursache und Wirkung zu sehr zu vereinfachen und naiv zu begreifen.[47]

Im MMK wird bereits in der Präambel die Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) charakterisiert. Die Wirklichkeit verstehen Buddha und Nâgârjuna also als dynamisches Ganzes, indem sie das gemeinsame Entstehen hervorheben. Der Mensch ist wiederum durch das Zusammenwirken in der Lage, sein Leiden zu überwinden, sich zu emanzipieren und zu befreien. Diese Wechselwirkung habe ich als Vernetzung und wissenschaftlich als rückgekoppeltes System interpretiert. Solche Vernetzungen sind bei Ökosystemen, sozialen Systemen und nicht zuletzt beim neuronalen Netz des menschlichen Gehirns evident; sie können phänomenologisch und sogar naturwissenschaftlich klar nachgewiesen und analysiert werden. Durch dieses Verständnis der Wirklichkeit ergibt sich ein unüberbrückbarer Widerspruch zur Doktrin einer unveränderlichen Substanz bzw. einer unveränderlichen Essenz, also der absoluten Existenz und der absoluten Nicht-Existenz (Substantialismus). Außerdem destruieren Buddha, Nâgârjuna und Meister Dôgen die Doktrin der unverbundenen Zeit-Momente (Momentanismus).

Die wichtigsten Kernlehren des Buddhismus sind auch in diesem Kapitel des MMK zu beachten: die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens, die Sieben Glieder der Befreiung und des Erwachens, die Fünf Hemmnisse des Erwachens, der Mittlere Weg zur Vermeidung von Extremen sowie die zwölf Phasen zur Befreiung und Erleuchtung. Außerdem ist in allem Handeln die Ethik von zentraler Bedeutung, was zum Beispiel in den Gelöbnissen und im Bodhisattva-Ideal zum Ausdruck kommt.

Nâgârjuna baut auf diesen Grundlagen auf und untersucht für die Lehre des buddhistischen Handelns und des Karmas ausführlich den Zusammenhang von Verursachung und Wirkung. Eine Ding-Metaphorik für das Karma destruiert er dabei genauso gründlich wie den Substantialismus. Es geht ihm hierbei auch um die Falsifizierung der vorbuddhistischen Weltanschauung und Religion des Brahmanismus, der behauptet, dass der Mensch einen unabhängigen, unveränderlichen und ewigen Kern (âtman) habe. Die Veränderungen in der Welt der Phänomene und des Menschen seien nur oberflächlich und würden den Kern nicht betreffen.

Dieser würde durch die Geburten wandern und sich jeweils neu verkörpern. Die Eigenschaften des Menschen seien in seinem Leben durch das Karma des Âtman weitgehend festgelegt und veränderten sich kaum oder gar nicht. Durch unheilsames Handeln werde allerdings schlechtes Karma beim Âtman angehäuft und müsse in den folgenden Leben beseitigt werden, bis nach vielen Millionen Jahren der Âtman endlich bereinigt sei und die Wiedervereinigung mit Brahman und damit die Beendigung des individuellen Lebens erfolgen könnten. Der Âtman-Kern ergreife jeweils bei der Geburt sein altes vorheriges Karma aus dem letzten Leben. Daraus würden sich dann zwangsläufig die Bedingungen für das neu angefangene Leben ergeben. Die ethische Qualität des vorherigen Karmas sei dabei determinierend für die jeweils folgenden Leben.

Nâgârjuna destruiert in diesem Kapitel auch ähnliche doktrinäre Vorstellungen im Buddhismus, die sich dem Âtman-Modell für Handeln, Akteur und Karma deutlich angenähert hatten, aber für die Dinge und Phänomene – die Dharmas – dennoch Begriffe aus dem Buddhismus benutzten, vor allem den Begriff svabhâva, der sich mit „Eigen-Substanz“ übersetzen lässt. Nâgârjuna macht deutlich, das eine solche Doktrin die authentische Lehre Buddhas tiefgreifend entstellt oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Denn für Buddha steht im Mittelpunkt seiner praktischen Lebensphilosophie, dass wir uns verändern, uns entwickeln und lernen, damit unser Leiden zur Ruhe kommt und wir Erleuchtung erlangen.

Das Sanskritwort Karma bedeutet im engeren Sinne das Handeln, die Handlung oder die Tat. In der altindischen Religion des Brahmanismus wurde mit Karma vor allem das Ergebnis des moralischen Handelns verstanden und mit der Idee der Wiedergeburt verknüpft. Danach waren durch das moralische Handeln, das Karma, im gegenwärtigen Leben wesentlich die Wiedergeburt und unser Schicksal im nächsten Leben bestimmt. Die beiden wichtigsten Bedeutungen von Karma sind auch im Buddhismus relevant, nämlich das Handeln selbst, also die Tätigkeit im Augenblick, und das Ergebnis bzw. die Wirkung des Handelns, die häufig Frucht genannt wird. Ethisch gutes Handeln erzeugt gutes Karma und schlechtes Handeln schlechtes Karma. Das gilt grundsätzlich auch im Buddhismus.

Wie Dôgens kompakte Darstellung des Handelns zeigt, wird das Handeln im Zen-Buddhismus konkret mit der Erfahrung und dem Erleben der Wirklichkeit selbst verbunden und meist von Theorien, Doktrinen und abstrakten Vorstellungen abgegrenzt. Im Zen geht es daher weniger um die Tatabsichten, die zwar von Wichtigkeit seien, sondern mehr um das Handeln selbst, und zwar vor allem in Bezug auf andere Menschen im Sinne des Bodhisattva-Ideals.

Nach meinem Verständnis lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Dimensionen des Karmas unterscheiden: zum einen das persönliche Karma, das auch wichtiges Element der Wiedergeburtslehre ist, und zum anderen das soziale Karma, das sich jetzt und später auf andere auswirkt und so in den „Kulturstrom“ der betroffenen Menschen einfügt wird.

Als ich im Jahr 2006 mit Nishijima Roshi an diesem Kapitel Nâgârjunas arbeitete, sagte er einen markanten Satz: „Actions are carved in the universe.“ Das heißt, unsere Handlungen wirken weiter im Universum und sind nicht mit unserem individuellen Leben beendet. Unser Handeln verschwindet also nicht einfach in der Welt, sondern setzt sich fort. Das bedeutet, dass ein positiv wirkendes Handeln die zentrale Aufgabe und Verantwortung unseres Lebens ist. Durch ethisch gutes, klares Handeln leisten wir einen wichtigen Beitrag für die Welt und die Menschheit. Es liegt auf der Hand, dass Nishijima Roshi damit den wahren Buddhismus als Lehre und Praxis meinte.

Das individuelle Karma der meisten Menschen bei späteren Wiedergeburten entzieht sich zumindest teilweise dem rationalen Geist und der erweiterten Vernunft. So glaubte zum Beispiel Nishijima Roshi nicht an die Wiedergeburt. Häufig gleitet der Glaube an die Wiedergeburt in Wunschvorstellungen, Ängste und einengende Doktrinen ab. In ähnlicher Weise ist die mögliche Erinnerung an frühere Leben sicher für die meisten von uns eher ein Geheimnis oder vielleicht eine Ahnung und ein Gefühl. Besonders Gautama Buddha und Nâgârjuna haben daher davor gewarnt, sich zu sehr mit Gedanken, Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten über das vergangene Leben und das zukünftige zu beschäftigen. Wir sollten uns eher dem jetzigen besser überschaubaren Leben widmen, zum Beispiel den Achtfachen Pfad gehen und die buddhistischen Gelöbnisse einhalten.

In vielen überlieferten Gleichnissen, Geschichten und Analogien hat Buddha das Thema Karma behandelt und die bei seinen Lehrreden anwesenden Menschen damit tief bewegt. Durch seine persönliche Ausstrahlung und Überzeugungskraft hat er sie zur Veränderung ihrer Lebensrichtung gebracht und zur Klarheit geführt. Ein besonders wirkmächtiges Beispiel ist das Gleichnis des Massenmörders Angulimala, der in den Orden Buddhas eintrat, ausdauernd und kraftvoll meditierte und Erleuchtung erlangte. Damit kam sein furchtbares Karma zur Ruhe.

Das soziale Karma ist für jeden Menschen direkt in diesem Leben zu erkennen und einzuschätzen, indem er sich beispielsweise die folgenden Fragen stellt: Welche Auswirkungen hat mein jetziges Handeln auf die Menschen, die mir nahestehen und mit denen ich zu tun habe? Sind meine Handlungen nützlich, weiterführend und konstruktiv für andere? Oder hemmen, belasten oder verletzen sie die anderen? Ist mein Handeln auf Macht ausgerichtet und unterdrückt sogar die betroffenen Menschen? Solche Fragen sind schon ziemlich komplex, aber dennoch einfacher zu analysieren und zu beantworten als Fragen nach wirklichen Fakten der früheren Leben und der zukünftigen Wiedergeburten. Der Zusammenhang zwischen Handeln und Karma kann direkt hier und jetzt durch Beobachtung, Selbstreflexion und Achtsamkeit, durch Dialog und Rückkopplung recht gut verstanden und bei unseren Weiterentwicklungen zunehmend besser integriert werden.

Egoisten, Mächtige, falsche Eliten, Narzissten und Betrüger neigen dazu, sich sehr wenige Gedanken darüber zu machen, welche Auswirkungen ihre Taten für andere haben. Wer sich rücksichtslos bereichert, interessiert sich meist wenig oder überhaupt nicht dafür, wem er damit schadet. Solche Menschen sind zumindest scheinbar zufrieden oder fühlen sich sogar als Helden, solange der Betrug nicht herauskommt. Sowohl Materialisten als auch Ideologen verdrängen Überlegungen, was aus ihren Taten folgt und wie sie sich auf andere auswirken. Allerdings verschaffen materielle Vorteile nur sehr kurzfristige und oberflächliche Glücksgefühle und Freuden – das haben die Psychologie und die aktuelle Neurowissenschaft nachgewiesen. Materiell orientierte Menschen wirken nicht selten wie ausgehöhlt. Je älter sie werden, desto deutlicher kann man erkennen, dass materielle Gier und materieller Besitz wenig zu einem sinnerfüllten Leben beitragen können.

Wenn Ideen und Idealismus in Ideologien umschlagen, hat auch das in der Welt langfristig schlimme Folgen. Beispiele dafür sind die Glaubenskriege, der 30-jährige Krieg oder die menschenverachtenden Ideologien der deutschen Nationalsozialisten und der japanischen Imperialisten sowie in neuerer Zeit die Irrlehren moslemischer Terroristen. Religionen verkehren sich durch unmenschliches Handeln in ihr Gegenteil. Das menschliche Leben wird dann nicht mehr geachtet und geschützt, sondern vernichtet. Sogar der eigene religiös motivierte Suizid wird bei Selbstmordanschlägen so organisiert, dass möglichst viele andere Menschen ebenfalls sterben. Die Terroristen glauben sogar daran, dass sie sich durch ihre Taten direkten Zugang zu den jeweiligen Paradiesen ihrer Religion verschaffen. Ähnliches gilt übrigens leider auch für die christlichen Kreuzzüge gegen die islamische Welt, bei denen die „heiligen Stätten“ zurückerobert werden sollten. So gehen die Ideologien des Materialismus und des Idealismus in die Wirkungen des Handelns ein.

Zum Teil wurde auch die Karmalehre im alten Indien von der herrschenden Elite der Priester als Machtmittel missbraucht, um die Gläubigen mithilfe von Angst und Schrecken gefügig zu machen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kommt diesem Kapitel Nâgârjunas zu Akteur, Karma und Tat eine hohe Bedeutung zu.

Nishijima Roshi unterstreicht, dass Nirvâna nach Nâgârjuna die Befreiung von Ideologien und materiellen Abhängigkeiten wie Gier und Habsucht bedeutet, auch und gerade in diesem Leben. Und diese Befreiung sei unauflösbar mit heilsamem Handeln verbunden; das Denken und ein isolierter Geist allein würden nicht ausreichen. Außerdem erklärt er, dass es in der westlichen Philosophie die beiden Hauptströmungen des Idealismus auf der einen Seite und des Materialismus auf der anderen Seite gäbe. Beim Idealismus stehen das Gedachte und die Gehirntätigkeit im Vordergrund, beim Materialismus die äußere Form und die materiellen Aspekte dieser Welt. Zum gleichen Ergebnis kommt der amerikanische Philosoph Nicholas Rescher, der eine Prozessphilosophie begründet hat, die gegen den Hauptstrom der Seinsphilosophie gerichtet ist.[48]

Die Philosophien des Materialismus und Idealismus sind laut Nishijima Roshi zwar weit entwickelt, aber einseitig und ungeeignet, um das wirkliche Leben philosophisch und pädagogisch angemessen begreifen und durch Selbststeuerung ein gutes Leben führen zu können. Eine Philosophie des Handelns und der Bewegung sei im Westen nur in Ansätzen vorhanden, obgleich Aktivität und Handeln einen so hohen Stellenwert in der westlichen Kultur, Naturwissenschaft und Technik hätten. „Durch die genaue Untersuchung der Theorie und Praxis des Handelns kann der Buddhismus daher für den Westen erhebliche realistische Verbesserungen der Lebensverhältnisse erbringen“, fasst Nishijima Roshi zusammen.

In Kapitel 17 des MMK geht es nicht zuletzt um die schwierige Frage, ob das Karma ewig und unveränderlich ist. Eine solche Unveränderlichkeit wäre allerdings mit dem Buddhismus der Veränderlichkeit und des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung nicht vereinbar.

Karma ist kein Ding, keine Entität, keine Substanz und keine Essenz. Karma verschwindet nicht spurlos, löst sich nicht von selbst auf und wird nicht zu einem Nichts. Die doktrinäre falsche Lehre über Karma, Tat, Akteur und Frucht, die von unveränderlichen Substanzen ausgeht, gleicht einem flimmernden verführerischen Lichtstrahl und ist ein illusionärer Traum, der immer neue Illusionen und Verwirrungen erzeugt. Der Substantialismus beschreibt keine Wirklichkeit in der Welt.

Das Gleiche gilt für die in der Präambel des MMK verwendeten zentralen buddhistischen Begriffe Entstehen und Vergehen. Wer sie als unveränderliche Substanzen versteht, gerät in eine ausweglose Illusionswelt, die ihn ins Unglück führt. Er kann dem nur entfliehen, wenn er die ideologischen Grundlagen als Fiktion, Illusion und Täuschung erkennt, sie überwindet und sich auf die authentische Lehre Buddhas zurückbesinnt.

Nâgârjuna zeigt auf, dass auch die buddhistische Lehre in seiner Zeit zum Teil in Wortgläubigkeit, Erstarrung und naivem substantialistischem Denken gefangen war und dass es dringend erforderlich war, einen Ausweg zu finden. Dieser besteht darin, das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, zugrunde zu legen, wie er bereits in der Präambel deutlich macht.

Nishijima Roshi kommt zum gleichen Schluss: „Das idealistische Leiden, die Ideen über Handeln, materielle Formen und auch die Ideen über handelnde Menschen sind genauso unwirklich wie gedachte Ergebnisse, denn Ideen und Vorstellungen werden in unserem Gehirn erzeugt, und das ist nicht die Wirklichkeit. Man kann sie mit der imaginären, nicht wirklichen Stadt Gandharva gleichsetzen, die nur in der Vorstellung existiert und in der nach der Legende keine Verbrechen vorkommen, sodass es dort auch keine Gefängnisse gibt. Aber dies alles sind nur Illusionen. Man kann sie mit Träumen und Bildern vergleichen, die wir im Schlaf sehen. Wer träumt nicht von einer solchen idealen Stadt? Aber die gibt es nicht!


Kapitel 18: Wirklichkeit des Selbst, Âtman und Buddha-Natur
In der vorbuddhistischen Zeit der Veden und Upanishaden gab es den Glauben an einen unveränderlichen ewigen Wesens-Kern im Menschen, der Âtman genannt wurde. Buddha lehnte diesen Glauben radikal ab. Warum war das für ihn so wichtig? Und was war ihm bei Suche nach der Wahrheit des Menschen, des Lebens, der Überwindung des Leidens und der Befreiung durch das eigene Erwachen klar geworden?

Nach dem altindischen Glauben würde der unveränderliche Âtman-Kern durch die aufeinander folgenden Millionen von Wiedergeburten wandern. Er beschmutzt sich durch schlechte Taten und schlechtes Karma und muss sich davon total reinigen, bis er sich mit Brahman vereinigt und sich seine Individualität ganz auflöst. Der Kern sei dann von Natur aus rein und ohne beschmutzte psycho-physische Merkmale. Erst dann seien die Qualen der Wiedergeburt beendet. Er muss also von den Beschmutzungen und schlechtem Karma gereinigt werden, um nach vielen Millionen von Wiedergeburten in dem großem Einen Brahman aufzugehen. Durch ethisch gutes Handeln sei es möglich, eine günstige Wiedergeburt zu erlangen durch schlechtes Karma gäbe es eine schlechte Wiedergeburt. Bei vollständiger Reinigung des Âtman wäre es möglich, das Ende der Wiedergeburten zu erreichen. Die hiesige Welt des Samsara sei gekennzeichnet durch Leiden, Schmerzen und unzählige Problemen und Schwierigkeiten.

Kalupahana (S. 58 ff.) sagt dazu: Buddhas Lehre der „Soheit“ stehe dagegen in engem Zusammenhang mit der wahren Natur des befreiten Menschen, der seine menschliche Bestimmung und sein menschliches Ziel erreicht hat  Dabei seien spekulative Ideen, metaphysische Behauptungen und unheilsame Doktrinen zu vermeiden. Die vorbuddhistischen Denker hatten absolutistische Vorstellungen entwickelt, zum Beispiel ein alles überdauerndes universales Selbst, den Âtman. Es gäbe aber im Buddhismus leider mit buddhistischen Begriffe ganz ähnliche Doktrinen.

„Für Nâgârjuna war es evident, dass die in der Doktrin der Sarvastivadins enthaltende Konzeption von Substanz (svabhâva) in allem (der Wirklichkeit) maßgeblich war und wie eine solche doktrinäre Idee die gesamte Interpretation eines Tathâgata (Buddha) beeinflussen konnte. Daher haben wir (in dieser Doktrin) zwei metaphysische Grundlagen, die verbunden sind: die Metaphysik von „allem“ (der Wirklichkeit) und die der „absoluten Wahrheit“. Und weiter „wie bereits angemerkt, war Buddha nicht willens, über die Natur des Befreiten nach dem Tode zu spekulieren, aber er wollte positiv darüber sprechen, was sich bei seinem Tod ereignet hatte“. Kalupahana zitiert dazu Buddha: „Dies ist der letzte Körper und das Zentrale des höheren Lebens. Dabei ist das vollkommene Wissen ohne (doktrinäre) Abhängigkeit von irgend etwas anderem.

Die (weitere) Geburt ist beseitigt, das höhere Leben (der Befreiung) wurde gelebt. Getan ist, was getan werden musste, und es gibt kein anderes dieses (Lebens)“. Ein solches Leben sei das Ergebnis moralischer Vollkommenheit, wenn jemand von den drei Giften Gier, Hass und Verblendung Freiheit erlangt hat. Es sei das endgültige Nirvâna und sei die vollkommene auch moralische Wahrheit dieser Welt: „Als solches hat sich das Leben selbst verwirklicht und ist nicht als Zustand bekannt, der (unfreie) Abhängigkeit von anderen hat“. Diese Abhängigkeit sei das Gegenteil der Wechselwirkung, die in der Präambel des MMK genannt ist (pratitya samutpada).

Kalupahana weiter: Dabei würde Nâgârjuna sich der unfruchtbaren und oft überspitzten Diskussion und den unfruchtbaren Konflikten von Hinayana und Mahâyâna entziehen. Der genannte Zustand des befreiten und erleuchteten Menschen sei im Übrigen auch ohne eine ununterbrochene Übertragungslinie der Lehre bis zu Buddha von den Menschen selbst zu erreichen, weil diese Befreiung der wahren Natur des Menschen entspricht und in sofern unabhängig von schriftlicher und mündlicher Überlieferung sei. Ich möchte allerdings hinzufügen, dass die buddhistische Lehre, die authentisch in einer Übertragungslinie übermittelt wurde, eine große Hilfe für die Schüler ist. Diese buddhistische Lehre ist nicht zuletzt von genialen Meistern vertieft und erläutert worden. Allerdings war und ist die wahre Lehre leider durch unklare selbsternannte Meister und angebliche Lehrer immer wieder in Gefahr, verwässert und verzerrt zu werden.

Buddha lehnte den brahmanischen Glauben grundsätzlich ab, weil er gerade das Leiden erzeugen und nicht überwinden würde. In den Jahrhunderten nach Buddha entstanden aber mehrere Schulen und Strömungen, die mit den buddhistischen Begriffen dem Glauben an das alte âtman-Selbst wieder sehr nahe kamen. Die Idee der Ewigkeit und eines unveränderlichen von Natur aus reinen Selbst ist vermutlich tief als große Sehnsucht im Menschen verankert und zwar in vielen Religionen und Weltanschauungen. Aber führt die Abhängigkeit von einer Sehnsucht und Illusion schon zum Glück in der Wirklichkeit, zum Gleichgewicht und Frieden im Leben hier und jetzt? Buddha verneinte dies und erarbeitete einen pragmatischen und geistig klaren Weg der eigenen Entwicklung zur Freiheit von Gier, Hass und Verblendung und damit zur Überwindung des Leidens und zur Emanzipation. Denn ein solcher von Sehnsucht getriebener Glaube führt zu gefährlichen Spekulationen, ethischen Sackgassen, und kann sogar zu Machtmissbrauch durch die herrschenden religiösen Eliten entarten. Meist wird der Geist damit immer unfähiger, die eigen Probleme des Menschen in ihrer Kausalität, Wechselwirkung und Vernetzung zu erkennen, zu durchleuchten und kreative neue und bessere Wege im Leben zu verwirklichen.

Nâgârjuna beschäftigt sich in diesem Kapitel intensiv mit den Widersprüchen und der Inkonsistenz des Glaubens an einen Âtman oder an ein substanzhaftes Selbst und an substanzhafte unveränderliche Phänomene, das ist die Doktrin des Substantialismus. Er stützt so die authentischen buddhistischen Lehre. Dabei verwendet er  scharfsinnige Argumentationen, die nicht zuletzt die logische Widersprüche der Doktrinen aufzeigen und damit die Absurdität des Geglaubten, der nicht hinterfragten Illusionen und der unheilsamen Konzepte offen legen.

Er untersucht, wie die Vorstellung eines isolierten unveränderlichen Selbst für die Beziehung zu einem anderen Menschen, also zu dem anderen Selbst sein kann, und sagt ganz einfach, dass auch das andere Selbst nach dieser Weltanschauung isoliert und unveränderlich sein müsste. Es kann daher überhaupt keinen Kontakt und keine Wechsel-Wirkung mit anderen Selbsten aufnehmen. Das unveränderliche eigene Selbst als Weltanschauung verbietet also, dass das Selbst des Anderen beweglich und entwicklungsfähig ist. Beide Aussagen des Selbst und Anderen machen also keinen Sinn.

Der Begriff des Sanskrit-Begriffs Âtman wird häufig viel zu allgemein mit dem „Selbst“ übersetzt. Dem möchte ich nicht folgen, weil es um den sehr spezifischen Glauben im vorbuddhistischen Indien handelt. Zweifellos ist eine gründliche Untersuchung schwierig, was ein Ich, ein Ego, ein großes oder kleines Ich, ein offenes oder isoliertes Selbst usw. wirklich ist und führt bei der diesen alternativen Begriffen häufig zu Missverständnissen. Dies umso mehr, weil in der westlichen Philosophie dem Ich und Individualismus eine sehr große Bedeutung zukommen. Dann muss die buddhistische Lehre von dem Nicht-Ich Erstaunen hervorrufen.

Ich verwende den Begriff des Âtman nur in der altindischen Bedeutung, nicht zuletzt für die unzähligen Wiedergeburten. Aber dann stellt sich unvermittelt die Frage: Gibt es bei Buddha oder im Zen ein wahres Selbst und was wäre ein nicht-wahres Selbst? Für die buddhistischen Doktrin des Substantialismus verwende ich dabei den Begriff „Substanz-Selbst“, dies bezeichnet den Glauben an einen substantialen unveränderlichen und unsichtbaren Kern des Selbst.

Wir leben heute im Westen in einem Zeitalter des dominanten Individualismus, der einen oft diffusen Freiheitsbegriff verwendet und diesen oft über alles andere stellt, insbesondere über die ethische Verantwortung für andere und die Gemeinschaft. Ein solcher übertriebener Ich – Bezug kann in sehr verschiedenen Formen auftreten, zum Beispiel als rücksichtsloser Egoismus in materieller oder ideologischer Weise. Manchmal ist es schwierig den wirklichen Ego-Zentrismus zu erkennen, der auf Klagen, Jammern und Verzweiflung basiert, aber nicht weniger um sich selbst kreist. Besonders zerstörend ist ein ausgeprägter Narzissmus, sich chronisch selbst überhöht und andere Menschen erniedrigt und niedermacht.

Es muss erwähnt werden, dass in der vor-buddhistischen Zeit der feste Glaube bestand, dass man in einem Leben immer nach unumstößlichem göttlichen Gesetz total an die eigene festgelegte Kaste durch Geburt gebunden ist. Die Kasten-Regeln sind also göttlich und deren Verletzung wurde streng geahndet. Erst durch die Wiedergeburt ergäbe sich je nach Karma der Wechsel der Kaste. Dann sei vielleicht sogar ein Aufstieg in die höchste Kaste der Brahmanen möglich. Besonders fatal und aussichtslos war dieser Glaube für die unterste Schicht der Kastenlosen, die damit ein sehr schweres Leben und zudem eine düstere zukünftige Wiedergeburt zu erwarten hatten. Es fällt nicht schwer, in diesen Dogmen den Machtmissbrauch der damaligen Eliten zu vermuten, die sich damit eine privilegierte Rolle nicht nur im Diesseits, sondern auch im Ablauf der Wiedergeburten sichern konnten. Das war sicher dem Buddha nicht verborgen geblieben.

Im Klartext: Buddha hielt diese angeblich göttliche Gesetz für ethisch nicht vertretbar und zudem als solche konstruiert. Ich vermute, dass er nicht zuletzt deswegen den Glauben an die Wirklichkeit des 1Atman kategorisch ablehnte. Seine Lehre der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades negiert jede Bindung an eine bestimmte Kaste und eröffnet für jeden Menschen vom Kastenlosen bis zum Brahmanen die Überwindung des Leidens und Befreiung.

Dieses Kapitel ist zwar nicht lang, hat aber eine sehr große Bedeutung. Es schafft Klarheit für Doktrinen, die nach Nagarjuna ein fiktives substantiales und unveränderliches Selbst behaupteten. Nagarjuna weist nach, das eine solche Doktrin in unlösbaren Widerspruch zur authentischen Lehre Buddhas steht, die durch Veränderung, Befreiung, Emanzipation und Weiter-Entwicklung zu ungeahnten Zuständen und Prozessen des Lebens gekennzeichnet ist. Diese Aussagen zum Menschen und seinem Selbst knüpfen an dem destruierten Sanskrit-Begriff svabhâva für die fiktive Eigen-Substanz an, den angeblich unveränderlichen Dingen und Phänomene, also den Dharmas. Sie wurden als unveränderliche und nicht teilbare Bausteine der Welt verstanden

Im vorigen Kapitel des MMK wurde die zentrale Bedeutung von Handlungsprozessen des Karma für die Bildung und Entwicklung des Menschen als Individuum herausgearbeitet, der in laufender Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Welt vernetzt ist. Und eine ähnliche Wechselwirkung findet laufend in dem neuronalen Netz unseres Gehirns statt. Ob Buddha und Nagarjuna davon ein intuitives Wissen hatten? Denn im neuronalen Netz gibt es keine unveränderliche Statik von Gegenständen, keine substantialen Zustände, keine abrupt unterbrochenen Momente und schon gar keinen ewigen Substanz-Kern des Selbst. Dies ist in der modernen Psychologie und Gehirnforschung völlig unbestritten.

Warum haben Buddha und Nâgârjuna die Vorstellung und Doktrin eines derartigen unveränderlichen „Ur-Selbst“, Substanz-Selbst oder „Âtman-Selbst“ als Fiktion und Selbst-Täuschung so radikal abgelehnt? Diese Frage ist sicher nicht einfach zu beantworten. Von zentraler Bedeutung ist aus meiner Sicht, dass mit einer solchen Doktrin wichtige Entwicklungs- und Lern-Prozesse sowie Wechsel-Wirkungen in der realen Welt der Veränderung und Vernetzung nicht verstanden werden können. Denn die Überwindung des Leidens und der Schmerzen, die selbstverständlich Veränderungs- und Transformations-Prozesse des Menschen sind, passt nicht zu der Doktrin des statischen unveränderlichen Substanz-Selbst und der Sbstanz-Dharmas. In der indischen Kultur und sicher auch im Westen scheint es allerdings eine große Sehnsucht nach einer unzerstörbare, unveränderliche Ich-Substanz oder Ich-Essenz im Menschen zu geben. Diese Weltanschauung widerspricht aber der Realität der Weitentwicklung und Emanzipation des Menschen. Und diese Realität wird durch die aktuelle Gehirnforschung bestätigt.

Entgegen den Vorstellungen des Âtman lehrte Buddha die Bedeutung der Komponenten des Menschen, der sogenannten fünf Skandhas, die er pragmatisch präzisiert und für seine Lehr-Reden zum Menschen verwendet hat. Die Lehre oder besser den Glauben an einen Âtman hat Buddha dem gegenüber radikal abgelehnt, aber damit zugleich ein simples Modell der Wiedergeburt negiert. Dieser Glauben besaß gerade für weniger gebildete Menschen zweifellos wegen der Einfachheit der Glaubensannahmen eine große Attraktivität und Überzeugungskraft.

