Yudo J.
Seggelke (Bitte Copyright beachten)
Arbeitsfassung vom 8.8.2019
Aus "Sternstunden des Buddhismus"
Nach den grundlegenden Arbeiten
von G. W. Nishijima
Hiermit möchte ich eine möglichst gut verständliche und brauchbare Zusammenfassung des berühmten "Mittleren Weges" des großen buddhistischen Meisters Nagarjuna vorlegen. Ich hoffe damit manche bisherigen Missverständnisse und ungenauen Interpretationen auszuräumen. Seit 19 Jahren habe ich an diesem epochalen Werk des Buddhismus gearbeitet, viele Jahre zusammen mit Nishijima Roshi und in der letzten Zeit mit der Indologin Elisabeth Steinbrückner. Nagarjuna lehrt, die Hemmnisse und Blockaden unseres Lebens klar zu erkennen und wirkungslos zu machen, um frische neue Lebensenergien zu aktivieren. Das Studium des ebenfalls fulminanten Werkes "Shobogenzo" von Zen-Meister Dôgen war für mich dabei ausgesprochen fruchtbar.
1. Einführung
2. Die Bedeutung des Mittleren Weges
3. Buddhas Lehrrede zum Mittleren Weg und zur Vermeidung von Extremen (Kaccānagotta suttam)
4. Mittlerer Weg: Lebendige Wechselwirkung und Entwicklung
Die Präambel
Kapitel 1: Verlässliche Grundlagen des Buddhismus – Kausalität,
Wechselwirkung, Wirkkraft und Frucht des Handelns
Kapitel 2: Die Dynamik der Welt und des Lebens – Gehen,
Bewegen und Verändern auf dem Weg des Lebens
Kapitel 3: Unsere Sinne und die Wahrnehmung
Kapitel 4: Die Gliederung der
fünf Komponenten des Menschen, deren Wechselwirkung und die Leerheit
Kapitel 5: Die buddhistischen Elemente Festes, Flüssiges, Luftartiges, Heißes, Raum
und Bewusstsein
Kapitel 6: Die Erregung, der Erregte und das
Gleichgewicht
Kapitel 7: Die Veränderungen im Buddhismus –
Entstehen, Andauern und Vergehen und die Dharma-Theorie
Kapitel 8: Akteur, Tat und Karma
Kapitel 9: Wahrnehmung und unabhängige Existenz
Kapitel 10: Brennstoff und Feuer – ein Gleichnis
des wahren Lebens?
Kapitel 11: Anfang und Ende – Geburt, Leben und Tod
Kapitel 12: Leiden und Schmerzen
Kapitel 13: Formende Kräfte, Verhaltensmuster,
Prägungen und Leerheit von unheilsamen Doktrinen
Kapitel 14: Verbindung von Subjekt, Wahrnehmung und
Objekt
Kapitel 15:
Die Wirklichkeit der Dinge, Phänomene und Ereignisse und die fiktive
unveränderliche Eigen-Substanz
Kapitel 16:
Bindung und Befreiung des Menschen
Kapitel 17:
Handeln, Karma und Verantwortung des Menschen
Kapitel 18:
Wirklichkeit
des Selbst, Âtman und Buddha-Natur
Kapitel 19:
Zeit, Augenblick und Wirklichkeit
Kapitel 20
Gesamtheit von Verursachung, Frucht und
Wechselwirkung
Kapitel 21
Entwicklung, Werden, Auflösung und Entwerden
beim Menschen
Kapitel 22
Tathâgatha
der Erwachte
Kapitel 23
Vertauschung, Verfälschung und Ethik
Kapitel 24
Die Vier Edlen Wahrheiten und die Leerheit
Kapitel 25
Befreiung
und Nirvana
Kapitel 26
Der
Befreiungsweg in zwölf Phasen
Kapitel 27
Doktrinen
und Buddhas umfassende Wahrheit
1. Einführung
Dieser Text ist eine Zusammenfassung der drei Bände von Sternstunden des Buddhismus der Kapitel 1 bis 27 von Nâgârjunas Lehrgedicht
über den Mittleren Weg. Dafür hat sich die Abkürzung MMK durchgesetzt– abgeleitet von Mûlamadhyamakakârikâ,
wie es in der indischen Sprache Sanskrit heißt. Es geht um zentrale Fragen und
Analysen Nâgârjunas im Hinblick auf den Menschen und auf die Dinge und Phänomene der Welt, die Dharmas. Er unterzieht dabei
Weltanschauungen und falsche Doktrinen, welche die Dharmas zum Beispiel als unveränderliche
Entitäten mit einem ewigen Wesenskern verstehen, einer präzisen
De-Konstruktion. Sonst würde die gesamte Lehre Buddhas unglaubhaft, spekulativ und vor allem unwirksam werden. Ein spekulativ behaupteter Wesenskern ist nach vorbuddhistischem Glauben eine
unveränderliche Substanz oder Essenz und charakteristisch für die Bausteine der Welt, den Dharmas. Dies
ist ohne Zweifel ein falsches absolutes Verständnis der Substanz und ein unreales Extrem. Damit muss die Überwindung des Leidens in der Welt scheitern. In Übereinstimmung mit Nishijima Roshi und Kalupahana werde ich in meiner Analyse und Interpretation des MMK die Kritik
Nâgârjunas auf die Vorstellung von einer absoluten und unveränderlichen
Substanz konzentrieren und dabei die Bedeutung und Funktion der Leerheit klar beschreiben [1].
Damit kann nunmehr ein vertieftes Verständnis des Buddhismus erreicht werden, das für die Wirksamkeit von Buddhas Praxis und Philosophie der Gegenwart von allergrößter Bedeutung ist!
In den Jahrhunderten nach Buddha
hatten sich bei verschiedenen Schulen Doktrinen entwickelt, die dem
vorbuddhistischen Glaubenssystem von absoluten und unveränderlichen Substanzen
sowie dem âtman sehr ähnlich waren.
Doris Zölls sagt dazu in ihrem neuen Buch: „Solange wir uns nach Dauerhaftigkeit
und Beständigkeit sehnen, verschließen wir die Augen vor der Wirklichkeit.
(...) Das Einzige, was beständig ist, ist der Wandel.“[2]
Nâgârjuna untersucht diese Dogmen mit philosophischer Präzision und zeigt auf,
dass sie die Kernaussagen Buddhas verzerren oder sogar in ihr Gegenteil
verkehren. Damit erarbeitet er die Grundlagen für den Hauptteil des MMK, der
mit Kapitel 16 über die Bindung und Freiheit des Menschen beginnt. Die Kapitel
16 und 17 werden im ersten Band behandelt, weil sie überleiten zur
Betrachtung des Menschen als Ganzem, der vor allem die Probleme der Bindung,
Fesselung und Unfreiheit erkennen und lösen muss, um sein Leiden überwinden zu
können.[3] Dies
ist die Voraussetzung für den Entwicklungs- und Emanzipationsprozess der
Befreiung, der mit zunehmender Lebensfreude und sich entwickelndem Glück im
Leben des Menschen verbunden ist.
Dabei kommt der Leerheit und
Befreiung von erstarrten, dogmatisierten und unheilsamen Prägungen eine große
Bedeutung zu. Besonders der Begriff Leerheit
ist häufig missverstanden oder mystifiziert worden, was viel Verwirrung
gestiftet hat. Vereinfacht möchte ich sagen, dass sich nach der Verwirklichung
der Leerheit von falschen Doktrinen von Geist und Psyche der Weg zum Erwachen und zur Erleuchtung
wirkungsvoll eröffnet: durch die Leerheit zur Fülle, Freude und Kreativität des
Lebens. Dieser Weg des Gleichgewichts und der Mitte vermeidet unsinnige und
unnatürliche Extreme. Nach der Lehre von und dem Glauben an eine Wiedergeburt
kann sich diese Entwicklung dann in einem nächsten Leben weiter fortsetzen.
Buddha allerdings macht keine sehr detaillierten Aussagen für eventuell
folgende Wiedergeburten und Leben. Er betrachtet das Erwachen und die
Erleuchtung als Vollendung dieses Lebens im Samsara des Hier und Jetzt. Dies veranschaulicht er
zum Beispiel im Gleichnis eines Massenmörders, der durch konsequente Praxis in
diesem Leben sein Mörder-Karma zur Ruhe bringt, auflöst und Erleuchtung
erlangt.
Aus meiner Sicht weisen die von
Buddha und Nâgârjuna kritisierten Lehren Ähnlichkeiten mit der westlichen Philosophie
von Parmenides und Platon auf, die maßgebend für die Entwicklung der
europäischen Philosophie des sogenannten Seins war. Heidegger hat sich
allerdings mit seinen späten Arbeiten zu Sein, Zeit und Ereignis offensichtlich
von diesen westlichen Grundlagen der Metaphysik des Seienden und des Seins
gelöst und sich dem Zen-Buddhismus stark angenähert.[4] Ohne
auf Einzelheiten dieser Philosophie einzugehen, ist es erkennbar, dass
Heidegger eine unauflösbare Verbindung von Ereignis, Zeit und Sein vertritt.
Das bedeutet m. E. ein neues dynamisches westliches Verständnis des Seins. Im
Zen-Buddhismus hat Dôgen ebenfalls ein solches dynamisches Verständnis der
Sein-Zeit sowie die Erfahrung der Wahrheit im Augenblick des Handelns in seinem
berühmten Werk Shôbôgenzô auf den
Punkt gebracht.
Im dritten Band
von Sternstunden des Buddhismus sollen weitere wichtige Grundlagen der buddhistischen Praxis und Philosophie
behandelt werden, besonders das Verständnis der Zeit und der Wirklichkeit des
Augenblicks. Nâgârjuna greift in den entsprechenden Kapiteln die Kernlehren des
Buddhismus auf und präzisiert deren wahre Bedeutung. Vor allem geht es um das
wahre Selbst, Buddha-Tathâgata, die Vier Edlen Wahrheiten, Freiheit und Nirvâna
sowie die Befreiung des Menschen in zwölf Phasen. Damit gewinnt auch der "moderne" Buddhismus des Westens kräftige Impulse und neue Energien zur Gestaltung eines erfüllten und guten Lebens!
2. Die Bedeutung des Mittleren Weges
Nâgârjunas Werk Mittlerer Weg und Dôgens Shôbôgenzô markieren für mich
Sternstunden des buddhistischen Lebens und Geistes. Wie beim ersten Band folge
ich auch mit dem vorliegenden zweiten grundsätzlich der Zielsetzung meines
Lehrers Nishijima Roshi, beide Denker und buddhistischen Meister in Beziehung
zueinander zu setzen, zur fruchtbaren Wechselwirkung zu bringen und für den
Westen verfügbar zu machen. Beide markieren aus seiner Sicht Höhepunkte des Buddhismus.
Kernpunkte und Gliederung der Bücher
Die Gliederung orientiert sich
am Aufbau des MMK, das insgesamt 27 Kapitel umfasst. In Band 1 wurden die
Präambel sowie die Kapitel 1 bis 6 behandelt. Im zweiten Band geht es um die
Kapitel 7 bis 17 und im dritten Band um die Kapitel 18 bis 27. Von diesen Kapiteln werden hier die Eckpunkte
zusammengestellt
Zu jedem Kapitel der Bücher des
MMK führen einleitende Hinweise auf den jeweiligen Inhalt hin. Anschließend
werden alle Verse übersetzt und auf der Basis der Wort-für-Wort Übersetzung und
meines Verständnisses erläutert. Außerdem zitiere ich aus der englischen
Fassung von Nishijima Roshi und Brad Warner sowie aus Nishijimas Internet-Blog
viele von mir übersetzte Textstellen. Damit möchte ich die großartige Arbeit
meines Lehrers Nishijima Roshi fortsetzen und auch im deutschsprachigen Raum
noch bekannter machen.
Die Ausführungen zu den
einzelnen Kapiteln des MMK werden dann jeweils durch Erläuterungen zu
sinnverwandten Bereichen aus Dôgens Shôbôgenzô
ergänzt. Diese Abschnitte stammen aus meinen früheren Publikationen zum Shôbôgenzô, wurden hierfür überarbeitet
und an die Themen des MMK angepasst. Es ist dabei mein Ziel und meine Hoffnung,
dass durch diese Zusammen- und Gegenüberstellung sowie Wechselwirkung spannende
und neue Sicht- und Erfahrungsweisen dieser beiden genialen Meister offengelegt
werden, auf denen weitere Arbeiten aufbauen können. Mein Anliegen ist, dass
dieses Buch als fundiertes Quellenwerk des MMK verwendet werden kann und die
vorhandenen englischen und deutschen Übersetzungen von Dôgens Shôbôgenzô hoffentlich bereichern wird.
Mir ist bei dieser erneuten Arbeit an Dôgens Werk klar geworden, wie stark er
seinerseits auf dem MMK aufbaut. Oder anders formuliert: Durch das Studium des
MMK gelang es, die Texte Dôgens besser zu verstehen. In diesem Text werden die
Beschreibungen der jeweiligen Hinführungen und Ergebnisse zusammengefasst.
Nâgârjunas Mittlerer Weg: Erneuerung und Weiterentwicklung von Buddhas
Lehre
Das MMK ist zweifellos von
zentraler Bedeutung für fast alle buddhistischen Linien des späteren Mâdhyamika und Mahâyâna in Indien, des
Chan in China, des Zen in Japan und des tibetischen Buddhismus. Die gesamte
buddhistische Pragmatik und Philosophie der Leerheit (shûnyatâ) geht wesentlich auf dieses Werk zurück. Gleichzeitig kann
mit dem MMK manche Unklarheit des Volksbuddhismus – zum Beispiel im Mahâyâna –
richtiggestellt werden. Zudem ist es ein poetisches Lehrgedicht in Versform von
höchster Klangschönheit und Qualität, das in der vokalreichen Sprache des
Sanskrit auch uns heutige Menschen aus dem Westen unmittelbar fasziniert.
Es bewegt sich inhaltlich auf
sehr hohem philosophischem Niveau, ist charakterisiert durch kritische
intellektuelle Schärfe und sicher nicht einfach zu verstehen. Keinesfalls aber
ist das MMK nur negativ sezierend oder gar nihilistisch, wie es in der
Vergangenheit häufiger behauptet wurde. Es eröffnet nicht nur ein klareres
Verständnis der Lehre Buddhas, sondern erzeugt die Dynamik weitergehender
Philosophie und Praxis. Dabei gibt es meines Erachtens erstaunliche Parallelen
zu Hegels Phänomenologie des Geistes.
Dieses Verständnis Hegels hat besonders Georg W. Bertram in seinen Ausführungen
zur Einleitung und zum letzten Kapitel von Phänomenologie
des Geistes herausgearbeitet.[5]
Ich bin überzeugt, dass
Nâgârjuna im MMK zwar einen Schwerpunkt auf die Destruktion und Kritik verhärteter und erstarrter philosophischer
Lehren und Begriffe legt, aber bereits in der Präambel und in den
darauffolgenden Kapiteln seinen konstruktiven
Ansatz der lebenden wechselwirkenden
Prozesse sowie wirkmächtiger Augenblicke zur Emanzipation und Weiterentwicklung der Menschen als Ganzem
vorstellt. Das Grundprinzip der Wechselwirkung aus der heutigen Ökosystemforschung und Allgemeinen Systemtheorie spielte bereits in den Lehren Buddhas
und Nâgârjunas eine erstaunliche Rolle. Nâgârjuna geht es wie Buddha um die
Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung der Menschen und nicht nur um
intelligente philosophische Konstrukte als solche. Dabei müssen statische oder
gar erstarrte Lebensphilosophien überwunden werden, denn zentral im Buddhismus
sind Prozesse und Veränderungen. Nâgârjuna gibt sich daher nicht mit der Destruktion allein zufrieden, sondern
nimmt neue fundamentale und fruchtbare Klärungen vor.
Manche bislang schwer
verständliche Passagen mit Negationen und Paradoxien erscheinen auf dieser
Basis in einem viel klareren Licht. Zudem sind sie nach meinem Verständnis im
Sinne Hegels als tentative oder spekulative Sätze und nicht als Sachaussagen zu
verstehen. Allerdings ist dazu ein vermutlich verändertes Verständnis zum
Beispiel der westlichen Begriffe der Philosophie vom Sein, Seienden und Wesen,
von der Substanz (sofern absolut gedacht), der Existenz und Essenz
erforderlich. Sie entspringen meines Erachtens in typischer Weise der westlichen
Philosophie des ontologischen Denkens und der kühnen metaphysischen, aber zu
statischen Ansätze über unveränderliche Ursprünge und absolute Ur-Wahrheiten.
Solche Vorstellungen sind dem pragmatischen Vorgehen des Buddhismus recht
fremd. Letzterem geht es um die konkrete
Überwindung von Doktrinen und des menschlichen Leidens, um Befreiung, Emanzipation, Erwachen und
Erleuchtung.
In der Fachwelt ist völlig
unbestritten, dass es sich beim MMK um ein schwieriges Werk handelt. Außerdem
ist es im Westen mit dem Nimbus des Unverständlichen, Negativen und Mystischen
umgeben, da der verwendete Begriff der Leerheit
schwer zu entschlüsseln und zudem negativ besetzt sei. Lange Zeit wurde im
Westen die Leerheit mit dem absoluten
oder romantisierenden Nichts verwechselt,
sodass vernünftige Überlegungen ergebnislos blieben und oft abenteuerliche
Erklärungsversuche entstanden sind. Zuverlässige Antworten sind aber bei
Nâgârjuna selbst zu finden. In der Präambel des MMK erklärt er eindeutig, dass
sich seine Arbeit unmittelbar auf die authentische Lehre Gautama Buddhas
bezieht, den er als den größten Lehrer
und Sprechenden bezeichnet. Deshalb werde ich bei der Erklärung der Verse
in den folgenden Kapiteln auf die entsprechenden Eckpunkte des frühen
Buddhismus Bezug nehmen – nicht zuletzt, weil ich fest davon überzeugt bin,
dass ein solcher Bezug die Absicht Nâgârjunas war.[6]
Eine der wesentlichen Neuerungen
bei Nâgârjuna gegenüber dem frühen Buddhismus war die Weiterentwicklung des
Begriffs und der Lehre der Leerheit (shûnyatâ).[7] Mithilfe seiner Ausführungen
können wir uns ein eigenes Verständnis dieses für den späteren Buddhismus so
wichtigen Begriffs erarbeiten und damit zusammenhängende Missverständnisse
ausräumen. Nâgârjuna wollte aus meiner Sicht im MMK keine völlig neue
buddhistische Lehre entwickeln, sondern vielmehr den zentralen Kern der
authentischen Lehre Buddhas herausarbeiten und seinem Zeitgeist entsprechend
konstruktiv gestalten.[8]
Die authentische Lehre war in
Indien im Verlauf von etwa 650 Jahren seit Buddha durch verschiedene, zum Teil
hoch komplexe Philosophien verfremdet und durch doktrinäre Sekten und
Ideologien verzerrt worden. Dies gilt interessanterweise besonders für den
indisch-griechischen Buddhismus im Westen seines Verbreitungsgebiets, also vor allem
in den von Alexander dem Großen eroberten Gebieten. Zudem hatte die
vorbuddhistische Glaubensreligion des Brahmanismus neue Kraft und Verbreitung
in der Bevölkerung erlangt und drängte den Buddhismus als Volksglauben immer
weiter zurück. Diese Tendenz verstärkte sich in den folgenden Jahrhunderten
zunehmend.
Viele Kapitel des MMK dienen dem
Ziel der Destruktion irreführender
philosophischer Meinungen, Ideologien und falscher Lehrtraditionen wie dem
Substantialismus und Momentanismus. Es ist spannend zu beobachten, dass auch
alte Weltanschauungen und Vorstellungen aus der vorbuddhistischen Zeit unter
dem Deckmantel buddhistischer Schlüsselbegriffe oft unbemerkt wieder
auftauchten.[9] Diese doktrinäre Verwendung von
Begriffen hatte Buddha aber gerade als unheilsam
abgelehnt. Im Gegensatz zu philosophischen Ansätzen, die das Unveränderliche
und Ewige betonen, stehen bei Gautama Buddha Veränderungen, Erweiterungen, die
Befreiung und Emanzipation des Menschen als Ganzes im Vordergrund, damit er aus
seinen Leiden, seinem Elend und seinen Schmerzen herauskommen und sogar die
höchste menschliche Lebensform des Erwachens bzw. der Erleuchtung erreichen kann.
Offenbar empfinden viele
Menschen eine tiefe Sehnsucht nach dem unveränderlichen Wesen und den Ur-Ideen
und Ur-Bausteinen unserer Welt, die in ewiger unveränderlicher und damit
absoluter Wahrheit als sichere Fixpunkte des eigenen Lebens und der eigenen
Existenz wirksam sind – die Sehnsucht nach dem, was die Welt im Innersten
zusammenhält. Aber können der menschliche Geist und die menschliche Vernunft
solche metaphysischen Sehnsüchte sinnvoll bearbeiten und die damit
zusammenhängenden Fragen verlässlich beantworten? Ich habe da meine Zweifel,
denn die angesprochene Komplexitat der Themen und Fragen ist unendlich und kann
von unserem menschlichen Verstand nicht vollständig erfasst werden.[10]
Schon bei oberflächlicher Betrachtung wird jedoch deutlich, dass bei dieser
Sichtweise Glaubenskämpfe und Verhärtungen in Ideologien und Doktrinen
unvermeidlich sind. Die philosophischen Grundlagen einer absoluten Ontologie
sowie der tiefe Glaube an Ur-Wesen und Ur-Ideen, aus denen sich die konkreten
Dinge und Phänomene angeblich entwickelt haben, werden im MMK eingehend
behandelt und sorgfältig destruiert.
Für solche angenommenen, meist
unsichtbaren inhärenten Substanzen und äußerlich wahrnehmbaren Merkmale
verwendet Nâgârjuna unter anderem den Begriff svabhâva, der schwer ins Deutsche zu übersetzen ist, weil diese
Semantik im Westen bisher aus meiner Sicht nicht genügend beachtet wurde. Er
weist nach, dass diese angebliche absolute Substanz illusionär und eine
Täuschung ist. Sie ist also ein unheilsames Produkt des denkenden Geistes, der
sich selbst täuscht, und ist eine der Hauptursachen des Leidens. Ich möchte
dafür den Begriff Eigen-Substanz,
Aus-sich-selbst-Seiendes oder Selbst-Substanz
verwenden, wobei Substanz weitgehend illusionär, spekulativ-metaphysisch im
Sinne von Ur-Idee und Ur-Wesen, also absolut zu verstehen ist.
Eine umfassende
Lebensphilosophie muss jedoch sowohl das Seiende,
das weitgehend als Zustand oder Dinghaftes gedacht wird, und das Werden als auch den wirklichen Augenblick des Lebens umfassen. Nâgârjuna untersucht im
MMK die einzelnen wechselwirkenden Faktoren und bringt sie mit den im
Buddhismus so wichtigen Ergebnissen oder Früchten, also letztlich der
buddhistischen Transformation des Menschen, in Verbindung. So beschreibt er
prozesshafte Abläufe, wie zum Beispiel das scheinbar einfache Gehen, und
destruiert dabei Weltanschauungen, die für lebendige Prozesse völlig ungeeignet
sind. Er begeht jedoch nicht den Fehler, unklare buddhistische Lehrmeinungen in
Bausch und Bogen abzulehnen und damit auszudrücken, dass diese total falsch
seien und überhaupt nicht existierten. Auf diese Weise hätte er die absolutistische
Methode der Extreme selbst angewendet, die er gerade überwinden möchte.
Stattdessen geht er realistisch und pragmatisch vor, untersucht die fruchtbaren
Beziehungen zwischen positiven und negativen Annahmen, analysiert deren Wechselwirkungen in der Wirklichkeit und
stellt sie angemessen dar.
Dementsprechend sind die
scheinbar radikalen Negationen bei Nâgârjuna auch in Bezug zu ihren positiven
Begriffen zu verstehen und nicht als ein-eindeutige absolute negative Wahrheit.
Das wurde meines Erachtens bisher zu wenig beachtet: Das europäische Denken in
Gegensätzen und Extremen wurde meist unbewusst bei der Interpretation
angewendet. So dürfen zum Beispiel die sogenannten acht Negationen wichtiger
buddhistischer Begriffe in der Präambel des MMK nicht als extreme Aussagen im
Sinne von „sie existieren nicht“ verstanden werden. Vereinfacht kann man sagen,
dass Nâgârjuna diese acht Begriffe einer De-Konstruktion
unterzieht, also deren falsches Verständnis destruiert,
was er durch die Negativform der Begriffe deutlich macht. Aber gleichzeitig
arbeitet er ihre positive wirkliche Bedeutung heraus. Dadurch gewinnt er eine
erhebliche neue Freiheit bei der Interpretation der Begriffe und kann sie auf
die von ihm verstandenen Bedeutungen im authentischen Buddhismus zurück- und
darüber hinausführen. Extreme wie erstarrte Doktrinen und rechthaberische
Machtideologien sind absolutistischer Natur und werden von Buddha und Nâgârjuna
enttarnt. Dies eröffnet für die Menschen neue Horizonte der Erweiterung und
Emanzipation.