Die Untersuchungen zur fiktiven Eigen-Substanz, svabhâva, der Dinge und Phänomene, lassen sich sinnvoll verallgemeinern auf das ganzheitliche menschliche Leben. Wenn diese unveränderlichen Eigen-Substanzen nämlich als Entitäten des Menschen existieren, fragt sich, wie die Entwicklungs- und Veränderungs-Prozesse überhaupt erklärt werden können? Unveränderliche Eigen-Substanzen müssten nämlich ein unveränderliches Substanz-Selbst bedingen. Ganz kurz einige Anmerkungen zur Entwicklung des Menschen: Zunächst gibt es eine rasante Entwicklung und gewaltige Lernprozesse des Embryos, Säuglings, des Klein-Kindes und im Jugend-Alters, da ja fast alles auf dieser Welt erlernt werden muss. Dies wird auch von der Entwicklungs-Psychologie und Gehirnforschung voll bestätigt. Danach kommt es oft zunehmend leider zu Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit des Menschen. Die Fähigkeit und Motivation zum Lernen und Verändern geht zum Teil klar zurück. Aber unser „Glücks-Zentrum“ ist weitgehend identisch mit dem Lern-Zentrum im Gehirn: ohne Weiterentwicklung keine Freude und kein Glück. Viele Menschen wirken leider in mittleren und höheren Jahren schon recht festgelegt und unbeweglich in ihren vorgefertigten Meinungen und Vorstellungen und leider häufig auch in Ideologien, Doktrinen und Einsamkeit.

Sie entwickeln und verändern sich geistig und psychisch nur noch wenig weiter. Der Slogan „lebenslanges Lernen“ soll dem entgegenwirken, da in der heutigen Zeit mit den schnellen Veränderungen im technischen aber vor allem im psychischen und sozialen Bereich ein solches lebenslanges Lernen und Entwickeln erforderlich erscheint, um nicht aus der Gesellschaft herauszufallen. Aus meiner Sicht ist dies genau die Zielrichtung Buddhas und Nâgârjunas: Wie kann eine solche Erstarrung, Verhärtung, Verengung oder Dogmatisierung verhindert werden, die zu Schmerzen und Leiden führen müssen? Denn oft sind damit  Vereinsamung, Isolation, Unlebendigkeit und häufig Depressionen verbunden. Früher hieß es „Wer rastet der rostet“, heute heißt es eher „Die Rente und das Alter genießen“. Aber ist das wirklich Genuss? Wenn das nur so leicht wäre. Ein alter chinesischer Chan-Meister formulierte:“ Ohne Arbeit kein Essen“, als die jungen Mönche ihm das Handwerkzeug zur Arbeit wegnahmen, um ihn zu „schonen“. Er begann einen Hungerstreik, bis ihm die Werkzeuge zurückgegeben wurden.

Nâgârjuna beginnt dieses Kapitel mit der Analyse eines isolierten, unveränderlichen Substanz-Selbst und beweist, dass dieses nicht in der Wirklichkeit beobachtet werden kann, also eine Vorstellung, Fiktion und abstrakte Idee ist und bleibt. Er analysiert scharfsinnig die Widersprüche und Inkonsistenz des Glaubens an ein solches Substanz-Selbst oder Âtman und arbeitet die Unvereinbarkeit mit der authentischen buddhistischen Lehre heraus. Er verwendet dabei eine philosophisch präzise Argumentation, die nicht zuletzt logische Widersprüche aufzeigt und damit die Absurdität des doktrinär Geglaubten und der nicht hinterfragten Konzepte offen legt. Auf diese Weise destruiert er die Doktrin des Substanz-Selbst.

Wie aus den vorherigen Kapiteln klar geworden ist, behandelt Nâgârjuna aus verschiedenen Perspektiven die Problemen der unklaren Vorstellungen und unklaren Konzepte des Substanz-Selbst; nicht zuletzt weil sich etwa 600 Jahre nach Buddha in Indien verschiedene Lehrmeinungen entwickelt hatten, die sich dem Glauben an ein Âtman-Selbst bedrohlich angenähert hatten. Dabei wurde der vorbuddhistische Begriff des Âtman nicht wörtlich verwendet, denn das hätte wohl den Ausschluss aus der der buddhistischen Gemeinde, Sangha, zur Folge bedeutet. Es ist sicher das große Verdienst Nâgârjunas, diesen Unklarheiten und Fehlentwicklungen der buddhistischen Lehre und den verfestigten Doktrinen seiner Zeit auf die Spur gekommen zu sein, um mit seinem präzisen Wissen und Argumentieren für Klarheit zu sorgen.

Wir leben sicher im Westen heute in einem Zeitalter des übertriebenen Individualismus, der einen absoluten Freiheitsbegriff oft über alles, insbesondere über die ethische Verantwortung für die Gemeinschaft stellt.  Es gibt dabei die Form des fixierten Egozentrismus, der auf Klagen, Jammern, Zweifelsucht und Verzweiflung basiert und nur um sich selbst kreist. Damit ist die häufig anzutreffende Opferrolle angesprochen, in die sich Menschen hinein manövrieren und sich nicht zuletzt eine fixierte Opferbiografie konstruieren, die ihr ganzes bisheriges Leben umfasst und in die Zukunft fortgesetzt wird. Die Psychologin Verena Kast hat dies in ihren Therapien erfahren und vertieft analysiert. Es ist sehr schwierig einen Menschen, der sich in die Opferrolle verbarrikadiert hat, überhaupt positive Erlebnisbereiche zu verdeutlichen und lebendig zu machen.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Opferrolle die eigenen Probleme nicht löst, sondern selbstverstärkend fixiert. Wie wir heute wissen, verengen sich dadurch Psyche und Geist und das Immunsystem wird nachhaltig geschwächt, sodass neben den psychischen Krankheiten die Lebenserwartung signifikant sinkt. Kreative Interaktionen mit Anderen in einer Gruppe und nicht zuletzt im Beruf sind mit Freude verbunden, aber „Angst macht nicht nur dumm“, sondern zerstört auch die Kreativität. Wer aber aus seinem eigenen Leiden herauskommen und sich heraus entwickeln will, braucht gerade ein hohes Maß an Kreativität, um eigene Strategien zu entwickeln, Kräfte aufzubauen und sich individuelle Perspektiven der Veränderung zu erarbeiten, um aus den Schwierigkeiten herauszukommen.
Für mich sind die Lehren Buddhas der Weiterentwicklung, der Überwindung des Leidens und schließlich des Erwachens von zentraler Bedeutung, die mit dem Glauben an einen unveränderlichen, ewigen Âtman und unveränderlichen Dharmas unvereinbar sind.

Nishijima ergänzt: „Der Glaube an einen ganz bestimmten ewigen Seelenkern, der im alten Indien Âtman genannt wurde, wurde von Gautama Buddha abgelehnt. Auch Nagarjuna kritisiert die Âtman – Lehre in diesem Kapitel.“

Die Buddha-Wahrheit des Selbst und der Phänomene kann durch das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) verstanden werden. Dies kann als die wahre Natur der Menschen und der Wirklichkeit bezeichnet werden und muss von den Doktrinen des Âtman-Selbst und Substanz-Selbst unterschieden werden. Das wahre menschliche Selbst der Wirklichkeit hat keine Extreme wie plötzliches Verschwinden, das Nichts oder die unveränderliche Dauerhaftigkeit und Ewigkeit. Diese Selbst wird durch die Leerheit von solchen Doktrinen und durch das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung treffend verstanden und beschrieben. Die Buddha-Wahrheit ist letztlich unabhängig von bestimmten erleuchteten Menschen.

Nishijima Roshi ergänzt: „Auch die Buddhas, die ohne Lehrer erwacht sind, werden das Problem des substantialen Selbst als fiktiv und ohne reale Bedeutung durchschauen“

Buddha und Nagarjuna lehnen daher ein solches Substanz-Selbst oder Âtman-Selbst sowie der Substanz-Phänomene für die Lebenspraxis ab, denn diese fiktiven Selbste führten unweigerlich ins Leiden. Sie sind die Ursache für Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Intoleranz, Narzismus, Überheblichkeit usw. aber auch für Kleinheitsgefühle, Hoffnungslosigkeit, Selbstanklagen, Depressivität und Verzweiflung. Ein solches Selbst ermöglicht gerade nicht die Überwindung des Leidens und die Befreiung durch Erwachen und Erleuchtung.




Kapitel 19: Zeit, Augenblick und Wirklichkeit
Für Gautama Buddha stehen Entwicklungs- und Befreiungsprozesse des Menschen im Mittelpunkt seiner praktischen und theoretischen Philosophie. Da es sich um Veränderungen und Prozesse handelt, ist die Dimension der Zeit und des Zeitablaufes natürlich von fundamentaler Bedeutung: die Zeit ist nicht hintergehbar, ohne Zeit keine Lebendigkeit und keine Emanzipation. Konstante Entitäten und Substanzen können sich nicht verändern, weder zum Guten noch zum Schlechten. Sie können bestenfalls Zustände beschreiben. Auch für die Untersuchung von Handeln und Karma hat die Zeit eine zentrale Bedeutung. Daher ist die Doktrin des Substantialismus und damit der Unveränderlichkeit für Phänomene und Prozesse der Entwicklung und des Entstehens problematisch und sogar unbrauchbar. Gleiches gilt für das ideologisch verhärtete Verständnis des Momentanismus in der Zeit von Nagarjuna: Wenn man die Zeit „zerhackt“ in Zeit-Momente, die nicht verbunden sind, kann es keine Kontinuität und keine prozessuale Verbindung im Zeitablauf geben. Beide Doktrinen, der Substantialismus und der Momentanismus werden in diesem Kapitel als unvereinbar mit Buddhas Lehre destruiert.

Für Nâgârjuna ist es daher notwendig, im MMK eine kurze Analyse der Zeit einzubringen und vor allem eine Abgrenzung gegenüber dem Zeit-unabhängigen Substanz-Denken durchzuführen. Bei einer Weltanschauung von unveränderlichen Dingen, Substanzen und Entitäten, die Zeit-unabhängig sein sollen, ergibt sich eine radikale nicht überbrückbare Abgrenzung der Vergangenheit von der Gegenwart und zur  Zukunft. Dann handelt es sich einschließlich der Gegenwart um drei jeweils abgegrenzte blockhafte Entitäten. Aber es entsteht die zwingende philosophische Frage, wie der Zusammenhang und die Kontinuität der Zeit mit Prozessen und dem Handeln konstituiert sind. Dass die abgegrenzten und getrennt gedachten Zeitabschnitte wenig brauchbar für Prozesse sind, steht außer Frage. Wenn es abgegrenzte Zeit-Entitäten gäbe, müsste nämlich die Gegenwart und Zukunft in vollem Umfang irgendwie in der Vergangenheit enthalten sein. Das heißt, wir hätten den paradoxen Zustand, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft total identisch sind. Das ist natürlich absurd: Wie sollen dabei Prozesse der Entwicklung, Befreiung und Emanzipation ablaufen?

Bei der Doktrin des Momentanismus werden diskontinuierliche sehr kurze abgegrenzte Zeiteinheiten angenommen, wie die Sautrantikas zur Zeit Nagarjunas behaupten. Er untersucht daher in diesem Kapitel in prägnanter Weise diese beiden wenig brauchbaren doktrinären Ansätze der Zeit und schafft damit die Grundlage für die folgenden Untersuchungen, zum Beispiel der Vier Edlen Wahrheiten Buddhas, den Achtfachen Pfad  und die Befreiungsprozesse des Menschen und die zu überwindende Hemmnisse.

Es ist spannend darauf hinzuweisen, dass die Zeit-Philosophie des Augenblicks im Zen-Buddhismus zwar ähnlich erscheint, aber als praxisorientierter Ansatz das Handeln im Augenblick  und gerade auch die drei Zeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einbezieht.[49] Diese praxisorientierte Lebensphilosophie des Hier und Jetzt ist unauflösbar mit dem Handeln verknüpft.

Das Zeit-Kapitel ist bei Nâgârjuna mit sechs Versen kurz gefasst und präzisiert die Falsifizierung der beiden unbrauchbaren Zeit-Philosophien einer totalen Identität und totalen Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die Entwicklung der westlichen Philosophie unterscheidet sich durchaus seit Parmenides zumindest bis zu Hegel. Typisch ist, dass die Zeit weitgehend marginalisiert (Elberfeld) wurde und das Sein weitgehend zeitunabhängig philosophisch untersucht wurde. Es ist spannend festzustellen, dass im Gegensatz zu dieser philosophischen Frage nach dem unveränderlichen Sein in der westlichen Philosophie die Dimension der Zeit für die Entwicklung der Naturwissenschaft zur wichtigsten Grundlage wurde. Als Beispiele seien genannt: Fallgesetze, Bewegungsgesetze des Sonnensystems, chemische Umwandlungen, mathematische Infinitesimalrechnung und schließlich Einsteins Relativitätstheorie. Jede naturwissenschaftliche Untersuchung, die nach wie vor hauptsächlich auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung innerhalb der wechsel-wirkenden Welt basiert, kann ohne Zeitablauf überhaupt nicht formuliert werden.

Nishijima Roshi sagt zur Zeit: „Die wahre erlebte Zeit des Buddhismus ist in der Theorie und Praxis von sehr großer Bedeutung. Auch in der modernen Physik ist das Verhältnis von Zeit und Raum wichtig. Diese Kenntnisse standen den Buddhisten zur Zeit Nagarjunas natürlich noch nicht zur Verfügung, aber die großen Meister hatten eine tiefe intuitive Einsicht, was die prozessuale wirkliche Zeit und die Sein-Zeit des Handelns für den Menschen und die Welt ist.“ Nagarjuna unterscheidet daher wie Dôgen zwischen der wahrhaft erlebten erfahrenen Zeit des Augenblicks, bei der die Fülle der Sinneskanäle und des neuronalen Netzes voll aktiv sind, und der Vergangenheit, die lediglich durch im Gehirn gespeicherte Informationen erinnert wird, und der Zukunft, die erwartet wird. Die Gegenwart hat damit zwei verschiedene „Gesichter“. Sie ist einmal die gedachte und theoretische Verbindung von der Vergangenheit und Zukunft und ist zum anderen die volle lebendige Erfahrung des Augenblicks im Hier und Jetzt. In der lebendigen Gegenwart findet das wahre Handeln statt: sei es das materielle Handeln des Menschen mit Gegenständen, wie zum Beispiel beim Handwerk oder in der Landwirtschaft, oder sei es die Kommunikation als lebendiges Erlebnis und Entwicklungsprozess in der Wechselwirkung zweier oder mehrerer Menschen.

Nishijima Roshi: "Der Buddhismus hat als wesentliche Grundlage die Wirklichkeit des wahren Handelns im gegenwärtigen Augenblick. Dies ist die wahre Zeit der Wirklichkeit. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft lassen das Handeln in der Realität zu. Sie sind lediglich Erinnerungen und Widerspiegelungen in unserem Gehirn. Ich bezeichne sie als lineare Zeit. Für organisatorische und technische Fragestellungen und Aufgaben ist die lineare Zeit sicher ein wichtiges Hilfsmittel, aber für die Bereiche der existenziellen Wirklichkeit, nicht zuletzt in der spirituellen Erfahrung, ist der gegenwärtige Augenblick wichtiger als alles andere. Gegenüber dem wahren erlebten Augenblick ist eine Zeitangabe mit dem Begriff „Gegenwart“ sehr viel abstrakter und ungenauer. Daher zähle ich die Vorstellung der Gegenwart wie die Vergangenheit und Zukunft zur linearen Zeit und nicht zur Sein-Zeit.

Im Shôbôgenzô von Meister Dôgen gibt es ein gesondertes Grundlagen-Kapitel zur Sein-Zeit mit der japanischen Bezeichnung Uji, wobei U die Existenz und ji die Zeit bedeutet. In diesem Vers kommt Nagarjuna viele Jahrhunderte früher auf die gleichen existentiellen Aussagen über die wahre Zeit wie Dôgen."

Selbst wenn die Bereiche des Lebens und die Dinge und Phänomene der Welt sich in der Vergangenheit irgendwie entwickelt und verändert hätten, aber dann statisch, verfestigt und doktrinär erstarrt sind, kann man keine Verbindung zum Werden und zu Entwicklungsprozessen in der Zeit finden. Wie erwähnt wird dies durch den Sanskrit-Begriff svabhâva und bhâva m. E. sehr präzise von Nagarjuna beschrieben. Zum einen ist im Sanskrit der Begriffe svabhâva und bhâva zwar die Wurzel für Werden enthalten, aber zum anderen ist die Bedeutung der Entwicklung und des Werdens erstarrt oder verschwunden, sie hat keine Verbindung für die Gegenwart und Zukunft. Nagarjuna destruiert hier die Doktrin des Substantialismus und der zeitlichen Unveränderlichkeit. Eine solche Weltanschauung ist selbstverständlich für Befreiungs- und Entwicklungs-Prozesse unbrauchbar. Demgegenüber bedeutet das Wort bhava (kurzes a) wirkliche Veränderung, Prozesshaftigkeit und Temporalität. Die beide Begriffe bhâva und bhava werden hier verwendet und gegen einander gestellt. Sie dürfen nicht verwechselt werden!

Wie in dem Kapitel über das Selbst und des Phänomens mit dem Sanskrit-Begriff svabhâva ist ein solches verfestigte Verständnis der Dharmas des Menschen und seines Lebens besonders fatal. Zudem kommt es der vor-buddhistischen Weltanschauung eines ewigen unveränderlichen Ich-Kerns, des Âtman-Selbst, bedenklich nahe, den Buddha zu Recht in aller Klarheit abgelehnt hat.

In der Philosophie der Gegenwart hat sich Rolf Elberfeld in seinem Buch Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, Methoden des interkulturellen Philosophierens intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Er hat den tiefgreifenden Unterschied der westlichen Philosophie mit dem Buddhismus klar herausgearbeitet.

Nâgârjuna klärt hier das sinnvolle und weiterbringende Verständnis der Zeit und macht dies an dem Begriff der Wechsel-Wirkung, Vernetzung und Selbststeuerung im Zeitablauf mit und ohne einwirkende Kraft fest. Er schlägt damit den Bogen zur Präambel und dem gemeinsamen Entstehen in Wechsel-Wirkung, pratitya samutpada. Eine verfestigte Vorstellung der Existenz und der Unbeweglichkeit des Seienden als substantiale Entität ist damit mit Veränderung und Emanzipation grundlegend nicht vereinbar.

Wie in dem vorigen Kapitel des MMK über das substantiale Sein des Sanskrit-Begriffs svabhâva und das substantialen Selbst, Âtman, ist ein solches statisches und starres Verständnis des Menschen und seines Lebens besonders fatal: Lernen und Emanzipationen sind dann unmöglich. Besonders die vor-buddhistische Weltanschauung eines ewigen unveränderlichen Ich-Kerns, des Âtman-Selbst, wurde von Buddha als Leid bringend radikal abgelehnt. Im gegenwärtigen Zeitalter des übertriebenen Individualismus zeigen sich leider ganz ähnliche Probleme. Dieser Individualismus kommt mit Egoismus, Narzissmus, Mangel an Empathie, Macht-Anspruch materieller Selbstsucht, Fake-News  usw. daher. Nicht zuletzt deswegen kann der Buddhismus heute im Westen das Leiden, die Depressionen und die Vereinsamung nachhaltig vermindern und den Weg zur wahren Selbst-Steuerung und  Freiheit eröffnen.




Kapitel 20: Gesamtheit von Verursachung, Frucht und Wechselwirkung
Das Zusammenwirken von Ursache oder Verursachung und Wirkung in einer ganzheitlichen Situation ist im Buddhismus von zentraler Bedeutung und hat nicht zuletzt für die Vier Edlen Wahrheiten zur Überwindung des Leidens eine hohe Aussagekraft. Gautama Buddha war einer der ersten in der Menschheitsgeschichte, der Leiden direkt auf eigene oder fremde Fehler zurückführte und lehrte, dass man das Enstehen des Leidens genau analysieren, achtsam beobachten und wissen könne. Dann sei es möglich beim Entstehen und den Ursachen anzusetzen, Veränderungs-Prozesse in die Wege zu leiten und dadurch aus dem Leiden heraus zu kommen. Buddha war also ein Therapeut, der ohne religiöse Glaubens-Modelle durch Vernunft und geschulte Intuition die Ursachen und Wechselwirkungen von Schmerzen und Leiden angegangen ist. Nach der Überwindung des Leidens auf ein "normales" Niveau ging es ihm um die weitere Fortsetzung des Wegs zum Erwachen, das heißt um die Befreiung des Menschen von Doktrinen, Dogmen, Hemmnissen, Vorurteilen, Eingrenzungen usw, die wiederum Ängste und Leiden hervorrufen.

Das Grundmodell des Lebens ist für Buddha also, dass verursachende und auslösende Prozesse auf ein gesamtheitliches Gefüge treffen und dadurch Wirkungen entstehen, die zum Leiden oder gerade zum Gegenteil der Befreiung führen. Es geht dabei aber nicht um ein eindimensionales Modell von einer Ursache und einer Wirkung. Das ist zu simpel und wirklichkeitsfremd für jedes Leben. Kalupahana spricht daher beim System als Ganzes von der „Harmonie“ der Ursache, Bedingungen und Wirkungen oder Früchten [50]. Damit wird deutlich, dass wir es mit einem Systemansatz zu tun haben, der eine große Ähnlichkeit mit Ökosystemen aufweist. So war das Verursacherprinzip beim ersten Umweltprogramm in Deutschland von zentraler Bedeutung. Der oder die Verursacher für Folgeschäden im Ökosystem sollen dabei ausfindig gemacht werden und die zur Verantwortung gezogen werden.

Dies ist ein neuer Ansatz und das zentrale Thema des ersten Umweltprogramms der Bundesrepublik Deutschland und der folgenden Gesetzgebung. Wenn es einer klaren Hauptverursacher gibt, kann man leicht und fast linear von der schädlichen Wirkung aus auf die Ursache schließen. Das gibt es sicher auch im körperlichen, geistigen und psychischem Bereich. Aber nicht immer sind die Zusammenhänge so einfach und eindimensional, sondern bedürfen einer gründlichen Analyse der Achtsamkeit beim Menschen. Gautama Buddha hatte vor allem das Wohlergehenden der einzelnen Menschen und die menschlichen Gruppen im Sinn und entwickelte eine praktische Philosophie, die für Entwicklungsprozesse und therapeutisches Handeln gleich gut geeignet sind. Dies ist aus meiner Sicht das Besondere und Einzigartige seines Wirkens. Er baut auf dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (prartitya samutpada) und auf der Vermeidung von absoluten und doktrinären Extremen auf. Damit gewinnt es eine praktikabel handhabe Komplexität, ohne in chaotische und verwirrende Zusammenhänge zu geraten (prapanca). In der Wirklichkeit haben wir es meist nicht mit einer uni-direktionalen Kette von Ursache und Wirkung zu tun, sondern eben um Vernetzungen, Rückkoppelungen und Nicht-Linearitäten.

Wie in der Präambel des MMK thematisch umrissen, ergibt sich durch die Lehre des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung ein Realitäts nahes philosophische System, das die Grundlage für die weiteren Kapitel des MMK bildet. Die Wechselwirkung ist eine Prozess-Vernetzung und nicht ein linearer Prozess, wie die Aussage, von Ursache und Wirkung vielleicht zunächst suggerieren mag. Zwischen Ursache und Wirkung sind im Allgemeinen komplexe lebende Systeme wirksam, die verschiedene Gesetzlichkeiten und Selbststeuerungen haben, aber gleichwohl zu einem Output nämlich der Wirkung führen. Im Buddhismus wird die Wirkung im Allgemeinen als Frucht oder Ergebnis bezeichnet und häufig an dem Modell der Wiedergeburten und von mehreren Leben festgemacht. Damit wird eine Verbindung hergestellt, was im folgenden Leben aus dem vorherigen wirksam ist, insbesondere ob man ein gutes oder schlechtes Schicksal oder Karma hat.

Ein Schwerpunkt liegt drauf, ob man auf der Sonnenseite leben kann oder aber mit großen Problemen und Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Unabhängig davon ist aus meiner Sicht vor allem wichtig, dass die Wirkungen vom Handeln bereits in diesem Leben da sind, also dass vernetzte Kausalprinzip wirksam ist. Im Zen-Buddhismus steht daher dieses konkrete Hier und Jetzt des Handelns im Mittelpunkt der Lehre und Praxis. Das Modell der Wiedergeburt birgt die Schwierigkeiten, dass man mit phänomenologischen oder empirischen Methoden nur sehr schwer Klarheit bei der Reinkarnation bekommen kann und dass dadurch Raum für Spekulationen entsteht, der wiederum  Ängste und Abhängigkeiten von religiösen Machtstrukturen und Unterdrückungs-Mechanismen erzeugt. Dann wird eventuell ein Mensch, dem es schlecht geht, zusätzlich dadurch abgestempelt, dass er ja ein schlechtes Karma von früher habe und damit selbst fertig werden muss. Er müsse sein schlechtes Karma abarbeiten. Eine solche Lebensphilosophie kann natürlich nicht mit Buddhas authentischer Lehre in Einklang gebracht werden.

In diesem Kapitel untersucht Nâgârjuna fehlerhafte Ansätze und doktrinäre Lehren des Zusammenhangs von Verursachung und Wirkung und verwendet dabei im Allgemeinen den Begriff Frucht für die Wirkung. Bestimmte doktrinäre Lehren wurden in den Jahrhunderten nach Buddha im Rahmen des Abidharma entwickelt. Im ersten Kapitel des MMK wird ausgeführt, dass alle lebenden Zusammenhänge durch Wechselwirkung und bestimmte wechselwirkende Faktoren gekennzeichnet sind, die mit der Verursachung unauflösbar zusammen hängen. Eine buddhistische Theorie, die Entwicklungen und zeitliche Prozesse vernachlässigt, kann daher  nicht in der Lage sein, den zusammenhängenden Prozess von Verursachungen, Bedingungen und Wirkungen richtig zu beschreiben. Eine solche fehlerhafte Lehre gab es allerdings zur Zeit Nâgârjunas für die Dinge und Phänomene und des Menschen, die als unveränderliche ewige Substanzen verstanden wurden, die grundsätzlich keine prozessualen Veränderung und Wechselwirkung zulassen. Die meisten Argumente dieses Kapitels beschäftigen sich mit dieser fehlerhaften Weltanschauung. Wenn dieses Fehler vermieden werden, entwickelt die buddhistische Praxis und Theorie eine neue gute Energie!

Nâgârjuna weist präzise nach, dass mit der fehlerhaften Doktrin der Zusammenhang von Verursachungen, wechselwirkende Faktoren und Wirkungen nicht schlüssig verstanden und beschrieben werden kann. Ich bezeichne substantialistisch verstandene Dinge und Phänomene, Dharmas,  als Entitäten. Es kann zwar unterstellt werden, dass die Dharmas eventuell in irgendeiner Weise einmal durch zeitliches Werden entstanden sind, aber dann unveränderlich dauerhaft, isoliert und ewig verstanden werden. Die Sanskrit-Bezeichnung dafür ist svabhâva: etwas Isoliertes und Unveränderliches. Diese Vorstellung kommt dem Âtman der vor-buddhistischen Zeit sehr nahe und kann etwa als unveränderlicher Ich-Kern oder Eigen-Substanz  bezeichnet werden. Heute würden wir eine solche Weltanschauung als extremen Individualismus bezeichnen, der ausschließlich auf sich selbst und das eigene Ich zentriert ist. Er lässt wenig oder kaum Lernprozesse zu und vernachlässigt weitgehend die Wechselwirkung und Empathie im sozialen Zusammenhang. Daraus wird klar, dass ein solcher extremer Individualismus zwangsläufig zu Schwierigkeiten, Leiden und Vereinsamung im Leben führen muss, weil er die Sicht der Wirklichkeit viel zu sehr beengt. Es ist bekannt, dass ein ich-zentrierter Mensch entweder zu Depressionen oder zu Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen neigt. Aber der Mensch ist nicht zuletzt durch seine Evolutions-Geschichte das sozialste aller Lebewesen auf dieser Erde, wie der Psychologe und Gehirnforscher Manfred Spitzer unmissverständlich sagt.

In der Zeit Nâgârjunas gab es als Reaktion auf die Weltanschauung der unveränderlichen Dauerhaftigkeit und Ewigkeit (Sarvastivadins) die extreme Theorie isolierter Zeitmomente in der Welt, die zwar die Starrheit der Dauerhaftigkeit und Ewigkeit überwunden hatte, aber die zeitliche Kontinuität von Prozessen und Vernetzungen nicht angemessen beschreiben konnte (Sautrantika). Danach würde die gesamte Welt und alle Dinge und Phänomene in einer Folge und Kette von isolierten Momenten neu entstehen und total verschwinden und vergehen. Diese Weltanschauung konnte zwar eine gewisse Beweglichkeit in der Zeit begründen, aber keine kontinuierlichen Entwicklungs-Prozesse im Zeitablauf beschreiben. Wenn also die Dinge und Phänomene plötzlich total verschwinden und überhaupt nichts mehr da ist, so muss man dies auch als nihilistische Doktrin ansehen. In einer extrem kurzen Übergangszeit zwischen den substanzhaften Momenten ist danach überhaupt nichts mehr da.

Diese Philosophie darf jedoch nicht mit der Lehre der Augenblicklichkeit des Handelns im Zen -Buddhismus verwechselt werden, die phänomenologisch sowohl den zeitlich prozessualen Zusammenhang als auch den Augenblick des Erlebnisses und der Erfahrung anerkennt und beides zusammenbringt. So spricht beispielsweise der große Zen-Meister Dôgen von vier Zeiten der erwachten Vernunft: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und besonders und darüber hinaus der Augenblick [51]. Dabei wird das dualistische Denken im Handeln und im Augenblick vollkommen überwunden. Wer isolierte Momente in der Wirklichkeit behauptet, kann den Zusammenhang von Ursache und Wirkung und schon gar nicht von vernetzten Ganzheiten erklären. Er negiert damit eine Kernaussage Gautama Buddhas, nämlich das Entstehens in Wechselwirkung. Nâgârjuna falsifiziert diese naive Philosophie der getrennten Momente, die keine prozessualen zusammenhängenden Entwicklungen der Dinge und Phänomene zulässt.

Zusammengefasst kann gesagt werden, dass sowohl eine Philosophie der totalen Identität von Ursache, Bedingungen und Ergebnis als auch eine Philosophie der totalen Unterscheidung und Differenz von Ursache, Bedingungen und Wirkung unbrauchbar ist, um die Phänomene dieser Welt und den Menschen in seinem Zusammenleben sinnvoll und realitätsnah zu beschreiben. Die Philosophie der totalen Identität ergibt sich daraus, dass die Phänomene von Ursache, Bedingungen und Wirkung als dauerhafte unveränderliche und isolierte Entitäten gedacht werden und daher nur entweder zusammen und ineinander geschachtelt auftreten können oder überhaupt nicht. Zeitliche Veränderungen sind dann gar nicht möglich. Totale Differenz und Unterscheidung bedeutet, dass die zeitliche Verbindung nicht vernünftig beschrieben werden kann, die aber für alle prozessualen Entwicklungen und Veränderungen von zentraler Bedeutung ist. Das ist besonders wichtig für Veränderungs-Prozesse des Menschen, also die Überwindung des Leidens, der Befreiung und Emanzipation.

Nishijima Roshi unterscheidet hier den Buddhismus und die Philosophie weltlicher Gesellschaften, die Gegenstand der westlichen intellektuellen Philosophie sei. Demgegenüber sei der Buddhismus die Philosophie der umfassenden Wahrheit, also der höchsten, dem Menschen zugänglichen Wahrheit: „Aber in der buddhistischen Philosophie sind wir fest davon überzeugt, dass es unmöglich für uns ist, Erfahrung, Praxis oder Handeln zu erkennen, ohne dass wir den Bereich des dualen Intellekts verlassen und in den Bereich der Erfahrung, der Praxis und des Handelns direkt eingehen. Wir müssen daher deutlich unterscheiden, wann die Idee eines Ergebnisses gedacht und intellektuell konstruiert sei, wie es in den sozialen Gesellschaften üblich sei. Dann müsse man das Ergebnis von der Ursache genau unterscheiden, weil eben das Ergebnis eine intellektuelle Leistung ist, aber nicht eine unmittelbare Wirklichkeit des Erfahrens und Handelns.

Und weiter: Die Ganzheit von Ursache und Wirkung, könne daher nicht in zwei getrennte Entitäten unterteilt werden, sondern sei eine umfassende Ganzheit im Handeln des Augenblicks. Dabei müsse man diese Ganzheit sich nicht zuletzt als intuitive Vernunft vorstellen: „Meister Nâgârjuna stellt klar, dass sich unsere umfassende und intuitive Ganzheit im Zustand des Gleichgewichts ereignet.“ Dieses sei die ursprüngliche Quelle der buddhistischen Philosophie.

Nâgârjuna warnt davor die Augenblicke wie Entitäten von einander zu trennen, sodass dann der Zusammenhang von einem Augenblick zum nächsten nicht oder nur mysteriös erklärbar sei. Ich folge ihm dabei aus dem Wissen der heutigen Gehirnforschung: In unserem neuronalen Netz werden die verschiedenen Informationen der Vergangenheit mehr oder minder genau gespeichert. Es werden ebenfalls Erwartungen der Zukunft vorgehalten. Dabei spielt die Neugier für das nächste, was passiert, eine besondere Rolle zur Aktivierung der entsprechenden Teilsysteme im neuronalen Netz (Spitzer). Daher ist es einleuchtend, dass es im neuronalen Netz die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft informationell gibt, aber es ist eine offene Frage, wie weit uns dies überhaupt bewusst ist und bewusst sein kann. Wir wissen heute, dass unser Gehirn mit dem Bewusstsein in großen Teilen des Wissens und des Könnens nicht zu erschließen ist, sodass der Gehirnforscher Spitzer zum Beispiel sagt: „Durch bewusstes Denken und Wollen sollten wir unser Gehirn nicht stören“.

Was meint er damit? Viele Funktionen des Gehirns laufen ohne unseren bewussten Willen ab. Dabei ist unser Unbewusstes ein selbstlernendes und sich selbst organisierendes System. Ich mache selber häufig die Erfahrung, dass ich komplexe Zusammenhänge an einem Tag versuche zu verstehen, dies aber nur zum Teil gelingt. Am folgenden Tag erkenne ich  fast plötzlich Zusammenhänge und Verbindungen, die mir vorher nicht klar waren. Was ist also passiert? Das neuronale Netz hat die Aufgaben während des Schlafens weiter bearbeitet und Informationen, Verknüpfungen und sogar logische Zusammenhänge hinzugefügt, die mir gar nicht bewusst waren. Diesen gesamten Zusammenhang kann man als intuitive Vernunft bezeichnen, weil nämlich der bewusste Teil unseres Gehirns sich mit den großen Leistungen des nicht-bewussten Teils verbinden kann und damit Zusammenhänge und Lösungen ermöglicht werden, die wir mit bewusstem oder gar intellektuellem Denken nicht leisten können. Auf diese Weise kann man meines Erachtens auch die Bedeutung der Zazen-Meditation zumindest teilweise erklären: Durch das „Abfallen von Körper und Geist“ im Zen wird bewusstes Denken, bewusstes Wollen und bewusstes Fühlen zur Ruhe gebracht. Dann wird die erweiterte intuitive Vernunft, also das Zusammenwirken größerer Bereiche des neuronalen Netzes ermöglicht. Die Meditation des Zazen bewirkt nicht nur die Minderung von Stress und Unruhe, sondern ermöglicht neue geistige und auch ethische Klarheit.

Wenn wir dieses Wissen der modernen Gehirnforschung auf das vorliegende Kapitel des Zusammenhangs von Verursachung und Wirkung anwenden, so wird klar, dass in dem Augenblick, wenn wir psychisch und geistig im Gleichgewicht sind, ein intuitives Gesamt-Verständnis im Augenblick möglich ist. Diese Gesamt-Verständnis verbindet gespeicherte Informationen der Vergangenheit, also der gedachten Gegenwart, und der Zukunft. Diese Informationen erscheinen nicht in der bewussten Logik des Gehirns. Vereinfacht kann man dann sagen, dass es eine funktionale Einheit von Verursachung und Wirkung im Geist gibt und dass dies ein typischer Augenblicks-Zustand des von Buddha und Nâgârjuna gelehrte „gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung“ ist. Es geht also um das gemeinsame Entstehen als neuer Impuls aus den vorhandenen Informationen im vernetzten Zusammenwirken unseres Geistes.

Dieser Zusammenwirken ist dem bewussten oder intellektuellen Denken allerdings nur zum Teil zugänglich, denn er umfasst eine viel größere intuitive geistige und psychische Ganzheit, eben das wechselwirkende System. Ich finde es erstaunlich und habe tiefe Bewunderung für Buddha und Nâgârjuna, dass sie diese Funktionen unseres Geistes und unserer Psyche so klar erkannt haben, und zur Grundlage unseres geistigen, körperlichen und psychischen Entwicklungsprozess gemacht haben. Wenn eine Philosophie sich nur auf die Vernunft und Intellektualität bezieht, sind derartige Zusammenhänge nicht erkennbar. Die gesamtheitliche intuitive geistige Leistungen, die sich genau im gegenwärtigen Augenblick ereignen, bleiben dabei unberücksichtigt.

Es wird damit deutlich, dass ein vereinfachtes Modell von Ursache und Wirkung in einem eindimensionalen uni-direktionalen zeitlichen Ablauf die Realität der Gesamtheit von Verursachungen und Wirkungen im Netz nicht wiedergeben kann. Daher muss das Verständnis der Kausalität dieser vereinfachten Form erweitert werden, um der vernetzten Wirklichkeit näher zu kommen. Das ist unter Verwendung der modernen Neuro-Wissenschaften eine brauchbare Erklärung für die von Nishijima Roshi hervorgehobene Bedeutung der Einheit im Augenblick für dieses Kapitel. Besonders schädlich wäre eine Substanz-Philosophie, die sowohl die Ursache als auch die Wirkung wie eine getrennte Substanz und Entität versteht und damit gravierende Unklarheit erzeugt. Das zu Grunde liegende Modell der eindimensionalen Kausalität entspricht einer sehr einfachen Mechanik, dass zum Beispiel eine Kugel den Impuls an eine andere Kugel weitergibt und insofern der Zusammenhang von Ursache und Wirkung erklärt werden könne. Unsere geistige komplexe intuitive Vernunft kann mit solchen einfachen Modellen wirklich nicht verstanden und beschrieben werden.

Die moderne Gehirnforschung zeigt uns, welche großen Leistungen unser neuronales Netz erbringt, ohne dass wir davon bewusst etwas mitbekommen oder gar durchschauen. Der Gehirnforscher Spitzer führt als Beispiel an, wie Kinder die Sprache erlernen: Wenn sie zur Schule kommen, also mit etwa sechs Jahren, beherrschen sie bereits ihre Muttersprache. Sie haben die eigene Sprache dabei ohne „Büffeln“ und ohne besondere Anstrengung erlernt. Sie haben kommuniziert, zugehört und selbst gesprochen. Dadurch haben sich die Lern-Prozesse selbst organisiert. Wer eine Sprache beherrscht, hat gleichzeitig die gesamte Grammatik ohne jede Mühe mitgelernt. Wer umgekehrt die Grammatik einer fremden Sprache erlernen musste, weiß wie groß der Aufwand des bewusstes Vorgehen und „Büffeln“ notwendig ist. Die deutsche Grammatik wird in einem Buch von vielen hundert Seiten beschrieben und all dieses hat das Kind beim Erlernen der Sprache ohne Mühe ganz von allein mitgelernt. Erst später kann die Grammatik zum Beispiel in der Schule bewusst gemacht werden, indem die grammatikalischen Details benennbar und sozusagen wieder entdeckt und ins Bewusstsein geholt werden.

Wenn ein Kind allerdings unter Angst-Druck und verkrampft aufwächst und vor allem die Kommunikation mit der Familie verengt und verspannt ist, kann sich ein solcher Lernprozess nicht gut selbst entwickeln, er kann sich nicht selbst organisieren. Die hohe Bedeutung der Mitte und des Gleichgewichts im Buddhismus für ein gutes und gelungenes Leben wird in diesem Zusammenhang besonders klar. Der Geist als selbstlernendes System kann unter Angst, Stress und Krampf nicht richtig funktionieren und Lernprozesse werden sehr mühsam und wenig effizient durchlaufen, wenn sie denn überhaupt gelingen. Eine Befreiung von bisherigen Leiden und die Eröffnung neuer intuitiver energetischen Möglichkeiten und Kreativitäten erfordern daher, dass dieses Leben im Gleichgewicht und in der Mitte gelingt und dass Extreme vermieden werden.

NishijimaRoshi ergänzt: "Aus meiner Sicht sind fast alle philosophischen Systeme nur intellektueller Natur und vernachlässigen das praktische Handeln, die Erfahrung, das menschliche Erleben und nicht zuletzt das Gleichgewicht und die intuitive Klarheit des Buddhismus. Den Buddhismus nenne ich daher die Philosophie der umfassenden Wahrheit im Gegensatz zur intellektuellen Philosophie des Denkens und der Sprache im herkömmlichen Sinne. (Die buddhistische Philosophie) ist die Wahrheit der sozialen Gesellschaften.

Besonders die westliche Philosophie basiert auf dem intellektuellen Denken oder der Sinneswahrnehmung, die aber letztlich auch ihre Grundlage im intellektuellen Verständnis des Gehirns hat. Wir müssen aber den Bereich des dualen Intellekts überschreiten und die Erfahrung, das Handeln und vor allem das meditative Gleichgewicht einbeziehen. Dadurch gelangen wir zu einer Philosophie der umfassenden intuitiven (und nicht dualen) Vernunft und Klarheit. Diese sind für die moderne jetzige Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Aus meiner Sicht ist die Zeit jetzt reif dafür, um die gravierenden Missverständnisse zwischen Theorie und Praxis zu überwinden.

Das umfassende intuitive Verstehen aus unserer menschlichen Mitte und Balance, ist der Kern der buddhistischen Lehre. Dabei ist vor allem zwischen der wahren umfassenden Vernunft und den angestrebten Zielen und Ergebnissen zu unterscheiden, die dem Bereich der Ideen und des dualen Intellekts angehören. Außerdem sind sie nicht selten Teile von völlig unzuverlässigen Schein-Wahrheiten der Gesellschaft Politik, Wirtschaft usw.."

Nâgârjuna hat in den vorangegangenen Versen dieses Kapitels mit allen Varianten und logischen Alternativen nachgewiesen, dass eine Weltanschauung oder Doktrin getrennter Entitäten oder isolierter aus sich selbst entstandener Substanzen für den zentralen Zusammenhang von Verursachung und Wirkung in die Irre geht. Man kommt dann bei den wichtigen Phänomene der Verursachung, wechselwirkenden Bedingungen und des Ergebnisses, hier als Frucht bezeichnet, nicht weiter und es ergeben sich für viele möglichen Alternativen unsinniger und widersprüchliche Schlussfolgerungen. Eine ethische Verantwortung muss aber von dem Zusammenhang von Verursachung und Wirkung ausgehen, sonst würde es zur totalen Willkür des moralischen Handelns unter den Menschen führen, die für alle fatale Folgen hätte. Eine Gemeinschaft und ein sinnvolles Zusammenleben wären dann nicht möglich, weil die Menschen keine Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen. Das widerspräche im Kern der buddhistischen Lehre.

Der letzte Satz diese Kapitels im MMK unterstreicht, dass es die Gesamtheit von Verursachung, wechselwirkenden Faktoren und Wirkung selbstverständlich in der Wirklichkeit gibt. Die wahre buddhistische Lehre muss so aufgebaut sein, dass es hierbei keine Widersprüche und Unsinnigkeiten gibt. Auf diese Weise wird die Brücke zur wahren Lehre errichtet, die gerade nicht durch Entitäten, Substantialität oder dem Nihilismus geprägt ist. Sie vermeidet alle Extreme von total richtig und total falsch oder von totaler Existenz und totaler Nicht-Existenz.

Die obigen unterstellten Doktrinrn der totalen Identität und der totalen Differenz können also nicht richtig sein und widersprechen dem Buddhismus fundamental.

Denn ohne Zweifel können beim wechsel-wirkenden gemeinsamen Entstehen, pratitya samutpada, Verursachung, Bedingungen und Früchte des Handelns sowie deren integrierte Gesamtheit wahrgenommen und gefunden werden. Je genauer man dabei beobachtet, desto wirksamer sind die darauf aufbauenden Handlungen. Diese Lehre ist Grundlage des heilsamen Zusammenlebens der Menschen und des schonenden und nachhaltigen Umgangs mit der Umwelt und den Ökosysteme.

In diesem Kapitel geht es vor allem um die Destruktion falscher Doktrinen, die eine effektive Analyse des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung unmöglich machen, die aber offensichtlich im indischen Buddhismus eine erstaunliche Verbreitung gefunden hatten. Dies gilt besonders für die westlichen Regionen des Buddhismus, in denen vereinfacht gesagt, ein indisch-griechischer Buddhismus entwickelt worden war. Bekanntlich basiert die griechische und die darauf aufbauende westliche Philosophie vor allem auf den Denkern Parmenides, Platon und den nachfolgenden Philosophen bei denen das unveränderliche Sein und das veränderliche aber nicht so wichtige Seiende von vorrangiger Bedeutung waren. Daher wurden Veränderungen, Prozesse und das Zusammenwirken verschiedener Faktoren und Ursachen des Philosophen Heraklit nicht weiter tradiert und sogar zum Teil wie von Platon stark bekämpft.

Die Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkungen haben eigentlich für ein unveränderliches Weltbild vom Sein keine oder geringe Bedeutung. Es geht dabei vornehmlich um Zustände, das „wahres unveränderliche Sein“. Die Veränderungen, Prozesse und Wechselwirkungen wurden weitgehend übersehen oder marginalisiert. Nach meinem Verständnis betreffen die von Nâgârjuna destruierten Fehlentwicklungen der buddhistischen Lehre seiner Zeit und der Fehlinterpretationen des frühen Abidharma, die enge Verbindung mit der griechischen Philosophie des wesentlichen Seins und des unwesentlichen Seienden. Wenn es um die Veränderung, Befreiung und Emanzipation des Menschen geht, kommt den Verknüpfungen von Ursache und Wirkung eine zentrale Bedeutung zu. Dabei dürfen Überlegungen der Verursachung nicht auf Ursachen zurückgeführt werden, die als unveränderliches Sein gedacht werden. Denn dadurch würde bereits präjudiziert, dass Veränderungen und Prozesse eine untergeordnete Bedeutung haben.

Es ist spannend festzustellen, dass mit dem Aufstieg und der Blüte der Naturwissenschaft den Veränderungen und Prozessen auch im Westen ein Aufschwung beschieden war, den es so in der Philosophie nicht gegeben hat. Für mich ist dabei die mathematische Formulierung der Veränderung und Beschleunigung durch die Infinitesimalrechnung von Newton und Leibnitz von kaum zu überschätzender Bedeutung. Interessanterweise wird die Bedeutung dieser mathematischen Gesetze in der schulischen Ausbildung im Westen für menschliche Prozesse eine geringe Bedeutung gegeben, obgleich sie doch für Veränderungen und Emanzipation maßgebend sind. Im Buddhismus gibt es zwar keine mathematische Formulierung von Veränderung, Geschwindigkeit, Beschleunigung und Ähnlichem, aber in der Theorie und Praxis der buddhistischen Therapie kommt ihnen eine zentrale Bedeutung zu. Etwas überspitzt könnte man daher Nâgârjunas Destruktion der Doktrin des Substantialismus, vor allem der Sarvastivadins, mit dem Einfluss der griechischen Philosophie des zeitunabhängigem Seins in Verbindung bringen.

Das Handeln im Augenblick ist zentral für den Zen – Buddhismus, wie er von Dogan formuliert und der Nachwelt übermittelt wurde. Aber diese praktische Philosophie des Augenblicks darf nicht mit dem Momentanismus der Sautrantika verwechselt werden. Dann würde gerade ein kontinuierliches Handeln unmöglich werden und außerdem wäre die Verantwortung des jetzigen Handelns für die folgenden Augenblicke und die zeitliche Dimension ausgehebelt.


Kapitel 21
Entwicklung, Werden, Auflösung und Entwerden
beim Menschen
Kalupahana formuliertl: „Dieses Kapitel schließt Nâgârjunas Untersuchung der Natur der menschlichen Persönlichkeit ab, wie sie sich fortlaufend entwickelt und auflöst, und zwar in Abhängigkeit von den eigenen Handlungen (Karma). In dem Diskurs über das Wissen des Anfangs spricht Buddha von der Evolution und dem Auflösen nicht nur der Welt, sondern auch der menschlichen Persönlichkeit. Dieser Diskurs war primär dafür gedacht, die damalige statische Konzeption der Welt und der sozialen Ordnung zurückzuweisen, die von den indischen, philosophischen und religiösen Partitionen angeboten wurden“. Dabei ist zu betonen, dass Buddha sich nicht primär um Schöpfungs-Theorien und Schöpfungs-Mythen der Welt und des Menschen beschäftigt hat, sondern sehr viel pragmatischer über therapeutische Möglichkeiten der Befreiung und Entwicklung gearbeitet hat.

In diesem Kapitel wird der Mensch als Ganzes analysiert: Wie er sich entwickelt, was sich bei ihm ereignet und was zur Entwicklung beiträgt. Vor Allem wird also die Beziehung zum Handeln untersucht, das heißt, wie ein Mensch durch sein Handeln, Denken, Reden usw. zu seiner eigenen Entwicklung und Emanzipation beiträgt und welche kausalen Prozesse der Veränderung er steuert und steuern kann. Dabei werden die Grundlagen der vorherigen Kapitel verwendet, die für die Dharmas, Dinge und Phänomene, und für den Menschen erarbeitet wurden. Hier geht es nun um den ganzen Menschen zum Beispiel beim Zusammenwirken der fünf Komponenten (Skandas). Die wörtliche Übersetzung des Prozesses der Entwicklung (sambhava) kann wörtlich mit „Zusammen-Werden“ übersetzt werden, wobei die Vorsilbe „sam“ an die Präambel erinnert, in der das gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung (patitya samutpada) herausgehoben wird. Beim Menschen gibt es neben der körperlichen und geistiger Entwicklung fundamentale Auflösungs- und Zerfallsprozesse. Am deutlichsten wird dies durch den Tod des Menschen, bei dem die Körperlichkeit verschwindet und sich auflöst und auch die beobachtbaren geistigen und psychischen Bereiche des Menschen zu Ende gehen.

Diese Veränderungs-Prozesse des Menschen in seinem Leben lassen sich mit einem statischen Modell wie dem vor-buddhistische Âtman philosophisch und auch psychologisch nur ungenau oder überhaupt nicht fehlerfrei beschreiben. Wer an eine substantiale Doktrin glaubt, kann Veränderungen, Entwicklungen oder Auflösungen nicht angemessen erkennen, analysieren und beschreiben. So weit also Doktrinen im Rahmen des Buddhismus entstanden sind, die dem Substantialismus zuzuordnen sind, haben sie große Ähnlichkeiten mit den von Buddha abgelehnten Doktrinen des unveränderlichen Âtman. An diesem Punkt setzt die De-Konstruktion Nâgârjunas an, denn er weist nach, dass zentrale Lehren des Buddhismus mit solchen Doktrinen wie dem Substantialismus im radikalen Widerspruch zu Buddha stehen, sodass die Lehre der Befreiung und Emanzipation ad absurdum geführt wird. Die erstarrte statische Gesellschafts- und Religions-Ordnung der Kasten des Brahmamismus war nach Buddha eine wesentlichen Ursachen des damaligen Leidens der Menschen. Diese Doktrinen sind ausgesprochen schädlich für individuelle Befreiung und Emanzipation. Buddha hatte demnach gravierende ethische Vorbehalte gegenüber der damaligen Gesellschaftsstruktur. Es ist übrigens bekannt, dass in seiner Sangha keine Unterschiede der Kasten anerkannt wurden oder wirksam waren.

Dieses Kapitel richtet sich daher auch gegen eine zutiefst ungerechte starre Schichtung der Gesellschaft in Form der Kasten. Noch gravierender war das religiöse Unrecht gegenüber den Kastenlosen, also den nicht arischen Einwohnern Indiens. Man kann dieses Kapitel durchaus als generelle Absage an eine derartige Gesellschafts-Ordnungen in der Welt verstehen. Dadurch werden auch Fragen des sozialen Karmas von Gruppen und Völkern im Buddhismus einbezogen, also der Wirkungen der Menschen, Gruppen und Gesellschaften auf die gesamte kulturelle Entwicklung des Landes. Buddha hat sich demnach nicht nur zur individuellen Entwicklung und Befreiung geäußert, sondern durchaus die gesamtgesellschaftliche kulturelle Situation behandelt.

Aus der aktuellen Gehirnforschung wissen wir, dass nur ein verhältnismäßig kleiner Bereich des Menschen durch genetische Informationen bestimmt ist und dass ein sehr viel größerer Bereich durch Lernen und soziales Handeln geprägt wird. Wie auch immer dieses Verhältnisse eingeschätzt wird, so ist sicher, dass physisches, psychisches und geistiges Handeln maßgebliche verursachende Impulse für die individuelle und soziale Entwicklung des neuronalen Netzes verwirklicht. Diese Relevanz gilt für das Überwinden des eigenen individuelle Leidens und für die weitergehende Befreiung, die Buddha als Erwachen bezeichnet.

Die Prozesse des Werdens und der Auflösung im menschlichen Leben werden als Samsara bezeichnet, sind also Lern- und Veränderungs-Prozesse des Menschen. Dabei schließt Nâgârjuna statische, starre  und spekulativ metaphysische Denkmuster aus und geht nach meiner Einschätzung konsequent phänomenologisch vor. Das heißt, er beobachtet und analysiert genau das, was sich in der Wirklichkeit ereignet, ohne Verzerrungen durch Doktrinen und Ideologien. Dieses Werden ist durch das Sanskritwort „bhava“ (mit kurzem ‚a’) gekennzeichnet und wird von Nâgârjuna gegenüber dem substantialistisch Seiendem und Sein bhâva (mit langem ‚a’) radikal kontrastiert.

Kalupahna deutet dieses Kapitel vor allem als Kritik an der Doktrin der Sarvastivadins (Substantialismus) und der Sautrantikas (Momentanismus) und destruiert deren metaphysischen Grundlagen (S. 62 und S. 292 ff). Die Aufeinanderfolge von Augenblicken wird bei den Sautrantikas in getrennte kürzeste Zeitscheiben unterteilt, während eine phänomenologische Betrachtung von einem Strom der Augenblicke ausgehen muss. Die akute Gehirnforschung kann mit einer temporalen absoluten Trennung von Zeitscheiben im neuronalen Netz nichts anfangen, denn die Informationen des Gehirns sind selbstverständlich im neuronalen Netz gespeichert und wirken auf den Augenblick des Handels und Denkens ein.

Die gespeicherten Informationen sind aber nicht total statisch und unveränderlich, wenn auch die Veränderungen recht unterschiedlich sein können. Die Gehirnforschung steht mit dem Substantialismus und Momentanismus in radikalem Widerspruch. Gleiches gilt für Erwartungen in die Zukunft, sodass es zeitlich isolierte Momente im neuronalen Netz nicht geben kann. Man darf die Doktrin der Sautrantikas auch nicht mit der Philosophie des Augenblicks im Zen -Buddhismus von Meister Dôgen verwechseln. Die Semantik des Werdens in den authentischen Schriften Buddhas unterscheidet sich demnach fundamental vom Substantialismus und Momentanismus.

Es liegt nahe, dass diese wirklichkeitsnahe Lehre Buddhas und Nâgârjunas die Verantwortung für das eigene Handeln in den Mittelpunkt stellt, weil dadurch die weitere eigene Entwicklung des Menschen maßgeblich beeinflusst ist. Auf keinen Fall handelt es aber sich um einen strikten Determinismus, in dem der Wille des Menschen keine Rolle spielt und der zu einem fatalistischen Weltbild führen muss. Damit ist allerdings keinesfalls der absoluten Freiheit das Wort geredet, denn es geht immer um die konkreten speziellen Situationen und den möglichen Freiheitsgrad des rechten menschlichen Handelns. Hier gibt es übrigens interessante Verbindungen und Analogien zum Schlusskapitel von Hegels Phämenologie  des Geistes (Kapitel 9), die Georg W. Bertram in seinem systematischen Kommentar besonders hervorhebt (S. 282 ff.). 

Wir müssen also einen grundsätzlichen Paradigmen-Wechsel vornehmen und von konstanten unveränderlichen Dingen, Phänomenen, Entitäten oder gar Substanzen, den Dharmas, zu den vernetzten wechsel-wirkende Prozesse. Das gilt für die Dharmas aber in besonderem Maße für den ganzen Menschen. Bei dauerhaften und statischen Entitäten kann es kein Entstehen und Vergehen der Dharmas und auch kein gemeinsames Werden und die Auflösen geben. Wahres reales Werden ist die Übersetzung von bhava, ich möchte dafür auch den Begriff des Entwickelns benutzen. Dieses Werden und Entwickeln  hat im Buddhismus eine sehr große Bedeutung für die Welt und das menschliche Leben. Solches Werden ist für die Erfahrung und Beschreibung unserer Lebens-Prozesse, Entwicklungen, Lern-Chancen und Befreiungs-Wege unabdingbar.

In der westlichen Philosophie dominierte das Paradigma des Seienden und des Seins, dessen Zeitlichkeitm. E.  viele Jahrhunderte immer mehr an die Peripherie des philosophischen Denkens geriet (so auch Elberfeld). Jede Verdinglichung und Trennung von isolierten und dauerhafte Entitäten geht aber in die Irre und verdeckt die Wirklichkeit anstatt sie zu beschreiben, eine solche Entität wird in Sanskrit mit bhâva bezeichnet. Darin ist zwar noch die Sanskrit-Wurzel des Werdens enthalten, aber die Bedeutung ist statisch, dauerhaft und unveränderlich.

Etwas derartig total Dauerhaftes und Statische des Menschen kann nach Nagarjuna in unserem Leben und in der Welt nicht real gefunden werden und es gibt so etwas gar nicht. Mit einem solchen fehlerhaften Ansatz der Statik-Metaphorik kann man Befreiungs- und Lern-Prozesse nicht sinnvoll angehen. Aber genau um diese Prozesse der Befreiung vom Leiden und der Weiterentwicklung zum Erwachen und Erleuchtung des Menschen geht es im Buddhismus und in diesem Kapitel.

Nach Kalupahana gab es als Reaktion auf die Philosophie der buddhistischen Dauerhaftigkeit und Ewigkeit des Substantialismus eine Lehrrichtung, die den Momentanismus in den Mittelpunkt stellte. Diese Doktrin ging davon aus, dass sich die ganze Welt, die Menschen und alle Dinge und Phänomene, Dharmas, permanent total neu bilden und im Augenblick sofort wieder total verschwinden. Diese Richtung der Sautrantika wird von Nâgârjunâ im MMK insbesondere in diesem Kapitel destruiert. Allerdings glaubten deren damalige Vertreter, dass sie mit diesem Ansatz der Augenblicklichkeit, die Veränderungen, Entwicklungen und Lernprozessen bei Gautama Buddhas gerecht werden würden. Nach Nâgârjuna ist das aber nicht der Fall. Was ist nun die Haupt-Aussage dieser Lehrmeinung?