Wir befinden uns heute mehr denn
je in der Gefahr, von einem Extrem ins andere zu fallen, und dabei werden wir
immer unruhiger und zielloser. Die Massenmedien versuchen häufig, uns durch
übertriebene Scheininformationen und Katastrophenmeldungen in den Bann zu
ziehen, nicht zuletzt um höhere Einnahmen durch die eingeblendete Werbung zu
erzielen. Wie können wir uns davor schützen und was kann der Buddhismus zur
Lösung dieses Problems beitragen? Buddha und später auch Nâgârjuna haben den Mittleren
Weg gelehrt.
Wie es in der Lehre für Kaccâna
heißt, begab sich ein Mitglied des Hauses Kaccāna zu Buddha, der in dem Ort Savatthi weilte, um ihn zur Bedeutung
der rechten Sichtweise zu befragen.
In seiner Antwort behandelte Buddha in großartiger Dichte die Extreme, die Existenz, Nicht-Existenz,
Kausalität und Befreiung in zwölf Phasen. Im MMK kommt diesen Themen eine
zentrale Bedeutung zu. Nâgârjuna geht hier explizit auf dieses Sûtta ein (in
Kapitel 26). Es ist daher auch ein äußerst wichtiger Schlüssel für das gesamte
MMK.[11]
Die rechte Sichtweise beschreibt
genau das, was man mit dem rechten Geist und der rechten Wahrnehmung in dieser
Welt sieht und erkennt. Kernpunkte sind die Aussagen Buddhas über Existenz und Nicht-Existenz. Eine
Grundwahrheit im Buddhismus besagt, dass sich alles verändert, im Wandel
befindet und dass es nichts wirklich Dauerhaftes und Ewiges gibt. Was es mit
der Nicht-Existenz auf sich hat, ist
eine schwierige philosophische Frage, denn die Nicht-Existenz wäre das Nichts. Überlegungen hierzu könnten deshalb unbemerkt in einen
diffusen Nihilismus abgleiten.
Buddha erläutert die Nicht-Existenz für den jungen Kaccāna. Er
benutzt dabei die Formulierung „rechte Erkenntnis des Entstehens in der Welt“,
hat also ein Weltbild der positiven Veränderungen und Prozesse und nicht der
unveränderlichen Entitäten und Substanzen zugrunde gelegt. Dies nennt er die
rechte Erkenntnis des Entstehens. Die Sichtweise der Nicht-Existenz lehnt
Buddha hier eindeutig ab und präzisiert, dass dies besonders wichtig ist, wenn
man das Entstehen genau beobachtet. Es ist also nicht sinnvoll zu sagen, es
entsteht irgendetwas aus dem Nichts und aus der Nicht-Existenz, denn in den
Prozessen und Abläufen auf der Welt gibt es immer ein Vorher, aus dem sich das
Nachfolgende entwickelt. Dies gilt insbesondere beim wechselwirkenden
Entstehen, das Nâgârjuna in der Präambel des MMK betont.
Etwas dauerhaft Existierendes,
also die Sichtweise der Existenz, ist ebenfalls nicht zu beobachten und nicht
erfahrbar. Daher ist es unsinnig zu sagen, dass etwas vergeht, das vorher eine
dauerhafte Existenz hatte, denn dieses ist ein Widerspruch in sich: Wenn etwas
existiert und dauerhaft da ist, kann es sich nicht verändern und nicht
vergehen. Beide Extreme
der Nicht-Existenz und der Existenz müssen laut Buddha in der
Lebenspraxis vermieden werden. Sie sind losgelöste Denk-Konstrukte unseres Gehirns und erzeugen unheilsame Affekte.
Sie haben sich von der Wirklichkeit und der Wahrnehmung entfernt und sind bei
genauer Beobachtung ohne Vorurteile in der Welt nicht vorzufinden. Obwohl diese beiden Extreme real
nicht erfahrbar sind, ist jedoch immer wieder eine Tendenz festzustellen, in
diese Extreme zu verfallen und damit die Prozesshaftigkeit, Vernetzung,
Wechselwirkung und das Gleichgewicht in den eher langfristigen Strukturen der
Welt außer Acht zu lassen, was zu Leiden und Schmerz führt. Meines Erachtens
ist dies genau der Grund, warum Buddha die altindische Vorstellung eines
unveränderlich existierenden Selbst, des Ich-âtman, abgelehnt hat.
Buddha fasst zusammen, dass es der prozesshaften veränderlichen realen Welt
nicht entspricht, wenn wir etwas als Dauerhaftes ergreifen wollen und uns damit
der natürlichen Veränderung entgegenstemmen. Eine solche Weltanschauung erlaubt
auch keine Lernprozesse, deren typisches Merkmal ja gerade die positive
Veränderung zum Besseren ist.
Buddha erklärt Kaccāna, dass Leiden
eine Wirklichkeit des Lebens ist, aber kein Ding und keine dauerhafte Entität,
dass Leiden entsteht und vergeht wie jeder lebende Prozess entsteht und vergeht. Das
bedeutet, dass wir das Entstehen
soweit wie irgend möglich frühzeitig beobachten und vermeiden und das Vergehen des Leidens aktiv erlernen und
unterstützen sollten. Diese Prozesse stellt Buddha den erstarrten extremen
Weltanschauungen und Doktrinen von Existenz und Nicht-Existenz gegenüber.
Er erläutert dann, wie in einer zwölfgliedrigen
Abfolge die „gesamte Masse des Leidens“ entsteht. Anhand des umgekehrten zwölfgliedrigen Weges der Befreiung schildert er
schließlich, wie sich aus der Auflösung des Nichtwissens und dem Vermeiden der
beiden Extreme die Befreiung entwickelt. Für eine sinnvolle Selbststeuerung ist eine solche
Befreiung von zentraler Bedeutung.
Tiefgründige Gleichnisse Buddhas
In den authentischen Schriften
Buddhas sind die von ihm formulierten Gleichnisse von großer Bedeutung und
zeugen von seinem besonderen pädagogischen Geschick. Zudem sind sie auch heute
noch gut zu kommunizieren, wie ich in diversen Vorträgen erlebt habe. Sie
motivieren zum tieferen Nachdenken und treffen durch die Orientierung am Alltag
gut den Kern der buddhistischen Lehre. Die mir besonders wichtig erscheinenden
Gleichnisse sind in Band 1 von Sternstunden
des Buddhismus zusammengestellt und erläutert.
4. Eckpunkte
des Mittleren Weges von Nagarjuna, Kapitel 1 bis 27
Präambel–
eine Ouvertüre
Die wichtigen Themen des MMK werden in der Präambel wie
in einer Ouvertüre kompakt vorgestellt, um später in den einzelnen Kapiteln
vertieft und ausführlich behandelt zu werden. Das MMK ist ein Lehrgedicht oder
– wie Nishijima Roshi sagte – ein Gesang.
Die
folgende inhaltliche Zusammenfassung der vier Verse der Präambel stützt sich
auf Nishijima Roshi, den großen Buddhologen Kalupahana[12]
und auf meine eigene Interpretation. Basis ist die präzise wörtliche
Übersetzung der Indologin Elisabeth Steinbrückner.
Im
ersten Teil der Präambel führt Nāgārjuna acht Negationen von zentralen
buddhistischen Begriffen auf. Semantisch sollten sie auch auf ihre jeweiligen
positiven Begriffe bezogen werden, um den vollen Bedeutungsumfang zu erkennen,
der durch die Verbindung von positiver und negativer Formulierung erreicht
wird. Das kann philosophisch dialektisch und als „Ganzheit der Unterscheidung“
verstanden werden. Dabei ist die Unterscheidung gerade nicht absolut gemeint,
sondern als relative Unterscheidung bei gleichzeitiger Verbindung von positiver
und negativer Form. Der positive und negative Begriff beinhalten eine inhärente
Andersartigkeit, haben eine inhärente Beziehung zueinander (vgl. „Arbeit des
Negativen“ bei Hegel[13]).
Dieses Verständnis hat große Bedeutung für den späteren Mādhyamika- und Mahāyāna-Buddhismus, zum Beispiel für die
Interpretation des Herz-Sūtra. Falsch verstandene Deutungen absoluter
Negationen haben dazu beigetragen, dass Nāgārjuna immer wieder als Nihilist
missverstanden wurde.
Nāgārjuna wählt exemplarisch markante Begriffspaare, die
sicher in seiner Zeit im Buddhismus häufig verwendet, aber wohl auch
sektiererisch falsch verstanden wurden. Für das unzureichende Verständnis
verwendet er die Formen der Negation und Destruktion und kennzeichnet damit die
falsche absolutistische Sichtweise, die keine Veränderungen, Entwicklungen und
Emanzipation zulässt. Ein solches isoliertes und erstarrtes Verständnis sollten
wir auch heute im Westen besonders gründlich analysieren, wo der
Individualismus aus den Fugen geraten ist und Fake News, ein hohler Materialismus
und übersteigerter Egoismus um sich greifen. Das kann helfen, damit kein
falsches Verständnis des Buddhismus aufkommt.
Ein
solches Begriffspaar bilden auch die Formulierungen „nicht zur Ruhe kommen“ und
„beglückendes Aufhören der wegführenden
Fehlentwicklungen“, denn das Gleichgewicht zu finden, zur Ruhe zu kommen und
den Mittleren Weg zu gehen, sind zentrale
Eckpunkte des Buddhismus. Sie können aber nur verstanden werden, wenn die
prozesshafte Wechselwirkung, das Werden und die Emanzipation einbezogen werden.
Das heißt, dass wir in unserem Leben nicht zur Ruhe kommen, wenn wir von isolierten, dinghaften Phänomenen und ewigen
unsichtbaren illusorischen Substanzen
ausgehen, denn dadurch entstehen Unruhe und Hektik, und die erkennbaren
wechselwirkenden Veränderungsprozesse werden vernachlässigt oder verdrängt.
Dies allerdings ist ein typisches Merkmal statischer und erstarrter Doktrinen,
Weltanschauungen und Ideologien.
In der Präambel führen zwei Schlüsselbegriffe in das
große Werk MMK ein: das „wechselwirkende
gemeinsame Entstehen“ als konstruktive positive Aussage der buddhistischen
Befreiung und des Neuanfangs sowie das „Nicht-Entstehen“
als Verharren und Festhalten an alten, verhärtenden und leidbringenden
Mustern, Prägungen und Verhaltensweisen, welche die Befreiung und den Weg zur
Erleuchtung verhindern.
Aber auch der Begriff „Nicht-Entstehen“ kann inhärent dialektisch verstanden
werden[14], denn ohne wechselwirkende
Beziehung zum positiven „Entstehen“ ist er absolut und unbrauchbar. Beide Male
verwendet Nāgārjuna den Sanskrit-Begriff utpada,
der „Entstehen“ bedeutet – einmal positiv in der Verbindung mit sam, was „zusammen“, „gemeinsam“ und
„kombiniert“ heißt, also „gemeinsames Entstehen“, und einmal in der Form der Negation, die gewissermaßen die fehlende
Entwicklung, das Nicht-Entstehen bedeutet. Nāgārjuna verneint auf diese Weise
eine verengte dinghafte und erstarrte Vorstellung und Ideologie des isolierten
Nicht-Entstehens von Phänomenen, die wirkliche Veränderungen und einen
Prozesscharakter ausschließt.
Lebendiges Entstehen gelingt nur in Wechselwirkung und
nicht isoliert allein aus sich selbst heraus. Die Wechselwirkung kann nur in
zeitlichen, vernetzten Prozessen ablaufen. Dies ist ein unverzichtbares
Verständnis der dynamischen Wirklichkeit und flows in der Welt, ganz gleich wie genau man sie im Detail oder als
Ganzes analysieren und verstehen kann. Denn die Wirklichkeit von vernetzten
Systemen, zum Beispiel von Ökosystemen und vom neuronalen Netz des menschlichen
Gehirns, kann nach heutiger gesicherter Kenntnis nur durch rückgekoppelte
Prozesse in Verbindung mit entsprechenden Strukturen sinnvoll beschrieben
werden. Wechselwirkung ist daher für alles Lebendige typisch und
charakteristisch. Eine Beschreibung der Wirklichkeit durch eindimensionales,
unidirektionales „abhängiges Entstehen“, wie es bisher im Buddhismus bisweilen
üblich war, ist eine verengte Sichtweise, die nach meiner Überzeugung manche
Irrtümer zur Folge hatte. Mit diesem Paradigmenwechsel werden nun die
Verständlichkeit, Klarheit und Wirkkraft des MMK nachhaltig verbessert.
Kapitel 1: Verlässliche Grundlagen des Buddhismus – Kausalität,
Wechselwirkung, Wirkkraft und Frucht des Handelns
Für unseren Weg der Befreiung benötigen wir verlässliche
Fakten und Grundlagen über die Wahrheit des Lebens, sonst folgen wir
irgendwelchen spekulativen Versprechen, Doktrinen oder sogar Dogmen, die nicht
einzulösen sind, und werden enttäuscht. Diese Grundlagen für Wahrheit und Ethik
finden wir in aller Klarheit bei Buddha und Nāgārjuna. Sie verstehen die
Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und bauen darauf den Weg des Menschen als
Prozess der Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung auf. Dazu gehört auch
die Meditation, zum Beispiel des Zazen: die Entleerung des Geistes von
Störungen durch Denken, Gefühle, Willen und Planungen, also auch von
Verhärtungen, Vorurteilen und schädlichen Doktrinen.
Im ersten Kapitel des MMK widerlegt Nāgārjuna überzeugend
verschiedene Dogmatisierungen, naiven Volksbuddhismus, Populismus und unnötige
intellektuelle Verwirrungen. Es bildet die Grundlage für seine folgenden
scharfsinnigen Analysen. Er möchte der doktrinären Erstarrung des Buddhismus
seiner Zeit entgegentreten, enttarnt mit großer Lebenserfahrung und präziser
Gedankenführung die Fehlentwicklungen und schafft Raum für neue fruchtbare
Entwicklungen. Aus meiner Sicht geht er dabei als De-Konstruktivist[15] vor: Er destruiert verzerrte
und unklar gewordene Begriffe und Vorstellungen wie eine fiktive ewige
Eigen-Substanz für Dinge und Phänomene (Dharmas), um anschließend konstruktiv
eine bereinigte und klare buddhistische Lehre und Praxis vorzulegen. Dies war
in seiner Zeit umso wichtiger, weil ein wieder erstarkender absolutistischer
Glaubens-Brahmanismus, der von der authentischen Lehre der Befreiung und
Emanzipation eklatant abgewichen war, nach einer gewissen Integration von
bestimmten buddhistischen Elementen den Buddhismus selbst unter Druck setzte.
Der falsche Glaube, dass irgendetwas in der Welt total
aus sich selbst entstanden sei, wird durch die Realität nicht bestätigt. Alles
entsteht in Wechselwirkung, ist miteinander vernetzt und enthält die Beziehung
von Ursache und Wirkung. Es gibt kein magisches Ur-Entstehen aus sich selbst.
Dies wird eindeutig durch die heutige Psychologie und Gehirnforschung
nachgewiesen. Zu den vier Faktoren dieser Wechselwirkungen zählen die kausale
Veranlassung, dass überhaupt etwas Bestimmtes passiert, Stützen, zum Beispiel
durch die materielle Umgebung, die zeitliche Abfolge der Prozesse und etwas
Übergeordnetes, wie zum Beispiel der Sinn des Ganzen oder auch das Göttliche.
Diese Faktoren sind direkt nachvollziehbar und befinden sich im Einklang mit
der modernen Systemtheorie. Weitere Faktoren gibt es nach Nāgārjuna nicht.
Durch unseren eigenen Willen und unser eigenes Handeln,
also durch unsere Kräfte und Energien, können wir auf die genannten Faktoren in
der Vernetzung einwirken. Wir müssen also nicht alles passiv erdulden, ertragen
und hinnehmen, sondern können aktiv mithilfe von Prozessen eingreifen, die wir
selbst steuern. Dabei sind gute Lehrer besonders hilfreich, schlechte aber sehr
gefährlich, wie auch Zen-Meister Dōgen betont.
Wenn bei uns selbst und in der Welt dagegen nichts entsteht, also Statik oder
Erstarrung vorherrscht, gibt es keine Überwindung des Leidens und keine
Veränderungen zum Guten. Wir wissen heute auch, dass dadurch beim Menschen
wegen fehlender Aktivierung des Gehirns eine frühe Demenz eintreten kann. Dann
verkümmern unser Geist und unser neuronales Netz immer mehr. Das passiert nicht
zuletzt, wenn man Doktrinen nicht erkennt und hinterfragt und nicht genau
beobachtet, ob sie unser Leben verbessern. Dies sollte unabhängig davon sein,
ob sie uns als heilig verkündet werden oder nicht. Denn: Statische Weltbilder
und absolute Glaubenssätze werden häufig von den jeweils herrschenden Eliten
behauptet, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Art. Im
alten Indien war eine solche Elite die Kaste der Brahmanen, die auch die
eigenen Privilegien durch absolute Doktrinen einer unveränderlichen Ewigkeit
absichern wollten.
In diesem Kapitel geht es zudem um die wichtigen Fragen,
was wir in unserem Leben realistisch erreichen und erzielen können, welche
Ergebnisse wir sinnvollerweise anstreben sollten und welche romantischen
Utopien uns schaden. Dafür wird in der Psychologie der Begriff
Selbstwirksamkeit verwendet. Wir müssen uns davor hüten zu glauben, dass ein
erwünschtes Ergebnis ohne Veränderungen und Wechselwirkungen gewissermaßen „vom
Himmel fällt“, so als ob es schon fertig irgendwo vorhanden wäre.
Oder um es mit Wilhelm Busch zu sagen: „Der Schnupfen
hockt auf der Terrasse, auf dass er sich ein Opfer fasse.“ Das ist
philosophisch betrachtet Substantialismus: Das Opfer als Ding und Entität.
Diese Vorstellung würde zeitliche Veränderungsprozesse außer Acht lassen und
die Ursache sowie das Ergebnis jeweils wie ein isoliertes unveränderliches Ding
betrachten. Das ist jedoch irreführend und total realitätsfremd. Es ist auch
die behauptete Scheinwelt von weltlichen und religiösen Populisten, die es
leider auch im Buddhismus gibt.
In der vorbuddhistischen indischen Philosophie wurde
angenommen, dass die Welt aus ewigen unveränderlichen Elementen aufgebaut sei.
Nāgārjuna beweist in diesem Kapitel jedoch, dass wir uns diese Dharmas gerade
nicht als unveränderliche und unteilbare Atome und Ideen vorstellen können.
Eine solche absolute Substanz-Philosophie kann Wechselwirkungen, Prozesse und
Veränderungen der Realität nicht sinnvoll erklären, sie ist daher mit Buddhas
Lehre und unserer Lebenserfahrung der sich entwickelnden Veränderungen nicht
vereinbar. Solche Doktrinen sind für unsere geistigen und psychischen Prozesse
der wirklichen Befreiung, Emanzipation und Entwicklung völlig unbrauchbar und
sogar gefährlich.
Damit legt Nāgārjuna die Grundlagen für die Lehre des
Mittleren Weges der Wechselwirkungen, Kausalitäten, Lebensziele und der
realistischen Ergebnisse. Er schildert, wie es möglich ist, ein gelungenes
Leben zu führen und Befreiung zu erlangen. Das ist das Kernstück des MMK.
Leitlinie und Hintergrund des Textes sind Buddhas authentische Schlüssellehren
und -begriffe.
Im Buddhismus geht es um positive Veränderungen, deren
Ergebnisse auch als Früchte bezeichnet werden können. Im Volksbuddhismus gibt
es zudem den Glauben und die Hoffnung, dass diese Früchte einfach und
unverändert von einem Leben durch die Wiedergeburt zum nächsten weitergegeben
werden. Dabei werden die Früchte als isolierte Dinge (Entitäten) und
Eigen-Substanzen gedacht, auf die Wechselwirkungen nicht zutreffen würden.
Nāgārjuna destruiert einen solchen simplen Glauben und warnt uns eindringlich
davor, so etwas unreflektiert zu übernehmen, da es nicht mit der erfahrbaren
Wirklichkeit übereinstimmt und uns letzten Endes schaden kann. Es führt also zu
Enttäuschungen und Stillstand, und wir kommen auf dem Weg der Befreiung nicht
voran. Nicht ein fernes isoliertes und erträumtes Ergebnis ist der Mittlere Weg
der Überwindung von Hindernissen und Blockaden, sondern unser reales Handeln im
konkreten Hier und Jetzt!
Kapitel 2: Die Dynamik der Welt und des Lebens – Gehen,
Bewegen und Verändern auf dem Weg des Lebens
Das Kapitel über das Gehen und den Geher ist von
zentraler Bedeutung für das gesamte MMK, aber nicht leicht zu verstehen und zu
deuten. Für viele dürfte dieser Text in den bisher vorliegenden Fassungen
zunächst fast unverständlich sein, sodass die Relevanz fraglich erscheint. Ist
der Inhalt nur noch die ausgebrannte intellektuelle Schlacke alter
buddhistischer Spitzfindigkeiten und Kontroversen? Wo ist der Funke, der heute
zu uns überspringt, mag sich vielleicht mancher Leser fragen.
Das Kapitel ist in fünf Bereiche gegliedert. Zuerst geht
es um den Weg, den wir begehen, also das Begangene.
Wir können ihn als konkreten Weg verstehen, den wir jeden Tag gehen, oder
symbolisch und gleichnishaft als buddhistischen
Weg. Wir können den Weg auch als unsere
geistige und psychische Bewegung begreifen, wie zum Beispiel Buddhas Achtfachen Pfad und den Weg der Mitte. Nāgārjuna beschreibt
hier, wie und auf welche Weise solche Wege von uns tatsächlich begangen werden
können und sollten und welche Wege nur unbrauchbare oder sogar gefährliche
Doktrinen sind. So gab es in der vorbuddhistischen Zeit Lehrmeinungen, die
behaupteten, dass alle Bewegungen unwirklich und Fiktion seien, weil es in der
Wirklichkeit keine Veränderungen gäbe. Ähnliche Strömungen waren auch in der
antiken griechischen Philosophie, zum Beispiel bei Zenon und sogar bei
Pamenides, zu finden.
Für Buddha waren jedoch Veränderungen und wechselwirkende
Prozesse für das Verstehen, die Überwindung des Leidens und die Befreiung
wesentlich. Entsprechend klar sagt auch Nāgārjuna, dass wir nur in der
Gegenwart wirklich gehen und der Weg wirklich begangen wird. Denn in der
Vergangenheit und Zukunft gibt es unser Gehen nur in unserem Geist oder Gehirn
als Vorstellung, Erinnerung oder Erwartung. Ein gedachter buddhistischer Weg
ist nicht die Wirklichkeit hier und jetzt als Handeln und Leben – so wird es im
Zen-Buddhismus ausgedrückt. Und wenn der buddhistische Weg durch erstarrte,
unethische und machtorientierte Doktrinen beeinträchtigt ist, kommen wir auf
ihm überhaupt nicht voran, denn ein solcher Weg kann von uns nicht wirklich
begangen werden!
Es mag sein, dass wir in unserem Gehirn eine feste Vorstellung
vom Befreiungsweg haben, aber wenn wir ihn nicht selbst konkret begehen, gibt
es laut Nāgārjuna scheinbar zwei begangene Wege: den wirklichen und den nur erdachten,
geglaubten und theoretisch erlernten. Das führt zu Verwirrungen und
„wegführenden Fehlentwicklungen“, wie es in der Präambel heißt.
Im zweiten Teil untersucht Nāgārjuna, wer eigentlich auf dem Weg geht. Er fragt uns, ob wir wirklich von
einem Geher sprechen können, wenn dieser gerade steht, sitzt oder liegt. Ist er
immer ein Geher bis an sein Lebensende? Und war er schon immer als Wesenskern
oder als geglaubte unsichtbare unveränderliche
Substanz ein Geher, vielleicht sogar bevor er gehen lernte? Eine solche
unsichtbare unveränderliche Substanz oder Essenz ist natürlich Spekulation und
nicht reale Metaphysik. Aber dieser Glaube ist auch heute noch weit verbreitet.
An diese Fragen schließen sich allgemeinere Untersuchungen an, zum Beispiel:
Wenn ein Lügner nicht lügt, ist er
dann auch ein Lügner? Buddha beschreibt einen furchtbaren Mörder, der dann in
seine Sangha eintrat und Erleuchtung erlangte.