Die Anhänger der Sautrantika-Lehre erkannten zu Recht, dass die Lebensphilosophie unveränderlicher Entitäten oder Substanzen der Substantialisten mit den Kern-Aussagen Buddhas nicht in Übereinstimmung ist. Wenn man dauerhafte Substanzen voraussetzt und behauptet die Welt und die Menschen seien aus diesen Substanzen aufgebaut, kann es kaum gelingen, Veränderungs-Prozesse, Entwicklungen, Befreiungs-Prozesse und überhaupt das Lernen im Gang der Zeit zu beschreiben.

Eine Lebensphilosophie des Augenblicks und der Augenblicklichkeit hat zweifellos den Vorteil, dass man wichtige augenblickliche Zustände des Menschen und der Phänomene besser in den Blick bekommt und zulässt, dass im rfolgenden Augenblick eine andere Situation besteht. Das ist auch die Lehre des Zen. Nach der aktuellen Gehirnforschung erfolgt die Mustererkennung gerade im Augenblick, bei der eine bestmögliche Übereinstimmung der Daten der Sinnes-Kanäle für die Wahrnehmung mit den vorhandenen Mustern im neuronalen Netz ermöglicht wird. Die im neuronalen Netz gespeicherten Informationen, Regeln und Muster der Vergangenheit und Gegenwart haben also nicht die gleiche Informationsqualität wie die Inputdaten der Sinnes-Kanäle.

Das ist auch die wichtige Grundlage des Zen-Buddhismus der so verstandenen Sein-Zeit.  Die Lebensphilosophie des Zen und die Doktrin der Sautrantikas dürfen also  nicht gleichgesetzt werden. Die buddhistische Doktrin des Momentanismus hat den Strom, Zusammenhang und Übergang von einem Zeit-Moment zum anderen philosophisch und pragmatisch nicht überzeugend ausgearbeitet, sodass sie die kontinuierliche Prozesse nicht richtig beschreiben kann. Nach dieser Lehre verschwindet die Wirklichkeit und Welt eines Zeitmoments vollständig, bevor sie in einem neuen Augenblick wieder entsteht. So gibt es eine permanente Kette von nicht zusammenhängenden Realitäts-Momenten und daher momenthaftes Entstehen und Vergehen. Kritisch ist insbesondere die Vorstellung, dass die gesamte Realität des Augenblicks vollständig vergeht, also zu einem Nichts wird. Dieses metaphysische Nichts ist aber etwas total anderes als die Leerheit, die von Nâgârjuna vertreten und begründet wird. Aber wie soll diese Doktrin  des Momentanismus für den Menschen aussagekräftig sein?

Wenn man diese Lebensphilosophie der Sautrantikas auf unsere materielle Wirklichkeit anwendet, wird deutlich, dass sie in sich wenig überzeugend um nicht zu sagen absurd ist. Wie kann zum Beispiel die Materie des Menschen von einem Augenblick zum anderen total entstehen und total wieder verschwinden? Es bedarf dazu sicher nicht einmal der westlichen Naturwissenschaft, sondern eine gute phänomenologische Betrachtung ist hinreichend. Wir wissen ja durch die heutige Gehirnforschung, dass das hoch komplexe lebende neuronale Netz ohne Unterbrechung tätig ist und die codierten Informationen als zeitliche Impulse im Netz prozessiert werden. Die Neuronen des Gehirns selbst können dabei nur zwei Zustände einnehmen, sind also wie die moderne Informationstechnik digital aufgebaut. Die Nervenfasern haben dabei die Funktion der Informationsübertragung, während die sogenannten Synapsen wiederum die Verbindungen zwischen Neuronenzellen und Nervenfasern herstellen und durch ihre Lernfähigkeit die Grundlagen für Motorik, Wahrnehmung, Denken, Gefühle, Generalisierungen, Gedächtnis usw. bilden.

Die Lehre der Sautrantikas von den Augenblicken hat aber nur scheinbare Analogien zu Basisprozessen unseres neuronalen Netzes. Unser Gehirn wird nicht von einem Augenblick zum anderen auf Null gestellt und startet danach im folgenden Augenblick völlig neu. Daher ist das ganz andere Selbstverständnis der Sautranitkas, dass sie nämlich den Glauben der Dauerhaftigkeit und Ewigkeit des Substantialismus überwinden, nicht wirklich überzeugend. Wie Nâgârjuna nachweist, ist diese Selbsteinschätzung der Sautrantikas nicht haltbar und muss daher destruiert werden.

Mit diesen logischen Aussagen und Schlussfolgerungen werden die doktrinären Behauptungen zur Kausalität der Substantialisten und Momentanisten destruiert. Damit wird der Übergang zum äußerst wichtigen nächsten Kapitel eines erwachten und erleuchteten Menschen erarbeitet, der die vielfältigen Destruierungen der vorherigen Kapitel des MMK intergriert und nach Nâgârjuna den wahren Buddhismus der großen Energie des Mittleren Weges verwirklicht. Besonders wichtig ist das Kapitel zu den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad, in dem auch die Leerheit und deren rechtes oder des falsches Verständnis als Nichts im Einzelnen behandelt wird. Schließlich ergibt sich die fast revolutionäre Aussage zum Nirvana, das nicht als jenseitige und spekulativ-metaphysische Antithese zum Leben in dieser Welt des Samsara verstanden wird. Das Nirvana kann nämlich nach Nagarjuna in diesem Leben durch Befreiung und Erleuchtung verwirklicht werden. Dies entspricht aber m. E. genau der Lehre Gautama Buddhas zum Erwachen: Die fundamentale Befreiung von Vorurteilen, unheilsamen Doktrinen, Verhärtungen von Hass, durch Abhängigkeit, Gier, Ehrgeiz, Stolz usw., kurz, das was wir auch mit Erleuchtung bezeichnen, ist dann die Wirklichkeit des Lebens im Nirvana.
Hier besteht eine fundamentale Übereinstimmung mit dem später in China und Japan entwickelten Zen-Buddhismus.



Kapitel 22: Tathâgatha der Erwachte
In der der vor-buddhistischen Zeit war es das höchste ersehnte menschliche Ziel die Unsterblichkeit der ewiger Seeligkeit im Nirvana zu erlangen und endgültigen Erlösung von den Leiden und Katastrophen unseres Lebens zu finden.

Aber ein solcher wunderbarer Glaube ist eben nur ein Glauben und kann für die Bewältigung der realen Probleme im Hier und Jetzt, denen wir nicht ausweichen können, gerade zu neuen unlösbaren Problemen und Leiden führen. Den meisten Leiden können  wir durch Illusionen gerade nicht beikommen.

Der Buddhismus entwickelt dem gegenüber das in dieser Welt realisierbare Leitbild des Buddha oder Tathāgata als höchste Lebensform des Erwachens oder wie es heute meistens heißt, der Erleuchtung. Diese Lebensform ist gemäß dem Buddhismus in diesem Leben für alle Menschen grundsätzlich erreichbar. Im Übrigen werden die Begriffe Tathāgata und Buddha weitgehend synonym verwendet.

Wenn die fünf Skandhas, die Komponenten des Menschen, als dingartige isolierte Entitäten ohne Wechsel-Wirkung miteinander verstanden werden, ergeben sich die von Nagarjuna dargestellten unlösbaren Probleme: Ist der Mensch zum Beispiel die Summe der Skandhas oder nicht? Hat ein bestimmtes Skandha Dominanz über die anderen? Mit der Annahme dinghafter von einander getrennter Entitäten oder Substanzen kann man die schwierige und fundamental wichtige Frage des Tathāgata nicht sinnvoll angehen. Besonders kompliziert und sicher unbeantwortbar sind diese Fragen, wenn man von einem unveränderlichen ewigen und selbst-identischen Âtman des Menschen ausgeht: Wie und wo existiert dieser Âtman im Verhältnis zu den Skandhas? Es wäre besonders unsinnig anzunehmen, dass der Tathāgata identisch mit dem gedachten und geglaubten aber nicht wirklichen Âtman sei.

Durch die Erleuchtung und Befreiung kommen nach Buddha das nicht konntrollierbare Haben-Wollen, die Gier, der Hass, Neid, das Übelwollen, die Hektik, die Trägheit usw. zur Ruhe und wir können ein glückliches, sinnerfülltes und zufriedenes Leben im Gleichgewicht und Lebensenergie führen. Dann verschwindet auch die Sehnsucht nach einer zukünftigen Existenz. Warum ist das so? Wir sind dann erfüllt vom Flowing, der Ruhe und Kraft des Augenblicks, unseren Aufgaben und unserer Verantwortung in dieser Welt. Wir kreisen nicht sinnlos um uns selbst wie ein Hochleistungs-System, das funktionslos im Leerlauf auf hohen Touren dreht.

Wie werden sehen, wie Nagarjuna diesen zentralen Bereich des Buddhismus von den damaligen Fehlentwicklungen der Praxis und Lehre bereinigt und klärt.

Der Sanskrit-Begriff Tathâgata lässt sich je nach Unterteilung übersetzen als "der so Gekommene" oder  "der so Gegangene". Die häufige Übersetzung und Bedeutung in der Literatur lautet "der so Gegangene". Dabei werden verschiedene Varianten beschrieben: Ob der "so Gegangene" Buddha noch existiert, wo er existiert, welche Bedeutung er für die jetzt Lebenden in dieser Welt hat und ob er nach einigen Zeitaltern wieder auf die Welt zu den normalen Menschen zurückkehrt, um ihnen zu helfen. Außerdem ist damit der im Mahâyâna durchaus verbreitete Glauben verbunden, es gebe einen absoluten, vollkommenen Buddha, der sich von dem historischen Buddha unterscheidet, denn der Letztere habe auch Fehler gemacht und so etwas könne ja für einen absoluten Buddha nicht richtig sein. Es wird also ein absoluter vollkommener Buddha von dem menschlichen Buddha, der historisch lebte, unterschieden. Der absolute Buddha fungiert dabei wie ein absolutes Prinzip.

Die zweite Übersetzung des Tathagata lautet „der so Gegangene“. Wie kann der „so Gegangene“ aber konkret und phänomenologisch verlässlich beschrieben werden? Wohin ist er gegangen? Diese Frage ist nicht mehr einfach zu beantworten, weil ein direktes einfaches Fortleben nach dem Tod doch phänomenologisch nicht fassbar ist. Während in den altindischen Upanishaden bekanntlich der Âtman fortlebt und sich von den Beschmutzungen des Karma gereinigt hat, um dann in die ewigen Seligkeit einzugehen. Nicht zuletzt hat Buddha den Glauben oder die Doktrin an ein solches vereinfachtes Karma abgelehnt und den Realitätsbezug zum Leben der Menschen, die Übungen der Praxis und die zunehmende Befreiung vom Leiden gelehrt. Damit ist die psychische, physische und eigentlich auch geistige Trennung vom Âtman und Körper durch den Tod nicht mehr überzeugend zu begründen. Und auch die Verschmelzung mit dem universale ideale All-Selbst (Brahman) und dem entsprechenden ewigen Leben nicht mehr tragfähig. Buddha lehrte dagegen eigentlich recht einfach und pragmatisch die Entwicklung und Emanzipation des Werdens. Er legte den Schwerpunkt auf dieses jetzige  Leben, das im Übrigen ja auch nicht gerade leicht zu durchschauen und zu gestalten ist.

Ich schlage nun eine umfassendere Interpretation des Begriffes Tathâgata vor: Für mich ist es naheliegend, dass sowohl die beiden Bedeutungen des  "so Gekommenen" und  des "so Gegangenen" als auch der reale Lebensbereich in dieser Welt und an dem besonderen Ort in Indien angesprochen wird. Damit wird man dem gesamten Leben und Wirken Buddhas gerecht. Nach den historischen Überlieferungen wurde Buddha als ein besonderes Kind in einer Königsfamilie eines kleinen Königreiches geboren und hatte als hochbegabter Junge die ganze Breite der damaligen Ausbildung durchlaufen. Er erhielt eine ausgezeichnete Unterrichtung in der damaligen Religion und Philosophie, zeigte große Begabung und Fähigkeiten in Musik und Sport und nahm nicht zuletzt an den Regierungsgeschäften und dem Management seines Vaters teil. Er heiratete relativ zeitig und standesgemäß und hatte einen Sohn.

Es gibt zu denken, dass im zweiten Kapitel des MMK fundamentale Aussagen zum Gehen, zum gegangenen Weg und zum Menschen, der geht, vorangestellt werden, bevor die eigentliche Untersuchung des Mittleren Weges durchgeführt wird. Zudem ist das zweite Kapitel ungewöhnlich lang und hat sicher daher für das MMK eine besonders hohe Bedeutung. Nun wird in diesem Kapitel 22 anhand des Begriffes Tathâgata das Thema, die mögliche Problematik und die Richtigstellung des Gehens und des Gegangenen wiederum aufgegriffen. Das kann aus meiner Sicht kein Zufall sein, sondern ist wohlüberlegt und bewusst von Nâgârjuna so gestaltet worden. Eine wichtige Aussage des zweiten Kapitels besteht darin, dass es unsinnig ist, einen unveränderlichen Geher zu behaupten, selbst wenn dies von der indogermanischen Sprache in Sanskrit und auch in Deutsch vielleicht so suggeriert wird. Genauso unsinnig ist es, von einem unveränderlichen oder gar substanzhaften Gegangenen des Weges zu sprechen. Vielmehr will der Autor die Veränderung, den Prozess, die Befreiung und die Emanzipation im menschlichen Lebensgang analysieren.

Das heißt verkürzt, dass man schon zu Beginn seines Lebens zum Beispiel durch seine genetische Disposition nicht total determiniert ist, sondern sich auf seinem Lebensweg aufgrund der zunehmenden Wahrheits-Erfahrung und Realitäts-Erfahrung verändert. Daher hat man nach der buddhistischen Lehre die reale Chance hat, sich zu befreien und sich zu emanzipieren. Solche Emanzipation geht nicht nur über die genetischen Begrenzungen der Vererbung hinaus, sondern baut auf den interaktiven Lernprozessen im Rahmen der Familie des Kindes und zunehmend in größeren sozialen Kontexten auf. Der Sanskrit-Begriff Tathâgata wäre in diesem Sinne etwa verkürzt damit zu umreißen, dass der gesamte Entwicklungsgang des Lebens von der Geburt zur Befreiung und zum Tod beschrieben wird. Die Übersetzung des Sanskrit könnte dann etwa heißen: „Der so durch sein Leben Gegangene“. Damit wäre aus meiner Sicht auch dem Grundsatz Buddhas entsprochen, sich nicht unnötig mit spekulativen Gedanken zum Ende des Lebens, also zum Tod, zu belasten, sondern viel mehr die Möglichkeiten und Chancen des Lebens selbst zu sehen, zu erkennen, zu entwickeln und die jeweils für sich selbst höchste Lebensform zu verwirklichen. Buddha selbst kann hierfür als bestes Beispiel genommen werden.

Und Buddha betont häufig, dass ein solcher Lebensgang der Befreiung jedem Menschen offen steht und zugänglich ist. Aus der heutigen Psychologie und Neuro-Wissenschaft wissen wir, dass Menschen, die sich zuviel mit dem eigenen Tod beschäftigen, eine signifikant kürzere Lebenserwartung haben, als solche, die dies nicht tun. Diese wissenschaftlich fundierte Tatsache stimmt erstaunlich gut mit den Lehren des Buddhismus überein und dies gilt besonders für die Linien des Buddhismus, die sich im Chan- und Zen – Buddhismus entwickelt haben. Danach wären Spekulationen, was mit dem Menschen Buddha nach seinem Tode passiert, nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich. Sie würden vermutlich auf die eigenen Lebensführung zurückschlagen und durch pessimistisch gefärbte Gefühle und Gedanken das eigene Leben verfinstern und signifikant zu verkürzen. Angst vor Alter und Tod erzeugt nach gesicherten Erkenntnissen der Neuro-Wissenschaften die Aktivierung der sogenannten Mandelkerne im Gehirn und dies führt zur Absenkung und Schwächung des Immunsystems. Schon allein dadurch entstehen Krankheiten und Insuffizienzen, die das Leben erschweren und verkürzen. Leider muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass viele Glaubens-Religionen dazu neigen, genau eine solche depressive Grundstimmung, erhebliche Ängste vor dem Tod und dem, was danach folgt, zu erzeugen.

Dies mag die Macht der religiösen Eliten über die Psyche und den Geist der Untergebenen erhöhen und wurde sicher auch so für die damalige Zeit des Brahmanismus von Buddha erkannt und destruiert. Im gleichen Zuge könnte man die Doktrin der Erbsünde des Christentums interpretieren. Angst vermindert die Intelligenz und vor allem die Kreativität des Menschen. Emanzipation, Befreiung und Entwicklung hängen im Gegensatz dazu mit den positiven Kräften von Freude, Flowing  und Glück zusammen.

Die Ängste vor Altern, Krankheit und Tod sind sicher nicht zufällig zentrale Aussage der Vier Edlen Wahrheiten, denn sie verursachen unausweichlich Leiden und Schmerzen. So kann überhaupt der Achtfache Pfad als praktischer Gang der Befreiung und Emanzipation als typisch für den Sanskritbegriff Tathagata der so durch das Leben Gegangene verstanden werden. Dieser Zusammenhang wurde nach meinem Verständnis bisher in der buddhistischen Lehre zu wenig beachtet.

Es gibt noch einen zweiten wichtigen Aspekt, der im zweiten Kapitel genau untersucht wird. Dabei wird der begangene Weg oder das Begangene in den Mittelpunkt gestellt, und ein substanzhaftes Verständnis des begangenen Weges etwa in Form einer ewigen Wegstrecke negiert. Der Weg hat im Buddhismus eine zentrale Bedeutung und dies wird nicht zuletzt durch den Achtfachen Pfad hervorgehoben. In diesem Kapitel zum Tathâgata kann man sowohl den Menschen Buddha erkennen, der seinen Lebensweg von der Geburt über die Jugend zu den Entwicklungsphasen der idealistischen Meditation und zur Periode der extremen Askese bis zur Erleuchtung und zum Erwachen gegangen ist. Buddha hat dann über vierzig Jahre seines Lebens weitere Erfahrungen hinzu gewonnen und unermüdlich seine geradezu revolutionäre Lehre zur Emanzipation und Befreiung des Menschen an die Lernenden nicht zuletzt der Mönche seiner eigenen Sangha weitergegeben. So ist mit dem Begriff Tathâgata aus meiner Sicht auch der von ihm selbst begangene Weg der Befreiung gemeint.

Bei Buddha wurden unbeantworteten Fragen an die damalige Religion, Philosophie und praktischen Lebensführung immer drängender. Er entschloss sich, ein Hausloser zu werden und zunächst zwei der bekanntesten Weisen und Heiligen des damaligen Brahmanismus aufzusuchen, um fundiert Meditation zu erlernen. Es gelang ihm in relativ kurzer Zeit das Gelehrte selbst zu verwirklichen. Er war jedoch damit nicht zufrieden und suchte nach weiteren Wegen, um Klarheit und Erwachen zu erlangen. In der damaligen Philosophie gab es eine strikte Trennung von Âtman-Geist einerseits und Körper andererseits, sodass er nach dem, wie er meinte, vergeblichen Versuchungen der geistig meditativen Entwicklung zum Extrem der körperlichen Askese überging und diese bis ins Extrem und zur Todes-Nähe praktizierte. Er stellte aber fest, dass auch dieser Weg unbrauchbar war, um tiefe nachhaltige Befreiung zu erlangen, sodass er auf sich selbst gestellt war und eigene ganz neue Wege suchen musste. Nach der Überlieferung wählte er dann eine einfache Methode der Meditation, die nach chinesischer und japanischer Überlieferung dem Zazen im Lotussitz gleich war.

Im Zen heißt, er „ließ Körper und Geist fallen“ und überlasse dich in der korrekten Sitzposition des Lotus dem Hier und Jetzt ohne konkrete oder drängende Ziele, ohne Gedanken, Vorstellungen und Gefühle. Beim aufgehenden Morgenstern erfuhr er dann das große umfassende Erwachen und die Erleuchtung. Es wurde ihm klar, dass einseitige körperliche noch so große Anstrengungen einerseits und die damals gebräuchlichen Methoden der Meditation nicht geeignet waren, um Befreiung und Emanzipation zu verwirklichen. Kaluphana interpretiert den Fehlschlag der damaligen Meditation damit, dass im Brahmanismus das absolute universelle Wissen, die Allwissenheit, angestrebt wurde. Buddha erkannte, dass eine solche Allwissenheit nicht von einem Menschen erlangt werden kann. Dies entspricht im Übrigen der aktuellen Gehirnforschung, denn die Allwissenheit würde bedeuten, alles über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Welt, in sich selbst, in seinem eigenen Geist und Gehirn, bei Anderen, bei Tieren, im Kosmos und überhaupt zu wissen, zu kennen und zwar sowohl als Ganzes als auch im Detail. Das ist natürlich unmöglich. Die Welt und das eigene neuronale Netz sind von unendlicher Komplexität. Im Gehirn ist zudem die unbewusste Intelligenz um viele Größenordnungen umfassender als der bewusste Teil.

Nach der Erleuchtung lehrte  und verfeinerte er seine sehr praktische und therapeutische Lehre zur Überwindung des Leidens, zur Befreiung und Emanzipation über 40 Jahre, bis er mit etwa 80 Jahren verstarb.

Als er aus dem Leben ging, hatte er also die höchste, dem Menschen mögliche Weisheit und Praktikabilität des Handeln, Denkens und Redens, aber auch der Gefühle, Planungen und des Erkennens erlangt. Er kam also als ein hoch Begabter in eine ausgezeichnete Zeit und soziale Umwelt, lernte und entwickelte sich dort bis zum Augenblick der Erleuchtung, lehrte dann und entwickelte die Lehre für verschiedene Menschen in verschiedenen Situationen immer weiter, bis er in hohem Alter starb. Aus meiner Sicht ist es möglich den Sanskrit-Begriff Tathâgata so umfassend als die gesamte Lebensspanne und seinen ganzen Lebensweg mit dem Beginn, dem gesamten Leben und dem Ende zu verstehen: der so „Gekommene, der so Lebende und der so Gegangene“

Es ist eine alte Frage ist, ob Buddha ein ‚normaler’ Mensch war, der bekanntlich im Buddhismus durch die fünf Komponenten oder Skandhas gekennzeichnet ist. Diese Komponenten sind nicht isoliert zu verstehen, sondern wirken zusammen und sind eben der lebende Mensch.
Nagarjuna untersucht, ob Buddha als Erwachter und Erleuchteter mit diesen Skandhas identisch ist oder nicht. Sicher ist es eine vereinfachte dualistische Frage, die nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Es ist auch wichtig dabei in Erinnerung zu behalten, dass der Buddhismus nicht von der Lehre eines ewigen unvergänglichen Âtman als Kern des Menschen ausgeht. Dann wäre die Frage in der Tat leicht zu beantworten, denn innerhalb der fünf Skandhas müsste die ewige Substanz oder Essenz des Âtman in irgendeiner Form enthalten sein und auch aufgefunden werden können. Nâgârjuna stellt daher auch hier diese Frage und beginnt in diesem Kapitel damit die Analyse des Tathagata als der Erwachter.

Es geht in diesem wichtigen Kapitel also vor allem um folgende Klärungen: In welchem Verhältnis steht der Tathâgata oder Buddha zu den fünf Komponenten des Menschen, den Skandhas, und gibt es eine totale Identität oder Differenz mit diesen? Wenn man die in der Präambel genannte Wechselwirkung für das Verständnis der Wirklichkeit voraussetzt und auch auf den Tathâgata bezieht, fragt sich, ob man mit einer substantialistischen Doktrin weiterkommen kann. Dabei wird auf das erste Kapitel Bezug genommen, wo eine Entstehung total aus sich selbst, also in einer isolierten Situation eines Substanz-Selbst, nicht weiterführt, und wie der Bezug zu anderen `Selbsten` ist. Nâgârjuna stellt fest, dass der Tathâgata auf jeden Fall menschliche Skandhas umfasst.

Denn wenn er sie nicht hätte, müsste er sie sich aneignen also ergreifen. Aber auch ein solches Aneignen darf nicht als substantial, verdinglicht und isoliert verstanden werden, weil das der Wirklichkeit des Lebens widerspricht. Für die Abwesenheit jeder Eigen-Substanz verwendet Nâgârjuna den Begriff leer und deutet gleichzeitig an, dass man die Begriffe Selbst und Ich als Hilfe zwar bei der Kommunikation verwenden könne, aber nicht verabsolutieren dürfe. Das wahre Selbst bezeichnet daher nicht eine bestimmte Substanz oder Essenz im Menschen, sondern das Ganze des Menschen. Er warnt weiterhin vor den Extrem-Aussagen, dass der Tathâgata existiert oder nicht existiert, weil eine solche Doktrin ebenfalls eine unveränderliche aber nicht wirklich vorhandene Substanz voraussetzt.

Dann sei es unmöglich, den Tathâgata wirklich zu sehen und zu erkennen. Schließlich wird verallgemeinert, dass auch das Universum nicht aus keine Eigen-Substanzen und nicht aus Substanz-Seiendes besteht, die dann aus sich selbst entstanden sein müssten. Buddhas „Nicht-Ich“ oder „Nicht-Selbst“ bedeutet auch, dass es kein absolutes substantiales Selbst im Sinne des Âtman-Selbst gibt. Also ist jeder Mensch ein einzigartiges Individuum im Universum, aber der Mensch hat kein Âtman-Selbst im Sinne der altindischen Religion und Philosophie. Das Âtman-Selbst ist für Buddha eine gefährliche Fiktion, Spekulation und Illusion und gerade nicht die wahre Natur des Menschen! Die wahre individuelle Natur des Menschen hat also kein derartiges spekulatives und metaphysisches Ich oder Selbst.

Nishijima Roshi übersetzt den Sanskrit-Begriff Tathagata mit Verwirklichung und betont bei diesem Begriff Tathagata für Buddha, dass er ein Mensch sei. Jemand der sich verwirklicht habe, der also einengende und schädliche Vorurteile, Ideologien, Doktrinen und Unmoral überwunden hat und so in der lebendigen Wirklichkeit lebt, fühlt, denkt und handelt wirklich. Dies ist besonders nach dem Zen ein Zustand und Prozess der tiefen inneren Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Lebensfreude: „So bezieht (sich der Begriff Tathagata) auf einen besonderen Menschen wie Gautama Buddha, der wie aus der erstarrten Welt fortgegangen sei und in den Zustand der Verwirklichung eingetreten ist“. Und weiter er habe "mit der Bedeutung den ´Zustand in dem die Wirklichkeit realisiert ist´, erreicht.

Und dies sei eine andere Beschreibung dafür, dass die wirkliche Welt erkannt und erfahren wird. Nishijima Roshi ist fest davon überzeugt, dass der Buddhismus eine realistische Philosophie ist, die eng mit dem menschlichen Körper und Geist verbunden ist. Dabei sei auch das vegetative Nervensystem wichtig, denn es bewirkt fundamentale Steuerungs-Funktionen und ist die Grundlage für viele psychische und geistige Zustände und Prozesse. Bekanntlich arbeitet es mit den beiden gegensätzlichen Teilsystemen des Sympathikus für die Aktivierung, auch von Illusionen und Fantasien, und dem parasympathischen System, das eher verengte materialistische Aktivitäten im Geist steuert. Nishijima Roshi nennt beides das Zusammenspiel von Idealismus und Materialismus. Beide Philosophien sind auch in der westlichen Philosophie von grundlegender Bedeutung. Nishijima Roshi sagt unmissverständlich, dass ein Gleichgewicht dieser Basissysteme für unser Leben im Gleichgewicht in der Ruhe, in der Aktivität, in der ausgeglichenen Weise von Aktivität und Passivität fundamental wichtig sei. Gautama Buddha habe das klar erkannt, realisiert und entsprechend gelehrt.

Meister Dogen betont im Zen-Buddhismus, dass die weitere Entwicklung der Buddhas nach der Erleuchtung immer weiter geht. Das ist für mich ein überzeugenden Ansatz, denn die Erleuchtung ist kein Ding und auch kein statischer Zustand, sondern die Verwirklichung unserer wahren Natur.

In der Welt ist überall das Prinzip des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada, zu beobachten und zu erfahren. Das stimmt auch mit aktuellen verlässlichen Ergebnissen der Öko-Systemforschung, Neuro-Biologie und den systemischen Aussagen der Soziologie und Psychologie überein. Es ist höchst bemerkenswert, dass das große erleuchtete Genie Gautama Buddha bereits vor etwa 2.500 Jahren davon wusste und diese Wechselwirkung zur Grundlage des seitdem bewährten Befreiungs-Weges machte. Und Nagarjuna hat einige Jahrhunderte später den falschen Ansatz und diesen Weg mit seinem Werk MMK fulminant und auf höchstem Niveau destruiert, restrukturiert und den Weg fortgesetzt. Dadurch hat Buddha die bis dahin unbekannten menschlichen Energien der eigenen Befreiung und Emanzipation freigesetzt und kreativ verstärkt.

Nishijima Roshi hebt hervor, dass das Erwachen eines Menschen von Vorstellungen einer doktrinären gedachten Existenz unterschieden werden müsse, denn die sei eine scheinbare Individualität, die durch Kräfte der Gesellschaften mit ihren Doktrinen und Vorurteilen geprägt sei. Die Verwirklichung oder Befreiung wird von solchen illusionären Idealisten vermutlich als ärmlich abgewertet, aber das sei falsch. Denn auch die Welt in der wir leben, entfaltet ihre ganze Schönheit und Vielfalt für einen Erwachten ist und ist weder grob noch ärmlich. Dies gilt für das wirkliche Leben des Erwachten im Hier und Jetzt. Spekulationen was es wohl vor der Geburt Buddhas für wunderbaren Vorstellungen gebe, sei genau so unwirklich, wie märchenhaftes Vorstellungen nach seinem Tode. Derartige Fantasien sind Nishijima Roshi fremd.

Nishijima Roshi destruiert ein materialistisches oder substanzhaftes Verstehen der Fünf Skandhas, der Gliederung des Menschen, die Gautama Buddha sehr nüchtern und pragmatisch vorgenommen habe. Dann sei eben der Begriff des "Ergreifens" fehlerhaft, weil dann die Skandas dinghaft als Entitäten verstanden werden. Dadurch verliert die Wirklichkeit die Qualität des Natürlichen und werde durch Doktrinen und Vorurteile verborgen. Wer wiederum alle Theorien im Buddhismus ablehnt, und das gibt es auch im Zen, würde den Fehler begehen, dass er die Vernunft und die wahre Lehre geringschätzt. Dann würden die Chancen zur Verwirklichung und Erleuchtung des Menschen drastisch vermindert: „Wenn wir die verengte materialistische Interpretation der wirklichen Welt und der Fünf Skandas überschreiten, wird es wahrscheinlicher, dass wir die Verwirklichung erreichen“.



Kapitel 23: Vertauschung, Verfälschung und Ethik
In diesem wichtigen Kapitel untersucht Nâgârjuna das sogenannte normale Leben und normale Denken der Menschen, die vielfältigen Täuschungen, Irrtümern, Illusionen und Verfälschungen aufsitzen. Das Sanskrit Wort heißt vipariasa und wird nach Möbius in Deutsch wie folgt übersetzt: Umwerfen, Wechsel, Vertauschung, Gegenteil, Irrtum, Verkehrtheit, Unglück und Unfall. Dieses semantische Feld charakterisiert meines Erachtens recht gut die zentralen Aspekte, die Nâgârjuna nunmehr angeht. Eine gewisse Beziehung gibt es dabei zu ethischen Bewertungen, wie gut und schlecht, sündig oder heilig usw. eine Handlung ist. Nach Buddhas Erfahrungen sind für solche Vertauschungen und Verfälschungen der Wahrnehmung, der Gefühle, des Denkens und der Ethik vor allem die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung maßgebend. Und oft "kleiden" sich diese Gifte in täuschende Ideologie und Doktrinen und sie schaden dann den Täter und anderen.

Diese Gift führen zu einem Leben der Passivität, Dumpfheit, der fehlenden Selbstreflexion und Achtsamkeit aber auch zu wildem Aktionismus. Kennzeichnend ist eine unzureichenden Selbst-Steuerung und fehlende Selbst-Kontrolle bei Hass, Wut, Rache usw.. Diese Gifte verhindern die gute Entwicklung des Menschen auf dem Achtfachen Pfad und die Verwirklichung der Befreiung und Erleuchtung, die Buddha in sieben Bereiche gliedert. Jemand der von den drei Giften abhängig und determiniert ist, unterliegt Täuschungen, Verfälschungen oder auch romantisierenden Illusionen, die er nicht durchschaut und die letztlich ins Leiden führen müssen. Oft sind dabei individuell-doktrinäre Bewertungen und Vorurteile maßgebend, nicht zuletzt um sich selbst entweder zu überhöhen und der Wirklichkeit des eigenen Lebens auszuweichen. Das trifft zum Beispiel bei Narzisten zu. Aber auch das Gegenteil kann beobachtet werden: Manche Menschen verdammen sich selbst über die Maßen und verachten sich. Damit kreisen sie aber auch um sich selbst zu, sodass wichtige Lern- und Befreiungsprozesse schwierig sind oder ganz unterbleiben. Diese Menschen sind gerade nicht wach und klar im Augenblick, sind geradezu immun gegenüber der Wirklichkeit. Es kann sich um Dumpfheit oder Dösigkeit handeln oder auch um ideologisch aufgeladene Rechthaberei und Indoktriniertheit und Brutalität.

Wie kann es nun zu solchen Täuschungen, Verdrehungen und Verfälschungen kommen? Buddha nennt die berühmten Fünf Hemmnisse und Blockaden auf dem Weg des Erwachens und der Emanzipation . Sie werden im frühen Buddhismus den sieben Gliedern der Erleuchtung gegenüberstellt. Es handelt sich um folgende Hemmnisse: auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen, das unkontrolliert und rücksichtslos gegenüber den Objekten der Sinnlichkeit entsteht, vorhanden ist und im besten Fall vergeht und überwunden werden kann. Ähnliches gilt für das Übelwollen anderen gegenüber, das oft sogar verdeckt und nicht einfach erkennbar ist. Buddha nennt weiterhin Erstarren und Trägsein, das heißt eben Dumpfheit, laues oder abgestorbenes Interesse und Passivität, die heute im Übrigen nicht zuletzt durch ein Übermaß an Fernsehkonsum und Smartphon-Abhängigkeit und Smartphon-Sucht erzeugt werden.

Das Gegenteil, aber in ähnlicher Weise negativ wirksam, ist das Hemmnis Aufgeregtheit und Unruhe. Dazu sind Stress, ungezügelter Ehrgeiz und krankhafte Konkurrenz zu zählen. Schließlich wird von Buddha die Zweifelsucht genannt, die aus meiner Sicht einem nihilistischen aber oft aggressiven Geist entspringt. Wer an allem und jedem zweifelt, hat keine Möglichkeit der Befreiung und Emanzipation. Der Philosoph Gadamer stellt für chronische Nihilisten ein erhebliches Maß an Unehrlichkeit und Verlogenheit fest, weil auch ein Nihilist vegetativ überleben will und der Nihilismus vielleicht nur Show und Wichtigtuerei ist. Ein Nihilist meint wohl, besonders intellektuell zu sein und er durchschaue die totale Negativität der Welt. Diese fünf Hemmnisse würde ich ohne Schwierigkeiten dem Thema zuordnen, das in diesem Kapitel von Nâgârjuna als Täuschungen, Verdrehungen und Verfälschungen behandelt wird.

In einem bekannten Sutta (angutara nikaya, A 2.52) werden vier grundlegende Irrtümer und Verdrehungen genannt. Diese betreffen drei verschiedene Funktionen, nämlich die Wahrnehmung, das Denken und die Sichtweise. Für diese so wichtigen Funktionen des menschlichen Lebens gibt es dabei vier gravierenden Verwirrungen bis zu üblen Pervertierungen, bei denen sich das Gegenteil von dem entwickelt und durchgesetzt hat, was wahrgenommen, gedacht oder gesehen wird:

1. Erstens die Vertauschung und das falsche Verständnis, dass das Lebendige
und Veränderliche konstant und unveränderlich sei.
2      Etwas erscheint zweitens etwas als Leiden, das überhaupt kein Leiden ist.
3     Das Nicht-Substantiale der Wirklichkeit wird als drittens substantialistisch verstanden.
4     Das Nicht-Reine wird viertens als rein eingeschätzt.

Da sich diese Vertauchen, die  jeweils auf die Wahrnehmung, das Denken und die Sichtweise beziehen, handelt sich um fundamentale Verdrehungen und Pervertierungen der Wirklichkeit. Solche  Menschen sind unklar und entwickeln sich vor allem nicht auf dem Buddha-Weg zur Wirklichkeit und Wahrheit. Sie kommen menschlich überhaupt nicht voran.

Die ersten drei obigen Bereiche Vertauschens und der Täuschung werden als typisch und charakteristisch für die unklare menschliche Existenz verstanden:[52] also die Unveränderlichkeit, das Leiden und die Substantialität. Sie wurde von Nâgârjuna insbesondere in den vorangegangenen Kapiteln 2, 12 und 17 eingehend derstruiert. In diesem Kapitel geht es nun um die Frage, was rein und was nicht rein ist und wie das mit den Giften von Gier, Hass und Verblendung zusammenhängt. Denn durch diese Gifte werden nach der buddhistischen Lehre die fünf Komponenten des Menschen, Skandhas, maßgeblich beeinflusst, oft sogar deterministisch bestimmt und sogar pervertiert. Von besonders großer Bedeutung ist dabei die Ethik, was also moralisch gut und was als nicht gut ist oder um es anders auszudrücken, was rein und was nicht rein ist. Dadurch wird deutlich, dass Ethik und Moral von entscheidender Bedeutung für die Wahrnehmung, das Denken und die Sichtweise sind.

Aus diesen Vorüberlegungen wird deutlich, welche fundamentale Relevanz der rechten Ethik oder pervertierte Unmoral zukommen. Er erweist sich zudem als außerordentlich wichtig, ob die jeweiligen fiktiven Merkmale wie Unveränderlichkeit, Leiden und Substantialität absolut verstanden werden oder ob die für alles Leben charakteristische Wechselwirkung wirklich einbezogen wird. Die Verabsolutierung besonders ethischer und moralischer Aspekte führt unweigerlich zu den als Giften bezeichneten Fehlentwicklungen und Perversionen von Gier, Hass und Verblendung. Starke Affekte wie Gier und Hass bewirken im Übrigen nach der aktuellen Gehirnforschung, dass Vernunft, Logik und Ethik in unserem neuronalen Netz weitgehend oder vollständig „abgeschaltet“ werden und damit die Vernunft und psychisch geistige Klarheit fehlen. Das Leiden entsteht danach vor allem deswegen, weil die Veränderlichkeit und Nicht-Substantialität geleugnet werden und sich die Weltanschauung einer fixierten Scheinsicherheit der Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit hingibt.

Damit wird ein ewigen Substanz-Kern der Dinge, Phänomene und des Menschen geglaubt und behauptet. Da die Wirklichkeit aber nicht statisch und unveränderlich ist, schlägt sie gewissermaßen als verstärktes Leiden zurück und die scheinbare Sicherheit erweist sich als brüchig und unzuverlässig. Ein ewiges unveränderliches Sein, das der europäischen westlichen Philosophie durchaus nicht fremd ist, kann daher gerade zu Verunsicherungen und Leiden in unserem Leben führen. Dass eine große Sehnsucht nach derartiger Unveränderlichkeit und Substanzhaftigkeit bei vielen Menschen vorherrscht, soll sicher nicht bestritten werden. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um Scheinsicherheit und psychische Abwehr-Mechanismen, deren Zerbrechen umso leidvoller und tragischer erfahren wird. Wer sich allerdings umgekehrt dauernd mit negativen Veränderungen und dem angeblich unaufhaltsamen Niedergang bis zum Tod beschäftigt und darauf fixiert ist, wird auch ein Leben voller Unzufriedenheit und Leiden führen müssen. Aus der Gehirnforschung und Psychologie wissen wir, und das ist empirisch einwandfrei nachgewiesen, dass eine überstarke Fixierung und Beschäftigung mit dem Tod das Immunsystem schädigt und die Lebenserwartung um viele Jahre verkürzt. Der kraftvolle Mittelweg führt also zur Befreiung.

Die Extreme der Scheinsicherheit durch Dauerhaftigkeit einerseits und tragischem permanenten Niedergang andererseits sind also für den Menschen überhaupt nicht heilsam. Weder die Verleugnung noch die Überbewertung von Gefahren des Alters, der Krankheit und des Todes können also ein gutes Leben ermöglichen. Beide Extreme führen zudem zu einem oft pathologischen Ich-Bezug und zu einer gefährlichen Ich-Zentrierung, die wiederum in die Einsamkeit und Isolation des Menschen mündet. Vor allem lebende soziale Netze und soziale Gruppen geben den Menschen dagegen ein hohes Maß an Lebens-Sicherheit und Wohlbefinden. Während Einsamkeit nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Leiden, Stress, Angst und hoher Sterblichkeit führen. Einsamkeit ist die häufigste Todes-Ursache 

In neuerer Zeit kann man eine zu starke Nutzung der digitalen Netze als wichtige Ursache für Stress und Einsamkeit erkennen. Es ist deutlich, dass das durchschnittliche Wohlbefinden besonders der jüngeren Menschen durch die digitalen Netze seit etwa 2014 sich deutlich vermindert. Digitale Netze geben daher zwar eine gewisse oft nur scheinbare Verbundenheit mit anderen, aber diese Verbundenheit bezieht sich nicht ganzheitlich auf den Menschen, sondern eben nur auf verkürzt digitale Informationen mit einem zudem sehr kleinen technischen Gerät. Die digitale Technik ermöglicht nur eine drastisch verengte Kommunikation mit anderen. Umso erstaunlicher ist es, wie schnell und wie rapide sich diese digitalen Netze ausgebreitet haben und sich bei Übernutzung unverzüglich in das Gegenteil sinnvoller und guter sozialer Kommunikation verkehren. Sie pervertieren dann zu un-sozialen Netzen, ohne dass den Abhängigen das vermutlich deutlich und bewusst erkennen. Die übertriebenen pervertierten Nutzungen der digitalen Netze bewirken daher das Gegenteil sinnvoller sozialer Netze. Sie führen zu Vereinsamung, Depression, Aggressivität und zunehmender Lebensunsicherheit. So kann die Gier nach Informationen, die Neugier, sich in das Gegenteil der Einsamkeit und Depression verdrehen.

In diesem Kapitel geht es nun vor allem um menschliche Einschätzungen und Bewertungen von schön, erfreulich und wahr, aber auch von rein, unrein im Zusammenhang mit Irrtümern, Täuschungen und Verwechslungen  durch die drei Giften Gier, Hass und Verblendung. Wie können wir objektive Klarheit bei körperlichen, geistigen und psychischen Problemen gewinnen? Gibt es dabei nicht doch absolute Wahrheiten, wie auch die westliche Philosophie der Metaphysik zumindest teilweise behauptet hat? Und wie vermeidet man ideologische Simplifizierungen und dogmatische Verhärtungen zum Beispiel mit einfachen Ja-Nein-Bewertungen, moralischen Diffamierung anderer Menschen oder Gruppen und extremen ideologischen Konzepten? Kalupahana spricht von Perversionen, die bei Doktrinen und Ideologien gerade bei manchen Religionen, Weltanschauungen oder Vorurteilen zu beobachten sind.[53] Sind die Hexenverbrennungen des späten Mittelalters und der beginnenden Renaissance etwas anderes als furchtbare Perversionen der christlichen Religion der Wahrheit und Nächstenliebe zu verstehen: „Liebe Deine Feinde wie dich selbst“? Das wir wohl keiner bestreiten. Wann und warum entstehen Vertauschungen und Verfälschungen von schön und hässlich, erfreulich und unerfreulich, redlich und unredlich sowie wahr und nicht-wahr?

Das sind zweifellos schwierige aber sehr wichtige Fragen und Themen der buddhistischen Lehre, die in diesem Kapitel einer gründlichen Analyse und Klärung unterzogen werden.

Wenn wir wie Gautama Buddha und Nagarjuna Wechsel-Wirkungen und gemeinsames Entstehen in unserem Leben einbeziehen, können wir nicht mehr an simplen dogmatischen Extremen festhalten. Aber wie gewinnen wir umgekehrt Klarheit und Sicherheit in unserem Leben, wenn alles relativ und damit unbestimmt oder sogar chaotisch sein soll?

Wir werden sehen, wie Nagarjuna diese Fragen angeht.
In der westlichen Philosophie hat sich Nieztsche gegen dichotome Simplifizierungen von Ethik und Moral positioniert, vor allem in seinem Werk „Jenseits von Gut und Böse“. Wenn sich Moral zu Doktrinen und Dogmen verhärtet, gibt es nicht zuletzt die große Gefahr der Instrumentalisierung, Disziplinierung und Entmündigung der Abhängigen. Aber Ethik soll keine Unfreiheit bewirken sondern helfen, dass das Leben gelingt (Maerten). Hier gibt es erstaunliche Parallelen zu Nagarjunas Kritik der einfache insbesondere substantialen und plakativer Lehren zu recht und nicht-recht. Die ist umso beachtlicher, weil das MMK schon vor über 1700 Jahre verfasst wurde.

Nishijima Roshi leitet seine Interpretationen zu diesem Kapitel wie folgt ein: Eine Philosophie, die auf dem Verständnis beruht, dass unsere Gedanken die wahre Wirklichkeit sind, wird Idealismus genannt. Eine Philosophie, die an die Wirklichkeit der Sinnes-Reizungen glaubt, wird Materialismus genannt. Gautama Buddha erkannte, dass diese beiden Philosophien auf deren Grundlagen fast alle anderen Philosophien aufgebaut sind, beide einseitig oder falsch sind, wenn sich der Mensch befreien will. Weiterhin entdeckte Buddha, dass wir Zen praktizieren sollten, wenn wir diese beiden falschen Philosophien loswerden wollen. Dann können wir deren Dualität überwinden. Nishijima Roshi fährt fort: „Es ist die Verwirklichung selbst, wenn wir diese beiden Philosophien ausschalten“. Er kommt zu dem Schluss, dass diese beiden illusionären Philosophien etwas grundsätzlich anderes sind als der Buddhismus.

Nagarjuna geht also davon aus, dass die Phänomene und Dinge dieser Welt, des Menschen und unseres Lebens in Wechselwirkung und mit Verursachungen entstanden sind. Sie sind wie es im Zen heißt, hier und jetzt da und verändern sich laufend. Wenn man ein statisches unveränderliches Selbst, eine unveränderlich Substanz oder Essenz annimmt, so ist das ein gravierender Fehler der Vertauschung und Verfälschung. Dann wäre die Befreiungs-Lehre Buddhas sinnlos, weil es ja gar keine Veränderungen und Lernprozesse geben könnte. Dann wären auch unsere Plagen und Schmerzen trotz des Achtfachen Pfades nicht zu überwinden.

Und das widerspricht radikal den Erfahrungen der Menschen seit 2500 Jahren. Aber wie können wir uns selbst wirksam von unseren Verirrungen von den Plagen des Lebens befreien?

Um Irrtümer, Verblendungen und geistige Vergiftungen anzugehen und zu überwinden, brauchen wir den klaren Willen, uns von Schein-Wahrheiten und Ideologien zu lösen. Besonders schwierige Widerstände ergeben sich aus erstarrten Fixierungen zum eigenen Ich, sei es ein heldenhaftes Sieger-Ich oder ein klagendes Opfer-Ich. Beides wird jeweils psychisch zu erstarrten und statischen Ich-Biographien verdichtet, fixiert und deterministisch fortgeschrieben, an die sich die Menschen klammern, ohne sich dessen vielleicht bewusst zu sein. Aber letztlich schaden sich die Menschen damit viel mehr, als es ihnen nützt. So lassen sich die Plagen nicht überwinden. Daher ist die Suche nach der psychischen, ethischen und spirituellen Wirklichkeit so wichtig. Sie wird maßgeblich durch eine wirksame Achtsamkeit und ethisch klaren Handeln ermöglicht.




Kapitel 24: Die Vier Edlen Wahrheiten:
Überwindung des Leidens, Freiheit und die Leerheit
Nagarjuna hält in der Präambel und in den vorangegangenen Kapiteln den direkten Bezug zu den authentischen Lehren Buddhas für unverzichtbar und verknüpft sie mit der Wahrheit des wechsel-wirkenden Entstehens und dessen Bezeichnung der Leerheit. Daher möchte ich kurz die Vier Edlen Wahrheiten in ihrer authentischen Fassung der Pali-Übersetzung nennen.[54]
Peter Gäng fasst sie und deren wesentlichen Kernbereiche der frühen buddhistischen Lehre wie folgt zusammen:

„Die Bedeutung der vier edlen Wahrheiten ist unübersehbar. Sie bildeten für fast alle buddhistischen Schulen das Zentrum der Lehre und den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, auch wenn die Bedeutung der vier edlen Wahrheiten oft unterschiedlich gewichtet wird.“ [55]

Die Vier Edlen Wahrheiten benennen das Leiden der Menschen, das es zweifellos in jedem Leben gibt. Gautama Buddha zählt ganz konkret zwölf Bereiche auf, die hauptsächlich das Leiden ausmachen. Aber er sagt nicht, dass das ganze Leben generell nur aus Leiden besteht, wie das in manchen buddhistischen Linien und besonders von Kritikern des Buddhismus vertreten wird. Das ist aus meiner Sicht nicht haltbar. Peter Gäng beschreibt den Inhalt der Vier Edlen Wahrheiten so:

„Zusammengefasst ist ihre Aussage: Leben birgt immer die Möglichkeit des Leidens. Das Leiden kommt nicht zufällig, sondern es hat klar erkennbare Ursachen. Das Leiden ist nicht unentrinnbar, sondern es gibt die Möglichkeit, es zu überwinden. Der Buddhismus zeigt hierfür einen Weg.“
In der großen Lehr-Rede von den Grundlagen der Achtsamkeit heißt es:

„Da erkennt, ihr Mönche, ein Mönch der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies ist das Leiden.’
Er erkennt der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies ist die Entstehung des Leidens.’
Er erkennt der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies ist die Aufhebung des Leidens.’
Er erkennt der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies ist der zur Aufhebung des Leidens führende Weg.’“

Im ersten dieser vier Schritte zählt Gautama Buddha die verschiedenen Bereiche und Formen des Leidens auf, die für ihn eine zentrale Bedeutung haben: Geburt, Altern, Krankheit, Sterben, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram, Verzweiflung. Außerdem: mit Unliebem vereint zu sein, zum Beispiel Menschen, Lebensbedingungen oder geistigen Gegebenheiten. Und weiter: von Liebem getrennt zu sein und sehnlich Erwünschtes nicht zu erlangen.

Wenn wir uns diese zwölf von Buddha aufgeführten Kernbereiche des Leidens, die teils physisch begründet sind, aber überwiegend in psychischen und sozialen Problem-Bereichen liegen, aus heutiger Sicht vergegenwärtigen, wird ihre Aktualität offensichtlich. Die psychotherapeutischen Praxen sind heute voller denn je mit Patienten, die oft schwer unter Verzweiflung, Ängsten, Depressionen, Antriebsstörungen und einer negativen Grundeinstellung zum Leben leiden. Unsere materiell orientierte Konsumwelt suggeriert auf der anderen Seite, dass wir durch das Erwerben von Konsumgütern glücklich werden, und das Angebot am Markt ist immer wesentlich umfangreicher, als es sich die meisten leisten können. Man wünscht sich mehr, als man bekommen kann, und das erzeugt ebenfalls einen Leidensdruck.

Die als wissenschaftlich valide angenommenen Grundlage der Wirtschaftswissenschaften besteht darin, dass die Bedürfnisse des Menschen sich immer weiter vermehren, je mehr er bekommt. Dies ist nach der aktuellen Psychologie und den Neuro-Wissenschaften allerdings so nicht haltbar. Es ist eher  einseitige Wirtschaftstheorie, enthält aber durchaus realistische Teil-Aussagen. Besonders deutlich wird dieser Ansatz  bei Luxusartikeln, die mit den Grundbedürfnissen der Menschen nichts mehr zu tun haben. Und viele Menschen kaufen etwas, das sie sich nicht gar nicht leisten können, irgendwann sind sie dann überschuldet und in der ökonomischen Falle.

Angesichts der geschichtlichen religiösen Zeit, in der Gautama Buddha lebte, ist es erstaunlich, wie nüchtern und pragmatisch er den Kernbereichen des Leidens begegnete. Denn magische Zuordnungen, die damals üblich waren, fehlen ganz. So sagte er zum Beispiel nicht, dass Menschen leiden, weil sie wichtige Rituale der Götter verletzt oder angebliche göttliche Gebote übertreten haben, dass sie die Götter beleidigt haben oder den Brahmanen keine Ehrerbietung oder finanzielle Zuwendungen zukommen ließen. Es ist auch nicht die Rede davon, dass angeblich heilige Rituale unterlassen worden sind oder falsch durchgeführt wurden.

Im zweiten Schritt untersucht Buddha, wie das Leiden in den einzelnen Bereichen entsteht. Peter Gäng übersetzt an dieser Stelle wörtlich aus dem Pali und wählt den Begriff „Durst“, um die Ursache für die Entstehung des Leidens zu bezeichnen.[56] Der Durst ist eine körperliche und psychische Kraft, die große Überlebens-Energien entwickelt und unbedingt gestillt werden möchte. Wer den Durst nicht löscht, muss verdursten und stirbt, besonders in heißen Gegenden wie in Indien. Dies legt nahe, dass man den Durst nur schwer durch bewusstes Wollen bändigen kann, dass er also den Menschen in eine Richtung treibt, die nicht mehr kontrollierbar ist. Wir würden heute wahrscheinlich von Sucht und Abhängigkeit sprechen, z. B. Drogen-Abhängigkeit, Spiel-Sucht, Alkohol-Abhängigkeit, Internet-Sucht aber auch Fresssucht usw.. Auf der anderen Seite heißt es bei Buddha, dass der Durst gestillt und kontrolliert werden kann, wenn man die richtigen psychischen und geistigen „Werkzeuge“ erlernt und anwendet:

Es ist dies der Wiederwerden erzeugende, mit Freude und Verlangen verbundene, bald hier, bald dort sich erfreuende Durst, nämlich der Durst nach Sinnlichkeit, der Durst nach Werden und der Durst nach Entwerden.“

Dann geht es im Sūtra um die verschiedenen körperlichen Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung und der sinnlichen Freuden, an denen der diese Sucht ansetzt – nämlich die Sinnesorgane Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Geist und die Sinnes-Objekte wie Formen, Töne, Düfte, Geschmäcke, Berührungen und „geistige Gegebenheiten“ –, sowie um die nach der alten indischen Lehre damit verbundenen Bewusstseine, also Bereiche des neuronalen Netzes. Maßgeblich mit dem Durst und der Sucht sind laut Gautama Buddha das unbedingte Wollen, das fixierte Denken, ruhelose Grübeln und Nachdenken verbunden.

Durst und Wollen sind im Buddhismus eng mit den sogenannten drei Giften verbunden: Gier, Hass und  Verblendung, aber auch Stolz, Neid, Egoismus, Machtgier, Ruhm usw.. Zen-Meister Dōgen kommt in vielen Kapiteln des Shōbōgenzō auf die Schädigungen zu sprechen, die zum Beispiel durch die Gier nach Ruhm, Profit oder Macht verursacht werden. Als Lösung dieser Probleme wurde das Leitbild des Mittleren Weges entwickelt, auf dem man sich von den Extremen fernhält und die Abhängigkeit von der Gier und dem hier genannten Durst beseitigt.

Die dritte der Edlen Wahrheiten gibt konkret an, wie das Leiden nach Gautama Buddha aufgehoben werden kann: [57]

„Was nun, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens? Eben jenes Durstes restlose von Gier freie Aufhebung, sein Aufgeben, seine Entäußerung, die Befreiung davon, das ohne Grundlage sein.“

Das heißt, dass wir uns vollständig von der Gier befreien und ihr alle Grundlagen für ihre Entstehung zur ruhe kommen, also keine psychische, geistige oder körperliche Energie mehr erzeugen. Dies betrifft alle Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung und der Gefühle, die durch die Berührung mit den Sinnes-Objekten entstehen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die ersten drei Schritte der Edlen Wahrheiten sich mit der Identifizierung und Analyse des Leidens beschäftigen und den grundsätzlichen Weg aufweisen, wie man das Entstehen des Leidens verhindern kann. Im vierten Schritt wird der sogenannte Achtfache Pfad der Leidensaufhebung[58] im Einzelnen beschrieben:

Rechte Sichtweise, rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenswandel, rechte Bemühung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung.“

Nach der Überlieferung wurde der Achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens und zum Erwachen zur Wirklichkeit von Gautama Buddha in seiner ersten Lehrrede nach seinem Erwachen in Vārānasī dargelegt.

Zurück zu Nâgârjuna: Die vorhergehenden Kapitel des MMK dienen vor allem der Kritik und Destruktion nicht haltbarer Ansätze verschiedenen Übertragungs-Linien des Buddhismus zur Zeit Nâgârjunas. Hauptkritikpunkt ist dabei jegliche Dogmatisierung und Verhärtung des Buddhismus und vor allem das Substanz- und Entitäts-Denken, das Veränderungen, Entwicklungen, das Entstehen und überhaupt die Dynamik der Wirklichkeit vernachlässigt oder marginalisiert. Es geht um die bestmögliche Klarheit der Wirklichkeit und der Wahrheit des Lebens und der Welt. Es geht um die Unabhängigkeit von schädlichen und einengenden Vorstellungen, Theorien, Doktrinen und Dogmen und seien sie als noch so heilig überliefert! Nicht zuletzt geht es um Perversionen und Verdrehungen von Ethik und Moral, die sogar mit Machtmissbrauch und Disziplinierungen durch die religiösen Eliten einher gehen. Um diese Gefahren auszuhebeln können unverfälscht überlieferte und konkrete Beschreibungen früherer großer Meister besonders hilfreich sein. Aber unumgänglich sind eigenes Erfahren, Denken, Selbstreflexion und die genaue und zunehmend klare Selbstbeobachtung, also buddhistische Achtsamkeit. Und ohne rechtes Handeln gehrt es nicht.