War er dann noch ein Mörder oder war schon immer ein
Erleuchteter? Und wenn er wieder aus der Erleuchtung zurückfällt, ist er dann
noch ein Erleuchteter? Wir sehen an diesen Beispielen, dass die Sprache oft
falsche unveränderliche Fakten behauptet und Veränderungen sowie
Emanzipationsprozesse ungenau oder sogar fehlerhaft beschreibt. Solche
Doktrinen können den Weg der eigenen Entwicklung und Befreiung fundamental
stören oder unmöglich machen. Das Gegenteil gilt für den Augenblick der
Gegenwart in unseren vernetzten Lebensprozessen: In ihm liegt ein Maximum an
Wirklichkeit und Erleben. Beim buddhistischen Weg geht es um den Prozess der Überwindung des Leidens
durch das von uns selbst gesteuerte Training von Körper, Gefühlen und Geist:
Das sind vernetzte Wechselwirkungen und keine Fiktionen, wie bereits in der
Präambel unmissverständlich erklärt wird.
Eine besondere Gefahr der ontologischen Verdinglichung
und Verhärtung zur Substanzhaftigkeit und Essenz besteht besonders, wenn Lehren
der menschlichen Veränderung und Prozesse wie von Gautama Buddha historisch
übermittelt werden und nach einigen hundert Jahren das Maßgebliche der
ursprünglichen Lehre nicht mehr angemessen wiedergeben. Mit Kalupahana stimme
ich darin überein, dass dies auf die Situation zur Zeit Nāgārjunas, etwa 600
Jahre nach Gautama Buddha, zutrifft.[16] Die beiden Doktrinen, nämlich
einerseits der Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit von Dingen und Phänomenen
(Sarvastivadins of Buddhist Philosophy bzw. Substantialismus) und andererseits
deren plötzliches existenzielles Ende oder plötzlicher Beginn aus dem Nichts
(Sautrantikas bzw. Momentanismus), drücken diese Erstarrung der buddhistischen
Lehre aus.
Nāgārjuna beweist mit logischer Präzision, dass es bei
einem erstarrten Denken und Reden über das Gehen zwei Geher geben müsste, einen wirklichen und einen, den wir uns in
unserem Gehirn vorstellen. Nishijima Roshi sagt hierzu: „Die nicht reale Welt
gibt es in unserer Vorstellung und unserem Denken. Wie wir tagtäglich
beobachten können, beeinflussen solche Fiktionen und Ideen unser Handeln
erheblich. Insofern existieren derartige Ideen sozusagen als Scheinrealitäten
in unserem Gehirn.“ Aber die Wirklichkeit des gehenden Menschen ist nicht
mehrfach dualistisch gespalten, sondern ein Ganzes:
Ein Mensch geht auf dem Weg. Nāgārjuna arbeitet hier den gravierenden
Unterschied zwischen Wirklichkeit und Theorien sowie Doktrinen heraus. Für
unseren Befreiungsweg benötigen wir verlässliche Grundlagen und keine
weltfremden Philosophien. Deshalb ist dieses Kapitel so wichtig.
Im dritten Teil wird scharfsinnig bewiesen, dass es beim
Gehen auf einem Weg dann keinen Anfang und kein Ende geben dürfte, wenn man
sich an Worte und bestimmte Theorien klammert und das Gehen wie ein Ding und
als metaphysische unveränderliche Entität und Substanz versteht. Das erweist
sich natürlich bei genauer Analyse als falsch, wenn wir die Wirklichkeit
unverstellt und direkt erfahren und beobachten. Denn wir Menschen gehen,
schlendern, wandern oder eilen ganz selbstverständlich und weitgehend
unbewusst, und ebenso beginnen und beenden wir das Gehen. Daraus folgt, dass
wir die lebenden vernetzten Prozesse und die Wechselwirkungen des gehenden
Menschen ganzheitlich verstehen müssen.
Im vierten und fünften Teil geht es um den gesamten
Zusammenhang von begangenem Weg, dem Gehen als Handeln und dem gehenden
Menschen. Dabei stellt Nāgārjuna fest, dass wir keinen Gang, keinen begangenen
Weg und keinen Geher finden, wenn wir erstarrten statischen Doktrinen anhängen.
Das klingt paradox, ist es aber nicht: Er meint die unwirkliche Welt der Einbildungen, Theorien und wegführenden
Fehlentwicklungen. Demgegenüber verstehen Buddha und Nāgārjuna die Wirklichkeit
der Welt als „gemeinsames wechselwirkendes Entstehen“ – und zwar ohne Extreme.
Ein solches Enstehen ist von uns selbst beeinflussbar und steuerbar. Wenn wir
den buddhistischen Weg so begreifen und praktizieren, kann man zwischen dem
Passiv des begangenen Weges und dem Aktiv des gehenden Menschen nicht mehr
sinnvoll als totale Trennung unterscheiden, auch wenn die Sprache das nahelegen
mag. Gehen und Begangen-Werden bilden zusammen eine ganze Wirklichkeit.
Das direkte Handeln übersteigt dabei die Theorie, die
Logik, die Sprache und Grammatik. Es kommt genau auf den Augenblick unseres
achtsamen unverstellten Handelns und Bewegens an. Eine solche Wirklichkeit ist
ein lebendiges Ganzes auf dem Achtfachen Pfad und dem Mittleren Weg, eben das
gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Und wenn wir dies ungeteilt und ohne
Ablenkung erfahren, erfüllt es uns mit Freude und Klarheit und befreit uns von
Stress und sogar Angst. Diese Tatsache hat auch die heutige Gehirnforschung
eindeutig nachgewiesen. Buddha, Nāgārjuna und Zen-Meister Dōgen wussten es
schon erheblich früher.
Wenn die Prozesse der Welt ohne Scheinwelten von Doktrinen, Begriffen, Weltanschauungen und
Illusionen, ohne isolierte und als dauerhaft angesehene Essenzen in gemeinsamer
Wechselwirkung entstehen, wird die Welt im Sinne Nāgārjunas als leer bezeichnet – im Zen-Buddhismus
heißt es: die Wirklichkeit, „wie sie ist“. Dann kann sich die nahezu
unbegrenzte Fülle der wirklichen menschlichen Potenziale entfalten.
In diesem fundamentalen Kapitel geht es also um das klare
Verständnis von Handeln, Bewegen und Prozessen. In den folgenden Kapiteln des
MMK wird sich zeigen, dass die ausführliche Analyse und Argumentation zum Gehen
auch für andere Prozesse und Vorgänge in gleicher Weise erfolgen kann und muss.
Nāgārjuna wird daher im Hinblick auf Zusammenhänge und Schlussfolgerungen
häufiger auf das zweite Kapitel verweisen. Es bildet die Grundlage für die
Bearbeitung zentraler buddhistischer Fragen in späteren Kapiteln, zum Beispiel
in Kapitel 23 (Nirvāna) und 24 (Vier Edle Wahrheiten).
Kapitel 3: Unsere Sinne und die Wahrnehmung
Nāgārjuna analysiert anhand des
Sehens die verschiedenen Wahrnehmungsarten des Menschen, also Sehen, Hören,
Riechen, Schmecken und Tasten, sowie die zugehörigen Funktionen des Denkens,
das heißt die „Denkbereiche“. Auf der Grundlage des bereits in der Präambel
erarbeiteten Verständnisses der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in
Wechselwirkung und der Prozessanalyse des Gehens – im übertragenen Sinn auch
der buddhistischen Entwicklung und Emanzipation – behandelt Kapitel 3 des MMK
die möglichst unverstellte Wahrnehmung der Umgebung, in der wir leben. Es geht
also um die Analyse von uns selbst als „Subjekte“ und unsere Wahrnehmung
anderer Menschen. Dabei möchte Nāgārjuna für die weiteren Analysen Klarheit
schaffen und sich von spekulativen metaphysischen Doktrinen absetzen. Das gilt
besonders im Hinblick auf die Illusion von unveränderlichen und isolierten
Substanzen für die Objekte der Wahrnehmung. Eine solche Doktrin ist dualistisch
und daher nur scheinbar realistisch.
Nâgârjuna vermittelt eine
positive praktische Lebensphilosophie des Sehens und der übrigen
Wahrnehmungsarten. Dabei leugnet er die mögliche Fehlerhaftigkeit der
sinnlichen Wahrnehmung keineswegs. Aber nicht zufällig stellt er sie an den
Anfang der konkreten Einzelanalysen, denn eine gut geschulte Wahrnehmung ist
für die von ihm verwendeten Methoden der Phänomenologie und der Empirie von
zentraler Bedeutung.
Vor allem die folgenden Fragen
stehen im Vordergrund: Gibt es eigentlich getrennte äußere Objekte, die in
unserem Geist abgebildet werden und die wir daher sehen? Oder ist ein solches
Modell zu einfach, obgleich wir es so selbstverständlich finden? Gibt es ein
übergeordnetes ewiges Selbst, das uns als Mensch, der sieht und handelt,
beobachtet und steuert? Da es ein isoliertes unveränderliches Selbst wie den
vorbuddhistischen ātman nicht gibt,
können wir ein solches Selbst phänomenologisch mit den Augen logischerweise
auch nicht sehen. Es ist, weil es unsichtbar ist, objektiv als empirische
Entität nicht zu sehen.
Das von den Doktrinen totaler
Identität und totaler Differenz abgeleitete Gleichnis von Brennstoff und Feuer
ist für die Beschreibung des Sehvorgangs nicht tragfähig, denn die
Wahrnehmungsprozesse sind durch eine intensive lebende Wechselwirkung
gekennzeichnet. Der Brennstoff wurde im Volksbuddhismus auch als Vorstellung
für das folgende Leben bei der Wiedergeburt verwendet. Das lässt Nāgārjuna in
dieser naiven Form nicht gelten.
Außerdem widerlegt er, dass es
unveränderliche gesonderte Substanzen als Entitäten gibt, das gilt besonders
für die Prozesse von Sehen und Gesehenwerden sowie für den Seher. Nāgārjuna
verweist in diesem Zusammenhang auf die ausführlichen Analysen zum Gehen in
Kapitel 2 des MMK. Der typische Charakter des rückgekoppelten und vernetzten
Sehprozesses würde bei der Vorstellung von Entitäten völlig unberücksichtigt
bleiben. Die Aussage „Das Sehen sieht“ ist daher entweder banal und
tautologisch oder beinhaltet den Glauben an eine unsichtbare ewige Substanz,
die sieht, und ist daher unsinnig.
Um die Wechselwirkung von Auge
und Form sowie deren unlösbaren Zusammenhang beim Sehen deutlich zu machen,
verweist Nāgārjuna auf die lebende enge Beziehung von Vater, Mutter und Sohn.
Schließlich zeigt er auf, dass man eine Wirklichkeit ohne
Wechselwirkung nicht nachweisen kann. Ein solcher Nachweis gelingt auch dann
nicht, wenn man eine ausgefeilte Logik verwendet. Die Klarstellungen in diesem
Kapitel bilden eine belastbare Grundlage für den Fortgang der weiteren
Untersuchungen.
Kapitel 4: Die
Gliederung der fünf Komponenten des Menschen, deren Wechselwirkung und die
Leerheit
Nāgārjuna betont die
wechselseitige Vernetzung der fünf Komponenten des Menschen, der Skandhas, und
gleichzeitig die unauflösbare Verbindung mit den jeweiligen Grundlagen, zum
Beispiel den Elementen. Bei der Form sind dies die entsprechenden physikalischen,
materiellen Elemente des Körpers. Gleichzeitig gibt es die Verbindungen und
Wechselwirkungen mit den anderen Komponenten, wie den Gefühlen, dem Denken, dem
Bewusstsein und den formenden Kräften.
Nach der heutigen
Gehirnforschung ist unbestritten, dass Denken und Gefühle wechselwirkend
gekoppelt sind. Dies gilt besonders für die Strukturen, Prozesse und
Informationen des Gehirns, also die Nervenzellen, Nervenfasern und synaptischen
Verbindungen. Diese sind wiederum mit dem Sehsystem, der Motorik und vielen
anderen Teilsystemen vernetzt. Dadurch sind sie ausgesprochen leistungsfähig
und von größter Bedeutung für den Weg der Befreiung und Emanzipation, denn je
leistungsfähiger die Interaktionen sind, desto intensiver sind die vernetzten
Wechselwirkungen und desto besser verlaufen die Lernprozesse. Zwischen diesen
modernen Erkenntnissen sowie der Praxis und Philosophie Buddhas und Nāgārjunas
besteht eine erstaunliche Übereinstimmung.
Es ist denkbar, dass Nāgārjuna
mit diesem Kapitel den allzu naiven volksbuddhistischen Vorstellungen von der
Wiedergeburt einen Riegel vorschieben wollte. Denn es ist eindeutig, dass weder
eines der fünf Skandhas noch deren Kombination unverändert wiedergeboren werden
kann, da die entsprechenden materiellen Grundlagen unlösbar mit ihnen verbunden
sind. Manchmal wird auch das Skandha der formenden Kräfte (samskâra) mit den Tatabsichten am Ende eines Lebens gleichgesetzt,
die dann die Wiedergeburt und die neue Persönlichkeit bestimmen sollen. Eine
solche Argumentation wird von Nāgārjuna nicht bestätigt und auch nicht erwähnt.
Die beiden letzten Verse 4.8 und
4.9 beziehen sich meines Erachtens auf die Destruktion des Arguments eines
Kontrahenten, der die von Nāgārjuna eingebrachte Leerheit nicht richtig
versteht und mit dem Nichts, dem Nihilismus und der Nicht-Existenz verwechselt.
Das ergäbe ohne Zweifel eine Blockade auf dem buddhistischen Weg.
Nishijima Roshi sagt zu diesem
Kapitel des MMK, dass nach buddhistischer Lehre „das Handeln im Augenblick von
zentraler Bedeutung (ist), denn es ist die Grundlage unseres Lebens und
Überlebens. Denken und Erinnern können wir daher eher als Hilfsfunktionen des
Lebens bezeichnen. Das Bewusstsein ergibt sich vor allem aus der Kombination
von Denken und Wahrnehmung.“
Man dürfe die Skandhas
allerdings nicht als getrennte und isolierte Bereiche des Lebens verstehen,
sondern sie bilden nach der buddhistischen Lehre und Praxis ein umfassendes
zusammenwirkendes Ganzes. Auf der Ebene der buddhistischen Wirklichkeit könne
es daher keine Trennung zwischen Körper, Gefühlen, Geist usw. geben. Das sei
genau die Lehre des Mittleren Weges. „Wenn Form und Inhalt (fälschlich)
getrennt sind, verengt sich die Sichtweise des Menschen auf die Form. Dadurch
entsteht das materialistische Weltbild, das immer nur einen Teil der
Wirklichkeit abbildet und meist zur Verödung des spirituellen und psychischen
Lebens führt“, erläutert Nishijima Roshi.
Außerdem betont er: „Fehlerhafte
Ideen und Doktrinen führen zu falschem und oft unmoralischem Handeln. Insofern
haben derartige Ideen eine sehr begrenzte Realität, die von der wahren
Wirklichkeit stark abweicht, und sie sind eine große Gefahr für die Menschen.
Dann kann man nicht mehr klar die Zusammenhänge und Folgen erkennen und sogar
materielle Fakten werden ideologisch verzerrt wahrgenommen.“
Nishijima Roshi versteht die
Leerheit als Gleichgewicht. Ich erinnere mich, dass er selten den Begriff
Leerheit verwendete, denn „Gleichgewicht“ lässt die Doktrinen verschwinden, im
Sinne von „Körper und Geist fallen lassen“ bei der Zazen-Praxis. Und in aller
Klarheit stellt er fest: „Wer im Gleichgewicht ist, kann seine Aufmerksamkeit
aufrechterhalten und gefestigt über alles reden, ohne in Extreme zu verfallen.“
Dann könne man mit größter Klarheit wahrnehmen, wirklich sehen und die
vernetzten Prozesse, die man nicht ändern oder beeinflussen kann, in ruhiger,
unaufgeregter Haltung akzeptieren. Dann lasse man sich nicht aus der Ruhe
bringen und sei ohne Panik oder Euphorie auf dem Mittleren Weg. Wer selbst im
Gleichgewicht sei, begehe keine gravierenden Fehler, so Nishijima. Wenn man
anderen einen Rat erteile und auf wahrgenommene Fehler hinweise, müsse das frei
von Egoismus, unkontrolliertem Narzissmus und grandioser Selbstdarstellung
geschehen. Diesen Zustand bezeichnet Nāgārjuna als Leerheit (shūnyatā).
Indem Nāgārjuna in diesem vierten Kapitel die Bedeutung
der fünf Komponenten des Menschen (skandhas) herausarbeitet, hat er gleichzeitig die Grundlage
für die weitere Analyse der Dinge und Phänomene (Dharmas) sowie des ganzen Menschen geschaffen.
Kapitel 5: Die buddhistischen Elemente Festes, Flüssiges, Luftartiges, Heißes, Raum
und Bewusstsein
Buddha hatte in recht klarer
Weise die vier materiellen Elemente des Festen bzw. Erdartigen, des Flüssigen,
des Luftartigen und des Heißen, also des Feuerartigen, nicht zuletzt für den
menschlichen Körper gelehrt. Seine gesamte Lehre und den Weg der Befreiung
baute er mit erstaunlicher Stringenz überzeugend auf. Er behandelte die
menschlichen Gefühle, den Geist, die Hemmnisse auf dem Weg, die
Wahrnehmungsfelder des Menschen (z.B. das Sehen) sowie die Weiterentwicklung
und Befreiung mithilfe der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades.
Buddhas revolutionierende Lehre
fußt also nicht zuletzt auf dem klaren Verständnis des materiellen Anteils unseres Körpers
und der Welt, denn ohne eine materielle Grundlage können wir nicht leben,
und eine esoterische Abwertung oder Leugnung des Materiellen führt unweigerlich
in illusionäre Scheinwelten, bei denen es keine wahre Freude geben kann, und
zum Leiden. Im Achtfachen Pfad wird
die Ganzheit und Wechselwirkung aller menschlichen Bereiche einschließlich des
Materiellen präzisiert und wirkungsvoll für die Lebenspraxis beschrieben. Das
ist die buddhistische Lehre ohne geistige und materielle Verwirrungen. Und
dabei gibt es keine statischen unveränderlichen Ur-Substanzen, die angeblich erst
durch hinzukommende Merkmale und Charakteristika sichtbar werden.
In den auf Buddha folgenden
Jahrhunderten wurde die vorbuddhistische Philosophie der Ur-Substanzen und
Ur-Wesen wieder neu belebt. Gleichzeitig wurden die Elemente „Raum“ und
„Bewusstsein“ zu den Elementen hinzugefügt und teilweise dem Raum sogar
metaphysische Qualitäten wie die des Nirvāna zugesprochen. In diesem fünften
Kapitel des MMK destruiert Nāgārjuna derartige Überdehnungen des Buddhismus. Im
Hinblick auf den Raum argumentiert er dabei wie folgt: Es ist kein „reiner“
Raum ohne Merkmale zu finden, zum Beispiel ohne Gegenstände und Bewegungen. Der
Raum kann nicht vor seinen Merkmalen als „Ur-Substanz“ existieren. Was für den
Raum gilt, ist auch für alles andere auf der Welt, also die Dinge und
Phänomene, richtig: Ewige unveränderliche und isolierte Ur-Substanzen oder
Ur-Identitäten des Materiellen, zu denen dann die erkennbaren Merkmale
hinzukommen und sich entwickeln sollen, gibt es nicht.
Wenn man an solche Substanzen
und ihre Merkmale glaubt, kann man das Materielle und Raumhafte unserer Welt
überhaupt nicht erkennen. Zudem lässt sich die räumliche Dimension von den
Objekten des Hier und Jetzt gar nicht trennen, sonst gäbe es überhaupt keine
Wirklichkeit, und alles würde sich in imaginäre Scheinwelten auflösen – eine
Befreiung zur Klarheit ist dann ausgeschlossen. Solche Scheinwelten führen zu
den falschen extremen Unterscheidungen, dass etwas total existiert oder total
nicht existiert. Unsere Sprache bezeichnet dann etwas Unwirkliches.
Die Annahme einer immer schon vorhandenen
„Ur-Substanz“ und ihrer hinzukommenden Merkmale führt also nicht weiter, weder
in Bezug auf den Raum noch auf die anderen materiellen Elemente. Um es mit
Nāgārjunas Worten auszudrücken: Die Menschen mit einem schwachen Verstand sehen
nicht das „beglückende Aufhören“ der doktrinären Scheinobjekte, die sie zu sehen glauben. Damit meint er auch, dass
wir die Objekte entmystifizieren sollen, wodurch sie „zur Ruhe kommen“. Das
bedeutet reale Wirklichkeit, denn es gibt eine direkte Wechselwirkung mit
unserem Körper, mit anderen Menschen und auch mit der beglückenden räumlichen
Schönheit der Natur.
Was wären unser Leben und das
Naturerlebnis ohne die räumliche Tiefe, Gestalt und räumliche Schönheit? In
Asien wurden die Klöster meist in besonders schönen Landschaften erbaut. Die
Klosteranlagen sind häufig in wunderbarer Harmonie mit der Landschaft, den
Gärten, Bäumen, Teichen und oft künstlerisch angelegten Bächen gestaltet. Es
gibt viele Geschichten über Erleuchtungserlebnisse in und mit der Natur, und es
heißt: Wer in der Natur erleuchtet ist, fällt nicht mehr zurück. Warum? Die
Natur ist, wie sie ist. Sie verbreitet keine Ideologien und Doktrinen, sie will
uns nicht zu irgendetwas überreden, will uns nichts verkaufen und will uns
nicht bei einer politischen Wahl beeinflussen.
Kapitel 6: Die Erregung, der Erregte und das
Gleichgewicht
In diesem Kapitel gibt
Nāgārjuna einen Einstieg in die Analyse und Praxis, wie wir im Buddhismus auf
dem Mittleren Weg mit starken Gefühlen, Affekten, Erregung, großer Liebe,
großem Mitgefühl und letztlich mit Gier, Neid und Hass richtig umgehen. Das
Ziel ist, extreme Affekte, Ideologien, Abhängigkeiten, Fremdsteuerungen usw.
klar zu erkennen und zur Ruhe kommen zu lassen. Extreme sollten wir vermeiden,
um uns selbst und anderen nicht zu schaden und unsere eigene Befreiung
voranzubringen. In der wahren und befreiten Lebensform gibt es keine Extreme
wie Materialismus, Ideologien, Aktionismus und geistige Fragmentierung.
Nāgārjuna destruiert
unbrauchbare und gefährliche Doktrinen und Ideologien, die oft die Gefühle und
Affekte noch verstärken, aber in die Irre gehen und zum Leiden führen, weil sie
dem Wandel und der Emanzipation des Menschen nicht gerecht werden können, da ihnen
ein statisches und häufig exaltiertes lernfeindliches Weltbild zugrunde liegt.
Zudem gehen sie von spekulativen philosophischen Annahmen aus, die der Vernunft
widersprechen und somit nicht im Einklang mit der Philosophie Buddhas und
Nāgārjunas stehen. Das gilt vor allem für den Substantialismus.
In den Originalversen in
Sanskrit verwendet Nāgārjuna in diesem Kapitel den Begriff rāga für „Erregung“ und „Leidenschaft“; er ist von „färben“
abgeleitet. Die wichtigen Fragen lauten: Wie werden Geist, Psyche und Körper
durch Affekte, zu starke unkontrollierte Gefühle oder durch emotionale Fesseln
und eruptive Durchbrüche verändert und gefärbt?
Wie kann man sie aber steuern, wie kommen sie zur Ruhe? Welches belastbare
buddhistische Wissen gibt es dazu und was ist falsches Scheinwissen, das heute
im Internet zu Recht als fake
bezeichnet wird?
Fake-Informationen sind
zunehmend zum drückenden Problem der Gegenwart geworden, denn sie sollen gerade
extreme Affekte, vor allem Hass und Verachtung erzeugen. Aber auch im
Buddhismus gibt es Verführungen des kommerziellen Marktes, zum Beispiel das
Angebot einer „Schnell-Erleuchtung“ und Befrei
ung von Stress und Affekten
durch Unterwerfung und den Glauben an eine unseriöse Methode. Es ist daher
unsere Aufgabe, die zum Teil verzerrte Lehre Buddhas über die Erregung und
emotionale Extreme gründlich zu analysieren. Zur Überwindung von Erregung und
unkontrollierter Leidenschaft nennt er die hilfreichen Faktoren des Erwachens:
Achtsamkeit, Energie, Gestilltheit und vor allem die Freude. Damit gibt er die
Richtung für unsere Weiterentwicklung vor, nämlich die Überwindung von Erregung
und Leidenschaft, um damit Kummer, Jammer, Gram, Verzweiflung, Angst, Stress,
Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst, unter denen heute so viele Menschen
leiden, zu bewältigen. Bei der Betrachtung unserer eigenen Gefühle rät uns
Buddha, mit Achtsamkeit Folgendes zu erkennen: „Ich empfinde ein freudiges
Gefühl“ oder „Ich empfinde ein leidiges Gefühl“. Das sei der Ausgangspunkt der
eigenen Weiterentwicklung.