Im vorherigen Kapitel untersucht Nâgârjuna die Gefahren von Verwechslungen, Verdrängungen und Verfälschungen, dass also das Gute für etwas Schlechtes und das Nicht Gutes angesehen und gedacht wird und umgekehrt Ungutes und Schlechtes als gut eingeschätzt wird. Nâgârjuna zielt damit vor allem auf den Substantialismus der von einer unveränderlichen dauerhaften Substanz und deren dualen Eigenschaften in den Dingen und Phänomenen, den Dharmas, ausgeht. In dieser Doktrinen wird also behauptet, dass sich nichts verändert und alles dauerhaft und ewig in der Welt ist.  Die Unveränderlichkeit und das Andauern werden als gut und wahr verstanden, obgleich es in Wirklichkeit eine solche Statik nicht gibt und die Wirklichkeit als dynamisches Entstehen in Wechselwirkung verstanden werden muss. Der Irrtum liegt also darin, dass etwas Veränderliches als unveränderlich und damit angeblich wertvoll eingeschätzt wird. Eine solche Doktrin führt aber unweigerlich ins Leiden, denn die Veränderlichkeit ist positiv, da sie die wahre Wirklichkeit beschreibt, während die Unveränderlichkeit nicht gut ist. Die Unveränderlichkeit der Welt wird also mit ihrer Veränderlichkeit verwechselt.

Ähnliches kann zum Leiden ausgesagt werden: Wer daran leidet, dass die Welt und das Leben veränderlich sind, schafft sich damit gerade das Leiden, weil er die Wirklichkeit verzerrt. Ohne Veränderlichkeit kann es keine Überwindung des Leidens und keinen Wandel zum Guten und Besseren geben. Das Gute ist also gerade veränderlich und eine solche Sichtweise und Erkenntnis überwindet das Leiden und führt zur Freiheit. Wer sich an Ewigkeit und Unveränderlichkeit klammert, wird demgegenüber nach Buddha leiden und verwechselt das Ungute mit dem Guten.

Kalupahana verdeutlicht aus der geschichtlichen Entwicklung des Buddhismus und Brahmanismus Folgendes:[59] Die Kritik des Brahmanismus, der eine substanzhafte Religion- und Weltanschauung ist, will nicht akzeptieren, dass die Veränderlichkeit wirklich ist und nicht die Unveränderlichkeit und Ewigkeit. Eine derartige doktrinäre Lebensphilosophie sei jedoch bei den Substantialisten also vor allen den Sarvastivadins innerhalb des Buddhismus wieder aufgetaucht und müsse destruiert werden. Der Substantialismus, welcher Herkunft auch immer, hat mit der Aussage des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung die als Leerheit bezeichnet wird, große Probleme und neigt dazu die Leerheit als Nihilismus und Nicht-Existenz zu „verstehen und zu kritisieren. Leerheit wird also mit Nicht-Existenz verwechselt.

Entsprechend sind die ersten Verse dieses Kapitels einer solchen Fehlinterpretation des Buddhismus in der Sekte der Substantialisten gewidmet. Wenn diese die Leerheit anerkennen, müssen sie die Leerheit als Nicht-Existenz interpretieren. Sie kommen dann zu dem Schluss, dass die Leerheit auch die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas ad absurdum führt. Diesen Problemen und diesen Fragestellungen geht Nâgârjuna in den ersten Versen dieses Kapitels nach.

Die Aussagen Nagarjunas entsprechen nach meinem Verständnis in gewissem Umfang der Entwicklung der westlichen Philosophie der Moderne nach Nietzsche, Wittgenstein, früher Heidegger und Derridá und der Überwindung der „klassischen“ Metaphysik. Diese hatte sich seit Parmenides und Platon mehr oder minder stark auf das unveränderliche Sein als das Wesentliche der Welt bezogen und es von dem oft als oberflächlich abgetanen wahrnehmbaren Seienden abgrenzt. Etwas vereinfacht aus gedrückt sei Das Seiende veränderlich nach Ort und Zeit, aber von viel geringerer philosophischer Bedeutung als das Sein. Wie Elberfeld bei seiner Untersuchung zur Phänomenologie der Zeit richtig bemerkt, hat der frühe Heidegger mit seinem Werk Sein und Zeit diese für mich wenig überzeugende Tendenz stark beeinflusst. Elberfeld baut darauf eine andere Philosophie des Buddhismus auf, die sich besonders in dem grundlegenden Werk des Shobogenzo von Zen – Meister Dôgen überzeugend niederschlägt, die sich aus seiner Ansicht nach fundamental von der überkommenden Seins-Philosophie unterscheidet.

Ich möchte nun zu der angesprochenen Problematik dieses Kapitel des Mittleren Weg Nagarjunas untersuchen und kommentieren. Dabei wird sich die fundamentale Bedeutung dieses nicht zufällig längsten Kapitels gerade für die Probleme zur Wirklichkeit, der dynamischen Wechselwirkung, der Überwindung des Leidens, Befreiung  und der wahren Bedeutung der Leerheit herausstellen.

Die Vier Edlen Wahrheiten sind ein Kernpunkt der buddhistischen Befreiungs-Lehre und beinhalten die entscheidenden Prozesse der Entwicklung und Befreiung des Menschen. Neben dem philosophischen Grundsatz von pratitya samutpada, dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und der Vermeidungen von Extremen, sind sie das Fundament der buddhistischen Lehre. Nâgârjuna fasst in diesem Kapitel die wesentlichen Aussagen der Vier Edlen Wahrheiten zusammen und verbindet sie mit pratitya samutpada und dem Begriff der Leerheit. Dieses Kapitel 24 ist mit 40 Versen das längste des MMK und sicher auch eines der bedeutendsten. Nâgârjuna verlässt hier die bisherige überwiegend von ihm verwendete Methode der Destruktion doktrinärer und damit falscher oder unzureichender Annahmen und beschreibt seine eigene positive Sicht und damit die therapeutische Kraft des Buddhismus.

Es ist sinnvoll die maßgeblichen Aussagen zu den Vier Edlen Wahrheiten auf der Grundlage des authentischen Pali – Buddhismus voranzustellen um damit den direkten Bezug zu Nâgârjunas Aussagen herzustellen.

Die Vier Edlen Wahrheiten basieren wie erwähnt auf Buddhas Erkennen der wahren Natur des Menschen zwischen fixierter Bindung einerseits und Freiheit andererseits. Diese Wahrheiten beschreiben den Weg, wie aus einer solchen mit dem Leiden verknüpften Bindungen und Fesselungen die  Befreiung und Emanzipation des Menschen gelingt. Es gibt dabei gewisse Ähnlichkeiten mit dem berühmten Höhlengleichnis des Platon, der das „normal“ unklare Leben mit dem Halbdunkel des Höhlen-Daseins beschreibt und mit dem geistig freien Leben des Philosophen kontrastiert, der die Sonne, den Mond, die Sterne und das ganze lebendige Leben sehen und erkennen kann. Allerdings gibt Platon kaum Hinweise, wie ein Emanzipations-Prozess der in der Höhle Angeketteten vor sich gehen kann, damit die Befreiung zur Klarheit und Helligkeit des Lebens gelingt. Anders Gautama Buddha: Er beschreibt zunächst die wichtigsten Bereiche des konkreten Leidens, nennt deren wichtigste Ursachen, nämlich die Fixierung durch die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung. Diese Gifte binden und fixieren danach sowohl die Wahrnehmung als auch die fünf Komponenten des Menschen, die Skandhas. Buddha gibt dann als Lösungsweg an, wie diese Fixierungen überwunden werden können und nennt schließlich im Achtfachen Pfad sehr konkret den Befreiungs- und Emanzipations-Weg.

Es wurde häufig in der Geschichte des Buddhismus kontrovers diskutiert, ob die Vier Edlen Wahrheiten sowohl für normale als auch für erleuchtete und befreite Menschen gelten, wobei im Laufe der Zeit sich eher die Meinung durchsetzte, dass es nur um die Erleuchteten und Befreiten ginge. Ich folge dieser Interpretation ausdrücklich nicht, denn aus meiner Sicht ist der Achtfache Pfad für alle Menschen sinnvoll, denn auch die Erleuchtung ist kein fixierter zeitunabhängiger dauerhafter Zustand, sondern bedarf als Prozess der Verwirklichung im Leben.

In buddhistischen und nicht-buddhistischen Kreisen ist manchmal zu hören, Buddha habe gelehrt, alles sei Leiden und es sei in Wirklichkeit fundamentale Illusion zu glauben, dass man nicht leidet. Wer also Freude und Glück empfindet, irrt sich grundsätzlich, weil er eigentlich leidet und sich nur einbildet glücklich zu sein. Er verwechsle also Freude und Leiden. Derartige Fehlinterpretationen wurden im vorherigen Kapitel Täuschungen, Verwechslungen und Perversionen bereits eingehend behandelt. Der gravierende Fehler liegt in der Übersetzung aus dem Pari, wie auch Kalupahana bemerkt.[60] Die genaue Übersetzung lautet: Dies alles ist das Leiden. Indem das Wort idam, das dieses oder das Folgende bedeutet, weggelassen wird, ergibt sich die falsche Übersetzung. „Alles ist Leiden. Dieses bedeutet aber gerade das Hier und Jetzt, wie im Zen – Buddhismus herausgearbeitet wird und ist keine Verabsolutierung.

Ein zweiter wichtiger Fehler entsteht dadurch, dass eine substanzhafte Doktrin zur Grundlage genommen wird. Dann gibt es entweder das totale substanzhafte Leiden oder die totale Befreiung, Nirvana. Dabei Nirvana meistens substanzhaft ins Jenseits und in nachfolgende Wiedergeburten verlagert. Eine solche Doktrin widerspricht dem authentischen Buddhismus wie Nâgârjuna in den vorhergegangenen 23 Kapiteln der Verwechslungen überzeugend nachweist.

Nâgârjuna (nach Kalupahana 67) gibt eine weitere Erklärung zur nicht authentischen Auffassung, alles sei Leiden, und nennt dabei den späteren Hinduismus, der diese Fehlinterpretation eventuell gezielt oder aus Unverständnis dem Buddha unterstellt. Es ist nicht auszuschließen, dass dabei religionspolitische Aspekte die Oberhand gewonnen haben, indem der Buddhismus als Leidensreligion abgewertet wird und die eigene hinduistische Erlösungsreligion gegenüber gestellt wird. Es ist weiterhin nicht ausgeschlossen, dass diese Version von den christlichen Europäern der Kolonialzeit übernommen wurde, um den Buddhismus abzuwerten. Danach wurde dies Fehlübersetzung fälschlich weiter verbreitet.

Eng mit dieser Fehlinterpretation ist das falsche Verständnis der Leerheit verbunden. Sie wurde entsprechend als das totale Nichts und damit als Nihilismus interpretiert. Nâgârjuna verbindet die Leerheit jedoch in den berühmten Versen 24.18 und 24.19 direkt mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, und räumt damit gründlich die Fehlinterpretationen beiseite. Daher möchte ich den Vers 24.18 genauer einbringen, hier die exakte Übersetzung:



Vers 24.18
Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlerer Zugang (zur Buddha-Wahrheit).

Dieser Vers ist zweifellos von fundamentaler Bedeutung: Er beschreibt in großer Klarheit die Bedeutung und Funktion, Sichtweise und  Bezeichnung der Leerheit, Shūnyatā, für die unverzerrte Realität der Wechselwirkung des gemeinsamen Entstehens.
Wie kann dieser zentrale Vers zusammengefasst werden?
Die Aussagen gliedern sich zunächst in zwei Schritte und eröffnen dann den Weg zum Ziel des Buddhismus, also dem Zugang zum Mittleren Weg. Dieser Weg der Mitte führt zur Buddha-Wahrheit und zum Erwachen. Er vermeidet die Extreme von ideologischen Übertreibungen, die die Wirklichkeit nicht sachgerecht beschreiben können und damit auch kein Ausweg aus dem Leiden eröffnen. Solche Extreme können nicht zum Erwachen und nicht zur Erleuchtung führen.
Ausgangspunkt ist das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung der Wirklichkeit, pratitya samutpada. Allerdings kann diese Wirklichkeit mit dem Denken allein nicht vollständig erfasst werden. Nagarjuna behauptet aber nicht, dass es überhaupt keine Wirklichkeit gibt, denn das wäre unsinniger Nihilismus. Durch duales Denken ist überhaupt kein Zugang zur Wirklichkeit möglich, und duales Denken widerspricht grundsätzlich der Buddha-Wahrheit.
Im nächsten Schritt wird die Leerheit beschrieben: „Wir sehen das gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung als Leerheit an“. Das heißt, dass die Wirklichkeit ohne Extreme ist. Sie ist wie sie ist. Die Wirklichkeit ist vor Allem von Natur aus frei von einer ideologischen und falscher Buddha-Wahrheit. Leerheit bedeutet die Leerheit von Buddha-Unwahrheiten und anderen falschen Doktrinen, die das Leiden nicht überwinden können.
Im nächsten Schritt eignen wir uns die Bezeichnung der Leerheit an und können so gut kommunizierten und umfassender denken. Wie überwinden damit den Dualismus. Aber die Leerheit ist kein Selbstzweck und nicht das Ziel des Erlösungsweges sondern eröffnet die Weiter-Entwicklung zum Erwachen. Diese Weiter-Entwicklung ereignet sich auf dem Mittleren Weg.
Damit ergeben sich die folgenden Schritte:

- Erkennen der intellektuell unfassbare Wirklichkeit, das ist das
gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung,
- Erkennen der Leerheit dieser Wirklichkeit von falschem Buddha-
Dharma und falschen Doktrinen,
- Benutzen der Bezeichnung der Leerheit zur effektiven Kommunikation
für die weitere Entwicklung des Menschen,
- Eröffnung des Mittlere Weges zum Erwachen und zur Erleuchtung.


Verkürzt kann gesagt werden, dass die Leerheit nicht das letzte Ziel der menschlichen Entwicklung ist, sondern nach Nagarjuna die Voraussetzung und Bedingung für für eine solche kreative Weiterentwicklung. Er bezeichnet diesen Zugang durch die Leerheit als den Weg der Mitte oder den mittleren Weg. Dieser Weg über die Leerheit führt zur Fülle, Lebendigkeit und unverzerrtem umfassenden Wissen, also die Buddha-Wahrheit. Also verkürzt: Die Leerheit von hemmenden und falschen Doktrinen wie dem Substantialismus eröffnet die kreative Entwicklung des Menschen und die Verwirklichung der Buddha-Natur.



Weitere Verwirrungen können dadurch entstehen, dass die umfassende Wahrheit der realen Wirklichkeit mit einer doktrinären absoluten Wahrheit verwechselt wird. Ich folge Nâgârjuna in aller Klarheit, dass es ein absolutes Allwissen und das entsprechende absolute Wissen nicht gibt und nicht geben kann. Eine substantialistische Unterscheidung einer „relativen“ und einer absoluten Wahrheit ist nicht tragfähig. Es geht um die immer größer werdende Klarheit auf dem Mittleren Weg. Vermutlich hatte Buddha nach seinen intensiven Versuchen, die absolute Wahrheit bei zwei der besten anerkannten Meister seiner Zeit zu verwirklichen, selbst klar erkannt, dass dies objektiv unmöglich ist. Seine beiden Lehrer praktizierten zwar mit effiziente Meditations-Methoden, aber durch das unerreichbare Ziel des absoluten Wissens waren deren Wirksamkeit unterminiert und ins Gegenteil verkehrt. Eine solche Allwissenheit der absoluten Wahrheit müsste nämlich für die gesamte Vergangenheit, die Gegenwart und die ganze Zukunft gelten. Und das ist unmöglich

Das erscheint mir phänomenologisch absurd. Damit entfällt im Übrigen auch der Glaube, dass mit dem Begriff der Wahrheit eine absolute unveränderliche und allgemein gültige Semantik verbunden sei. Dies ist nach meinem Verständnis ebenfalls doktrinärer Substantialismus. Vielmehr ist die Semantik jedes Begriffes zwar zum Teil Zeit-übergreifend aber nicht total unveränderlich. Sie wird maßgeblich von den sozialen Systemen der Gesellschaft beinflusst (Niklas Luhman) und ist zudem individuell geprägt.



Nishijima Roshi gliedert die höchste dem Menschen zugängliche Wahrheit in vier Bereiche und zwar in drei Teilbereiche und in die Gesamtheit dieser Wahrheit. Die erste Teilwahrheit bezieht sich auf Theorie, Denken, Philosophie, Bewusstsein usw. die er Idealismus nennt. Diese Teilwahrheit wird vor allem in der Philosophie untersucht, die sich im Westen vor allem auf Parmenides und Platon stützt. Demgegenüber hat Buddha im Achtfachen Pfad der Edlen Wahrheit sehr praktische Handlungsbereiche für den Prozess der Befreiung und Emanzipation genannt, zum Beispiel Handeln, Ausdauer und Meditation. Im Übrigen wissen wir durch die Neuro-Wissenschaften, dass im neuronalen Netz physische, psychische und mentale Leistungen sowie den dazugehörigen Daten eng miteinander verknüpft sind, also in der Wirklichkeit zusammenhängen. Ein isolierter Idealismus kann also nur begrenzte Aussagen

Die zweite Teilwahrheit betrifft das Materielle, also die Teil-Wirklichkeit vor allem der externen Welt der Dinge und Phänomene, aber auch der Veränderungs-Prozesse dieser materiellen Welt. Nishijima verbindet diese Teilwahrheit vor allem mit den Naturwissenschaften wie der Physik und Chemie. Im Westen führen wir die Naturwissenschaften meist auf Aristoteles zurück. Eine gewaltige Entwicklung habe seit der Renaissance stattgefunden, die zu einer grundsätzlichen Veränderung unseres Alltagslebens geführt hat.

Im Zen gehe es drittens vor allem um das Handeln im gegenwärtigen Augenblick. Dies Teilwahrheit wird im Idealismus beiseite gelassen. Derartiges Handeln steht im chinesischen Chan- und japanischen Zen – Buddhismus an zentraler Stelle, auch für die Entwicklung ganzheitlicher Klarheit und die Befreiung aus dem Bodhisattvaweg.

Nishijima nennt viertens die höchste dem Menschen zugängliche Wahrheit, die er als Ganzheit mit dem Universum versteht. Dies sei die umfassende Wirklichkeit des Universums und des Menschen. Er betont, dass damit die anderen drei Teilwahrheiten zusammenfassend integriert sind und nicht von dieser umfassenden Wahrheit getrennt werden können. Diese höchste Wahrheit sei sehr konkret auf unser Leben und unsere Entwicklung bezogen und sei nicht in Gefahr, in absolute Abstraktionen zu verfallen, wie dem Idealismus.

In diesem Kapitel des MMK erarbeitet Nâgârjuna die wahre Bedeutung der Vier Edlen Wahrheiten anhand der Leerheit und dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung. Er entwickelt eine präzise Argumentation, dass mit der Doktrin des Substantialismusder  unveränderlicher Dharmas, Dinge und Phänomene, Buddhas Lehre ad absurdum geführt würde. Der Substantialismus hatte sich zum Beispiel bei den Sarvastivadins durchgesetzt. Deren "Buddhismus" ist daher nach Nagarjuna nicht haltbar. Mich überzeugt seine Argumentation.

Die Vier Edlen Wahrheiten mit dem Achtfachen Pfad der Überwindung des Leidens,der Befreiung und Emanzipation ist zweifellos zur Kernlehre des Buddhismus zählen. Buddha hatte nach eigenen gründlichen Erfahrungen festgestellt, dass die damaligen Substanz- und Essens-Lehren sowie deren Weisheiten nicht wirklich geeignet waren, um Menschen zu befreien, indem das menschliche Leiden erkannt, reduziert oder ganz aufgehoben wird. Von zentraler Bedeutung dabei war seine klare Erkenntnis und Erfahrung, dass der Glaube an einen unveränderlichen Wesenskern des Menschen, des Âtman, gerade nicht zur Befreiung aus dem Leiden und zur Emanzipation führen kann. Daher ist ein zentraler Punkt seiner neuen Lehre der anâtman, also der Nicht-Âtman des Menschen. Nach seiner festen Ansicht und seinen Erfahrungen war gerade dieser Glaube das fundamentale Hemmnis zur Befreiung, während es in den damaligen Religionen als der Schlüssel zum ewigen Glück und zur ewigen Seeligkeit gepredigt wurde. Diese wurde auch von allen buddhistischen Lehr-Meinungen der Folgezeit anerkannt.

Aber dann wurden angeblich buddhistische Philosophien entwickelt, dass die Dharmas, die als Bausteine der Welt verstanden wurden, unteilbar, unveränderlich und ewig seien. Sie hätten danach einen unveränderlichen Kern, den ich im Einklang mit der überwiegenden Literatur als Substanz bezeichet, in Sanskrit svabhâva. Diese sei die Realität und Natur.

Buddha klärte aber, dass auch die Dinge, Phänomene und Prozesse, Dharmas,gerade keine ewige unveränderliche Substanz oder Essenz haben, sondern veränderlich sind, also entstehen, andauern und vergehen. Damit ist die altindische Philosophie der unveränderlichen und unteilbaren kleinsten Bausteine der Welt ebenfalls unhaltbar und der Glauben an derartige Bausteine und Dharmas macht die reale Befreiung und Emanzipation des Menschen unmöglich. Es ist auffällig, dass diese so geglaubten Dharmas den Atomen (Demokrit) oder Ideen (Platon)der griechischen Philosophie sehr ähnlich sind. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil beide Kulturen der Weltanschauung und dem tiefen Glauben der Indo-Europäer angehören, denen sowohl die eingewanderten Arier in Indien als auch die Griechen angehörten. Der indische Glaube der Dharmas im Buddhismus als ewige, unveränderliche und unteilbare Bausteine, der Eigen-Substanz, wird mit dem Sanskrit-Begriff svabhâva bezeichnet.

Buddhas positive Aussage zu diesem zentralen Thema ist, dass die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt durch das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitiya samutpada) gekennzeichnet ist. Diese Aussage bedeutet auch, dass der Mensch leer von dem metaphysisch geglaubten Âtman ist und dass die Dharmas leer von einer unveränderlichen und ewigen unveränderlichen Eigen-Substanz (svabhâva) sind. Die so definierte Leerheit wird in diesem Kapitel 24 klar beschrieben.

Die ersten Verse dienen dazu, die falsch verstandene Leerheit der Substanz-Gläubigen also der Substantialisten zu destruieren. Sie verstanden die Leerheit nämlich als Nicht-Existenz ihrer geglaubten Substanz also als das Nichts in der Welt. Wer nach Nâgârjuna mit diesem falschen Verständnis der Leerheit des Nichts die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas untersucht, kommt zu dem Schluss, dass diese gar nicht existieren können. Dann ist diese Leerheit gerade die Negation der Vier Edlen Wahrheiten Buddhas. Damit würde die gesamte buddhistische Lehre der Überwindung des Leidens und der Befreiung entfallen. Dieses absurde Ergebnis ergibt sich für die damals bereits verbreitete Doktrin der Sarvastivadins.

Demgegenüber behaupteten die von Nagarjuna ebenfalls abgelehnten Sautrantikas, dass die in zeitliche Momente unterteilten nach einem Moment abbricht und im Nichts endet. Ein Zeit-Moment würde also aus dem Nichts entstehen, sehr kurz andauern und wieder im Nichts verschwinden. Nâgârjuna klärt, dass eine derartige Doktrin und Philosophie ebenfalls unhaltbar ist, weil man das Nichts mit der Leerheit verwechselt. Auch dann wäre Buddhas Lehre gegenstandslos. Daher bleibt nur der Schluss, dass diese beiden Doktrinen und das falsche Verständnis der Leerheit mit der Buddha-Lehre der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades unvereinbar ist.

In einer weiteren Argumentations-Kette beweist Nâgârjuna, dass die absolute Unterscheidung von Erleuchtung und Nicht-Erleuchtung also absolute Befreiung und Nicht-Befreiung unhaltbar ist. Daher kann es die totale Unterscheidung als konventionelle weltliche Wahrheit und eine absolute höchste Wahrheit des Erleuchteten und Erwachten nicht geben. Eine solche absolute Unterscheidung hatte sich in den Jahrhunderten nach Buddha heraus entwickelt. Diese Unterscheidung bedeutet eine radikale Abqualifizierung der konventionellen Wahrheiten und des konventionellen Lebens. Daraus folgt auch, dass die Vier Edlen Wahrheiten und besonders der Achtfache Pfad nur für die höchste absolute Wahrheit der Erleuchteten gelten würde. Nâgârjuna destruiert diese Doktrin und in der Tat würde eine solche Aussage die praktische Bedeutung von Buddhas Lehre für das normale Leben erheblich schwächen.

Nâgârjuna sagt vielmehr, dass der Mensch sich aus konventionellen Bindungen und Restriktionen mit Hilfe seiner Lehre befreien kann und sich damit Schritt für Schritt weiterentwickelt und zur Freiheit und Emanzipation gelangen kann. Dafür gibt es den Mittleren Weg. Es ist klar, dass die absolute Unterscheidung der konventionellen und absoluten Wahrheit ein Glaube an absolute Extreme ist, die von Buddha eindeutig abgelehnt werden. Damit wird auch die Doktrin richtig gestellt., dass die konventionelle Wahrheit eine totale Un-Wahrheit und Nicht-Wahrheit sei.

In der Wirklichkeit, die man beobachten und erfahren kann, gibt es gerade keine unveränderliche ewige Existenz (svabhâva) der Dinge und Phänomene. Das würde Buddhas Wahrheit des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung fundamental widersprechen. In der heutigen Zeit kann man diese Aussage ohne Zweifel mit der Vernetzung und Wechselwirkung lebender natürlicher Systeme verstehen. Man muss allerdings gleichzeitig beachten, dass die Wirklichkeit nicht vollständig erkannt werden kann und dass man ihr eine unendliche Komplexität zuerkennen muss. Daher ist es unmöglich, dass es Allwissenheit des Erwachten und Erleuchteten geben kann. Alle natürlichen und realen Phänomene würden mit einer Doktrin der Unveränderlichkeit und Substanzhaftigkeit ad absurdum geführt. Dazu zählen zum Beispiel folgende Phänomene: Effekt, Ursache, handelnder Tätigkeiten, Handlung, Entstehen, Vergehen und Ergebnis als Frucht usw.. Damit ist der Boden für den wichtigen und zentralen Vers 24.18 als positive Aussage der Lehre Buddhas bereitet, dass das Entstehen in Wechselwirkung als Leerheit angesehen wird.

Indem man diesen Begriff der Leerheit akzeptiert und verwendet, eröffnet sich der Mittlere Weg der Befreiung. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies genau die exakte Übersetzung dieses wichtigen Verses ist (Kap. 24.18), dass es aber in der Literatur auch vielfältige Vereinfachungen und Verzerrungen gibt. Zum Beispiel wurde pratitiya samutpada als abhängiges Entstehen übersetzt und dieses sei dasselbe und identisch mit der Leerheit und dem Mittleren Weg. Eine solche Argumentation scheint mir schon deswegen verkürzt, weil hier eine Identität dieser drei Aussagen bestehen soll. Aber nach der Lehre Buddhas gibt es in der Wirklichkeit weder eine totale Identität, noch eine totale Differenz. Dies Interpretation ist im Übrigen kompatibel mit der neuen Forschung zur Ökologie und zur Funktion des menschlichen neuronalen Netzes also des Gehirns.

Mit diesen Aussagen kann auch die Frage der Kausalität also der Beziehung von Ursache und Wirkung geklärt werden. Derartige Funktionen gibt es in jedem lebenden System. Vernetzung und der Rückkopplung gibt es allerdings nicht in der simplen Form einer einzigen Ursache und einer einzigen Wirkung, das wäre eine absoluten derterministische Abhängigkeit. Wie wir aus der empirischen Forschung jedoch wissen, wäre dies nämlich eine Korrelation von 1,0 , die in der Wirklichkeit nicht zu finden ist. Eine total eindeutige Beziehung von Ursache und Wirkung ist also ein Produkt des theoretischen menschlichen Denkens und nicht der Beobachtung der Natur und des Realität des Menschen. Es handelt sich dabei um eine idealistische Lebensphilosophie im Sinne von Nishijima Roshi. Eine solche Philosophie kann aber niemals die Wirklichkeit und Wahrheit sachgerecht beschreiben, sondern ist immer nur eine Teilwahrheit, deren Anwendbarkeit und Relevanz jeweils geprüft werden muss. Es handelt sich gerade nicht um eine absolute Wahrheit die immer und überall gilt.

Nach diesen präzisen Argumentationen kommt Nâgârjuna zu der eindeutig positiven Aussage, dass man die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt und der Dinge und Phänomene und damit auch des Menschen am klarsten erkennt, wenn man die zentrale Bedeutung des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung begriffen hat. Dafür verwendet er den Begriff der Leerheit. Damit eröffnet sich dann der fundierte und bewährte Mittlere Weg der Befreiung des Menschen, um die fünf Hemmnisse zu überwinden und die sieben Faktoren des Erwachens zu verwirklichen.

Philosophische Zusammenfassung

Ontologische Grundlage der Wirklichkeit:_ Gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada

Bezeichnug, Wortebene:  Leerheit, Shunyata

Funktion: Zugang zum Mittleren Weg der Befreiung, zu den Vier Edlen Wahrheiten 


Kapitel 25: Befreiung und Nirvana
Dieses Kapitel über Befreiung und Nirvana ist ohne Zweifel ein Höhepunkt des gesamten MMK. Nur kurz zur Erinnerung: in der Präambel und den beiden ersten Kapiteln legte Nâgârjuna die Grundlage für die folgenden kritischen Anmerkungen und Destruktionen einer Doktrin der unveränderlichen Substanz in allen Dingen und Phänomenen (Dharmas) und dem Menschen als Ganzes. Das ist semantisch auch ein Wieder-Aufleben der vorbuddhistischen Religion des Brahmanismus also des Âtman-Selbst. Mit philosophischer Präzision destruiert Nâgârjuna diese falschen doktrinären Grundlagen des Buddha Dharma mit den Schwerpunkten des Handelns Buddhas als Menschen des Tahâgata und die gravierenden Verdrehungen und Verfälschungen, die sich in der buddhistischen Lehre eingeschlichen hatten. Zentraler Aspekt ist die Gegenüberstellung mit der Präambel, die durch das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada). Dabei ist maßgeblich, wie der Mensch in dieses wechselwirkende System eingreifen und es durch eigenes Handeln aktiv steuern kann, ohne irgendwelchen Ideologien von den absoluten Extremen einer totalen Existenz oder Nichtexistenz zu verfallen.