Wichtig ist, das Entstehen
und Vergehen von starken Affekten zu betrachten und zu „verstehen“, um daraus
für die Gestaltung und Veränderung des eigenen Lebens Klarheit zu gewinnen: So
entstehen neue Impulse und Energien und werden für unsere Lebenspraxis wirksam.
Dabei ergeben sich die Kraft, Motivation und der Mut zur Veränderung besonders
durch Freude und nicht durch depressive und zerstörerische Selbstvorwürfe, wie
es uns manche tradierte Religionen vielleicht weismachen wollen!
Nāgārjuna beschreibt in
diesem Kapitel die vorbuddhistische Auffassung und die späteren sektiererischen
Doktrinen, dass die Erregung und der erregte Mensch verschiedene und getrennte Dinge und Entitäten seien. Die Erregung wird dabei wie eine getrennte Wesenheit
oder Substanz betrachtet, die irgendwie schon vorhanden ist, herbeikommt und
den Menschen ergreift oder in ihn fährt und ihn besetzt. Das erscheint recht
skurril, ist aber als Weltanschauung auch in unserer Kultur in ähnlicher Form
durchaus zu finden, allerdings oft unbewusst.
Diese Doktrinen
vereinfachen laut Nāgārjuna einen lebenden psychischen und wechselwirkenden
Prozess viel zu stark, indem sie von einem unveränderlichen substantialen Kern
ausgehen, der dann sichtbar werde, wenn er qualifizierende Merkmale bekomme.
Habe er nicht mindestens ein Merkmal, sei er unsichtbar. So sei zum Beispiel
der „Substanzkern“ des Apfels unsichtbar und neutral; er habe keine Eigenschaft
und Qualität. Um sichtbar zu werden, benötige er Merkmale wie Farbe, Größe und
Reifegrad. Dieses Modell überträgt Nāgārjuna auf den Erregten und die Erregung
und analysiert es auf innere Widersprüche, um sie zu destruieren.
Aus diesem falschen Modell
ergeben sich spitzfindige philosophische Fragen, wie zum Beispiel ob die
Erregung vor dem Menschen da war und ihn dann ergriffen hat oder ob die Erregung
umgekehrt erst später hinzugekommen ist. Wenn die Erregung nun den Menschen
ergriffen hat, stellt sich die Frage, ob die Erregung und der erregte Mensch
dann eine Einheit sind oder nicht – also die Frage nach Identität oder
Differenz, die auch in der westlichen Philosophie intensiv diskutiert wird.
Nāgārjuna macht deutlich, dass die Extreme von absoluter Identität oder
absoluter Differenz in der Wirklichkeit nicht vorkommen.
Buddha lehrt im Achtfachen
Pfad ganz direkt, wie wir uns selbst von Affekten und ungesteuerter
Leidenschaft befreien und emanzipieren können, und verzichtet auf
philosophische Spitzfindigkeiten, die auch praktisch wenig helfen. Auch
Nāgārjuna erklärt, dass er von einer metaphysischen Substanz und der
Verdinglichung psychischer Prozesse wenig hält. Aus der Gehirnforschung wissen
wir, dass es um Bahnungen, synaptische Spuren und dynamische Informationen im
neuronalen Netz und deren Veränderungen geht. Damit ist die dargestellte
Philosophie von getrennten und weitgehend statischen Entitäten oder
Eigen-Substanzen der Erregung und des erregten Menschen auch wissenschaftlich
eindeutig widerlegt.
Zu weiteren theoretischen
Überlegungen zur Erregung äußert sich Nāgārjuna folgendermaßen: Es kann keinen
Erregten geben, der immer und dauernd ein Erregter war und ist, und es kann
keine Erregung geben, wenn kein erregter Mensch da ist. Wenn Erregung und
Erregter zwar gleichzeitig, aber unabhängig und getrennt voneinander entstehen
oder da sind, gibt es ebenfalls keine Wechselwirkung und keinen Bezug zur
Wirklichkeit. Die Erregung und den erregten Menschen kann man nicht wie
„Gefährten“ verstehen, wenn sie getrennt sind. Nāgārjuna spricht die damaligen
irreführenden buddhistischen Doktrinen an und betont, dass es nicht um ein
dringend erwünschtes Ziel geht, bei dem zunächst getrennte dauerhafte
Entitäten, also Dualitäten, von erregtem Menschen und Erregung unterstellt
werden. Diese getrennten Entitäten können nicht durch die Religion wie ein
Wunder zur Einheit gebracht werden.
Schließlich verallgemeinert
er den geklärten Zusammenhang auf alle Dharmas, also die Dinge, Phänomene und
Prozesse dieser Welt. Das ist der allgemeine Bezug zum Seienden. Er stellt
fest, dass es in der Wirklichkeit weder die totale Gleichheit noch den totalen
Unterschied gibt. Eine solche Vorstellung ist ein Problem unseres Denkens oder
unserer Sprache, aber nicht der zusammenwirkenden Wirklichkeit. Dies wurde im
Zen-Buddhismus besonders überzeugend herausgearbeitet und in der Praxis
gelehrt.
Nāgārjuna
lehnt am Beispiel von Erregung und Erregtem eine Doktrin metaphysischer
getrennter Entitäten, die uns überfallartig ergreifen, radikal ab. Sie stimmen
mit dem authentischen Buddhismus nicht überein. Der buddhistische Weg der
Befreiung und Emanzipation, den Buddha im Achtfachen Pfad konkret darstellt,
führt uns zum Gleichgewicht, zur Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Er
umfasst die rechte Sichtweise, rechte Rede, rechtes Handeln, rechten
Lebenswandel, rechte Bemühung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung
(Meditation). Mit seiner Hilfe überwinden wir die Abhängigkeit von
Erregungszuständen oder explodierenden Affekten. Am besten kann dieser Pfad als
gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung
verstanden und konkret gegangen werden. Auf
diese Wechselwirkung können wir selbst aktiv einwirken und gerade bei Erregung
und ungesteuerter Leidenschaft zunehmende Lernprozesse der Klarheit und des
Selbstvertrauens vollziehen
Kapitel 7: Die Veränderungen im Buddhismus –
Entstehen, Andauern und Vergehen und die Dharma-Theorie
Im Mittelpunkt dieses wichtigen
Kapitels stehen die zentralen Veränderungen und Lernprozesse des Entstehens,
Andauerns und Daseins sowie des Vergehens und des Zur-Ruhe-Kommens beim
Menschen und in der Welt. Diese Veränderungen haben im Buddhismus fundamentale
Bedeutung, denn es geht um die Überwindung des Leidens, das Abbauen von
Hemmnissen, das Entstehen und Dasein der Faktoren der Erleuchtung sowie um die
Eröffnung des Mittleren Weges zur Vermeidung unheilsamer Doktrinen und
gefährlicher Extreme. Sehr prägnant und komprimiert werden solche Veränderungen
in Buddhas Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit beschrieben. Er
schildert dabei die Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der
geistigen Phänomene und Prozesse sowie das Entstehen, Andauern und Vergehen
dieser Dharmas.[17]
Nâgârjuna destruiert in diesem
Kapitel die Doktrinen des Substantialismus, Momentanismus und Nihilismus, indem
er nachweist, dass mit ihnen der wahre Buddhismus verfälscht und teilweise
sogar in sein Gegenteil verkehrt wird.[18]
Dieses Kapitel ist das zweitlängste im MMK, nur das 24. über die Vier Edlen
Wahrheiten ist noch umfangreicher. Es muss daher für Nâgârjuna von
fundamentaler Bedeutung sein.
Bevor seine Analysen detailliert
behandelt werden, möchte ich Buddha zitieren, um deutlich zu machen, dass sich
Nâgârjunas Destruktionen falscher Doktrinen auf Buddhas Aussagen beziehen. Im
Sûtra über die Grundlagen der Achtsamkeit erklärt dieser zu den Fünf Hemmnissen:
„Da erkennt, ihr Mönche, ein Mönch, wenn in
ihm auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen da
ist: ‚In mir ist auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen.‘ Er erkennt, wenn in
ihm kein auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen da ist: ‚In mir ist kein auf
Sinnlichkeit gerichtetes Wollen.‘ Wie nicht entstandenes auf Sinnlichkeit
gerichtetes Wollen entsteht, auch das
erkennt er. Wie entstandenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen vergeht, auch das erkennt er. Und wie
vergangenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen künftig nicht mehr entsteht, auch
das erkennt er.“[19]
Mithilfe der Achtsamkeit kann
man laut Buddha also bei den Hemmnissen auf dem Weg der Befreiung und
Erleuchtung bei sich selbst klar erkennen, ob zum Beispiel ein auf
„Sinnlichkeit gerichtetes Wollen“ zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorhanden ist. Dann untersucht man
weiter, wie dieses Wollen entsteht,
wenn es noch nicht vorhanden ist. Es geht also um das „nicht entstandene auf
Sinnlichkeit gerichtete Wollen“. Das Wollen war demnach bisher nicht da, es war
nicht entstanden, aber es ist im Prozess des Entstehens. Diesen Prozess kann
man bei sich selbst erkennen. Umgekehrt wird ebenfalls beobachtet, wie das
bereits entstandene Wollen vergeht.
Es wird also der Prozess des Entstehens und Vergehens genauer untersucht.
Schließlich wird drittens das künftige auf Sinnlichkeit gerichtete Wollen
besprochen und wie man erkennt, wie dieses Wollen nicht entsteht.
Im gleichen Sûtra führt Buddha
die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad für die eigene Befreiung ein.
Damit ergibt sich die Verbindung zum aktiven eigenen Verändern und Handeln.
Voraussetzung dafür ist, die Phänomene sehr genau zu analysieren und zu
beobachten und nicht voreilig absolute ethische Ziele anzustreben. Sonst
besteht die Gefahr der verzerrten Beobachtung, sodass die realen Zusammenhänge
der Phänomene und deren prozessualen Veränderungen nicht mehr erkennbar sind.
In analoger Weise wie die
Hemmnisse auf dem Weg des Erwachens behandelt Buddha die Sieben Faktoren des Erwachens: die Achtsamkeit, die Unterscheidung
der Dinge und Phänomene, die Energie, Freude, Gestilltheit, Sammlung und den
Gleichmut. Über die Freude sagt er:
„(Der Mönch) erkennt, wenn in
ihm das Glied des Erwachens ‚Freude‘ da ist: ‚In mir ist das Glied des
Erwachens ‚Freude‘ da.‘ Er erkennt, wenn in ihm das Glied des Erwachens
‚Freude‘ nicht da ist: ‚In mir ist das Glied des Erwachens ‚Freude‘ nicht da.‘
Wie das unentstandene Glied des Erwachens ‚Freude‘ entsteht, auch das erkennt
er; wie das entstandene Glied des Erwachens ‚Freude‘ sich völlig entfaltet,
auch das erkennt er.“[20]
Auch hier ist zunächst wieder
das Erkennen des Zustands, ob die Freude in uns selbst vorhanden ist oder
nicht, von Bedeutung. Implizit ist damit verbunden, dass man keinen Täuschungen
unterliegt, ob es sich um echte Freude handelt oder oberflächlichen Selbstbetrug.
Wichtig ist also die sehr gründliche, pragmatische Analyse unseres eigenen
Zustands. Anschließend spricht Buddha davon, wie die Freude entsteht und wie sie sich völlig entfaltet.
Kurz gesagt geht es zunächst um
die klare Beobachtung, ob das Unheilsame da ist oder nicht und ob das Heilsame
da ist oder nicht. Dann folgt das Erkennen, wie das Unheilsame vergeht und das Heilsame entsteht. Und schließlich wird erwähnt,
wie man bereits frühzeitig klar erkennt, dass das unheilsame Hemmnis nicht entsteht
und das Heilsame des Erwachens entsteht und sich allmählich voll entfaltet.
Kalupahana fasst die Bedeutung
des MMK-Kapitels 7 wie folgt zusammen: „Die Ideen des Entstehens, Andauerns und
Vergehens werden dann als illusorisch abgelehnt, wenn (und nur wenn) sie
substantialistisch verstanden werden.“[21] Er
übersetzt den Sanskrit-Begriff samskrita
mit conditioned, was auf Deutsch
„bedingt“ heißt. Diese Übersetzung habe ich nicht übernommen, sondern verwende
dafür die Formulierung „zusammen geschaffen“. Sie kommt der wörtlichen
Übersetzung des Sanskrit-Begriffs – „zusammen gemacht“ – recht nahe und ist,
wie ich hoffe, besser verständlich.
Kalupahana erklärt, dass
Nâgârjuna in diesem Kapitel die Destruktion der Ideologie und Doktrin des Substantialismus vornimmt, der vor allem von den Sarvastivadins
vertreten wurde. Wenn man an eine solche Doktrin von ewigen unveränderlichen
Entitäten glaube, ergeben sich im Zusammenhang mit den Phänomenen des
Entstehens, Andauerns und Vergehens unlösbare Widersprüche, die damit eindeutig
beweisen, dass die gesamte Doktrin
unbrauchbar ist und falsifiziert werden muss. Und genau das tut Nâgârjuna
in diesem siebten Kapitel. Kalupahana betont auch, dass es keinesfalls darum
geht, die Prozesse des Entstehens, Andauerns und Vergehens zu falsifizieren,
sondern darum, mit der Doktrin des
absolut Substanzhaften durch die inneren Widersprüche zu beweisen, dass diese
Doktrin falsch ist, während die Wirklichkeit dieser drei Phasen unbestritten
ist. Bis auf die oben erwähnte Übersetzung des Sanskrit-Begriffs samskrita folge ich dem Verständnis
Kalupahanas ausdrücklich.
Seit Buddha hatten sich vor
allem zwei Doktrinen und sektenartige Gruppierungen in der Theorie des
Abhidharma herausgebildet, die beide auf unterschiedliche Weise den prozessualen
Zusammenhang der drei Phasen ablehnten und getrennte Entitäten statt eines
ganzheitlichen Prozesses postulierten.
Die erste buddhistische
Gruppierung, die Sarvastivadins – ich bezeichne sie als Substantialisten –,
unterstellte eine ewige unveränderliche Substanz im Sinne eines unsichtbaren
Kerns, der gleich bleibt und dauernd existiert. Diese kernhafte Substanz ergebe
nur zusammen mit mindestens einem markanten Merkmal etwas sichtbar Seiendes.
Die Kombination von Substanz und Merkmal sei als Manifestation die für uns
erkennbare Welt, in der wir leben. Die Sehnsucht der Inder nach
Unveränderlichkeit und Ewigkeit muss dabei eine fundamentale mystische Energie
entwickelt haben. Die markanten Sanskrit-Begriffe in diesem Zusammenhang sind bhâva für ein unveränderliches Seiendes
und svabhâva für ein unveränderliches
und aus sich selbst entstandenes Seiendes. Beide Begriffe markieren die
unveränderliche ewige Existenz. Durch diese grundsätzliche semantische
Verschiebung der buddhistischen Begriffe entwickelte sich unversehens eine
alarmierende existenzielle Ähnlichkeit zum Glauben an den vorbuddhistischen âtman, der nach Buddha unausweichlich
ins Leiden führt.
Nach dieser Lehre würde sich der
unveränderliche Substanzkern eines Dharmas jeweils mit den drei Merkmalen
Entstehen, Andauern und Vergehen manifestieren und auf diese Weise sichtbar und
erkennbar sein. Es leuchtet philosophisch betrachtet unmittelbar ein, dass mit
diesem Dharma-Modell die von Buddha gelehrten Veränderungen und Befreiungen des
Menschen kaum stimmig zu erklären sind. Nâgârjuna destruiert daher diese
Doktrin im MMK konsequent und scharfsinnig, um die wahre Lehre Buddhas
herauszuarbeiten.
In radikaler Opposition zum
Substantialismus vertrat die Gruppe der Sautrantikas die Doktrin des Momentanismus. Sie lehnten jede
Dauerhaftigkeit ab und wollten auf diese Weise der wahren buddhistischen Lehre
entsprechen. Sie behaupteten, dass die Welt aus zeitlich getrennten Ereignissen
bestehen würde, die nicht miteinander verbunden seien, sondern schlagartig ohne
Übergang da wären und sofort wieder ohne Übergang verschwinden würden. Die
Anhänger dieser Doktrin waren davon überzeugt, dass dadurch Buddhas Lehre vom
gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya
samutpada) philosophisch widerspruchsfrei erklärt werden könne, weil es
überhaupt kein Andauern, keine Unveränderlichkeit oder gar ewige Existenz mehr
gäbe.
Das kaum lösbare Problem der
Momentanisten war jedoch die wie auch immer geartete Verbindung der Momente,
das heißt, wie also ein momentanes Ereignis zum nächsten überleitet. Dieses
Grundmodell wird auch heute noch zum Teil fälschlich im Zen verwendet, wenn für den Augenblick die Metapher
einer Perlenkette der Momente ohne Schnur
herangezogen wird. Ich halte diese Metapher nicht für fruchtbar und sehe sie
durch Nâgârjunas Argumentation klar destruiert. Die Momentanisten waren
gezwungen zu behaupten, dass das folgende momentane Ereignis bereits vor dem
Entstehen des vorherigen Ereignisses existiere. Dieser Ansatz wird von
Nâgârjuna ebenfalls unmissverständlich destruiert, denn der von Buddha gelehrte
Prozess der Befreiung und des Erwachens ist damit nicht stimmig zu erklären.
Das bereits in Band 1
analysierte zweite MMK-Kapitel behandelt das Gehen und den Prozess der Bewegung
im Zusammenhang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nâgârjuna destruiert
dort ungenaue Vorstellungen und verzerrende Doktrinen des Gehens und Bewegens,
die keine Beziehung zur Wirklichkeit von Prozessen und Veränderungen haben,
folglich in die Irre führen und Erweiterungs- und Emanzipationsprozesse des
Menschen verhindern. Die Analogie zu Kapitel 7 liegt auf der Hand. Hier
behandelt Nâgârjuna die Ganzheit und das Zusammenwirken von Entstehen, Andauern
und Vergehen nach der authentischen Lehre Buddhas. Das bedeutet gleichzeitig,
dass er die erwähnten nicht-authentischen Doktrinen falsifiziert.
Buddha hat erkannt, dass die Natur der Welt und des Menschen vier
zentrale Charakteristika hat, die konkret beobachtet und erfahren werden können
und evident sind:
– Die Welt ist veränderlich und
nicht statisch oder dauerhaft.
– Sie entsteht und vergeht in
Wechselwirkung, ist also vernetzt.
– Sie bildet eine Ganzheit, ist
also zusammengesetzt.
– Wir können aktiv durch Handeln
auf uns selbst und die Umwelt einwirken.
Außerdem lehrt er in aller
Klarheit, dass es in der Welt keine Extreme im folgenden Sinn gibt: Wir können
keine absolute Existenz oder Nicht-Existenz von irgendwelchen Entitäten
beobachten oder erfahren. Unabhängige und isolierte Entitäten gibt es in der
Wirklichkeit nicht. Solche absoluten Behauptungen sind daher auf keinen Fall
wahr, sondern ideologische und absolutistische Nicht-Wahrheiten. Wer daran
glaubt und danach handelt, erfährt unweigerlich die „ganze Masse des Leidens“,
wie es Buddha ausdrückte. Jeder, der sich die Ideologien des deutschen
Nationalismus und des katholischen Absolutismus des späten Mittelalters vor
Augen führt, wird dem sicher zustimmen.
Noch einmal eine kurze
Rückblende zum zweiten Kapitel: Ein gehender Mensch wird umgangssprachlich meist
als „Geher“ bezeichnet. Aber diese Bezeichnung lehnt Nâgârjuna aus guten
Gründen ab, weil sie eine Dauerhaftigkeit
der Geh-Eigenschaft des Menschen voraussetzt, die es in Wirklichkeit natürlich
nicht gibt. Die Frage ist: Wenn ein Mensch, der vorher gegangen ist, nun steht,
sitzt oder liegt, ist er dann auch ein Geher? Sicher nicht, weil er ja nicht
geht! Das Wort „Geher“ suggeriert also eine permanente Eigenschaft und
Charakterisierung des Menschen, die aber nur temporär zutrifft und eben nicht dauerhaft ist. Es bezeichnet
bestenfalls einen bestimmten Zustand während eines Prozesses und einer
Zeitdauer. Eigentlich ist es ein Widerspruch in sich, weil das Gehen ein
Prozess, aber keine Entität und kein Ding ist.
In konsequenter Fortsetzung
dieser Analyse bearbeitet Nâgârjuna in Kapitel 7 die Frage des Entstehens,
Andauerns und Vergehens bei verschiedenen Prozessen. Er bezieht sich dabei auf
eine zentrale Aussage Buddhas zum Befreiungsweg, der im Sûtra „Grundlagen der
Achtsamkeit“ sehr genau geschildert wird.[22] Es heißt dort wiederholt, dass
wir das Entstehen, Andauern und Vergehen von Gedanken und Gefühlen genau
beobachten und analysieren sollen, um nicht unreflektiert von Affekten,
Gefühlen und bohrenden Gedanken besetzt und durch sie fixiert zu werden. Auch hierbei
handelt es sich um ein zeitliches Nacheinander, also um einen zusammengesetzten
Prozess, der – vereinfacht ausgedrückt – in die drei Bereiche Entstehen,
Andauern und Vergehen gegliedert wird. Dabei darf aber niemals vernachlässigt
werden, dass es sich nicht um getrennte und isolierte Abschnitte oder
Entitäten handelt, sondern dass ein kontinuierlicher Zusammenhang und eine
fortlaufende Wechselwirkung bestehen. Die Wechselwirkung als Prozess steht in
einem klaren Widerspruch zu dem Modell von unveränderlichen zusammengesetzten
Entitäten nach der Doktrin der Substantialisten. Und genau dieser Widerspruch
führt in diesem Kapitel zur Falsifizierung von deren Doktrin.
Wir können ohne Zweifel von den
Phänomenen (Dharmas) mit den Phasen des Entstehens, Andauerns und Vergehens
sprechen. Da der Buddhismus den prozesshaften Veränderungen des Menschen in
einem oder auch in mehreren Leben zentrale Bedeutung beimisst, muss folglich
die Frage nach dem Entstehen, Andauern und Vergehen genau untersucht werden, um
Fehlinterpretationen, unrichtige Doktrinen und den falschen Substantialismus zu
vermeiden.
Was können wir uns nun unter
einem solchen Prozess des gemeinsamen Entstehens und Vergehens konkret
vorstellen? Ein Beispiel: Beim Dialog zwischen zwei oder mehreren Menschen
entstehen in der jeweiligen Interaktion und Wechselwirkung bestimmte neue
Gedanken und Ideen. Wenn also ein Dialogpartner zu einem Thema etwas einbringt,
entsteht bei dem anderen Menschen ein damit vernetzter und gekoppelter Gedanke,
der sowohl durch den „Input“ seines Gesprächspartners als auch durch eigene Vor-Erfahrungen, Erinnerungen und
vor allem durch Denk- und Gefühlsmuster
im jeweiligen neuronalen Netz geprägt ist.
Die neuen Assoziationen sowie
weiterführenden Ideen und Gefühle können wiederum in die Kommunikation
eingebracht werden und beim Anderen entsprechende weiterführende Prozesse in
Gang setzen. Derartige Dialoge sind dann besonders fruchtbar, wenn sie mit
Empathie und einem gewissen Gleichklang auf der Gefühlsebene verbunden sind,
denn beim Menschen entstehen selten innovative und kreative Ideen isoliert von
Gefühlen. Kreativität und Stress, der
Angst erzeugt, schließen sich gemäß der
Erkenntnisse der Gehirnforschung aus. Unter Stress und Angst kann man dem
Leiden nicht entkommen, und das Erwachen ist ausgeschlossen.
Die Gedanken und Gefühle können
wir auch als Phänomene oder Gegebenheiten bezeichnen, die im Buddhismus Dharmas genannt werden und eine
fundamentale Bedeutung für den Aufbau der buddhistischen Lehre und das
buddhistische Weltverständnis haben. Es ist in der buddhistischen Historie
allerdings nicht ausgeblieben, dass in diesem Zusammenhang tief greifende
Missverständnisse und Irrlehren entstanden sind. In diesem Kapitel werden sie
von Nâgârjuna destruiert und richtiggestellt.
Die Semantik des Begriffs Dharma ist für uns westliche Menschen
nicht einfach zu verstehen. Eine direkte Übersetzung, die Nishijima Roshi gern
für Dharmas verwendete, lautet „Dinge und Phänomene“, wobei die Dinge eher
einen statischen Aspekt benennen. Phänomene kann man dagegen eher als
prozesshaft und nicht-materiell verstehen.
Im vorbuddhistischen Indien
wurde der Begriff Dharma vor allem für Gedanken und Dinge verwendet, die als
unveränderlich betrachtet wurden. Bei Buddha geht es dagegen hauptsächlich um
Veränderungsprozesse, sodass die Vorstellung von unveränderlichen Entitäten
wenig sinnvoll ist. Die Veränderungsprozesse
betreffen zum Beispiel das Entstehen von Leiden und andererseits die
Überwindung und das Vergehen von Leiden sowie die Entwicklung zum Erwachen und
zur Erleuchtung. Veränderungen haben also eine zentrale Bedeutung im
Buddhismus, und sie sind in der Tat für wichtige Lernprozesse unabdingbar. Wenn
man konstante unveränderliche Entitäten mit einer ewigen inneren Substanz
annehmen würde, könnte es überhaupt keine grundsätzliche Veränderung, kein
Lernen und keine positive Entwicklung geben. Besonderns deutlich wird dies bei
Buddhas Darstellung der sogenannten Zwölffachen Kette der menschlichen
Entwicklung. Diese Enwicklung kann zum Leiden oder zur Befreiung führen, je
nachdem, ob die einzelnen Phasen heilsam oder unheilsam verlaufen.
Ausgangspunkt dabei sind das rechte Wissen und die rechte Erkenntnis, die
entsprechende positive Handlungsimpulse in Gang setzen und die Entwicklung zur
Befreiung ermöglichen.
Vielfache Entwicklungsprozesse
finden beim Menschen vor allem in der Kindheit und Jugend statt. Zum Beispiel
lernen Kinder, sich in der Welt zurechtzufinden, die Motorik und Feinmotorik
auszubilden und zu trainieren, die Sprache zu erlernen und für die
Kommunikation einzusetzen. Mit zunehmendem Alter tritt häufig eine Art von
Erstarrung ein und Lernprozesse stagnieren. Friedrich Nietzsche sagte dazu:
„Wehe, wenn wir nicht mehr den Pfeil über uns hinauswerfen. Wehe, wenn die
Sehne nicht mehr schwirrt.“[23] Da nach den Erkenntnissen der
modernen Gehirnforschung unser „Glückszentrum“ gleichzeitig unser Lernzentrum
ist, sinkt die Lebensfreude im Alter deshalb bei vielen Menschen immer mehr,
was nicht selten in eine Altersdepression mündet: Die wichtigen Befreiungs- und
Entwicklungsprozesse erlahmen oder sind zu Ende.
Nâgârjuna hat dieses Phänomen
sicher erkannt und spricht daher von dem statischen „Geworden-Seienden“ der Dharmas, das einer dauerhaften
unveränderlichen Existenz recht nahe kommt. Eine solche unveränderliche
Existenz kann materiell wie ein Ding oder eine Sache und ideell wie eine Idee
als Entität verstanden werden. Wenn dieser Zusammenhang verabsolutiert wird,
handelt es sich um die Doktrin einer unveränderlichen metaphysischen Substanz
oder nicht-materiellen Essenz. Beide Weltanschauungen sind aus Nâgârjunas Sicht
nicht korrekt und erzeugen früher oder später menschliches Leiden.
Für den Menschen, der nach
buddhistischer Vorstellung in fünf Komponenten (skandhas) gegliedert ist und keinen gesonderten Ich-Kern im Sinne
der vorbuddhistischen Âtman-Lehre hat, sind Erstarrungen und Festlegungen, die
eine Weiterentwicklung erschweren oder unmöglich machen, jedoch in keinem
Lebensalter zwingend. Sie entstehen vermutlich durch das Streben nach
Sicherheit und Dauerhaftigkeit und die Angst vor negativen Entwicklungen und
Verlusten. Aber wie Buddha überzeugend sagte, sind es gerade die Scheinsicherheiten, die den Prozess des
Lebens verhärten oder sogar unmöglich machen. Sie verleihen keine Sicherheit,
sondern erzeugen im Gegenteil Ängste. Wie wir aus der Gehirnforschung wissen,
reduzieren Ängste nicht nur die Denk- und Reflexionsmöglichkeiten, sondern
verhindern auch Kreativität bei Entwicklungsprozessen. Verkürzt könnte man
sagen: „Angst und Stress machen dumm.“ Dagegen bietet Veränderung die Chance,
dass sich etwas Neues entwickelt und der Mensch sich durch Erfahrung und Lernen
befreit und emanzipiert. In der Terminologie des Buddhismus geht es um den
Prozess des Erwachens und der Erleuchtung, den Buddha im Achtfachen Pfad und in
der Zwölffachen Kette der menschlichen Entwicklung überzeugend ausgearbeitet
und gelehrt hat.
Der zusammenhängende Prozess des
Entstehens, Andauerns und Vergehens kann auch bei Gefühlen beobachtet werden.
Es ist ein Hauptanliegen des Buddhismus, vergiftende Gefühle wie Gier, Neid,
Hass und Übelwollen entweder gar nicht erst entstehen oder aber zur Ruhe kommen
zu lassen. Gautama Buddha hat in seiner fulminanten Rede über die Grundlagen
der Achtsamkeit ein solches Entstehen, Andauern und Vergehen negativer Gefühle
sehr präzise beschrieben. Auf ähnliche Weise schildert er die positiven Gefühle
und betont zum Beispiel, dass liebevolle Zuwendung entstehen soll und wir genau
beobachten sollen, dass solche Gefühle wirklich in uns da sind und wirken.
Die moderne Gehirnforschung sagt
kurz gefasst: „Das Gehirn ist genau das, was es macht.“ Wenn wir also positive
Gefühle und Gedanken in uns entstehen lassen, wird unser Gehirn grundsätzlich
in dieser Weise gebahnt und entwickelt geeignete Muster und Bahnungen für
weitere Assoziationen und kreative Gedanken und Gefühle. Nach meinem
Verständnis gehört dieser Aspekt zur Bedeutung des Sanskritbegriffs samskâra, der in der Literatur oft
missverständlich oder verwirrend verwendet wird. Es gibt eine intensive Wechselwirkung in unserem neuronalen Netz,
sodass eine enge dynamische Verknüpfung von Gefühlen und Gedanken besteht. Wer
umgekehrt überwiegend auf negative Gefühle und Gedanken fixiert ist, programmiert selbst sein Gehirn in diesem
negativen Sinn. Als Ergebnis wird er in der Welt und bei anderen Menschen
überwiegend die negativen Bereiche wahrnehmen und abspeichern, die genau für
sein Gehirn typisch sind. Diese bilden dann eine negative Grundstrukturierung
als entsprechende Bahnung für die folgenden Ideen, Erlebnisse und Erfahrungen.
Aus der hohen Komplexität der
Welt wird infolgedessen das Negative
selektiert und verstärkt, sodass depressive Stimmungen und Leiden
entstehen. Bei den Fünf Hemmnissen der Befreiung bezeichnet Buddha dies als Zweifelsucht. Sie hat wohlgemerkt wenig
mit einer ausgewogenen Sicht der Welt zu tun, in der die positiven und
negativen Seiten realistisch betrachtet und in einem geistigen Prozess der
Reflexion und Selbstreflexion bedacht und gewichtet werden.
Das siebte Kapitel des MMK wird
von verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich interpretiert und eingeschätzt.
Dies hat aus meiner Sicht verständliche Gründe, denn in den meisten
Beschreibungen der Dharmas der indischen Philosophie und auch des Buddhismus
werden die Dharmas nur als Dinge und Phänomene verstanden. Damit entfällt aber
weitgehend der wichtige Aspekt der Veränderung, Befreiung und Emanzipation,
also der zentralen Prozesse der Welt und des Lebens. Für Buddha ist gerade die
Veränderung als Überwinden des Leidens und Weiterentwicklung zur Klarheit, zum
Erwachen und zur Erleuchtung das zentrale Anliegen seines Lebens gewesen. Dies
ist bei allen Autoren letztlich unbestritten.
In der Präambel wurde Buddhas
sowie Nâgârjunas Welt- und Lebensverständnis mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und der Vermeidung von Extremen dargestellt, und
in den Kapiteln 1 bis 6 hat Nâgârjuna Fehlentwicklungen wie statische und
spekulative Doktrinen analysiert und dekonstruiert. In Kapitel 7 geht es nun darum,
das als wahr und richtig erkannte gemeinsame Entstehen genauer zu untersuchen.
Die Einzelprozesse der Veränderungen werden von Nâgârjuna detailliert
herausgearbeitet, wobei er gleichzeitig erneut die unrichtigen, vor allem
statischen Doktrinen benennt und falsifiziert.
In der frühen buddhistischen
Lehre geht es um tief greifende nachhaltige Veränderungen beim Menschen und in
der Welt, also um das Entstehen und die Überwindung des Leidens, um Prozesse
der Befreiung und Emanzipation sowie das Erwachen. Buddha begnügte sich bei
seiner Weisheitslehre nicht mit der reinen Erkenntnis, die typisch für die
westliche Philosophie ist, sondern er lehrte ganz praktisch fundamentale und
wirkungsvolle Befreiungs- und Emanzipationsprozesse des Menschen, wobei es um
die Frage geht, wie unser eigenes Leben und das der anderen wirklich gelingen
kann. Die rechte Sichtweise, das rechte Verständnis und Wissen der
Wirklichkeit, also das
gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya
samutpada, vgl. Präambel des MMK), bilden
dabei das Fundament.
Von zentraler Bedeutung sind die
Ablehnung absoluter Extreme, die ideologiefreie Lehre der Kausalität und
Verursachung und nicht zuletzt eine praktikable Ethik. Buddha geht es um
positive Veränderungen in unserem Leben und in der Welt, also um das Entstehen,
Andauern und Zur-Ruhe-Kommen der Dinge, Phänomene und Gegebenheiten (Dharmas):
das Vergehen des Leidens und Entstehen von Freude, Ausgeglichenheit und
Kreativität. Sie betreffen alle Bereiche der Menschen und der Welt und sind die
Grundlage der buddhistischen Lehre. Durch Selbst-Verwirklichung und
Selbst-Transformation stoßen wir laut Buddha in neue Lebensbereiche vor.
Im Sûtra über die Grundlagen der
Achtsamkeit erklärt Buddha die Prozesse des Entstehens, Andauerns und Vergehens
für die Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der materiellen
Elemente. Er spricht über das Lustverlangen, den Hass, die Zerstreuung, die
fünf Hemmnisse, die Komponenten des Menschen (Skandhas), die Sieben Glieder des
Erwachens und nicht zuletzt die Wahrheit und Überwindung des Leidens. Um
Klarheit für diese Bereiche zu schaffen und Veränderungen zu ermöglichen,
müssen diese Prozesse genau und verlässlich analysiert werden. Es reicht nicht,
heilsame und unheilsame Zustände nur allgemein oder metaphysisch zu benennen.
In Kapitel 7 des MMK widmet sich
Nâgârjuna einer solchen Klärung und analysiert mit großem Scharfsinn die
Fehlentwicklungen bestimmter Philosophien und Doktrinen seiner Zeit. Im
Mittelpunkt stehen dabei zwei buddhistische Sekten: Die Sarvastivadins[24] vertraten das Dogma der
absoluten unveränderlichen Substanz der Dharmas und glaubten an einen
unveränderlichen ewigen und oft unsichtbaren Kern der Dinge und Phänomene.
Diese Doktrin bezeichne ich als Substantialismus.
Die Sautrantikas behaupteten das Gegenteil, nämlich die absolute und
unverbundene Momenthaftigkeit von Ereignissen, was ich Momentanismus nenne. Beide Doktrinen enthalten verdeckte
spekulativ-metaphysische Grundlagen, die ich durchaus als magisch bezeichnen
möchte und die bei genauer Analyse in sich widersprüchlich sind.
Nâgârjuna setzt sich mit den
beiden dogmatischen Fehlentwicklungen des Verständnisses der zusammengesetzten
Dharmas (samskrita) auseinander. Er
unterteilt bei seiner Analyse den Vorgang der Veränderungen von Dharmas in drei
Merkmale, die zusammen das zusammengesetzte und dynamische Dharma kennzeichnen.
Im Substantialismus werden die
Dharmas als abgegrenzte absolute und vor allem unveränderliche Entitäten
verstanden, um so dem Dogma der Unveränderlichkeit zu genügen. Damit geht
jedoch das Verständnis der dynamischen Wirklichkeit zugunsten der
substantialistischen Spekulation verloren, und laut Nâgârjuna widerspricht
diese metaphysische Annahme radikal Buddhas Wort, Praxis und Sinn. Es liegt auf
der Hand, dass gewaltige Probleme auftauchen, wenn die empirisch und
phänomenologisch zusammenhängenden Prozesse der Veränderungen mit dem
Substantialismus widerspruchsfrei erklärt werden sollen. Wenn die Dharmas
unveränderlich und statisch sind, müssen für die Merkmale Entstehen, Andauern
und Vergehen jeweils unveränderliche
eigenständige Dharmas gefordert werden, die einen eigenen unzerstörbaren Kern
besitzen. Den Anhängern dieser Lehre waren offensichtlich die unlösbaren
Widersprüche im Hinblick auf die authentische buddhistische Lehre wenig oder
überhaupt nicht bewusst. Ich folge Nâgârjunas Feststellung, dass bei solchen
metaphysischen Annahmen Buddhas Lehre der Befreiung und Emanzipation nicht mehr
stimmig und daher wirkungslos in der Lebenspraxis ist.
Der Momentanismus stellt die Augenblicklichkeit
in den Mittelpunkt. Er basiert auf der Annahme von isolierten, extrem kurzen zeitlichen Momenten der Wirklichkeit,
also von „zeitlichen Atomen“, und versucht so, den Vorwurf der Statik,
Erstarrung und Unveränderlichkeit zu entkräften.[25] Aber bei dieser Doktrin fragt
sich, wie die aufeinanderfolgenden getrennten Momente eigentlich zusammenwirken
und wie sie kausal verknüpft werden können, wenn sie gerade als unverbunden und
voneinander isoliert definiert sind. Die Verbindung zwischen den einzelnen
Phänomenen muss dann spekulativ und metaphysisch behauptet werden. Es bleibt
offen, wie dabei zusammenhängende und sich bedingende Prozesse, zum Beispiel
Entstehen und Vergehen, funktionieren können. Mit diesem Ansatz kann die
Kausalität, die für die Lern- und Emanzipationsprozesse des praktischen Buddhismus unverzichtbar
ist, ebenfalls nicht widerspruchsfrei und stimmig erklärt werden. Nâgârjuna
destruiert auch diese Lehre der Momenthaftigkeit und betont, dass sie mit der authentischen
Lehre Buddhas nicht vereinbar ist.
Nâgârjuna deckt die genannten
gravierenden Widersprüche und Halbwahrheiten auf, indem er sich auf Buddhas
Verständnis der Wirklichkeit als gemeinsames
Entstehen in Wechselwirkung (pratitya
samutpada), der Veränderlichkeit und der Ganzheitlichkeit der Welt bezieht.
In dem maßgeblichen Vers heißt es im Gegensatz zu den einseitigen
verfälschenden Doktrinen: „Was auch immer
in Wechselwirkung wird und entsteht, das ist beruhigt und im Gleichgewicht.“
Das heißt auch, dass die beiden Doktrinen des Substantialismus und
Momentanismus kein Gleichgewicht des Menschen bewirken, sondern im Gegenteil zu
Unruhe, Zerrissenheit, Leiden, zur Vereinsamung und Depression führen.
Abschließend möchte ich noch
einige Anmerkungen zur Verbindung zwischen Buddhas Lehre und aktuellen
neurowissenschaftlichen Erkenntnissen anfügen. Die Frage ist, was sich in
unserem Gehirn ereignet, wenn wir Gefühle der Freude und des Glücks erleben.
Der Stand der Forschung hierzu ist etwa wie folgt: Glücksgefühle werden vor
allem dann ausgelöst, wenn unerwartet
etwas Gutes und Glückhaftes erlebt wird. Im sogenannten Nucleus accumbens
werden körpereigene Endorphine, also Glückshormone, ausgeschüttet, die in das
gesamte Gehirn eingebracht werden. Sie lassen dort verstärkte Prozesse der
Informationsverarbeitung entstehen, die mit positiven Gefühlen, eben
Glücksgefühlen, verbunden sind. Dies gilt für alle Bereiche der
Informationsverarbeitung, der Wahrnehmung, des Denkens, des Erinnerns usw.
Nicht zuletzt ermöglicht dies einen positiven Schub von Lernprozessen, die zum
Beispiel neue kreative Möglichkeiten im neuronalen Netz eröffnen. Der
Gehirnforscher Manfred Spitzer spricht daher davon, dass unser Glückssystem gleichzeitig das Lernsystem ist, das sich in der
Evolution des Menschen entwickelt und bewährt hat.
Eine derartige Glücksphase
dauert etwa zehn Sekunden an. Das heißt, sie hat also eine Phase des Entstehens, des Andauerns und dann des Vergehens.
Natürlich kannten Buddha und Nâgârjuna diese heute gesicherten
Forschungsergebnisse noch nicht. Allerdings vermute ich, dass sie auch aufgrund
ihrer scharfen phänomenologischen Beobachtungsgabe ein recht genaues intuitives
Wissen besaßen und in ihre Lehre eingebracht haben. Ich möchte deshalb sagen,
dass Buddhas Lehre weitgehend durch die experimentelle Gehirnforschung
bestätigt wird.
Dass der gesamte Glücksprozess nur zehn
Sekunden andauert, mag manche enttäuschen und desillusionieren. Mir scheint
allerdings, dass das eine recht gute Erklärung dafür ist, dass zum Beispiel
materiell erzeugte Glücksgefühle nicht lange anhalten, also überhaupt nicht von
Dauer sein können. Ganz im Gegenteil, sie lassen möglicherweise Enttäuschung
zurück und müssen in einem Teufelskreis durch immer neue materiell erzeugte
oder durch Gier gesteuerte Glücksmomente fortgesetzt werden. Wenn es sich nur
um die Teilwahrheiten des Materialismus handelt – wie Nishijima Roshi dies
nennt –, kann es auf diese Weise also keine Weiterentwicklung des Menschen
geben. Es kommt stattdessen darauf an, solche natürlichen Glücksimpulse für
sinnvolle Lebensaufgaben und die Befreiung und Emanzipation zu nutzen, zum
Beispiel um wichtige Lernprozesse zu ermöglichen und dabei vor allem
Kreativität bei der eigenen Weiterentwicklung zu erzeugen. Dadurch werden die
angestrebten Ver-Lernprozesse des
Leidens und der Hemmnisse und die Lernprozesse
zur Befreiung und Erleuchtung in Gang gesetzt
Kapitel
8: Akteur, Tat und Karma
Im vorigen Kapitel untersuchte
Nâgârjuna die Prozesse von Entstehen und Vergehen, ohne die es keine
Überwindung des Leidens und keine Befreiung im dynamischen Ablauf des Lebens
geben könnte.
In diesem Kapitel steht nun die
Dynamik des Handelns im Mittelpunkt. Das Handeln ist durch gemeinsames
Entstehen in Wechselwirkung charakterisiert, und wir müssen es aktiv gestalten,
also Planung, Willen, Energie, Ausdauer und psychisch-geistige Kräfte
einsetzen, um eine Selbstkontrolle, Selbststeuerung und Entwicklung zum Guten
zu erwirken. Nach meinem Verständnis ist dabei zunächst die Frage der Wiedergeburt
weniger wichtig, sondern es geht um weitgehend konkrete Phänomene (Dharmas)
hier und jetzt in ihrer sozialen Umgebung mit den entsprechenden Aufgaben und
Verantwortungen.
Nâgârjuna analysiert gründlich
das Handeln, den handelnden Akteur und
das Ergebnis bzw. die Frucht des Handelns.[26] Nach einer ausführlichen
Untersuchung der unbrauchbaren Doktrinen kommt er zur Beschreibung der
Wirklichkeit als wechselwirkendes
gemeinsames Entstehen für Tat und Akteur. Beim Handeln geht es nicht nur um
körperliche und physische Phänomene, sondern um den ganzen Menschen und nicht zuletzt um sein geistiges und psychisches
Handeln. Dazu gehört auch die Verantwortung des Akteurs für sein Handeln und
die Tat.
Fassen wir den ganzen Prozess
zusammen: Am Anfang steht eine mehr oder minder bewusste Tatabsicht, dann
beginnt und entsteht das eigentliche Handeln und dauert eine Zeit lang an,
wobei eine intensive Wechselwirkung mit der Umwelt, anderen Menschen und sich
selbst, also mit den Komponenten des Menschen, besteht. Danach kommt das
Handeln zur Ruhe und erzeugt Wirkungen und Ergebnisse bei den anderen und beim
Akteur selbst. Manche schlechten Lehrer, die ihre Schülerinnen oder Schüler
missbrauchen, argumentieren, dass sie es ja so
gut gemeint hätten, dass ihre Tatabsichten also edel und ohne Makel gewesen
seien. Aber das reicht nicht, denn es geht um die Wirkungen, Schäden bei den
anderen und die nicht aufzuhebende Verantwortung des Lehrers. Diese wichtigen
ganzheitlichen Fragen von Handeln, Ethik, Folgewirkungen, Ergebnissen und
Verantwortung des Menschen werden in einem späteren Kapitel des MMK wieder
aufgegriffen und vertieft. Hier stehen die Phänomene und Prozesse (Dharmas) im
Vordergrund, die nach der buddhistischen Philosophie vereinfacht als „Elemente
der Welt und des Menschen“ verstanden werden.
Nâgârjuna gelingt es, mit den
Klarstellungen zum rechten Verständnis der Phänomene und Prozesse von Tat und
Akteur die Grundlagen für die weiteren Analysen im MMK zu legen. Vor allem wird
die Doktrin von unveränderlichen isolierten Substanzen als Kern der Dharmas
falsifiziert. Gleiches gilt für die Doktrin des Momentanismus, die eine Folge
isolierter Momente und Ereignisse („Zeit-Atome“) behauptet. Auch sie ist für
die Erklärung von zusammenhängenden Prozessen unbrauchbar und für wirkliche
Befreiungs- und Emanzipationsprozesse völlig ungeeignet.
Nachdem Nâgârjuna die Beispiele von einem statischen,
isolierten und sogar erstarrten Akteur, einer isolierten Tat und einem
isolierten Ergebnis der Tat falsifiziert hat, kommt er zu seiner positiven und
klaren Aussage vom wahren Handeln als
lebendiger Prozess im wirklichen Augenblick, also zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada).
Allein mit diesem Ansatz sei die buddhistische Lehre der Wirklichkeit sinnvoll und
praktikabel.
Im Rahmen der Wechselwirkungen
in unserem Leben ist es das Ziel des buddhistischen Weges, den Raum für
Entscheidungen und Handlungen nach ethischen Gesichtspunkten zu vergrößern. In
der Wechselwirkung entsteht nach der buddhistischen Theorie und Praxis die Kraft zur Selbststeuerung für das eigene
Handeln, die eigene Planung und die Verarbeitung von schwierigen psychischen
Erlebnissen der Vergangenheit. Aus meiner Sicht sind das die wesentlichen
Aspekte der Überwindung des Leidens, die Buddha bei den Vier Edlen Wahrheiten
und im Achtfachen Pfad beschrieben hat. Sie sind unauflösbar mit unserem
Handeln als dynamische Phänomene verbunden.
Eine große Bedeutung hat dabei
die unmittelbare Erfahrung des Handelns
im Augenblick. Hier sind der Ablauf des Prozesses und der genaue Augenblick
im Prozess nicht voneinander zu Mittlerer Weg (MMK) von Nagarjuna trennen, sondern bedingen sich
gegenseitig: Die größtmögliche Wirklichkeit wird im Augenblick erreicht, aber
sie ist ohne den zeitlichen Prozessablauf nicht wirklich. Beide bedingen sich
gegenseitig und können nicht sinnvoll getrennt werden. Dies wird besonders im
Zen herausgearbeitet.
Außerdem ist das Handeln die
wesentliche Grundlage des Erwachens und der Erleuchtung, die sich weder durch
Idealismus noch durch Materialismus verwirklichen lassen. Nâgârjuna beschäftigt
sich sehr präzise mit dem Handeln und hält eine Verkürzung auf die Frage der
Wiedergeburt nicht für sinnvoll.
Nâgârjuna warnt in diesem
Kapitel davor, an Doktrinen von isolierten unveränderlich existierenden
Phänomenen (Dharmas), Taten, Ergebnissen und Akteuren zu glauben, weil sie dem
Kern der buddhistischen Lehre von Wandel, Befreiung und Emanzipation radikal
widersprechen. Die guten Ergebnisse des Handelns, auch Früchte genannt, sind
Phasen eines dynamischen Prozesses, der in Wechselwirkung mit anderen
dynamischen Faktoren ist. Die Doktrinen des Substantialismus und Momentanismus
werden daher von Nâgârjuna destruiert, weil sie die buddhistische Lehre der
Befreiung vom Leiden und der Weiterentwicklung und Emanzipation gefährden.
Statik und Erstarrung durch
Vorurteile, Dogmen, fixierte Selbstbiografien, narzisstische Blasiertheit und
idealistische Leidensstarre sind mit dieser Dynamik gerade nicht in Einklang zu
bringen. Fundamental ist dagegen das feste Vertrauen auf Veränderungen im
Leben. Ein solches Vertrauen erfordert selbstverständlich den Mut zur eigenen
Veränderung.