Der Hauptpunkt der Kritik Nagarjunas ist eine Doktrin unveränderlicher ewiger Substanzen, die angeblich in den Dharmas enthalten ist und wie er nachweist, mit der authentischen Lehre Buddhas nicht vereinbart werden kann. Diese Substanz-Lehre ist im Übrigen weit verbreitet und oft Grundlage der westlichen Philosophie seit dem griechischen Philosoph Parmenides. Sie ist eine Grundlage der Metaphysik des Seins, die bis in die neue Zeit etwa von Heidegger hinein wirksam ist. Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass gerade diese griechische Philosophie der Substanz und des Seins in den Buddhismus hinein diffundiert ist. Wir wissen historisch, dass es einen indisch-griechischen Buddhismus gab, der sich in den östlichen Gebieten der Nachfolgereiche von Alexander dem sogenannten Großen entwickelt hatte.

Demgegenüber vertreten Buddha und Nâgârjuna in aller Klarheit die Wirklichkeit Prozesse der Veränderung, der Befreiung und Emanzipation und nicht zuletzt der Überwindung des Leidens, oder wie es genauer heißt, dass das „Leiden zur Ruhe kommt“. Abruptes Umschlagen von Sein und Nicht-Sein, oder Existenz und Nichtexistenz werden abgelehnt, denn sie sind in der Wirklichkeit nicht vorfindbar und daher doktrinäre  Extreme des Denkens und Glaubens. Ich folge diesem Ansatz der Veränderungen und Prozesse ausdrücklich, weil ich in der Tat eine Philosophie der Substanz und des Seins für ungeeignet halte, um wichtige Befreiungsprozesse lebendiger Wesen und vor allem des Menschen philosophisch analysieren und beschreiben zu können. Die notwendige Reduzierung von Komplexität lebender vernetzter Prozesse lassen sich meines Erachtens mit einer Philosophie unveränderlicher Substanz, die zudem noch ewig ist, nicht behandeln.

Es ist am Rande bemerkt durchaus erstaunlich, dass die westliche Philosophie auf einer Substanz-Philosophie aufbaut und nicht einmal die Ratio der Veränderung des griechischen Philosophen Heraklit sinnvoll integriert. Eine auf dem Buddhismus aufbauende Philosophie der Veränderung, Befreiung und Emanzipation des Menschen möchte ich als Differential-Ontologie bezeichnen, die in wichtigen Aussagen auch im Westen von den modernen französischen Philosophen Deleuze und Deridá vorangebracht wird. Aus meiner Sicht sind die philosophischen Grundlagen und Differenzierungen bei Buddha, Nâgârjuna und Dôgen besonders lebensnah und umfassend. Die Beschreibung der Welt und des menschlichen Lebens mit einem wechselwirkenden sich entwickelnden und vernetzten Ganzen ist zweifellos ein moderner Ansatz, der in der Systemtheorie Niklas Luhmans, der Öko-Systemforschung und nicht zuletzt der Neuro-Gehirnforschung wissenschaftlich erfolgreich angewendet wird.

Metaphysische Grundlagen erscheinen mir daher weniger geeignet, um das Problem, wie wir unser Leiden überwinden und uns befreien können, zu behandeln. Rein empirisch quantitative Methoden sind sicher für einzelne Experimente und Versuche nützlich, wie die Öko-Systemforschung und Gehirnforschung beweist. Als Methode ziehe ich jedoch eine Phänomenologie vernetzter Prozessen vor, die über die Phänomenologie der Dinge, Sachen und des Seins hinausgeht. Die Phänomenologie wird oft dem Philosophen Husserl zugeschrieben.

Im vorherigen Kapitel arbeitete Nâgârjuna das Verhältnis von Leerheit und wechselwirkendem Entstehen heraus. Leerheit heißt demnach verkürzt, dass die Doktrin und Ideologie der Substanzhaftigkeit (Substantialismus) beseitigt werden, dass die dynamische Wirklichkeit also leer von derartigen unveränderlichen Substanzen und Essenzen ist. Die gilt besonders für die Doktrin einer Eigen-Substanz (svabhâva) und eines Substanz-Selbst wie des Âtman-Selbst des Brahmanismus.

Nachdem im vorherigen Kapitel, das das Längste des MMK ist, die Vier Edlen Wahrheiten gegenüber einer Doktrin von Substanzen oder des falschen Verständnisses der Leerheit als dem Nichts verteidigt wurden geht es nun um das große Lebensziel des Menschen, nämlich die Befreiung und Emanzipation in diesem Leben im Hier und Jetzt. Nâgârjuna  nennt diese Befreiung Nirvana und distanziert sich damit von dem Glauben, das Nirvana wäre in einer jenseitigen transzendenten Welt, die total verschieden von der hiesigen realen Welt sei. Oder kurz gefasst: die buddhistische Lehre und Praxis gibt uns die Möglichkeit jetzt in unserem Leben sich so weiter zu entwickeln, dass wir ein derartiges befreites Leben führen können. Dies ist gleichzeitig ein gutes und freudiges Leben, das die Hemmnisse überwunden hat und durch die sieben Faktoren der Erleuchtung von Buddha authentisch beschrieben wurde.

Die folgenden sieben Verse sind die Gegenargumente gegen die authentische Lehre Buddhas und Nâgârjunas, weil der Kontrahent die Leerheit falsch versteht und als Nichts und Nihilismus interpretiert. Danach erläutert Nâgârjuna im Einzelnen das wahre Verständnis der Leerheit und der Befreiung also des Nirvana.

Nishijima Roshi betont zu Beginn dieses wichtigen Kapitels, dass es beim Leiden und bei  Überwindung des Leidens vor allem um Gefühle gehe, die schnell kommen und gehen: „Unglücklicherweise tendieren viele Menschen dazu, in diesen Bedingungen und Ursachen stehen zu bleiben, sodass große Ängste über sie kommen. Wir wollen für immer glücklich sein und niemals uns traurig fühlen. Aber eine solche Situation ist unmöglich. Aus dieser Angst heraus entstehen die emotionalen Voraussetzungen, dass wir für immer dem Glück nachjagen und vor der Traurigkeit davon fliehen. Diese Situation ist in hohem Maße unstabil und unerfreulich“. Wenn wir jedoch die buddhistische Praxis eingerichtet und verwirklicht haben, verlieren sich die angstbesetzten Gedanken und unsere physischen Begierden stören unseren Alltag nicht mehr. Dann seien wir im Gleichgewicht und nach dem Verständnis Nishijima Roshi’s sei dies das Gleichgewicht von sympathischen und parasymphatischen  Nervensystemen. Er bezeichnet dieses mentale und physische Gleichgewicht als „Nirvana oder den freien und friedlichen Zustand“.

Die Doktrin des Substantialismus ist eine zentrale Gefährdung der authentischen buddhistischen Lehre. Solche ungenauen oder irreführenden Doktrinen können wir nach dem Achtfachen Pfad, also durch die rechte Sichtweise, durch rechtes Entscheiden, Reden, Handeln, durch rechte Lebensweise, Ausdauer, Achtsamkeit und Meditation vermeiden. Derartige Fehlentwicklungen führen ziemlich wahrscheinlich in die Irre, sie führen uns weg vom guten erfüllten Leben: Das ist die wichtigste Lehre des Achtfachen Pfades.

Bei falschen vor Allem substantialistischen Doktrinen sind die buddhistischen Lehre und Praxis also weitgehend unwirksam. Dann sind die Aussagen der Präambel des MMK zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und das zur-Ruhe-Kommen der wegführender Fehlentwicklungen weitgehend gegenstandslos. Eine Argumentation des radikalen Unterschiedes von Nirvāṇa und Samsara, beide als Substanzen gedacht und geglaubt, hat Buddha nicht gelehrt. Er hat vor Allem keine methaphysischen Doktrin des Substantialismus gelehrt. Denn es geht um gute wechsel-wirkende Veränderungs-Prozesse des Werdens und Befreiens in unserem Leben. Wenn wir das Nirvana in diesem Leben verwirklichen, dann verwirklichen wir den großen Frieden.

Für die zentralen Probleme und Fragen der Befreiung, der Überwindung des Leidens und letztlich der Erleuchtung präzisiert Nâgârjuna mit großer Exaktheit verschiedenen Fehlentwicklungen, Illusionen und enttäuschte Hoffnungen, die vor allem durch ungenaue oder sogar falsche buddhistische Doktrinen entstehen. In 24 Versen dieses Kapitels destruiert er im Einzelnen doktrinäre Ansätze der Substantialisten, vor allem der Sarvastivadins, und der Momentanisten, vor allem der Sautrantikas. Beide haben ein ontologisches Grundmodell von unveränderlichen substanzhaften Entitäten für die zentralen Bereiche des Lebens. Danach werden die Existenz und die Nicht-Existenz, der erste Anfang und das Ende des Lebens substanzhaft verstanden. Nagarjuna destruiert die philosophische Hilfskonstruktion dieser beiden Doktrinen als ungenau uns sogar in sich widersprüchlich. Denn trotz der behaupteten isolierten Substanzhaftigkeit der Dinge, Phänomene und Ereignisse, also der Dharmas, müssen irgendwelche Verbindungen zwischen diesen Entitäten angenommen werden. Beim Momentanismus werden danach die zeitlich abgegrenzten und eigentlich total isolierten Zeitmomente durch äußerst subtile verbunden.

Diese nicht wahrnehmbare Verbindungselemente werden benötigt, um die Doktrin scheinbar der Wirklichkeit anzupassen. Ich folge dabei Kalupahna, dass derartige Hilfskonstruktionen die fundamentalen Schwächen dieser Doktrin nicht beseitigen können und der Ontologie getrennter Zeitmomente fundamental widersprechen. Derartige Doktrinen werden wohl von menschlichen Hoffnungen, Ängsten und Bedürfnissen angetrieben und halten einer philosophisch präzisen Analyse nicht stand.

Nach den 24 Versen dies Kapitels zur Befreiung und zum Nirvana ist nunmehr der Boden bereitet, um im folgenden Kapitel den möglichen positiven Entwicklungsgang und Befreiungsprozess des Menschen präzise zu beschreiben, den Buddha vor allem im Sutta des Katjayana dargelegt hat. In 12 Schritten entwickelt Nâgârjuna den Befreiungsweg. Bei diesem Sutta führen dagegen schrittweise Fehlentwicklungen in die Unausweichlichkeit des Leidens. Und dieses Leiden setzt bei den Fünf Skandas des Menschen an, die Buddha als Realität der Welt beschrieben hat.



Kapitel 26: Der Befreiungsweg in zwölf Phasen
Mit diesem Kapitel schließt Nâgârjuna seinen fundamentalen Zyklus zur Bereinigung und weiteren Entwicklung des wahren Buddhismus ab. Es lehnt sich dabei an die zwölf Phasen der menschlichen Entwicklung des Kaccana Sutta an, an dessen Anfang der von Unwissen „umhüllte“ Mensch mit seiner Lebens-Dynamik und den formenden Kräften steht. Ein unwissender Mensch, der in unreflektierten Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien verfangener ist, geht gewissermaßen einen zwangsläufigen oder vorgegebenen Ablauf seines Lebens, der in dem Sutta in zwölf Schritten beschrieben wird. Umgekehrt gibt es in jeder Phase unseres Lebens nach Gautama Buddha die Möglichkeit der Emanzipation und Befreiung von einer solchen Zwangsläufigkeit, sodass Leiden und Elend weitgehend aus unserem Leben verschwinden und überwunden werden. Ich möchte an die Geschichte des Massenmörders Angulimala erinnern, der von Buddha in die Sangha aufgenommen wurde und Erleuchtung und Befreiung erlangte. Sein Leben hatte durch die Begegnung mit Buddha eine fundamentale neue Richtung und einen neuen Sinn erfahren.

Nâgârjuna hat in den vorherigen 25 Kapiteln doktrinäre Fehlentwicklungen mit großer philosophische Präzision destruiert und dabei nur in kurzen Anmerkungen auf den wahren Buddhismus verwiesen. Meist hat er den Bezug zur Präambel, das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung als Kennzeichnung des wahren Buddha-Dharma mit den Fehlentwicklungen kontrastiert. Durch die Einführung des Begriffs der Leerheit gelingt es ihm besonders, die Doktrin des Substantialismus zu enttarnen und ad absurdum zu führen, die für eine Philosophie und Praxis der Befreiung ungeeignet und sogar gefährlich sei. Verkürzt sagt er, dass die Wirklichkeit leer von einer Metaphysik von unveränderlichen und ewigen Substanzen ist. Die bedeutet auch eine Kritik an der westlichen Substanz-Ontologie, die Ähnlichkeiten mit einer Seins-Ontologie hat. Buddhas und Nagarjunas philosophische Grundlagen möchte ich demgegenüber als Differential-Ontologie bezeichnen, denn es geht um menschliche Veränderungen der Befreiung, Kreativität und Emanzipation, also um Differenzen und Differentiale. In der gegenwärtigen Philosophie finden sich meines Wissens verwandte Überlegungen bei Deleuze und Derridá.

Nagarjuna fasst in diesem Kapitel die beiden grundsätzlich möglichen Abläufe menschlichen Lebens zusammen und schildert einerseits den Ausweg und die Befreiung aus einer determinierten negativen Entwicklung, selbst wenn sie schon weit fortgeschritten ist. Dass ist Nagarjunas klare positive Interpretation der buddhistischen Lehre. Andererseits umreißt er eine zwangläufige Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung, die zum Leiden führen muss. Diese leidhafte Entwicklung im menschlichen Leben nimmt nach Nagarjuna seinen fatalen Gang, wenn die Lehre Buddhas unbekannt ist oder durch falsche Doktrinen verzerrt wird.

Grundsätzlich gibt es für dieses Kapitel zwei durchaus unterschiedliche Interpretationen und zwar beim Glauben an die Wiedergeburt. Erstens däbe eine Verteilung der zwölf Phasen auf drei aufeinander folgenden Leben und Wiedergeburten. Zweitens ist eine sinnvolle Interpretation für ein einziges Leben von der Geburt bis zum Tod wie in der Geschichte des Mörders möglich. Aus meiner Sicht ist eine solche Unterscheidung allerdings nicht erforderlich und ich gehe davon aus, dass Nâgârjunas stark empirisch und phänomenologisch orientierte Arbeitsweise für beide Alternativen anwendbar ist. Sicher verfügt die überwiegende Mehrzahl heutiger Menschen über keine realen und belastbaren Erfahrungen der Wiedergeburt, möchte ich die Interpretation vor allem auf dieses eine Leben beziehen. Für die Interpretation in drei Wiedergeburten verweise ich besonders auf die MMK-Werke von Kalupahana und Garfield. Zu meiner Interpretation ergeben sich jedoch keine gravierenden Widersprüche. Schon in diesem einen Leben gibt es nämlich viel Unwissen und Unbewusstes, die geklärt werden können, um Freiheit, Klarheit und Emanzipation zu verwirklichen.

Die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas haben keinen direkten Bezug zur Wiedergeburt, sondern beschreiben die Emanzipation und Befreiung aus Leiden und Elend in einem Leben und zwar unabhängig von dem Glauben an die Wiedergeburt. Gleiches gilt für die Fünf Hemmnisse der Befreiung und die Sieben Faktoren der Erleuchtung. Da sich Nâgârjuna in der Präambel explizit auf die Lehren Buddhas bezieht und selbstverständlich die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad den Mittelpunkt seiner eigenen Lehre stellt, sollte meines Erachtens auch dieses Kapitel vor allem für den Emanzipations-Weg verstanden werden. Diese Befreiung ist der Gegensatz zu einer deterministischen Abhängigkeit und Unklarheit durch Gier, Hass und Verblendung, sei es in einem Leben oder mehreren Wiedergeburten. Im übrigen warnt Nagarjuna in dem folgenden und letzten Kapitel des MMK eindringlich vor irreführenden Doktrinen, verwirrten Vorstellungen oder illusionären menschlichen Sehnsüchten zur Frage der Wiedergeburt.

Dieses Kapitel beschreibt zwölf Faktoren die maßgeblich dafür sind ob ein Leben in Abhängigkeit, Unfreiheit und Leiden verläuft oder ob es zur Befreiung und Emanzipation als Aufbruch in eine neue Zukunfts- und Lebens-Form führt. Die zwölf Faktoren sind dabei zeitlich gegliedert und werden zu recht meist als eine schrittweise Abfolge des Befreiungs-Weges interpretiert. Aber dieser zeitliche Ablauf ist meines Erachtens variabel und kann je nach der Individualität des Menschen, der ihn geht, abgewandelt werden. Beide grundsätzlich möglichen Lebensabläufe sind maßgeblich davon gesteuert, welche Weltanschauungen, Sichtweisen und Doktrinen jemand hat. Es gab in der bisherigen Rezeption des Mittleren Weges von Nâgârjuna eine Argumentationslinie, die davon ausgeht, dass Nâgârjuna falsche Sichtweisen total falsifiziert und keine positiven Sichtweisen und Lebensformen beschreibt. In der Tat sind die meisten Kapitel des MMK durch die Destruktion und Falsifizierung falscher Ansichten gekennzeichnet. Ich folge allerdings Kalupahana [S.61], der diesen einseitigen Ansatz nicht für tragfähig hält, weil Buddha sowohl im Kaccana Sutta positive Sichtweise in aller Klarheit darstellt.

Nâgârjuna folgt in diesem Kapitel dieser Sichtweise. Nishijima nimmt in diesem Sinne die meisten wichtigen Aussagen im MMK als Ausgangslage, um sowohl positive Aspekte herauszuarbeiten als auch  als auch kritische buddhistische Aspekte darzustellen. Ich folge diesem Ansatz ausdrücklich. Er entspricht ziemlich genau dem Sinn der Präambel des MMK.

Es geht um den Mittleren Weg, der Extreme vermeidet, die durch falsche einseitige Sichtweisen gekennzeichnet sind. Wer von solchen meist doktrinären Extremen abhängig ist, kann kein gutes Leben führen und keine Befreiung vom Leiden erlangen. Schlagende Beispiele dafür sind religiöse Extremisten, wie zum Beispiel des Islam aber auch des Christentums und des Hinduismus. Ihre extremen Glaubens-Verirrungen lassen Menschen verachtenden Mord sogar an Kindern als gottgefällige gute Tat erscheinen, indem sie die Welt von „Unrat“ und „Schädlingen“ befreien. Dies sind sicher Extrembeispiele. Aber ein Blick in die Massenmedien zeigt uns, dass mit Extremen immer wieder Manipulationen der Menschen versucht werden, aus welchen Beweggründen auch immer. Es kommt also für uns tagtäglich darauf an, uns selbst von solchen Extremen freizuhalten und uns auch nicht durch falsche Sichtweisen der Extreme anderer fesseln zu lassen. Wir sollten mit Nachdruck und Ausdauer daran arbeiten, von solchen Realitäts fremden Doktrinen wegzukommen und von ihnen unabhängig zu werden und zu bleiben.

Wie in der Präambel und verschiedenen Kapiteln ausgeführt wird für die Freiheit und Unabhängigkeit von falschen Doktrinen der Begriff Leerheit verwendet. Er hat zugleich die Bedeutung des gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens, nämlich ohne Verzerrungen durch extreme und falsche Ansichten. Eine solche zunehmende Unabhängigkeit und Befreiung erfordert die klar Beobachtung von uns selbst, die Buddha mit Achtsamkeit bezeichnet. Dabei möchte ich auch auf Kants zentrale Aussage der Aufklärung hinweisen: „ Habe den Mut, selbst zu denken“.

Nâgârjuna untersucht nun in diesem Kapitel, die verschiedenen Faktoren der Befreiung in unserem Lebens daraufhin, ob sie von falschen Ansichten und Extremen abhängig sind oder im Gegenteil durch die eigene Unabhängigkeit zur Freiheit führen und unser Leiden zur Ruhe kommt. Dabei ergibt sich wie von selbst die Übereinstimmung mit den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad, den Buddha in seiner ersten Lehr-Rede seinen früheren Freunden aus der Zeit der Askese vortrug. Mit diesen zwölf Faktoren wird eine zusammenhängende Deutung der Emanzipation des  Menschen gegeben, die nicht durch den religiösen Glauben an ein ewiges Atman-Selbst dominiert wird.

In diesem zentralen Kapitel geht es um den Weg der Befreiung und Emanzipation des Menschen, in dem Unwissenheit und hemmenden formende Kräfte zur Ruhe kommen und überwunden werden. Die Ausgangslage dieser Befreiung der hier beschriebenen zwölf Phasen wird also als Fixierung durch Unwissenheit im Gegensatz zum Wissen und zur Weisheit gebildet. Dabei wird besonders die Wechselwirkung der Komponenten des Menschen (Skandhas) mit der Dynamik der formende Kräfte  des Menschen (Samskara) hervorgehoben. Wissen und formende Kräfte sind keine isolierten Entitäten oder Substanzen, sondern interagieren miteinander. Denn ein Wissen in unserem Geist und Gehirn, das losgelöst vom Handeln gedacht wird, kann keine weiterführende Phasen und Entwicklungen der Befreiung des Menschen in Gang bringen. Ein solches substanzhaft gedachtes Wissen muss weitgehend wirkungslos und folgenlos bleiben, wenn es isoliert ist. Auch die heutige Gehirnforschung und Biologie geht von der Wechselwirkung unseres Wissens, Könnens, Planens, Handelns und Ethik des neuronalen Netzes mit den anderen Bereichen des Menschen aus. Eine Doktrin der substanzhaften oder essenzhaften Isolation wäre unsinnige und einseitige metaphysische Doktrin.

Leider können wir bei vielen Menschen beobachten, dass sie in ihrem Leben zyklisch immer wieder gleiche oder ähnliche Fehler begehen, die dann in einen zwangsläufigen erneuten Ablauf des Zyklus münden, der wie durchprogrammiert wiederum zu Leiden, Elend und zu psychischen Schmerzen führt. Buddhas Befreiungs-Lehre setzt genau bei diesem Problemen an, um die deterministischen Abhängigkeit der verschiedenen nach einander ablaufenden Phasen eines Teufel-Kreises zu durchbrechen.

Mit den Begriffen „Unwissen“ sowie „Wissen und Erkenntnis“ spricht Nâgârjuna sicher die wahre buddhistische Lehre an, die ohne Zutun göttlicher Kräfte oder überirdischer Energien den Menschen in die Lage versetzt, sich selbst zu befreien und neue bessere Lebens-Chancen wahrzunehmen. Allein dieser Ansatz muss meines Erachtens in der Zeit von 500 vor Christus als Explosion für die menschlichen Befreiung und Therapie eingeschätzt werden. In allen mythischen Gesellschaften geht es überwiegend um außer menschliche meist gute oder gefährliche göttliche Kräfte, die auf das Leben der Menschen, Familien und den Volksstämme einwirken. Sie seinen nur durch religiöse Praktiken zu beeinflussen. In der vor-buddhistischen Zeit hatte sich eine derartige determinierende und ritualisierte Religion (Brahmamismus, Upanischaden) Gesellschafts wirksam entwickelt. Die Brahmanen, also die Priester der damaligen Religion, konnten sogar von sich behaupten, dass sie auch die Götter mit ihren Ritualen und Fähigkeiten steuern können und damit selbstverständlich auch die lebenden Menschen determinieren.

Buddha hat daher neue Wege gesucht, um derartige unheilsame Abhängigkeiten von gefährlichen Religionen, Ideologien und Doktrinen zu überwinden, somit die Menschen ihre Entwicklung, ihr Schicksal und ihre Chancen selbst in die Hand nehmen konnten. Er beschreibt dies vor allem im Achtfachen Pfad der Befreiung: Die rechte Sichtweise, das rechten Handeln, die rechten Achtsamkeit, der rechte Lebenserwerb, die rechte Ausdauer und Energie und die rechte Meditation und Sammlung. Buddha beschreibt die Meditation dabei sehr praktisch und detailliert und gibt den Menschen damit ein wirksames Mittel an die Hand, um zu Reflexion, Selbstreflexion und größtmögliche Selbstbeobachtung sowie Entscheidungsfreiheit zu gelangen. In der chinesischen und japanischen Tradition wird die Meditationsform des Zazen (nichts als sitzen) für außerordentlich wirksam gehalten, um durch „das Tor des Friedens und der Freude“ zu gehen, wie es mein Lehrer Nishijima Roshi formulierte. Es handelt sich dabei um eine gegenstandslose und emotional beruhigte Meditations-Form, die aus meiner Sicht auch den direkten Zugang zum Erleben der Leerheit eröffnet, ohne dass komplizierte philosophische Denkprozesse erforderlich wären.

Nach Buddha gliedert sich der Mensch in fünf Komponenten, die man sich allerdings nicht abgegrenzt konkretistisch vorstellen darf, sondern die zentrale Bereiche des Lebens und des Menschen aber auch der gesamten Welt umfassen und durch ihre Wechselwirkung das Leben überhaupt erst ermöglichen. In diesem Kapitel, wie auch in den vorhergehenden, kommt der Komponente des Menschen, die in Sanskrit samskara heißt, ganz besondere Bedeutung zu. Es gibt dafür eine große oft verwirrende Bandbreite von Übersetzungen und Interpretationen für diese Komponente. So bezeichnet beispielsweise der bekannte Wissenschaftler Kalupahana sie englisch als disposition, also etwa als Disposition oder Bestimmung und vielleicht als Potential. Der deutsche Indologe und Buddhologe Peter Gäng verwendet die Übersetzung formende Kräfte, um damit nicht nur die Disposition sondern auch die handelnden Kräfte selbst zu beschreiben. Ich folge dieser Übersetzung weitgehend, bin sogar darüber hinaus davon überzeugt, dass mit dieser Komponente samskara überhaupt die umfassende steuernde Dynamik und das Handeln des Menschen und der Wechselwirkung in unserer Welt bezeichnet wird. Nishijima Roshi verwendet daher einfach die Übersetzung „Handeln“ (action), die meinem eigenen Verständnis recht nahe kommt. Sicher geht es bei den formenden Kräften in erheblichen Maße um Unbewusstes, dass bekanntlich wenig oder nur indirekt beeinflusst werden kann.

Die Gliederung in Komponenten des Menschen kann man sich recht gut am Beispiel der Wahrnehmung klar machen: Dazu gehören die Wahrnehmungs-Organe wie Augen, Ohren, Nase, usw., und darum, die Fähigkeiten überhaupt wahrzunehmen. Dazu gehört Sehen, Hören, Riechen usw., also die entsprechend trainierten und ausgebildeten Fähigkeiten zur Wahrnehmung. Sie sind eng mit den zugehörigen Teil-Systemen des Geistes und damit auch des neuronalen Netzes und der Informationsverarbeitung verbunden, also vor allem mit den Tätigkeiten des Sehens, Hörens, Riechens usw. selbst. Schließlich werden Erinnerungen und Ergebnisse der Wahrnehmungs-Vorgänge als Spuren oder Bahnungen im Gehirn mehr oder minder dauerhaft und langfristig gespeichert und ergeben so die Fähigkeiten zu sehen, zu hören und zu riechen usw. Alle diese verschiedenen Bereiche der Wahrnehmung sind nach Buddhas Gliederung in dieser bestimmten Komponente des Menschen enthalten.

Aus meiner Sicht ist eine solches Gesamtverständnis auch für die menschliche Komponente des der formenden Kräfte, samskara, anzuwenden. Es geht dabei um das Potential, die real trainierten und eingeübten Fähigkeiten, das Tun und Handeln selbst und um die bahnende Ergebnisse im Gehirn, die für zukünftiges Leben und Überleben unbedingt erforderlich sind. Daraus ist zu erkennen, dass meine Interpretation umfassender und breiter ist, als etwa die Bedeutung der dispositions, die letztlich nur das Potential aber nicht die Verwirklichung selbst umfasst. Mit dem Potential ist nämlich die lebendige Verwirklichung gerade nicht identisch, sondern es ist nur eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung. Die von anderen Autoren verwendete Bedeutung Tatabsichten erscheint mir ebenfalls zu begrenzt, denn mit den Absichten ist das wirkliche Tun und Handeln auch nicht vollständig erfasst.

Tatabsichten führen nicht zwangsläufig zum entsprechenden Tun und Handeln, sondern können getrennt von den weiteren Prozessen als reine Absicht und Vorstellung verbleiben. Der bekannte Autor des MMK, Garfield [S. 62] neigt m. E. zu dieser Auffassung. Damit würde der im Zen – Buddhismus so zentrale Lebensmoment des Tun und Handelns in der Form des Bodhisattva-Handelns nur als Tat-Absicht verstanden. Möglicherweise steht dahinter der Ansatz der Wiedergeburt, indem diese Tatabsichten von einem Leben zum nächsten weitergegeben werden und den Start im neunen Leben bestimmen. Eine derartige Sichtweise überzeugt mich nur teilweise, da Buddha und Nâgârjuna recht klar äußern, dass keine der Komponenten des Lebens dinghaft und unverändert in eine neue Inkarnation übernommen werde. Es bleibt im Buddhismus dabei durchaus schwierig, eine rationale Erklärung der Wiedergeburt zu formulieren. Aus meiner Sicht sollte man die gesamte Reinkarnation daher als Bereich des Glaubens verstehen und sie jedem Menschen selbst überlassen.

Von großer Bedeutung ist der Vers 26.7, in dem die Befreiung von Abhängigkeit, Ergreifen und Determinierung explizit erwähnt wird. Damit wird die Zwangsläufigkeit des Ablaufs der Phasen, die zum Leiden und Elend führen, außer Kraft gesetzt und die Befreiung aus dem fatalen vorprogrammierten unheilsamen Ablauf zum Leiden durchbrochen. In Vers 26.10 wird dann in aller Klarheit formuliert, dass wir selbst die Wurzeln des Leidens erzeugen, formieren und in die Dynamik der formenden Kräfte einbringen, die uns zum Leiden und Elend zwingend vorantreiben.
Wir haben nach Buddha und Nâgârjuna die Freiheit, derartige Wurzeln zu beseitigen und dafür zu sorgen, dass sie überhaupt nicht neu entstehen. Eine ähnliche Formulierung finden wir im sutta der Grundlagen der Achtsamkeit und bei den Vier Edlen Wahrheiten. Im folgenden Vers verwendet Nâgârjuna den wichtigen Begriff „zur Ruhe kommen“, um aus dem fatalen deterministischen Ablauf heraus zu kommen. Dieser Begriff hat auch zentrale Bedeutung in der Präambel für die Beschreibung des Befreiungsweges. Danach werden die formenden Kräfte und die Dynamik des Lebens gerade nicht deterministisch und mit mechanischer Zwangsläufigkeit zum Leiden, Elend und zu Schmerzen, sondern der Mensch befreit sich von einer derartigen negativen Entwicklung. Dadurch kann er den großen Frieden bei gleichzeitigem klaren Handeln verwirklichen.


Kapitel 27: Doktrinen und Buddhas umfassende Wahrheit
Wer zum Grübeln neigt, aber auch wer dogmatische philosophische Grenzfragen liebt, die man nicht sinnvoll beantworten kann, wird sich mit folgenden Fragen zur Wiedergeburt und der Existenz der Welt herumschlagen:

1. Woher bin ich gekommen? Gab es ein früheres Leben für mich? War ich derselbe und was habe ich eventuell aus diesem früheren Leben in das jetzige Leben übernommen? Habe ich gutes oder schlechtes Karma gemacht? Bin ich arm, weil ich schlechtes Karma habe? Bin ich wohlhabend, weil ich gutes Karma habe? Ist nicht jeder selbst schuld, wenn er wegen seines Karmas arm ist?

2. Was ist nach meinem Tode? Werde ich als gleicher Mensch ein zweites Leben haben? Werde ich dann identisch sein, mit dem was ich jetzt bin? Was wird aus dem jetzigen Leben eventuell in das nächste übertragen, zum Beispiel mein Karma? Welche guten und schlechten Taten werden überhaupt ins nächste Leben mitgenommen und bestimmen eventuell meinen zukünftigen Zustand, insbesondere meine zukünftige Wiedergeburt? Werden besonders meine formenden Kräfte (samskara) übertragen und behindern mich bei weiteren Entwicklung?

3. Was ist überhaupt die jetzige Existenz von mir? Existiere ich also wirklich oder nicht? Wie kann ichmeine jetzige Existenz wirklich beweisen? Bin ich wie aus einem Samen genauso geworden, wie es vor der Geburt für mich festgelegt war? Habe ich mich demnach wie eine Pflanze, von einem Samen zu einer Pflanze, zu einer Blüte und zu einer Frucht entwickelt? Welche Freiheits-Möglichkeiten habe ich, um mein Leben zu gestalten? Oder ist alles schon determiniert und festgelegt?

4: Seit wann existieren die Welt und das Universum? Wird das Universum ewig existieren?

Die dritte Frage hat auch die westliche Philosophie immer wieder zentral betroffen und sogar erschüttert: Bin ich zum Beispiel durch meine materiellen Gegebenheiten festgelegt oder habe ich die Willensfreiheit zu tun, was ich möchte oder nicht möchte? Die klassische Antwort ist paradox: Naturwissenschaftlich bin ich vollständig determiniert, aber mein Geist ist total frei. Diese Aussagen sind also mit der Weltanschauung des Materialismus und des Idealismus eng verknüpft, denn Idealisten behaupten im Allgemeinen, dass es vollkommene Willensfreiheit gibt, während Materialisten genau dies bezweifeln und behaupten, alles sei materiell und biologisch determiniert.

Mit diesen Problemen sind natürlich Ethik und Moral eng verbunden, denn wenn es überhaupt keine Willens-Freiheit gibt, wäre es unsinnig moralische Maßstäbe zu verwenden und nach gutem und nicht gutem Handeln zu unterscheiden. Bei einer Pflanze, die fast voll determiniert aus ihrem Samen entsteht, würde sicher niemand auf die Idee kommen, nach Moral und Ethik zu fragen, denn die Pflanze hat keine Willens-Freiheit und Entscheidungsmöglichkeit. Sie ist durch die genetische Struktur ihres Samens festgelegt und von dieser Genetik abhängig. Es gibt lediglich gewisse Varianten, die von den Umweltbedingungen abhängig sind, also Bodenbeschaffenheit, Fruchtbarkeit, Besonnung, Feuchtigkeit, Klima usw. Aber wir wissen auch, dass es Mutationen gibt, bei denen sich die genetische Struktur plötzlich verändert. Doch auch Mutationen wird man wohl nicht als Willens-Freiheit bezeichnen.

Die jetzt vorhandenen Pflanzen haben viele Millionen von Jahren überdauert und sich den verändernden Umweltbedingungen durch Mutationen angepasst, denn sonst hätten sie nicht überlebt. Aber es wäre also falsch, ihnen jede Art von „Lebens-Intelligenz“ abzusprechen.

Wenn wir die Pflanzen als den einen Pol der Determination in der Evolution annehmen, bilden die Menschen den anderen Pol. Denn die Menschen haben ein zentrales Nervensystem mit den Funktionen des Gedächtnisses, der Planung, der Intension, der Moral und Ethik und des wechsel-wirkenden Lernens mit anderen Menschen und der Umwelt, nicht zuletzt mit anderen Menschen. Die Tiere nehmen dabei sicher eine Mittelstellung ein. Sie sind zum einen genetisch und durch Instinkte in weiten Bereichen ihres Lebens determiniert, haben aber auch ein nicht unerhebliches Maß an sozialer und ökologischer Lernfähigkeit in der Interaktion mit anderen Tieren z. B. der Gruppe, in der sie aufwachsen und der Umwelt. Man denke nur an soziales Lernen in einer Elefantenherde, an Insekten-Völker wie Bienen und Ameisen oder an Primaten, wie Schimpansen oder Gorillas.

Das höchste Maß an Lernfähigkeit, Anpassungspotential und Kreativität hat bei dieser Untersuchung sicher die Menschen. Aber jeder von uns benötigt eine lange Entwicklungs- und Lerns-Srecke, bevor er den Aufgaben und Anforderungen des Lebens gerecht wird. Wir leben zudem in kulturellen und durchaus unterschiedlichen Traditionen und Strömungen, die uns in erheblichem Maße unbewusst beeinflussen. Durch die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen und zu benutzen, hat sich in der Evolution des Menschen eine große Bandbreite des individuellen und sozialen Lernens eröffnet. Oder umgekehrt ausgedrückt: Menschen können ohne Sprache überhaupt nicht leben.

In der westlichen Philosophie wird die Überwindung des Dualismus von Rationalismus oder Idealismus einerseits und dem naturwissernschaftlichen Materialismus andererseits große Bedeutung zuerkannt. Der Idealismus wird meist mit dem griechischen Philosophen Platon verbunden  und dem materielle Empirismus der angelsächsischen Philosophen Hobbes und Hume gegenübergestellt. Für die griechische Philosophie maßgeblich ist aus meiner Sicht maßgeblich, dass das psychische Individuum bei der Untersuchung der Wahrheit im Allgemeinen nicht einbezogen wird Für die griechische Philosophie ist also die außen liegende objektive Welt im Fokus, während seit Descartes der subjektiv denkende Mensch in den Mittelpunkt gestellt wird. Nishijima bezeichnet die scheinbar objektive Sichtweise als Materialismus und die subjektive als Idealismus.

Die herausragende Bedeutung des Philosophen Kant wird im Allgemeinen innerhalb der Philosophiegeschichte durch dessen intensiven Versuch, dem Dualismus von nach außen gerichteter objektiver Philosophie und innen gerichtete Subjektivität zu überwinden. Dabei greift Kant für den Bereich der Vernunft und des Rationalen auf ein Modell der Propädeutik zurück, das heißt, dass es in der Welt Vor-Festlegungen gibt, die der empirischen Beobachtung und Erfahrung vorgeschaltet sind. Er betont, dass dieses kein zeitliches Vorwegnehmen ist, sondern dass diese Aussagen philosophisch und rational propädeutische und empirische sind. Beide Aussagen dürfen nach Kant nicht von einander getrennt werden, sondern sind aufeinander bezogen. Das heißt also: Ohne empirische Untersuchungen gibt es keine Propädeutik und umgekehrt.

Aus buddhistischer Sicht ist dieser Ansatz nicht ganz überzeugend, denn es bleibt unklar, wie einerseits dieser Zusammenhang sein soll, wenn eine gewissen Unabhängigkeit beider Denk- und Erfahrungsmodelle gegeben ist. Nishijima Roshi betont zu Recht, dass der Dualismus in einfach und direkt durch das Handeln im Augenblick aufgehoben wird. Im Augenblick des Handelns gibt es keine sinnvolle Unterscheidung und Trennung zwischen dem handelnden Subjekt, einem Objekt und dem Prozess des Handelns selbst. Das heißt, dass der Dualismus ist maßgeblich durch unser Denken erzeugt wird, also in unserem Gehirn verankert ist. Der Dualismus verliert fundamental an Bedeutung, wenn die Motorik des Handelns, die sinnliche Wahrnehmung und das Denken im Augenblick als Ganzheit zusammen wirken. Ein Modell des Dualismus geht an der so erfahrbaren Wirklichkeit vorbei. Wichtig ist dabei, dass Handeln, sinnliche Wahrnehmung und Bewusstsein in enger Wechselwirkung mit den formenden Kräften interagieren.

Dabei soll nicht übergangen werden, dass Kant der für die Aufklärung fundamentale Grundlagen und Fortschritte bereitgestellt hat, wenn er sagt, man solle nichts glauben und nichts übernehmen, was man nicht selbst durchdacht hat: Habe den Mut, selbst zu denken. Damit spricht er die Befreiung des Geistes an.

In diesem letzten Kapitel 27 des MMK behandelt Nâgârjuna nun die spekulativen Fragen: Woher komme ich, wohin gehe ich und was ist überhaupt meine Existenz im jetzigen Leben, also in der Gegenwart? Da es Buddha vor allem um die Verbesserung des eigenen Lebens, also insbesondere um die Überwindung des Leidens, die eigene Befreiung und das Erwachen oder die Erleuchtung geht, hält er es für unsere Lebenspraxis nicht sinnvoll und ergiebig, sich mit den genannten spekulativen Fragen zu beschäftigen. Damit werde nur unnötig Lebensenergie für nicht sinnvolle Fragen verbraucht. Da diese Fragen grundsätzlich nicht eindeutig und präzis zu beantworten sind, verbleibt alles im Spekulativen und phänomenologisch nicht Fassbaren. Es kann daher nicht verwundern, dass er solche hoch spekulativen und psychisch verwirrenden Fragen für unergiebig und sinnlos hält. Sie binden Kraft und führen weg von einem sinnvollen und sinnerfüllten Leben.

Durch die Naturwissenschaft haben wir heute sehr viel belastbares Wissen als zu Zeiten Buddhas: Wie sich unsere Welt entwickelt hat, wie alt sie ist, wann in der Evolutionsgeschichte die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten entstanden sind und welche Eigenschaften sie hatten. Es ist zum Beispiel ziemlich sicher, dass vor etwa 60 Millionen Jahren durch große Erdkatastrophen die meisten Pflanzen- und Tierarten ausgestorben sind, dass es aber in der Folgezeit zu einer großen Mutations- und Vervielfältigungs-Phase kam, sodass fast explosionsartig neue Pflanzen- und Tierarten entstanden sind und sich in der Folgezeit der weiteren Evolution bewährt haben und so überleben konnten.

Aber trotz all dieser Fortschritte in den Naturwissenschaften bleiben zentrale Fragen unbeantwortet: Zum Beispiel was vor dem angenommenen Urknall vor etwa 12 Milliarden Jahren war und was in der fernen Zukunft sein wird. Wir sehen daran, dass die Naturwissenschaft zwar erstaunliche Fortschritte in materiellen Bereichen des Lebens und der Welt erzielt hat, aber die Grundfragen der Welt keinesfalls erschöpfend beantwortet werden können. Es bleibt ein großer Raum für alle möglichen spekulative Meinungen.

Dies gilt auch für die Menschen, wenn wir zum Beispiel fragen, wie Unbewusstes, Bewusstes und Ethisches bei uns zusammenspielt, wie wir Auswege aus unsere Leiden finden und wie wir ein erfülltes und glückliches Leben führen können. Und genau dieses sind die Themen und Fragen Buddhas für die Menschheit, die Nâgârjuna im MMK schärfer herausarbeitet und von Fehlentwicklungen befreien will, die  durch verwirrenden und eventuell verführerischen Spekulationen entstehen und entstanden sind.

Mit Kalupahana [63]stimme ich überein, dass nicht zuletzt durch dieses letzte Kapitel des MMK das unnützes Meinen von der hilfreichen Erlebenspraxis Gautama Buddhas abgegrenzt werden: Ein wirklich gutes Leben wird durch den Mittleren Weg ermöglicht, der die Extreme von Dogmatik, fixierte Ansichten und festgefahrene Positionen vermeidet und sowohl der Wahrheit des Alltäglichen dient als auch die Verwirklichung der höchsten Wahrheit ist. Dabei hat die Klarheit und Offenheit des Augenblicks, die Meister Dôgen und Nishijima Roshi so sehr in den Mittelpunkt stellen, eine besonders hohe Bedeutung, die in China im Chan-Buddhismus. Wie in Kapitel 24 des MMK besonders deutlich herausgearbeitet wurde, darf dabei auch die Leerheit nicht zu einem Dogma verhärtet werden, denn ein solches Dogma wäre sehr ähnlich dem, was Nâgârjuna in diesem Kapitel 27 destruiert. Der Begriff der Leerheit wird dabei immer wieder missverstanden, weil er in das Dogma des Nichtsund des Nihilismus abgleiten könnte und damit die Wirklichkeit des jetzigen Lebens unterminiert. Nâgârjuna bezeichnet dies als „giftige Schlange“, die falsch gegriffen wird und daher höchst gefährlich ist.

Selbst der Ansatz, bestimmte Lehrmeinungen zu vermeiden, kann zum unreflektiertem Dogma werden und damit die Offenheit und Beweglichkeit des menschlichen Geistes empfindlich einschränken. Der Weg zur Befreiung wird dadurch behindert oder sogar ganz versperrt. Jedes Dogma verhindert die geistige, psychische und spirituelle Freiheit, engt den Denk- Handlungs-Raum des Menschen ein und verhindert die klare Offenheit des Handelns, der Wahrnehmung und Denkens. Die Existenz von Dogmen widerspricht im Kern der Lehre des Mittleren Weges vom MMK.

Kaupahana sagt zum Kapitel 27 (S. 78 f): „Buddhas Ablehnung eines unveränderlichen und ewigen Selbst (Âtman) und seine Erklärung der menschlichen Persönlichkeit und dessen Überleben des Todes mit seiner Formulierung der Lehre des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung (wörtlich bei Kalupahana – abhängiges Entstehen), sind für die meisten Philosophen seit dem er es präsentiert hat, unverdaulich geblieben“. Die späteren Interpretationen seien daher widersprüchlich und mit dem authentischen Buddhismus nicht vereinbar. Zum einen würde wiederum ein permanentes und ewiges Selbst unterstützt, dies seien die Internalisten. Andere lehnten das Ganze mehr oder minder als Halluzinationen ab. „Diese beiden Sichtweisen haben in der Welt überdauert, bis in den heutigen Tag, ähnlich wie die Sichtweisen über die Beziehung zwischen Ursachen und Wirkung überdauert haben“. Buddha habe dies im Sutta des Kacchanaya behandelt, das auch Grundlage des MMK sei. „Wenn er von der Neigung des Ergreifens und der Verwicklung auf der Seite des Menschen sprach“. Es gibt demnach drei Grundtypen derartiger Fragen über die Existenz:

Habe ich in der Vergangenheit existiert oder nicht?
Werde ich in der Zukunft existieren oder nicht?
Existiere ich in der Gegenwart oder existiere ich nicht in der Gegenwart.

Buddha habe diese Fragen als Spekulationen abgelehnt, weil sie zu einer Vielfalt von Meinungen und Sichtweisen führt, die er selbst in einem Sutta untersucht hat. Es gibt nach seiner Analyse deren 62 Sichtweisen und Philosophien. Dabei sind die Meinungen einer dauerhaften unveränderlichen Existenz und umgekehrt der totalen Auflösung der Existenz am meisten vertreten. Weder gibt es ein sicheres Wissen über die Vergangenheit und schon gar nicht über die Zukunft und auch philosophisch theoretische Fragen der Existenz im absoluten Sinne können nicht beantwortet werden. Buddha hat daher dringend empfohlen sich mit dem gegenwärtigen Leben intensiv zu beschäftigen, sich selbst zu analysieren und durch Entwicklungs- und Befreiungsprozesse ein gutes Leben zu gestalten.

Kalupahana: (S. 79 f.)[64]: „(Buddha) rät ( seinen Schülern) stattdessen mit ihren verfügbaren Möglichkeiten und Ressourcen zu versuchen, die Dinge und Zusammenhänge zu verstehen, wie sie sind und entstanden sind, und die Freiheit vom Leiden auszuarbeiten“. Wenn man sich zu viel mit den Fragen beschäftigen würde, würde dies geradezu neuer Bindung und Fesselung und damit zum Leiden führen. Er zitiert Buddha, der seinen Schülern dringend rät: „Wenn man keine Sichtweise (und Meinung) ergreift, mit einer angemessenen Wahrnehmung und Moral beschenkt ist und die Gier nach (oberflächlichen) Freuden der Sinne gebändigt hat „sei dies wie in diesem Leben auch das Beste um zukünftige Geburten zu vermeiden“.

Nâgâjuna untersucht nun in diesem abschließenden Kapitel derartige Meinungen, Sichtweisen und unheilsamen Doktrinen die eine Weiterentwicklung und Emanzipation des Menschen beinträchtigen oder unmöglich machen. Für unsere Lebenspraxis bedeutet dies schlicht und einfach, dass es nicht sinnvoll ist, sich mit den Fragen des Vorlebens, der absoluten Existenz in der Gegenwart oder in der Zukunft zu beschäftigen und damit sich in neue Verwirrungen, Abhängigkeiten und Irrtümer zu verstricken. Denn es geht um dieses Leben und dessen guter Gestaltung mit den Möglichkeiten und der Umgebung, wie sie ist. Eine solche Befreiung oder Erleuchtung ist sicher nicht einfach und erfordert unsere volle Achtsamkeit , Energie, Ausdauer und Freude zur Veränderung und zum Besseren: „Die Vielfalt falscher Sichtweisen wurde von Buddha hauptsächlich aus pragmatischen Gründen abgelehnt und zwar deswegen, weil sie nicht zur Freiheit und zum Glück führen“.

Dies gelte weder für die weltlichen Früchte der Praxis noch kann es einen guten Beitrag zur höchsten dem Menschen zugänglichen Frucht geben und dies sind Freiheit und Glück. Stattdessen führen sie zu Dogmatismen, Konflikten und Leiden“. Deshalb sei die mittlere Position der Mittlere Weg richtig, um Extreme zu vermeiden und den Befreiungsweg zu erkennen und zu gehen. Welche Perspektiven eröffnen sich bei der Analyse der doktrinären Probleme des Substantialismus und Momentanismus, wenn es um unser Leben in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht? Oder anders ausgedrückt: Wie ergänzen oder widersprechen sich moderne gesicherte Erkenntnisse der heutigen Wissenschaft mit Buddhas und Nagarjunas zentralem Verständnis des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und der Nicht-Realitaät von Extremen in der Welt und in unserem Leben?

Nishijima Roshi beschreibt die Wirklichkeit des Universums und des Lebens als ein Zusammenwirken individueller Gegebenheiten in einem gesamten Gefüge. Einerseits gäbe es die Sicht der Individualität und der Besonderheit, auf der anderen Seite die Notwendigkeit des Gesamten, die häufig im Buddhismus auch als Einheit bezeichnet wird. Damit sagt Nishijima Roshi aus seiner eigenen Erfahrung und Erkenntnis des Zen – Buddhismus von Meister Dôgen genau die Zentral-Aussage der Präambel: „Gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung“. Bei dem Extrem einer totalen Einheit gäbe es keine Wechselwirkung, weil eine Einheit in sich selbst identisch wäre und keine Dynamik, Entwicklung, Emanzipation und Befreiung bewirken könne. Auf der anderen Seite sind die einzelnen Bereiche dieses Zusammenwirkens in einer gewissen Selbständigkeit die gerade durch das Zusammenwirken erst ermöglicht wird. Systemtheoretisch geht es um die Systemgrenze verschiedener gekoppelter Teilsysteme oder eines einzelnen beobachteten Systems mit seiner Umwelt.

Die Systemgrenze hat demnach eine doppelte Funktion: Zum einen grenzt sie die einzelnen Systeme in gewissem Maße von einander oder von der Umwelt ab, zum anderen ermöglicht sie eine Wechselwirkung gegenseitige Beeinflussung und Resonanz. Dadurch kann es überhaupt erst zu einem Zusammenwirken kommen. Diese von Niklas Luhmann theoretisch erarbeitete allgemeine Systemtheorie datiert aus den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts und ist nach meiner festen Überzeugung also von hoher wissenschaftlicher Qualität. Ganz ähnliche Ansätze gibt es in der modernen Gehirnforschung, die das Zusammenwirken von spezialisierten Teilsystemen im neuronalen Netz in den Mittelpunkt stellt. Auch hier gibt es die Abgrenzungen der Module und Teilsysteme, die je nach Entwicklung und Lernprozessen miteinander in intensiver Wechselwirkung und im Informationsaustausch sind. Auch hier kann man theoretisch ohne Schwierigkeit von Teilsystemen und Systemgrenzen sprechen. Je intensiver deren Wechselwirkungen sind, desto höher ist die Leistungsfähigkeit und Informationsverarbeitung der so gekoppelten Teilsysteme.

Philosophisch und erkenntnistheoretisch kann man es eigentlich als Sensation bezeichnen, dass Gautama Buddha diese Zusammenhänge intuitiv vor 2.500 Jahren erkannt hatte und zur Grundlage seiner praktischen Philosophie der Befreiung und Emanzipation gemacht hat. Es ist das große Verdienst Nâgârjunas, dass er diese fundamentalen philosophischen und praktischen Wahrheiten von fehlgeleiteten Doktrinen und vorbuddhistischem Aberglauben freigelegt und an die heutige Zeit übermittelt hat. Es ist zu vermuten, dass es dabei auch Missbrauchsfälle von ideologisch verengten Mönche gegeben hat.

Aus meiner Sicht eröffnen sich dabei neue Perspektiven auch für die westliche Philosophie, auf der Grundlage einer Differentialontologie, die bisherige Grenzen der Seins- und Substanzontologie und deren metaphysische Ausdifferenzierung maßgeblich erweitern kann. Es ist in diesem Zusammenhang spannend zu sehen, dass Heidegger in seinen letzten Jahren einen engen Bezug zum Zen – Buddhismus formuliert hat, ohne allerdings seine Quellen anzugeben. Seine Philosophie des Ereignisses und Augenblicks haben erstaunliche Ähnlichkeiten der mit zen-buddhistischer Philosophie eines Dogen und Nishijima Roshi.

Es geht darum irrige Ansichten, Dogmen, Doktrinen und Ideologien, auch wenn sie religiös gefärbt, sind eine klare Absage zu erteilen, sie zu hinterfragen und sich von ihnen zu entfremden (Hegel). Durch eine derartige gründliche Selbstreflexion kann nach den Darstellungen der zwölf Entwicklungsschritte zur Befreiung eine neue Lebenskraft, oder wie es im Buddhismus heißt, die formenden Kräfte entfaltet werden, die zu befreienden Lernprozessen führen und sowohl das Leiden überwinden. Das kann zu einem höheren und befreiten Leben der Erleuchtung führen. Der Weg zur Erleuchtung ist also ein kontinuierlicher Abbau von Dogmen und Ideologien, woher sie auch immer kommen, wodurch sie auch immer entstanden sind und von wem sie auch immer verbreitet werden.

Besondere Gefahr geht dabei von falschen Lehrern und falschen Heiligen aus, die durch ihre Überzeugungskraft oder Verführungskraft durch ihr Charisma Einfluss auf die Psyche und den Geist der Menschen gewinnen können. Bei genauer Analyse wird sich herausstellen, dass es sich hierbei oft um narzisstisch gestörte Menschen handelt oder solche, die am Borderline Syndrom leiden. Sie sind durch egozentrische Weltanschauung geprägt und versuchen in der Selbstdarstellung andere für sich zu gewinnen, nicht um diesen zu helfen, sondern um sich selbst zu erhöhen.

So ist die befreiende Lehre des Buddha Dharma vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht vorhandene Glaubensdogmen durch andere Dogmen ersetzt, sondern derartige Ansichten grundsätzlich überwindet und zur Ruhe kommen lässt.

Auch die Lehre des Buddha Dharma ist damit wie es im Gleichnis des Floßes nach dem Übersetzen über den Strom zur Befreiung nicht mehr notwendig: Dogmen, Doktrinen und durch sie gesteuerte Ansichten werden nicht mehr benötigt.

Der wahre Buddha-Dharma benötigt letztlich keine Doktrinen, denn er ist das Leben selbst, in seiner wunderbaren Schönheit, Vielfalt und Gesamtheit. Die buddhistischen Lehren sind zwar wichtige Hilfsmittel zum erfüllten Leben: Der Finger, der auf den Mond, also auf die Wirklichkeit zeigt oder das Floß für die Überquerung des trennenden Flusses. Aber später benötigt man diese Lehren nicht mehr.

Wir dürfen aber diese Lehren nicht als erstarrte Dogmen oder Doktrinen missverstehen, von falschen und gefährlichen Dogmen und Doktrinen eines falsch verstanden Buddhismus ganz zu schweigen. Nagarjunas letzte Aussage im MMK.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Lehren Gautama Buddhas eine hervorragende Qualität gerade für die Gegenwart besitzen. Ich fühle tiefe Dankbarkeit gegenüber Gautama Buddha, Nâgârjuna , vielen Meistern des Buddhismus und nicht zuletzt meiner Lehrerin Dae Poep Sa Nim und besonders meinem Lehrer Nishijima Roshi.






[1] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana, S. 9ff.
[2] Zölls, Doris: Disziplin als Anfang. Der Zen-Weg zur Liebe, S. 72
[3] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana, Kap. 15, S. 228ff.
[4] Heidegger, Martin: Zeit und Sein. In: Gesamtausgabe, Band 14. Zur Sache des Denkens, S. 5ff.
[5] Bertram, Georg W.: Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein systematischer Kommentar
[6] Im selben Sinne: Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana)
[7] Schmidt, Kurt: Buddhas Reden. Majjhimanikaya, S. 285
[8] Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika. Translation by Gudo Wafu Nishijima
Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana)
[9] Kalupahana, David J.: A History of Buddhist Philosophy
[10] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie
[11] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (übersetzt von David J. Kalupahana), S. 370ff.
[12] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (übersetzt von David J. Kalupahana)
[13] Hegel: Phänomenologie des Geistes, „Arbeit des Negativen“, zitiert in Bertram, Georg W., S. 316f.
[14] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes
[15] Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie
[16] Kalupahana, David J.: A History of Buddhist Philosophy
[17] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17ff.
[18] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 159ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 61ff.
[19] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 39
[20] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17ff.
[21] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 42
[22] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I
[23] Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra
[24] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 159
[25] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 51ff.
[26] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 180ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s
Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 85ff.
[27] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 188ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 95ff.
[28] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 44
[29] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 195ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 103ff.
[30] Kalupahana, David J.: A History of Buddhist Philosophy, S. 3ff.
[31] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 206ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 115ff.
[32] Spitzer, Manfred: Einsamkeit. Die unbekannte Krankheit. Schmerzhaft, ansteckend, tödlich
[33] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 211ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 121ff.
[34] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 217ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 128ff.
[35] Nagarjuna: MMK, Kapitel 24.18, (siehe „Sternstunden des Buddhismus“, Bd. 3, in Vorbereitung)
[36] Monier-Williams, Monier: Sankrit-English Dictionary
[37] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 43ff.
[38] Die Verbindung von gemeinsamem Entstehen in Wechselwirkung, Leerheit und Mittlerem Weg analysiert Nâgârjuna in Kapitel 24.18 des MMK.
[39] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 50ff.
[40] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 224ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 134ff.
[41] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 228ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 141ff.
[42] Anacker, Stefan: Seven Works of Vasubandhu. The Buddhist Psychological Doctor, S. 287ff.
[43] Nagao, Gadjin M.: Madhymika and Yogacara
[44] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 235ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 149 ff.
[45] Nach Kant, zitiert in: Bertram, Georg W.: Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein systematischer Kommentar
[46] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 51f.
[47] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 243ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 156ff.
[48] Rescher, Nicolas: Philosophical Reasoning: A Study in the Methodology of Philosophizing
[49] Shobogenzo 1, Uji
[50] Kalupahana, S. 280 ff.
[51] Shobogenzo, Kap. 2
[52] Kalupahna S. 65 ff.
[53] Kalupahana, S. 312 ff.
[54] Gäng Meditationstexte I
[55] Gäng, Peter: Buddhismus, S. 76
[56] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 59 f.
[57] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 63 f.
[58] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 65 f.
[59] Kalupahna S. 326 ff.)
[60] S. 326 f.
[61] Kalupahana, Seite 78
[62] Garfield
[63] Kalupahana (S. 80)
[64] Kalupahana: (S. 79 f.)