Im Buddhismus kommt dem Begriff Ergreifen eine große Bedeutung zu.
Ergreifen heißt, dass wir uns bestimmte Konzepte, Strukturen, aber auch
Vorurteile und Weisheiten im Lauf unseres Lebens wie unveränderliche Dinge und
Entitäten aneignen. Nâgârjuna hat daher bei dieser Semantik grundsätzliche
Bedenken. Wir dürfen uns dabei auch nicht wie dressierte Tiere oder elektronisch
gesteuerte Automaten verhalten, denn diese haben keinen Geist, keine Psyche,
keinen Willen und keine eigene Entscheidungskraft. Im Rahmen der
Wechselwirkungen unseres Lebens ist es allerdings das Ziel des buddhistischen
Weges, den Freiraum für Entscheidungen und Handlungen nach ethischen
Gesichtspunkten auszuweiten. Durch einen solchen Gewinn an Freiheit vergrößern
wir unsere Zufriedenheit und Lebensqualität ganz erheblich. Auf diese Weise
entsteht durch die buddhistische Theorie und Praxis zunehmend die Kraft der Selbststeuerung für das eigene
Handeln und die Fähigkeit zur Überwindung des Leidens. Auch Dôgen betont die
große Bedeutung des Handelns auf dem Achtfachen Pfad.
Nishijima
Roshi sagt: „Obgleich es immer wieder
Momente gibt, in denen wir handeln, ohne dass wir uns dessen voll bewusst sind, ist es die reale Wirklichkeit, genau wenn wir
handeln. Beim Handeln gibt es zwar ein mitlaufendes Bewusstsein, und viele
Handlungen im täglichen Leben sollten bewusst und achtsam durchgeführt werden.
Aber das Denken steht beim Handeln nicht
im Vordergrund und ist oft sogar störend. Dies gilt besonders, wenn wir
intensiv oder krampfhaft auf das Ergebnis unseres Handelns, das wir anstreben
oder fürchten, fixiert sind, weil wir vielleicht versagen könnten.“ Demnach ist
oft die Maxime „Just do it!“ sehr sinnvoll.
Kapitel 9: Wahrnehmung, unabhängige Existenz und das buddhistische Selbst
In diesem Kapitel untersucht Nâgârjuna die Doktrin, dass
eine Entität bereits vor der Wahrnehmung existiert, also dass jemand schon da
ist, bevor die Sinnestätigkeiten wie Sehen, Hören, Fühlen usw. in Funktion
sind.[27] Auch
die Sinnesorgane werden dabei als selbstständige Entitäten betrachtet. Dies war
die Vorstellung der vorbuddhistischen Inder, der Upanishaden. Sie glaubten an
einen ewigen unveränderlichen Wesenskern, das âtman-Selbst, das unverändert durch sehr viele
Wiedergeburten wandert und dann jeweils neu die entsprechenden
Sinnestätigkeiten ergreift.
Aber auch im Buddhismus
entwickelten sich ähnliche Doktrinen, zum Beispiel der Substantialismus der
Sarvastivadins. Diese hielten zwar an Buddhas Lehre fest, dass der Mensch
insgesamt veränderlich und ohne âtman sei, aber sie behaupteten, dass die
Elemente der Welt und des Menschen, die Dinge und Phänomene (Dharmas),
unveränderlich und ewig seien. Auch die fünf Komponenten des Menschen, die
Skandhas (körperliche Form, Empfindung, Denken, formende und prägende Kräfte
sowie Handeln und Bewusstsein), und die anderen Dharmas der Sinnestätigkeiten
seien ewig und nicht veränderlich. Das Grundmodell dieser Doktrin ist letztlich
auch, dass der wesenhafte Kern des Menschen bei der Wiedergeburt die
verschiedenen spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten für das jeweilige neue
Leben ergreift. Durch ethisch
schlechtes Handeln (Karma) erlange er eine schlechte Wiedergeburt und durch
ethisch gutes Handeln entsprechend eine gute Wiedergeburt.
Diese Doktrin war verbunden mit
dem Glauben an eine unveränderliche
Substanz (svabhâva) der Dharmas,
die mit unseren Sinnesorganen nicht wahrzunehmen, also unsichtbar sei. Demnach
wäre ein solcher substantialistischer Kern der Dinge und Phänomene schon vorher
da, und erst danach würden die jeweiligen Eigenschaften und Fähigkeiten des
Sehens, Hörens, Fühlens usw. hinzukommen.
Der wahre Buddhismus lehnt den Glauben
an einen unveränderlichen âtman oder eine ewige Substanz jedoch ab und bietet
gerade keine scheinbar einfache Lehre für die Wiedergeburt und das „Ergreifen“
der Wahrnehmung an. Dementsprechend kritisiert Nâgârjuna die
substantialistische Doktrin ganz entschieden und destruiert sie in diesem
Kapitel mit philosophischer Präzision, indem er die inneren Widersprüche
deutlich aufzeigt. Dabei untersucht er, ob es nach der authentischen
buddhistischen Lehre möglich ist, dass ein irgendwie geartetes unabhängiges substantialistisches Dharma
oder Selbst von den wichtigen Sinnesfunktionen getrennt existieren kann, um
sich dann auf irgendeine metaphysische
Weise mit ihnen zu verbinden.
Ohne Frage haben Menschen schon
immer die Sehnsucht nach einem Wesenskern gehabt, der von
Natur aus eigentlich rein, unbefleckt und möglichst unveränderlich ist,
allerdings aber im Lauf des Lebens durch falsches Denken und Handeln
„Befleckungen“ aufweist. Was sagt der Buddhismus dazu?
Solche Doktrinen stimmen mit
Buddhas Lehre nicht überein. Die Skandhas des Menschen entwickeln sich nach den
bisherigen Untersuchungen in einem zeitlichen interaktiven Prozess
wechselwirkend und dynamisch vernetzt. Buddha und Nâgârjuna nennen diese
Vernetzung pratitya samutpada,
„gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung“. Wir dürfen also nicht den Fehler
machen, uns auf Extreme zu fixieren, zum Beispiel dass „etwas total existiert“
oder „etwas total nicht existiert“. Solche Extreme gehören zu einer Kategorie
von metaphysischen Aussagen im Sinne eines logischen exklusiven
„Entweder-Oder“. Beide extreme Ansichten lassen sich in der Wirklichkeit nicht
finden und sind gedankliche und konzeptuelle Übertreibungen, mit denen man den
Mittleren Weg verfehlt. Dies trifft auch auf die Doktrin vom Selbst und den Sinnesfunktionen
als Entitäten zu. Solche Ideologien sind gefährliche Ursachen des menschlichen
Leidens und wurden von Buddha im Sûtra für Kaccâna präzise destruiert.
Nâgârjuna führt eine entsprechende Destruierung in den folgenden Versen durch.
Nâgârjuna zeigt in diesem
Kapitel auf, dass es niemanden gibt, der unabhängig von seinen eigenen
Wahrnehmungen und Komponenten (skandhas)
existiert. Dies gilt sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart
und Zukunft. Die Trennung und Unabhängigkeit der Sinneswahrnehmungen sowie der
Empfindungen von einem ebenfalls unabhängigen Selbst erweist sich als ein Denk-
und Glaubenskonstrukt, ein Fantasiegebilde und eine realitätsferne unbrauchbare
Doktrin. Sie kann das Werden und Entstehen sowie die Wechselwirkung der
Wahrnehmungen untereinander und mit dem lebenden Menschen als Prozess nicht
sinnvoll erfassen. Die Befreiung und Emanzipation der Sinneswahrnehmungen von
falschen und unheilsamen Ideologien und Dogmen sind von großer Bedeutung. Die
Wirklichkeit der Sinneswahrnehmung muss ohne Ideologien erfahren und gedacht
werden.
Kapitel 10: Brennstoff und Feuer – ein Gleichnis
des wahren Lebens?
Die Extreme der absoluten Identität oder Differenz
Das Thema Feuer und Brennstoff
hatte schon vor der Zeit Buddhas eine große Bedeutung für die Menschen in
Indien und gab Anlass zu vielfältigen philosophischen Überlegungen, aber auch
zu abstrakten Spekulationen. Feuer oder Wärme ist im Weltbild der alten Inder
ein materielles Element. Dies mag uns
überraschen, da wir uns unter Materiellem etwas Festes, Flüssiges oder
Gasförmiges vorstellen, aber nicht Wärme, Feuer und Hitze. Gleichwohl ist Wärme
auch aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht mit den materiellen
physikalischen oder chemischen Prozessen der Oxidation verbunden.
Den physikalischen Prozess des
Brennens und der Freisetzung von Hitze kann man wie folgt erklären: Die
materielle Bindungsenergie des Brennstoffes oder Feuerholzes wird nach dem
Anzünden in Wärme umgewandelt und zum Beispiel in die Luft abgegeben. Das
heißt, durch die Trennung der in der Materie gebundenen Elemente wird deren
Bindungsenergie freigesetzt. Die Masse bleibt beim Verbrennungsvorgang
erhalten, und der Brennstoff wandelt sich in Asche und Gase um, die in die Luft
entweichen. Hauptsächlich wird dabei Kohlendioxid frei.
Beim Brennen handelt es sich
also um einen wechselwirkenden Prozess zwischen Brennstoff und umgebender Luft.
Das Feuer brennt so lange, wie frischer Brennstoff vorhanden ist. Nur ein
systemhafter Ansatz kann diese materielle Wirklichkeit einigermaßen
zufriedenstellend beschreiben. Während die Lichtenergie, die beim Brennen
abgegeben wird, direkt wahrgenommen werden kann, sind die entstehenden Gase für
unsere Augen unsichtbar. Wenn fester Kohlenstoff als Verbrennungsrückstand in
Form von Rauch abgegeben wird, ist er wiederum sichtbar. Ohne dieses heutige
physikalische Verständnis, das den Indern noch nicht zur Verfügung stand, ist
der Prozess des Verbrennens naturwissenschaftlich nicht zu verstehen,
wenngleich er durchaus plausibel beschrieben werden kann.
Aus den obigen rein materiellen
Überlegungen wird bereits deutlich, dass die naiven Aussagen, der Brennstoff sei total identisch mit dem Feuer
oder total verschieden vom Feuer, ein unzureichendes und zu
sehr vereinfachtes Modell des Gesamtsystems sind. Das Modell von Feuer und
Brennstoff war einer der zentralen Beweise der Substantialisten für die
absolute Trennung und Differenz von Dingen und Phänomenen, den Dharmas.[28] Hier setzt Nâgârjuna seine
De-Konstruktion mit seiner typischen philosophischen Präzision an. Er
untersucht in diesem Kapitel die beiden extremen damaligen Doktrinen der
absoluten Differenz und der absoluten Identität, die Folgendes postulierten:
– Brennstoff und Feuer sind total identisch, und daher muss das Feuer
im Brennstoff bereits vollständig enthalten sein, oder
– Brennstoff und Feuer sind total verschieden, getrennt und
voneinander unabhängig.[29]
Dabei muss mitgedacht werden,
dass das Feuer häufig mit dem âtman-Selbst der vorbuddhistischen Zeit
gleichgesetzt und der Brennstoff auch mit dem Karma aus vorherigen Leben
identifiziert wurde. Zweifellos handelt es sich beim Feuer und Brennen um
komplexe und stark vernetzte Vorgänge, die Ähnlichkeiten mit lebenden Systemen
haben. Trotzdem halte ich solche Analogien für grundsätzlich problematisch,
wenngleich sie gerade im Volksbuddhismus immer wieder anzutreffen sind. Oft
sind sie wenig geeignet oder sogar irreführend, um psychische, soziale,
biologische und vor allem spirituelle Wechselwirkungen zu beschreiben.
Nâgârjuna baut seine Destruktion
der falschen Lehre von Brennstoff und Feuer darauf auf, dass er sie zunächst
aus der Perspektive der Substantialisten als konstante, unveränderliche und
isolierte Entitäten beschreibt (bhâva).
Die Substantialisten behaupteten, es gebe keine Übergänge zwischen den
Entitäten: Helligkeit schlage unvermittelt und abrupt in Dunkelheit um.
Nâgârjuna argumentiert mit dem Begriff der Leerheit
und verneint eine substantialistische konstante und inhärente Entität, also eine unveränderliche Existenz im Feuer und Brennstoff. Zudem
schlägt er die Brücke zum gemeinsamen
Entstehen in Wechselwirkung (pratitya
samutpada), das in der Präambel des MMK als richtiger und authentischer
Buddha-Dharma bezeichnet wird und zu einer klaren Sicht der Wirklichkeit und
damit zu erfülltem und freudigem Leben führt.
Kurz gesagt destruiert Nâgârjuna
anhand des Gleichnisses von Feuer und Brennstoff die Doktrin der konstanten
unveränderlichen und jeweils getrennten Entitäten. Mit diesem Kapitel
erarbeitet er eine wichtige Grundlage für die folgenden Analysen und
Richtigstellungen. Brennstoff und Feuer sind vernünftigerweise nur als
verbundener Prozess zu verstehen. Gerade für das Feuer und den
Verbrennungsprozess sind sowohl phänomenologische Klarheit als auch die
mögliche symbolische Bedeutung im Buddhismus von großer Wichtigkeit: Das Feuer
verzehrt den Brennstoff, nachdem es einmal entzündet wurde, und zwar so lange,
bis der Brennstoff aufgebraucht ist. Dieser Prozess legt zwar eine gewisse
Analogie zum Leben nahe, die aber nicht überdehnt werden darf. Menschen leben
nicht isoliert, sondern sind in dauernder Wechselwirkung mit anderen, mit der
Umwelt sowie mit schriftlichen und mündlichen Informationen. Sie verändern sich
dauernd, wie die aktuelle Gehirnforschung einwandfrei nachgewiesen hat. Das
wechselwirkende gemeinsame Entstehen bezeichnen Buddha und Nâgârjuna als
bestmögliche Beschreibung und bestmögliches Verständnis der Wirklichkeit. Dem
folge ich.
Nâgârjuna untersucht auch,
welche Verbindungen und Trennungen zwischen verschiedenen Dingen und
Phänomenen, den Dharmas, vorkommen und welcher Ansatz dabei unsinnig und
welcher wirklichkeitsnah ist. Auf dieser Grundlage gilt es zu untersuchen, was
Buddhas Ablehnung der Aussagen „etwas
existiert“ oder „etwas existiert nicht“ bedeutet. Diese beiden Extreme
werden als realitätsfremd charakterisiert. „Etwas existiert“ würde bedeuten,
dass es als Entität aus sich selbst
entstanden, unverändert,
unabhängig von allem anderen existiert und sich nicht in Wechselwirkung mit
irgendetwas anderem befinden würde. Diese Doktrin der Sarvastivadins lehnte
Nâgârjuna ab.
„Etwas existiert nicht“
bedeutet, dass ein Ding oder Phänomen, das wirklich beobachtet werden kann, aus
dem Nichts oder etwas ganz anderem entstanden sein müsste und wieder total und
abrupt im Nichts verschwinden würde. Diese Doktrin der Sautrantikas behauptete
total abgegrenzte zeitlich aufeinander folgende Ereignisse (Momentanismus), um
damit Veränderungen und Prozesse im Zeitverlauf zu beschreiben. Das Problem dabei
war, die Verbindung zwischen diesen
Ereignissen phänomenologisch zu begründen. Die Sautrantikas postulierten
deshalb irgendeine Essenz der Verbindung,
die nicht sichtbar, aber doch wirksam sei. Diese Doktrin darf nicht mit der
Lehre des Augenblicks im Zen-Buddhismus verwechselt werden.
Nâgârjuna baut auf vorherigen
Kapiteln auf, wobei in Kapitel 10 des MMK die Verbindung von Dharmas oder Objekten im Mittelpunkt steht. Neben
der Verbrennung führt er das Sehen als System auf, das er bereits untersucht hat.
Es besteht aus dem Objekt, dem Sehprozess als solchem und dem Seher,
also dem Menschen, der sieht. Wenn diese Bereiche als Entitäten aus sich selbst
entstanden, unabhängig und unveränderlich wären, würde es zwischen ihnen keine Verbindung geben. Man könnte dann nicht von
einem wechselwirkenden System reden.
Diese Dreiheit von Subjekt,
Objekt und Prozess zeigt Nâgârjuna exemplarisch auch für andere Bereiche auf.
Dabei betont er, dass etwas nur verbunden werden kann, was nicht total identisch ist. Es könne aber auch keine totale Verschiedenheit oder Differenz zwischen Subjekt und Objekt
und Phänomenen geben. Er analysiert hier das Grundproblem der Philosophie von Identität und Differenz und macht
deutlich, dass das Prinzip der Wechselwirkung in der Lage ist, dieses
angebliche philosophische Paradox der Wirklichkeit aufzulösen.
Nishijima
Roshi bemerkt zu diesem Kapitel: „Das Feuer hat für das praktische
Leben der Menschen seit seiner Kultivierung eine sehr große Bedeutung, zum
Beispiel für die Zubereitung des Essens, beim Kochen und Braten. Dadurch konnte
die Ernährung der Menschen schon in archaischen Zeiten wesentlich verbessert
werden. In kalten Regionen wurde das Feuer darüber hinaus zum Heizen verwendet.
In der frühindischen Religion spielt der Feuergott
eine große Rolle, und die Feuerzeremonien,
die von den Brahmanen ausgeführt wurden, hatten zentrale Bedeutung für das
religiöse Leben und den Glauben.“ Nach Nishijima sind damit drei fundamentale
Bedeutungsfelder des Feuers angesprochen: erstens das Feuer als konkretes
materielles Element, zweitens seine Funktion für den Menschen und drittens,
nicht minder wichtig, die Abstraktion und Vorstellung sowie der Glaube und die Doktrin, was etwa bei den
Feuerzeremonien deutlich wird.
Mit diesem Kapitel schließt
Nâgârjuna seine Untersuchungen zur absoluten Identität und Differenz ab, wobei
er die falsch benutzte Metapher von Feuer und Brennstoff destruiert. Die
Extreme der Identität oder Differenz sind zur Beschreibung und Erklärung der
Wirklichkeit nicht geeignet, und sie führen zu Ideologien und Fundamentalismus.
Durch religiöse Absicherung können daraus unethische Privilegien der Macht- und
Religionseliten zementiert werden. Dies galt zum Beispiel für die „heilige“
Sanktionierung des Kastensystems und die Privilegien der Brahmanen im
vorbuddhistischen Ariertum der Inder.
Aber auch heute sind die Extreme
von dogmatischer Identität und Differenz weit verbreitet. Sie verhindern genaue
phänomenologische Untersuchungen und Erkenntnisse, die für ein gelungenes Leben
nützlich, wenn nicht erforderlich sind. Dafür benötigen wir das Verständnis des
gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung (pratitya
samutpada).
Kapitel 11:
Anfang und Ende – Geburt, Leben und Tod
Der Tod, also das Ende dieses
Lebens, wird in der modernen westlichen Welt weitgehend tabuisiert. Man
empfindet ihn meist als größte Katastrophe des Lebens überhaupt, wenn er
wirklich eintritt. Nur in den virtuellen Scheinwelten der Massenmedien wie
Film, Fernsehen und Playstation dienen Mord und Sterben der alltäglichen
Unterhaltung; sie werden verfremdet, verharmlost, optisch aufwendig gestaltet.
Das ermöglicht es der westlichen Wohlstandsgesellschaft offenbar, die
Auseinandersetzung mit dem realen Tod zu vermeiden.
Kann die Lehre Gautama Buddhas
Lösungen anbieten, die das mit dem Sterben und Tod verbundene psychische und
physische Leiden überwinden oder zumindest erträglich machen? Das
Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und der Lebensängste war eine zentrale
Schicksalsfrage des jungen Gautama, die ihn schließlich sein angenehmes und
wohlhabendes Leben beenden und in die sogenannte Hauslosigkeit gehen ließ. Er
wollte die Wahrheit der Erleuchtung finden. Nach intensiver, aber letztlich
erfolgloser vedischer Meditation sowie vielen Jahren härtester Askese wurde ihm
klar, dass diese beiden Wege nicht weiterführten: weder der religiöse
Idealismus der damaligen Zeit noch die körperzentrierte Askese. Das Ziel der
damaligen Meditation war es, Allwissenheit
wie Brahman zu erlangen.[30] Da
dieses Ziel für einen Menschen nicht erreichbar
ist, musste die gesamte Meditation scheitern. Buddha hat dann das erreichbare
Erwachen als pragmatisches Lebensziel erkannt und nicht zuletzt durch seine
neue Lehre und Praxis der Menschheit neue Möglichkeiten eröffnet. Verkürzt kann
man sagen: Buddha empfahl statt der unerreichbaren Allwissenheit die
realisierbare Befreiung und Erleuchtung in diesem Leben.
Wie verlässlich berichtet wird,
erlangte er die große Erleuchtung und Befreiung der Überwindung des Leidens,
als er in der Morgendämmerung den Morgenstern erblickte. Oder erblickte der
Morgenstern Gautama Buddha? Denn die Auflösung des Dualismus von denkendem Geist und externen Denkobjekten ist wesentlich für seinen radikal neuen
Entwicklungsweg der Befreiung. Dieser Weg vermeidet
alle Extreme, die immer doktrinär überzogen sind und damit die Wirklichkeit
und das Handeln verzerren und verstellen. Die Allwissenheit und die absolute
Wahrheit sind zum Beispiel solche Extreme, die auch im MMK abgelehnt werden.
Extreme wie überzogene Doktrinen
zum absoluten Anfang und absoluten Ende untersucht Nâgârjuna in diesem Kapitel.
Er geht den Fragen nach, was es mit dem Anfang und Ende von Dingen und
Prozessen in der Welt auf sich hat und was wir über den Anfang und das Ende des
Menschen wissen. Dabei falsifiziert er unbrauchbare buddhistische Doktrinen
seiner Zeit, die substantialistische Verdinglichungen und Entitäten beinhalten
und den wechselwirkenden Prozessen des Lebens und des Universums nicht gerecht
werden können. Bereits Buddha hatte klar gesagt, dass der absolute Anfang und
das absolute Ende nicht erforschbar seien und es wenig Sinn mache, sich zu viel
damit zu beschäftigen und so den eigenen Geist nutzlos einzusetzen. Später
wurde diese Aussage Buddhas durch eine ungenaue Übertragung aus dem Pali in Sanskrit
so verändert, dass sie lautete, es gebe keinen Anfang und kein Ende. Es muss
also statt „Anfangslos ist die Welt“ richtig heißen: „Der Anfang der Welt kann
nicht erfasst werden.“
Nâgârjuna arbeitet heraus,
welche unsinnigen Konsequenzen sich aus der Annahme von substantialistischen
Entitäten oder isolierten, unverbundenen Dingen ergeben.[31] Dann
hätten diese jeweils ein eigenes ewiges Wesen, es gäbe auch keine Mitte und
kein Jetzt, keinen gegenwärtigen Augenblick und keine Sein-Zeit, denn dabei
sind prozesshafte Veränderungen maßgebend. Daher bedarf es auch im Buddhismus
mutiger Reformatoren, die zu neuen Ufern der Menschlichkeit aufbrechen. Für
mich ist Gautama Buddha wie kaum ein anderer ein solcher großer Mensch und
wahrer Humanist. Nâgârjuna und Dôgen führen diese Arbeit fort und bringen sie
in unsere moderne Zeit.
Alter und Tod sind
Wirklichkeiten in dieser Welt, die nicht wegdiskutiert werden können und bei
allen philosophischen Untersuchungen als Realität vorauszusetzen sind.
Besonders große Ängste vor dem Tod sind bei Menschen zu beobachten, die am Ende
ihres Lebens den Eindruck haben, dass sie zu wenig aus ihrem Leben gemacht und
zu wenig gehandelt haben. Wenn dagegen aufgrund eigener Aktivitäten bestimmte
Fehler entstanden sind, wird dies im Allgemeinen weniger negativ empfunden, als
wenn man vielfältige Chancen nicht genutzt hat. Leider zielt die finanzstarke
Unterhaltungsindustrie der Massenmedien oft genau darauf ab, durch
spannungsreiche Darstellungen die Langeweile und Einsamkeit vieler oft alter
Menschen scheinbar zu vertreiben. In den letzten Jahren sind zusätzlich die
angeblich sozialen digitalen Netzwerke hinzugekommen, die weitgehend
sinnentleerte Informationen beinhalten und die Isolation gerade älterer
Menschen weiter verschärfen.[32]
In diesem Kapitel warnt Nâgârjuna vor spekulativen
und oft Angst auslösenden Gedanken über das Altern und Sterben. Er destruiert
absolutistische Doktrinen, die einen absoluten Anfang des Lebens postulieren,
ohne dafür plausible Gründe oder Beweise anzugeben. Der naive Glaube an die
Wiedergeburt ist in diesem Zusammenhang auch heute in manchen esoterischen
Gruppen anzutreffen: Viele behaupten zum Beispiel, die Wiedergeburt von
berühmten Persönlichkeiten wie Kleopatra oder Alexander dem Großen zu sein. Buddha
und Nâgârjuna empfehlen aber eindeutig, sich nicht mit solchen Spekulationen
und doktrinären Fantasien zu beschäftigen. Wenn endloses Grübeln den eigenen
Geist beherrscht und verdunkelt, bleiben nämlich die Pragmatik des Lebens, die
Lebensfreude, die Überwindung des Leidens und die Befreiung zu einem
glücklichen Leben auf der Strecke.
Kapitel 12: Leiden und Schmerzen sind nicht
dauerhaft und können zur Ruhe kommen
Die Überwindung von Leiden und
Schmerzen ist ohne Zweifel die wichtigste praktische Lehre Gautama Buddhas und
von größter Bedeutung in der Geschichte der Menschheit.[33] Aus
der Überwindung können wir unsere Freiheit, Kreativität und unser Erwachen
entwickeln. Aus meiner Sicht ist Buddhas Lehre der erste große Schritt zu einer
humaneren Lebenswelt. In den berühmten Vier
Edlen Wahrheiten wird in einer klaren Sprache vermittelt, dass das Leiden
in dieser Welt eine oft bedrückende Wirklichkeit ist, die zwar nicht
wegdiskutiert werden kann, aber das Leiden kann zur Ruhe kommen und überwunden
werden.
In den vier Schritten zur
Wahrheit werden zunächst die Hauptbereiche des Leidens geschildert, danach
folgen die grundsätzlichen Aussagen zum Entstehen und die Anleitung, wie das
Leiden überwunden werden kann. Im Achtfachen
Pfad beschreibt Buddha schließlich im Einzelnen in acht Gliedern und
Prozessen, wie wir den Weg aus dem Leiden und den Schmerzen gehen können. Dabei
lautet eine typische Formulierung des ersten Glieds, dass wir die rechte Sichtweise haben sollten, und im
achten Glied, dass wir die rechte
Meditation und Vertiefung praktizieren sollten. Der Begriff „recht“ hat
hierbei zwei zentrale Aspekte: Zum einen geht es darum, korrekt, sachgerecht
und richtig zu handeln, und zum
anderen, dass das Handeln ethisch
einwandfrei ist. Denn ohne Ethik und Moral gibt es nach Buddha keine
Überwindung des Leidens, keine Erleuchtung und keine Befreiung.
Die Vier Edlen Wahrheiten und
der Achtfache Pfad sind als Lern- und Emanzipationsprozess formuliert. Und es
handelt sich ja zweifellos um einen fundamentalen Lernprozess für die Menschen,
aus oft unnötigen und selbst erzeugten Leiden herauszukommen und schließlich
Erleuchtung zu erlangen. Gautama Buddha erklärt, dass dies im jetzigen Leben
grundsätzlich für jeden möglich sei. Besonders aufschlussreich ist zum Beispiel
sein Gleichnis, das von einem Massenmörder handelt, der in die Sangha eintritt
und durch ausdauernde Praxis und Schulung tatsächlich Erleuchtung erlangt.
Mit dem Achtfachen Pfad möchte
Buddha meines Erachtens deutlich machen, dass es unbedingt notwendig ist, eine
gründliche Selbstanalyse von Körper, Gefühlen, Geist und Psyche durchzuführen.
Ein guter Lehrer oder Therapeut kann hierbei natürlich sehr hilfreich sein.
Nach meinem Verständnis ist es erst im Einklang mit einer solchen Selbstanalyse überhaupt möglich, Klarheit über sich
selbst und die Welt zu erlangen. Im Buddhismus gelten keine dogmatischen
moralischen Regeln, die eventuell sogar mit Gewalt durchgesetzt werden, sondern
es bedarf einer gründlichen, möglichst vorurteilsfreien und konzeptfreien
Betrachtung von sich selbst, die in einem immer feiner werdenden Lernprozess
die nötige Transparenz ermöglicht. Sie ist die wesentliche Voraussetzung für
klares ethisches Verhalten, für rechtes und verantwortungsvolles Denken,
Handeln und Reden. Dafür müssen wir aus egoistischer Verhärtung und
narzisstischer Isolierung herauskommen, denn negative Bewertungen und
Vorurteile erzeugen meist Starrheit und Unbeweglichkeit sowohl anderen als auch
sich selbst gegenüber (Näheres zu den Vier
Edlen Wahrheiten und zum Achtfachen
Pfad siehe Hauptkapitel 2 im vorliegenden Band, Unterkapitel „Worte des
Erwachten“).
Häufig hört und liest man, der
Buddhismus würde lehren, dass alles,
also unser ganzes Leben, Leiden sei
und dass wir uns in angeblich glücklichen Augenblicken nur einbilden, wirklich
glücklich zu sein. Dies seien aber alles nur oberflächliche Illusionen. Ich bin
dagegen der festen Überzeugung, dass der Buddhismus eine optimistische,
praktische Philosophie ist, die vor allem soteriologische und therapeutische Wirkungen
entfaltet. Buddha hat im Sûtra für Kaccâna
(siehe Hauptkapitel 2, Abschnitt „Worte des Erwachten“) ganz klar gesagt,
dass die Extreme „Etwas existiert“
oder „Etwas existiert nicht“ wenig
sinnvoll und nicht realitätsgerecht sind, beide Extrem-Aussagen seien für den
buddhistischen Weg unbrauchbar. Die Aussage „Alles ist Leiden“ ist aus meiner Sicht ebenfalls eine solche Extrem-Aussage, die genauso falsch ist
wie die Aussage „Das Leiden ist das
Nichts“. Sie wird daher auch von Nâgârjuna für die praktische Mittlere
Philosophie und den Mittleren Weg grundsätzlich abgelehnt.
Der Mittlere Weg meidet alle
Extreme, die ideologisch verzerrt und überzogen sind, und entwickelt gerade
dadurch seine große Nähe zur Wirklichkeit und Wahrheit. Extreme Ideologien und
Doktrinen unwirksam zu machen, ist aus meiner Sicht eine ganz wesentliche
Bedeutung des Begriffs Leerheit.
Nâgârjuna bezieht sich nachdrücklich auf die Vermeidung von Extremen und
empfiehlt den Mittleren Weg, der Voraussetzung für ein gelungenes Leben sei,
große Kräfte entwickle und zur Erleuchtung führen könne.
Nishijima
Roshi ergänzt zum Thema Leiden: „Der Begriff des Leidens hat ein weites Spektrum von
Bedeutungen. Er bezeichnet zum einen physisches Leiden, zum Beispiel
körperliche Schmerzen bei Verletzungen oder Krankheiten oder sogar absichtlich
zugefügte Schmerzen bei der Folter.“ In diesem Zusammenhang möchte ich noch
Vergewaltigungen und Kindesmissbrauch nennen. Besonders in der modernen
westlichen Welt gäbe es zudem sehr schwere psychische Leiden, die eigentlich
keine körperliche Ursache hätten, so Nishijima. Sie könnten durch den Stress,
die ruhelose Hektik und Einsamkeit des modernen Menschen entstehen. Oft handle
es sich um unerklärbare Ängste vor Gefahren, die kaum konkret bestimmt werden könnten.
Für einen Außenstehenden sei es häufig kaum nachvollziehbar, warum diese
psychischen Leiden so virulent seien. „Besonders seelisch-psychisches Leiden
und große Schmerzen können gewaltige negative Kräfte entwickeln, die für den
leidenden Menschen an die Grenzen des Ertragbaren gehen können“, fasst er
zusammen.
„Der Mittlere Weg ist wesentlich
mit der einzigartigen Praxis des Zazen, also des Samâdhi im frühen Buddhismus,
und den Sûttas Gautama Buddhas verknüpft. Wer das Gleichgewicht der
Zen-Meditation realisiert, kann sein Leiden im Leben ganz wesentlich
verringern“, betont Nishijima. Schon Buddha habe mit dem Weg der Vier Edlen Wahrheiten die klare Richtung
vorgezeichnet, wie das Leiden erkannt, lokalisiert und überwunden werden könne.
Nicht zuletzt darin liege die große Kraft des Buddhismus. Dieser Weg sei sehr
konkret und eigentlich eher therapeutisch und nüchtern: „Er ist frei von
Mystifizierungen und magischen Täuschungen und Beschwörungen.“
Nâgârjuna behandelt das Problem
des Leidens und der Schmerzen im MMK verhältnismäßig kurz und kompakt. Es geht
ihm vor allem darum, die weitgehend unbrauchbaren oder sogar falschen Annahmen
einiger buddhistischer Doktrinen seiner Zeit genauer zu analysieren. Dazu zählt
hauptsächlich der Substantialismus, der davon ausgeht, dass die Dinge und
Phänomene (Dharmas) einen unveränderlichen und sogar ewigen Kern, also eine
Substanz, haben. Diese Substanz soll zwar irgendwie geworden und entstanden
sein, aber sie wird als konstant, unveränderlich und isoliert von anderem
angenommen. Da ein solches Substanzmodell der Dharmas und sogar des Menschen
wegen der fehlenden Wechselwirkung mit anderen sehr abstrakt und
wirklichkeitsfremd ist, kommt Nâgârjuna zu dem Schluss, dass mit diesem Ansatz
das Leiden überhaupt nicht sinnvoll erkannt und nicht überwunden werden kann:
Wenn der Kern oder die Substanz des Menschen unveränderlich wäre, dann wäre
auch sein Leiden unveränderlich und hätte Substanzcharakter. Leiden und
Schmerzen wären unheilbar und könnten nicht zur Ruhe kommen. Das kann aber bei
genauer Analyse in der Wirklichkeit nicht beobachtet werden.
Nâgârjuna untersucht in diesem
Kapitel des MMK detailliert die möglichen Varianten, die sich aus der Doktrin
des Substantialismus ergeben können, und zeigt auf, dass sich alle als unsinnig
erweisen. Ihnen stellt er die zentrale Botschaft Buddhas gegenüber, nämlich
dass wir uns in Wechselwirkung unserer eigenen Komponenten, mit anderen
Menschen und der Umgebung aus Schmerz und Leiden befreien können. Das ist der
wirkungsvolle emanzipatorische und therapeutische Weg Buddhas. Er kann aber nur
wirklich begangen werden, wenn wir die Doktrinen und Weltanschauungen
getrennter isolierter Entitäten oder Substanzen aufgeben und das in der
Präambel vorgestellte gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung klar erkennen und
zur Grundlage unseres eigenen Lebensweges machen, unseren Geist und unsere
Psyche also von unheilsamen Dogmen und Doktrinen befreien. Diese Befreiung und
Emanzipation bezeichnet Nâgârjuna als Leerheit.
Das Leiden und der Schmerz können weder verstanden
werden noch zur Ruhe kommen, wenn die Doktrin von isolierten, unveränderlichen
und substantialen Entitäten
angewendet wird. Vielmehr muss die Lehre des gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens zugrunde gelegt werden.
Nâgârjunas Beweisführung gilt nicht nur für Leiden
und Schmerzen, sondern generell für unser Leben, alle Lebewesen, das Seiende
sowie alle Dinge und Phänomene dieser Welt, die ebenfalls durch
wechselwirkendes Entstehen gekennzeichnet sind. Nichts kann ohne kausale Verknüpfungen
bzw. veranlassende Impulse, die sich in Wechselwirkung befinden, entstehen oder
gemacht werden.
In diesem Kapitel analysiert
Nâgârjuna die zentrale Botschaft vom wirkungsvollen emanzipatorischen und
therapeutischen Weg Buddhas. Dieser Weg ist aber nur wirksam, wenn wir die
Doktrinen und Weltanschauungen getrennter isolierter Entitäten aufgeben und die
in der Präambel des MMK vorgestellte Lösung des gemeinsamen Entstehens in
Wechselwirkung realisieren. Nishijima Roshi formuliert dies so: „Der Mittlere
Weg ist mit der einzigartigen Praxis des Zazen, also des Samâdhi im Zen,
verknüpft. Wer das Gleichgewicht der
Zen-Meditation realisiert, kann sein Leiden im Leben ganz wesentlich
verringern.“ Das gelte für die Vier Edlen
Wahrheiten und den Achtfachen Pfad. „Darin liegt nicht
zuletzt die große Kraft des Buddhismus. Dieser Weg ist sehr konkret und
eigentlich eher therapeutisch und nüchtern. Er ist frei von Mystifizierungen,
magischen Täuschungen und Beschwörungen.“
Kapitel 13:
Formende Kräfte, Verhaltensmuster, Prägungen und die Leerheit von unheilsamen
Doktrinen
Erstarrte, unheilsame und doktrinäre Verhaltens- und Denkmuster führen zu
Unfreiheit und Leiden. Wir müssen sie also überwinden, zur Ruhe kommen lassen
und zur Leerheit gelangen.[34]
Diese Leerheit eröffnet uns den Zugang zum Befreiungsweg der Mitte, wie
Nâgârjuna es sagt.[35] Die
Mitte bedeutet unser Gleichgewicht in der Dynamik des Lebens, das sind unser
guter Flow und die Überwindung von Extremen, die nicht mit der Wirklichkeit
übereinstimmen. Aber das ist sicher einfacher gesagt als verwirklicht. Viele
Menschen identifizieren sich sogar mit ihren Vorurteilen, Mustern und
eigentlich unheilsamen formenden Kräften und meinen, diese seien ihr Wesen,
ihre Persönlichkeit.
In diesem Kapitel des MMK geht es um Verhaltensmuster, Prägungen und
formende psychische und geistige Kräfte sowie deren Veränderung, es geht um
Wandel und vor allem um Befreiung von Fixierungen. Damit erarbeitet Nâgârjuna
wichtige Grundlagen für die weiteren Analysen im MMK, wie das Leiden zur Ruhe
kommen kann, wie festgefahrene restriktive Muster und hemmende Strukturen von
Psyche und Geist überwunden werden und Körper, Geist und Psyche zu neuem Leben
und zum Heilsamen verändert werden können. Denn im Buddhismus gibt es die klare
Wahrheit, dass sich alles verändert, im Wandel ist und dass es nichts
Dauerhaftes, Absolutes und Ewiges gibt. Unveränderliches existiert nur in
Doktrinen, Ideologien und unheilsamen Sichtweisen, aber nicht in der erlebbaren
Wirklichkeit. Auch wenn Idealisten und Romantiker dies vielleicht bedauern
mögen, ich verstehe es als Chance und Hoffnung.
Die ständig stattfindenden Veränderungen gelten nicht nur für Lebewesen,
sondern auch für Materie. Wir wissen, dass unsere Erde etwa sechs Milliarden
Jahre alt ist und sich dauernd verändert. Nach heutiger Forschung gibt es seit
mindestens etwa drei Milliarden Jahren Lebewesen auf der Erde und seit rund 700
Millionen den wichtigen Botenstoff Serotonin, der wesentliche Funktionen der
Lebewesen – vor allem des Gehirns –
steuert.
Zu den sehr schellen Veränderungen der Erde gehören nicht nur
Vulkanausbrüche, Wärme- und Kaltperioden, sondern auch Katastrophen wie
Sturmfluten, Tsunamis, Hurrikans oder Einschläge von Meteoriten. Jeder, der die
Welt beobachtet, wird zustimmen, dass es auch über längere Zeitperioden immer
zu Veränderungen kommt. Beim Menschen können es zum Beispiel Veränderungen zum Schlechteren, etwa Krankheiten,
Trennungen, depressive Phasen oder Verarmung sein, es können aber auch
Veränderungen zum Besseren geschehen,
beispielsweise durch Lernprozesse, Befreiungsprozesse, materiellen Fortschritt,
eine neue gute Partnerschaft oder Genesung von einer schweren Krankheit. Es ist
einleuchtend, dass es keine dauerhaften unveränderlichen
Existenzen in der realen Welt geben kann, weder bei der Materie noch bei
den Lebewesen. Hier unterscheidet sich der Buddhismus von den westlichen
Philosophien, die unveränderliche Ideen (Platon) oder das unveränderliche Sein
in den Mittelpunkt der geistigen Analysen stellen.
Wenn man an eine ideelle oder religiöse Andersartigkeit glaubt, zum
Beispiel einen Gott, den Aristoteles den „Unbewegten Beweger“ nennt, gäbe es
eine dauerhafte Existenz. Im Brahmanismus gilt die ewige Unveränderlickeit vor
allem für Brahman und Âtman. Buddha und Nâgârjuna konzentrieren sich jedoch auf
die Welt der Beobachtungen und auf die Erfahrungen unseres Lebens, in dem es
eben keine dauerhafte unveränderliche
Existenz und keinen plötzlichen totalen zeitlichen Abbruch der Phänomene
und Prozesse gibt, sondern das Entstehen in Wechselwirkungen. Um diese genau zu beobachten und zu erfahren, bedarf es der geschulten
Achtsamkeit. Sie ist gewissermaßen die Richtschnur und wichtige Methode der
eigenen Entwicklung und Befreiung. Die Frage ist nun, wie wir unser Leben emanzipativ und
therapeutisch gestalten können, um Hemmnisse zu überwinden und die Prozesse des
Erwachens zu beleben und zu aktivieren.
Nâgârjuna behandelt in
diesem Kapitel grundlegende Zusammenhänge von psychischen und geistigen Mustern
(in Sanskrit samskâra), die mit den
formenden Kräften unseres Lebens zusammenwirken, die Chancen der Veränderung
und Emanzipation eröffnen und einengende Doktrinen zur Ruhe kommen lassen.
Dabei wird zum ersten Mal im MMK direkt auf die Leerheit verwiesen, die
Freiheit von fixierenden unheilsamen Verhaltensmustern bedeutet.
Nishijima
Roshi sagt dazu: „In
Chinesisch und Japanisch wird dieser wichtige Sanskritbegriff samskâra durch ein Zeichen
repräsentiert, das Handeln oder Tun bedeutet.“ Ähnliches wird im Wörterbuch Sanskrit – Englisch von Monier-Williams
für den verwandten Sanskritbegriff aufgeführt, nämlich die Bedeutungen zusammenfügen, gut formen, perfekt machen,
vervollständigen, schmücken, reinigen, fertigmachen, vorbereiten usw.[36]
„Damit wird deutlich, dass dieser Begriff ganz eng mit dem wirklichen Handeln zusammenhängt. Er unterscheidet sich damit von
abstrakten Vorstellungen und Konzepten oder einem losgelösten Geist. In diesem
Kapitel geht es um den Zusammenhang der subjektiven Existenz mit den
vielfältigen Gegebenheiten der Dinge und Phänomene und mit dem augenblicklichen
Handeln in der wirklichen Welt im gegenwärtigen Augenblick“, erläutert
Nishijima und unterstreicht: „Ich habe daher den Begriff „wirkliches Handeln“
als Übersetzung für das Wort samskâra
gewählt. Für mich ist damit das wirkliche Handeln in der wirklichen Welt im
gegenwärtigen Augenblick bezeichnet.“ Das wirkliche Handeln sei als
Schnittstelle zwischen dem subjektiven Erleben und der heterogenen Welt zu
verstehen. Und das wirkliche Handeln in der Realität könne sich nur vollziehen,
wenn wir im Gleichgewicht des Mittleren Weges seien.
Aus meiner Sicht sollte das
Handeln und Verändern festgefahrener Verhaltensmuster für das Verständnis des
Begriffes samskâra in den Mittelpunkt
gerückt werden: Unheilsame und fixierte psychische und geistige Muster sollen verlernt und in heilsame „umgelernt“ werden. Diese Bedeutung
halte ich für umfassender als die bisher häufig gebräuchlichen Übersetzungen
wie „Tatabsichten“, „Zusammensetzungen“, „Dispositionen“, „Bestimmungen“ oder
„Veranlagungen“, weil das Tun und Handeln sowie deren wirkliche Steuerung
zentrale befreiende Komponenten unseres Lebens sind. Demgegenüber sind
Absichten und Bestimmungen im besten Fall die Teil-Ursachen für das Handeln,
aber nicht die ganze Wirklichkeit des Handelns selbst. Peter Gäng verwendet den
Begriff „formende Kräfte“, der auch für mich überzeugend ist.[37]
Ich möchte den Ausdruck „formende Kräfte und Handeln“ verwenden, aber auch
weitere Begriffe wie „Prägungen“ und „Handlungsmuster“ benutzen.
Aus der Gehirnforschung
haben wir heute recht gute Kenntnis über die entsprechenden Funktionen des
neuronalen Netzes. Es handelt sich um Bahnungen, Teilnetze und sogar Module,
die einerseits prägend sind und eine gewisse Dauerhaftigkeit haben, aber
andererseits selbst durch Lernprozesse verändert werden können. Diese
Erkenntnisse entsprechen nach meinem Verständnis ziemlich genau der Bedeutung
des Begriffs samskâra.
Auch wenn im MMK der Bezug zu
vielen Stellen aus den authentischen Reden und Schriften Buddhas erkennbar ist,
so erwähnt Nâgârjuna im MMK nur ein einziges originales sutta von Buddha, das Kaccānagotta suttam – Buddhas Lehrrede zum Mittleren Weg und zur Vermeidung von Extremen (siehe Hauptkapitel 2 des
vorliegenden Bandes, Abschnitt „Worte des Erwachten“). Der Mittlere Weg hat eine enge Beziehung zur Leerheit, um die es hier
geht.[38]
Dieses sutta hat
also eine herausgehobene Bedeutung für das gesamte MMK, weshalb es sinnvoll und
notwendig ist, diesen Text genau zu analysieren. Er enthält in sehr kompakter
Form die wesentlichen Eckpunkte, an denen Nâgârjuna mit seiner Arbeit anknüpft.
Buddha erläuterte dem verehrten Kaccāna die beiden extremen Alternativen
der Existenz und der Nicht-Existenz oder anders ausgedrückt: „Es ist“ oder „Es ist nicht“. Diese Extreme und unvereinbaren Positionen sowie
deren Destruktion sind für die fulminante Lehre des Mittleren Weges von größter
Bedeutung und wesentliche Grundlage des MMK. Beide Extreme sind in der Welt
nicht erkennbar: „Existenz“ würde Dauerhaftigkeit und unveränderte Ewigkeit
bedeuten, „Nicht-Existenz“ das Nichts. Das Nichts darf aber auf keinen Fall mit
der Leerheit verwechselt werden, mit
der Nâgârjuna das wechselwirkende gemeinsame Entstehen (pratitya samutpada) bezeichnet.
Buddha erklärte die Nicht-Existenz im ersten Teil des Sûtra
und seiner Antwort für den jungen Kaccāna. Er
legte dabei ein Weltbild der positiven Veränderungen und Prozesse und nicht der
unveränderlichen Entitäten und Substanzen zugrunde. Dies nennt er die „rechte
Erkenntnis des Entstehens in der Welt“. Die Sichtweise der Nicht-Existenz
lehnte Buddha besonders im Hinblick auf das Entstehen
eindeutig ab. Es ist also nicht sinnvoll
zu sagen, es entsteht irgendetwas aus dem
absoluten Nichts oder aus der
Nicht-Existenz, denn in den Prozessen und Abläufen der Welt gibt es immer
ein Vorher, aus dem sich das Nachfolgende entwickelt. Dies gilt vor allem beim
wechselwirkenden Entstehen.
Bei allen Veränderungen im
Verlauf der Zeit dürfen wir jedoch die herausragende Bedeutung des Augenblicks und des Jetzt für unser Erleben und Erfahren nicht aus den Augen verlieren.
Die unmittelbare Wirklichkeit ist uns im
Augenblick zugänglich, und besonders beim wahren Handeln und in der
Meditation ohne Vorstellungen von Gegenständen, Gedanken und Doktrinen, also im
Chan- und Zen-Buddhismus. Zusammenfassend kann man sagen: Die Klarheit und Weite des Augenblicks als Zeitpunkt und der zeitliche
Prozess der Veränderungen lassen sich nicht trennen. Oder anders
ausgedrückt: Der wahre Augenblick gibt den lebenden Impuls für Veränderungen
und die Emanzipation des Menschen auf dem Befreiungsweg, wie Buddha überzeugend
selbst erfahren und gelehrt hat.
Augenblick und zeitlicher
Prozess gehören zusammen und bedingen sich in Wechselwirkung. Daher spricht
Dôgen von vier verbundenen Zeiten der
höchsten Weisheit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Augenblick.[39]
In der Klarheit des Augenblicks unterscheiden sich verschiedene Menschen
radikal. Die große umfassende Klarheit kann man mit dem Erleuchtungserlebnis,
dem Erwachen oder Hellblick gleichsetzen. Ohne
Klarheit im Augenblick gibt es keine Klarheit im Leben.
Aus der Gehirnforschung
wissen wir, dass unsere Erinnerung nicht wie die unveränderliche Speicherung
beim Computer funktioniert. Die reaktivierten menschlichen Informationen der
erinnerten Vergangenheit werden je nach Zustand von Körper-und-Geist-und-Gefühlen
im Augenblick wieder abgespeichert, sie werden gewissermaßen jeweils gefärbt
und verändern sich eventuell deutlich im Lauf des Lebens: Wer mit einem Geist
des Ingrimms und Hasses etwas
erinnert, verändert damit das Erinnerte selbst immer mehr zum Negativen. Auch
das Umgekehrte kann man häufig beobachten: Die gute alte Zeit und das damalige Erleben, das sicher nicht
vollständig angenehm war, werden im Lauf des Lebens immer goldener. Aber wenn
man diese Verhaltenweisen und Funktionen unseres Gehirns kennt, kann man mit
gründlicher Reflexion und Selbstreflexion wirkungsvoll gegensteuern.
Die formenden Kräfte des
Geistes und der Psyche sind also eng mit unseren Weltanschauungen und Doktrinen
verbunden. Unheilsame formende Kräfte führen zwangsläufig ins Leiden. Nâgârjuna
erläutert nun, wie das wahre und falsche Verständnis dieser Kräfte
unterschieden werden können.
Nâgârjuna zieht in diesem Kapitel die Schlussfolgerung, dass Leerheit der maßgebliche Begriff für das
wechselwirkende gemeinsame Entstehen und
die formenden Kräfte von Geist und Psyche ist. Durch die Leerheit von
falschen Prägungen und unheilsamen formenden Kräften kann sich der Zugang zur
Emanzipation und zum Erwachen eröffnen. Daher steht die Leerheit für die
Veränderlichkeit aller Dinge, Phänomene und Prozesse in dieser wirklichen Welt.
Das Leere ist ohne täuschende Doktrinen sowie erstarrte Denk- und
Handlungsmuster und für die formenden Kräfte besonders wichtig. Verkürzt
ausgedrückt sagt Nâgârjuna, dass es die höchste
Wahrheit ist, dass die Welt leer von der Doktrin einer absoluten Wahrheit ist: Absolute
Doktrinen sind nicht wirklich, nicht leer und damit unwahr. Sie führen zum
Schmerz und Leiden.
Wer die Veränderlichkeit ablehnt und eine dauerhafte unveränderliche
Substanz, Essenz, Existenz, Entität oder die fiktive Wirklichkeit des âtman
oder des Substanz-Selbst behauptet, steht im fundamentalen Widerspruch zu
Gautama Buddha. Seine Befreiungslehre beinhaltet als buddhistische
Kern-Weisheit gerade die Veränderlichkeit und Umwandlung sowie das
Zur-Ruhe-Kommen der Gifte Gier, Hass und Verblendung. Um aus dem Leiden dieser
Welt herauszukommen, sind Veränderungs- sowie Lern- und Verlernprozesse voller
Kreativität unabdingbar. Absolute Doktrinen sind dagegen verhängnisvoll. Sie müssen
erkannt und tatkräftig mithilfe der Empfehlungen Buddhas zum Beispiel nach dem
Achtfachen Pfad aufgelöst werden. Durch die Leerheit können sich die formenden
Kräfte dann voll entfalten und neue kreative Entwicklungen ermöglichen.
Kapitel 14: Verbindung von Subjekt, Wahrnehmung,
Objekt und Dualismus
Bei der Wahrnehmung bilden die
Sinnesorgane und -funktionen mit den wahrgenommenen Objekten ein
wechselwirkendes Ganzes.[40] Es
ist deshalb unsinnig, eine totale und duale Trennung und Differenz zwischen den Sinnesorganen, zum Beispiel den Augen, dem
Vorgang des Sehens und den Objekten, also dem Gesehenen, zu behaupten. Es
handelt sich dabei jeweils nicht um substantiale isolierte Entitäten, wie es
die Doktrin des Substantialismus vorgibt. Das genaue Gegenteil wäre die
Behauptung, dass eine totale Identität dieser drei Bereiche besteht. Beide
Ansichten lehnt Nâgârjuna folgerichtig und überzeugend ab und führt stattdessen
die Wechselwirkung und Vernetzung ein.
In diesem Kapitel über
Identität, Differenz und Verbindung von Gleichem, Ähnlichem und Andersartigem
wird am Beispiel der Wahrnehmung – also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und
Tasten – stringent nachgewiesen, dass nur die Wechselwirkung zwischen Dingen
und Phänomenen die Wirklichkeit sinnvoll beschreiben und erklären kann. Jede
Art von totaler Trennung in einzelne isolierte und duale Substanzen und
Entitäten wird präzise destruiert.
Der zentrale Begriff, den
Nâgârjuna in den folgenden Versen vewendet, heißt samsarga und bedeutet „Zusammentreffen“, „Verbindung“,
„Vereinigung“, „Kontakt“ und „Zusammenhang“. Zudem hat er die Bedeutung von
„Freude der Sinne“ im Zusammenwirken von Subjekt, Sinnestätigkeit und Objekten
–ohne Zusammenwirken also keine Freude.
Unsere Sinnestätigkeiten zur
Wahrnehmung von Objekten sind ein zusammenwirkendes Ganzes, das nicht sinnvoll
in voneinander unabhängige Bereiche getrennt werden kann. Es gibt aber auch
keine vollständige Identität mit den Objekten bei der Wahrnehmung. Daher sind
die Doktrinen der totalen Trennung und totalen Identität unbrauchbar für die
Wirklichkeit der Wahrnehmung. In diesem Kapitel werden noch nicht die
Wechselwirkung und Vernetzung mit den anderen Komponenten des ganzen Menschen
analysiert. Von besonderer Bedeutung sind Verzerrungen, Selektionen und Täuschungen,
die bei der Wahrnehmung durch Bewertungen, Gefühle und Erregung stattfinden. Im
Kapitel 26 des MMK wird Nâgârjuna solche Täuschungen als „Verhüllung des
Geistes“ bezeichnen.
Nishijima
Roshi fasst das Kapitel
folgendermaßen zusammen: „Nâgârjuna betont hier, dass die Ganzheit beziehungsweise Verschmelzung die Wirklichkeit selbst ist. Sie ist im
Augenblick des Handelns wirksam.“
Kapitel 15: Die Wirklichkeit der Dinge, Phänomene
und Ereignisse sowie die fiktive unveränderliche Eigen-Substanz
Mit diesem Kapitel beendet
Nâgârjuna den zweiten Hauptteil seiner scharfsinnigen Analysen, in denen es um
die Dharmas in der Welt geht, also zum Beispiel um Dinge, Phänomene, Ideen,
Ereignisse, Zustände und Prozesse.[41] Er
behandelt die Einzelheiten und die Vielfalt in der Welt, um die Grundlage für
den nächsten Teil, das Ganze des Menschen (ab Kapitel 16), zu erarbeiten.
Er geht darauf ein, welche
wirklichen Eigenschaften die wirklichen Dharmas haben, die im vorbuddhistischen
Indien als weitgehend unveränderliche „Bausteine“ der gesamten Welt und des
Lebens verstanden wurden. Er stellt fest, dass solche statischen und
unveränderlichen Bausteine der zentralen buddhistischen Lehre von Veränderung,
gemeinsamem Entstehen in Wechselwirkung und Kausalität widersprechen. Außerdem
beschäftigt er sich damit, wie eine substantiale Doktrin das Erwachen und die
Befreiung des Menschen erklären kann. Die wichtigsten Eckpunkte des Buddhismus
sind in diesem Zusammenhang:
– Veränderung und Bewegung, aber
keine Statik und Unveränderlichkeit,
– zusammenhängende Prozesse und
Ereignisse, aber kein plötzlicher Beginn aus dem Nichts und kein plötzliches
Ende in das Nichts,
– kein Nihilismus,
– keine Extreme wie absolute
Existenz oder Nicht-Existenz, sondern die Realität des Mittleren Weges,
– gemeinsames Entstehen in
Wechselwirkung, aber keine isolierten unveränderlichen Entitäten,
– keine absolute Differenz und
keine absolute Identität,
– Kausalität und Leerheit als
Sichtweise für das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung,
– Einklang mit den Vier Edlen
Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad Buddhas,
– Einklang mit den ethischen
Regeln der buddhistischen Gelöbnisse.
Nâgârjuna destruiert mit
philosophischer Präzision die Doktrin des
Substantialismus, also einer illusionären
unveränderlichen Substanz im Seienden und in den Dharmas. Diese Doktrin, die
sich auch innerhalb des Buddhismus entwickelt hatte, behauptet sogar, dass eine
solche Substanz die wahre Eigen-Natur aller Dinge, Phänomene und Ereignisse
sei. Das ist aber völliger Unsinn und eine naive unbegründete Metaphysik. Mit
den Methoden der Phänomenologie kann eine solche fiktive Eigen-Natur nicht
begründet werden. Bei dieser Doktrin wären grundsätzlich keine Veränderung,
Dynamik, Befreiung vom Leiden und kein Erwachen möglich. In den folgenden
Versen analysiert Nâgârjuna gründlich die Illusion einer unveränderlichen
Substanz des Seienden, in Sanskrit svabhâva.
Dieser Begriff und dessen Semantik sind also ein zentraler Schlüssel zum
Verständnis des gesamten MMK. Die substantialistische Doktrin für das
umfassende Selbst und das âtman-Selbst des Menschen ist dann Thema von Kapitel
18 des MMK.
Durch die Destruktion einer
doktrinären Substanz im Seienden und in falsch verstandenen Dharmas erarbeitet
Nâgârjuna die Voraussetzungen, um die zentralen Fragen und fundamentalen
Probleme des Menschen, des Selbst, der Befreiung, Kausalität, Emanzipation und
Erleuchtung zu behandeln. Damit schafft er die tragfähigen Grundlagen, um die
Überwindung des Leidens nach den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad
sowie die Vermeidung von Extremen der Existenz und Nicht-Existenz wirkungsvoll
zu erreichen.
Die Semantik des in diesem
Kapitel verwendeten Sanskritbegriffs bhâva
hat nach meinem Verständnis eine beachtliche Ähnlichkeit mit dem unveränderlichen
Sein des Seienden der westlichen Philosophie. Bei Nâgârjuna ist damit
besonders das Substanzhafte des Seienden gemeint,
das er als doktrinär-metaphysisch ablehnt. Er hat aber keine Vorbehalte gegen
das dynamische und damit realistische Seiende. Die Doktrin der Substanz des
Seienden bezeichne ich im Einklang mit anderen Autoren als Substantialismus. In diesem Kapitel wird also vor allem das
Substantialistische des Seienden (svabhâva)
destruiert, das ich Eigen-Substanz
nenne. Daraus wird sich die Frage ableiten, was das Selbst oder das Ich des
Menschen wirklich ist.
Der Buddhismus stellt das
Entstehen, Werden, die Emanzipation und Therapie sowie das Zur-Ruhe-Kommen des
Menschen in den Mittelpunkt. Wie breits erläutert, gibt es im Sanskrit für
„Werden“ und „Entstehen“ den Begriff
bhava und für das Statische oder nicht veränderliche Substanzhafte den
Begriff bhâva. In diesem MMK-Kapitel
steht der zusammengesetzte Begriff svabhâva
im Zentrum, also die Illusion des unveränderlichen und aus sich selbst
entstandenen Seienden, das Nâgârjuna als illusionären und täuschenden
„Wesenskern“ oder „Substanzkern“ der Dharmas bezeichnet – die Eigen-Substanz.
Er destruiert hier ein solches Substanz-Seiendes und beweist, dass es
illusionär ist, weil es unveränderlich und isoliert sein müsste. Es müsste
sogar ohne Wechselwirkung aus sich selbst allein entstanden sei. Aber das sei
eine fundamentale Täuschung.
In dem Sanskritwort bhâva für das statische Seiende schwingt
zwar ein Rest von Werden und Entstehen mit, aber die Hauptbedeutung zur Zeit
Nâgârjunas beinhaltet Unveränderlichkeit, Dauer und Substantialität des Seienden oder der Dharmas. Eine genaue
Übersetzung könnte „aus sich selbst gewordenes, unveränderliches substantiales
Seiendes“ lauten, weil damit auch die „Gewordenheit“ angesprochen wird. Diese
semantisch treffende Formulierung, die Elisabeth Steinbrückner in der
wörtlichen Übersetzung verwendet, ist jedoch im Rahmen dieser Untersuchung und
Interpretation des MMK gewöhnungsbedürftig. Daher möchte ich vor allem den
kürzeren Begriff „Eigen-Substanz“, aber auch „substantiales Seiendes“ oder
„Substanz-Seiendes“ verwenden. Weitgehend synonym damit werde ich auch den
etwas einfacheren Begriff „Substanzhaftes“ benutzen. In der MMK-Literatur
finden sich vielfältige Alternativen für den zentralen Begriff svabhâva, zum Beispiel Selbstnatur,
Self-Nature, Eigennatur, Eigenselbst, Eigenwesen und Selbst-Existenz, die mich
aber nicht überzeugen. Den Begriff „Natur“ halte ich sogar für irreführend.
Der Sanskritbegriff svabhâva hat etwa 150 Jahre nach
Nâgârjuna bei Meister Vasubandhu (geboren vermutlich 316) zentrale Bedeutung.[42]
Allerdings ist sein entsprechendes Lehrgedicht („Die Drei Svabhâva“),
vermutlich seine letzte Arbeit, sehr schwierig zu verstehen. So gibt es seit
seiner Formulierung vor etwa 1650 Jahren bislang keinen Kommentar und keine
Interpretation, obgleich es sicher von großer Relevanz ist, da Vasubandhu zu
Recht als grundlegender Meister des Yogacara sowie des Chan-, Zen- und
tibetischen Buddhismus gilt. Hier wartet also wichtige Forschungsarbeit zur
Entschlüsselung dieses bedeutenden Textes.[43]
Nishijima Roshi erwähnt in diesem Zusammenhang weitere
wichtige Aspekte: Das Seiende des Selbst
und die subjektive Existenz des Menschen würden zwar häufig aus dem Sanskrit (svabhâva) mit „Selbstnatur“ oder
„Selbstexistenz“ übersetzt, allerdings möchte er sie begrifflich dem Begriff Idealismus zuordnen, „also dem Weltbild und der Lebensphilosophie,
die dahinter stehen, nämlich dass das Denken,
die Ideen und Ideale als die wahre
oder höchste Wirklichkeit verstanden werden. Entsprechend wird das
Materielle (und auch das dynamische Handeln) abgewertet oder sogar als
unwirklich bezeichnet.“ Der Buddhismus gehe jedoch über den Idealismus hinaus
und nehme „die umfassende dynamische Wirklichkeit
als Lebensgrundlage“.
Nâgârjuna kritisiert, dass zu
seiner Zeit die eigentlich überholten Ideen, Vorstellungen und Doktrinen, die
Buddha gerade als Leid bringend abgelehnt hatte, sich in manchen buddhistischen
Traditionen wieder unterschwellig entwickelten und unter Verwendung
buddhistischer Begriffe mit veränderter Semantik neu durchsetzten. Dadurch
würde der wahre Kern der Lehre verwässert und zum Teil sogar ins Gegenteil
verkehrt.
In der Präambel des MMK wird das
gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung auf dieser Erde und für die Menschen als
zentrale Aussage Buddhas herausgehoben. Schon bei oberflächlicher Untersuchung
wird deutlich, dass ein unveränderliches und
zudem isoliertes Selbst oder eine
unveränderliche Substanz mit der praktischen Lebensphilosophie Buddhas nicht
zusammenpasst, denn diese ist auf Veränderung, Entwicklung, Lernen und
Emanzipation ausgerichtet. Es scheint jedoch vor allem in der indischen Kultur
eine erstaunliche Sehnsucht nach einer unzerstörbaren,
unveränderlichen Substanz oder Essenz in der Welt und im Menschen gegeben
zu haben, die in den Wiedergeburten durch diese Welt gehen sollte. Durch
ethisch ungutes Denken und Handeln werde dabei schlechtes Karma angesammelt,
sodass der endlose Prozess der Wiedergeburten des Wesenskerns nicht aufhöre.
Etwas vereinfacht kann man sagen, dass zufriedene Menschen nicht gern von dem
jetzigen Leben Abschied nehmen wollen und leidende, unzufriedene Menschen
dieses Leben beenden wollen, um im nächsten Leben bessere Bedingungen zu haben.
Ähnliches kann man sicher auch heute beobachten.
Gautama Buddha hat sich zur
Frage der Wiedergeburt nur wenig geäußert, und es scheint so, dass sie für ihn
keine sehr große Bedeutung hatte, ohne dass er den Glauben an die Wiedergeburt
grundsätzlich abgelehnt hätte. Dieses Leben hier und jetzt stand jedoch für ihn
eindeutig im Vordergrund. Eine solche Lebensphilosophie ist in besonderer Weise
auch für den Zen kennzeichnend.
Es gibt eine sehr wichtige Lehrrede Buddhas, die
einen großen Einfluss auf dieses Kapitel und generell das MMK hat, nämlich der
Dharma-Vortrag über die rechte Sichtweise für den jungen Mann Kaccâna. In diesem Sûtra werden die
Extreme totaler dauerhafter Existenz
einerseits und totaler Nicht-Existenz,
also das Nichts, abgelehnt. Buddha weist nach, dass diese beiden Extreme in der
Wirklichkeit gar nicht vorkommen. Es handelt sich nämlich um Vorstellungen und
Doktrinen, die für die menschliche Weiterentwicklung und Emanzipation
ausgesprochen schädlich und unheilsam sind. Wer zum Beispiel an die
Unveränderlichkeit des Leidens glaubt, wird kaum in der Lage sein, Schmerzen,
Klagen, Niedergeschlagenheit, Depressivität, Mutlosigkeit, sein Elend und
seinen Jammer aktiv zu überwinden. Das erfordert intensive Verlern- und
Lernprozesse.
Nishijima Roshi erklärt, dass
bei der Wahrnehmung der materiellen Welt mit unseren Sinnesorganen unser Gehirn
nicht vollkommen exakt arbeite, denn bei diesen Abbildungen werde nur ein
gewisser Teil der Wirklichkeit erkannt: „Wir müssen uns davor hüten, dass wir
das, was wir sehen, hören, fühlen usw. als die vollkommene umfassende Realität verstehen.“ Dann sei der Schritt zu einer
fiktiven, aber metaphysischen „Eigen-Natur“ nicht mehr weit. Das wäre ein
naives Verständnis der Natur und der Wirklichkeit. Aber gerade um diese große
Realität gehe es, „wenn wir aus den (doktrinären) Täuschungen des Lebens
herauskommen wollen, um unsere Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten
auszuschöpfen“.
Mit diesem zusammenfassenden
Kapitel schafft Nâgârjuna eine tragfähige Grundlage für die folgenden Kapitel,
die sich mit dem ganzen wirklichen Menschen beschäftigen. Er wird sich vor
allem auf den altindischen Glauben an einen âtman
beziehen, also die ewige Ich-Substanz, und einen ewigen nicht-materiellen
und unsichtbaren Ich-Kern des Menschen untersuchen. Im alten Indien glaubten
die Menschen daran, dass dieser Ich-Kern endlos durch die Wiedergeburten
wandern würde, bis er in der Ewigkeit im Nirvâna aufgehen und „verwehen“ würde.
Nâgârjuna begründet prägnant, dass sich aus den als
absolut behaupteten Zuständen von „es existiert” und „es existiert nicht“ eine
unveränderliche isolierte Eigen-Substanz des Seienden und der Dharmas in der
Welt ergeben müsste. Er stellt fest, dass eine solche Eigen-Substanz jedoch
nicht beobachtet werden kann und dass es sie nicht gibt. Damit hat er die Doktrin des Substantialismus
destruiert! Das Gleiche gilt für die Lehre des Nichts und damit des
Nihilismus, die auch Buddha grundsätzlich ablehnte.
Kapitel 16: Bindung und Befreiung des Menschen als Entitäten oder als Wechselwirkung und Prozess?
Der Mensch wird nach den
vorausgehenden Analysen in den nun folgenden Kapiteln des MMK mit
philosophischer Präzision als Ganzes untersucht. Dies geschieht konsistent im
Rahmen der wahren buddhistischen Lehre und Praxis.[44] Ziel
ist die Klärung des Seienden in Beziehung zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, zur Leerheit, Kausalität, zum
Handeln, und nicht zuletzt geht
es um die buddhistische Ethik. Dabei
destruiert Nâgârjuna den Glauben an ein substantiales unveränderliches Selbst,
das dem vorbuddistischen âtman sehr
nahe kommt.
Viele Verse im MMK sind in der
Form der sogenannten spekulativen Sätze[45] formuliert, beginnen also mit
„falls“ oder „wenn“ und sind grundsätzlich von Aussagesätzen zu unterscheiden.
Man nennt sie auch tentative Sätze. Diese spekulativen Sätze lassen sich am
besten als Bedingungssätze verstehen, und zwar in diesem Sinn: „Wenn man das so
Formulierte annimmt, ergibt sich Folgendes.“ Bei Nâgârjuna fangen solche Sätze
allerdings nur teilweise mit „falls“ oder „wenn“ an und sind daher nicht immer
sofort als Sätze zu erkennen, in denen es um Überlegungen und Spekulationen
geht, die oft zur Destruktion und Falsifizierung führen.
Am Anfang der Kapitel im MMK
stehen häufig Behauptungen der zu destruierenden Doktrinen. Die authentische
Lehre Buddhas wird dabei als Wahrheitsbezug verwendet. Vor allem kommt dem
gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya
samutpada) und der Leerheit eine zentrale Bedeutung zu. Diese pragmatische
Philosophie ist zweifellos für Veränderungen, Prozesse, Befreiungsvorgänge und
Emanzipation besonders gut geeignet oder sogar notwendig und kann die
Komplexität dieser Welt sachgerecht beschreiben. Kalupahana betont, dass die
authentische buddhistische Philosophie dem Druck des neu erstarkten
Brahmanismus standhalten konnte, solange die Wechselwirkung klar verstanden
wurde.[46] Als dieses Verständnis verloren
ging, hätten sich metaphysische spekulative Doktrinen entwickelt, die die wahre
Lehre nicht mehr richtig wiedergeben konnten. Entsprechend ist ein
Wirklichkeitsmodell, das von unveränderlichen Substanzen und abgegrenzten
Entitäten ausgeht, ungeeignet, um die zentralen Probleme des Lebens, also
Bindung und Fesselung, zu lösen und die Befreiung und Emanzipation des Menschen
fundiert zu behandeln.
Genau um die Frage von Bindung
und Befreiung geht es in diesem Kapitel. Nâgârjuna beweist mit philosophischer
Genauigkeit, dass der Ansatz eines âtman-Selbst oder allgemeiner gesagt eines
substanzhaften dauerhaften und unveränderlichen Selbst als unsichtbarem Wesenskern im Sinne des Substantialismus
ungeeignet ist, um dieses Thema zu bearbeiten. Den simplen Glauben an einen
schon immer vorhandenen âtman-Kern des Menschen, der durch zwanghafte Bindungen
und Beschmutzungen unfrei wird, lehnte bereits Buddha ab. Ein solcher
illusionärer Substantialismus erzeugt Unglück, Schmerzen und Leiden.
Die häufigen Destruktionen
Nâgârjunas betreffen solche spekulativen und doktrinären Sätze, die
Fehlentwicklungen und falsche Interpretationen des Buddhismus zum Inhalt haben.
Wegen dieser Destruktionen und Falsifikationen ist vermutlich die Einschätzung
entstanden, Nâgârjuna sei ein Nihilist, der nur Negationen anzubieten habe.
Dieses halte ich nicht für richtig. Außerdem folge ich nicht der
Interpretation, er mache keine positiven Aussagen, sondern destruiere nur
unrichtige Doktrinen.
In diesem Kapitel beschäftigt er
sich mit der zentralen Frage, wie sich ein Mensch aus einengenden und
erdrückenden Zwangsbindungen befreien kann, wie er also Abhängigkeiten von Gier,
Hass, Verblendung, Suchtmitteln, Macht, Sex usw. überwinden und sich durch
Praxis, Achtsamkeit und Selbststeuerung einen wachsenden Freiheitsbereich
schaffen kann. Der Mensch ist dann kein willenloser Spielball der äußeren und
inneren Bedingungen und Kräfte mehr, sondern überwindet solche fixierenden
Einengungen. Er wird von ihnen nicht deterministisch gesteuert. Es geht also
darum, wann und wie weit jemand in seinem Handeln, Denken, Fühlen, Entscheiden
und Planen im Rahmen des durch die Wirklichkeit
Gegebenen frei ist. Auf dem Weg der Befreiung sind nicht nur psychische
Blockaden und Begrenzungen wie Narzissmus und Borderline-Syndrom zu überwinden,
sondern auch geistig hemmende und einengende Konzepte. Dabei ist die
Selbstreflexion oder, wie es in Buddhas Lehre heißt, die Achtsamkeit und
Betrachtung seiner selbst von zentraler Bedeutung. Nâgârjuna warnt vor der
Illusion, dass es eine absolute Freiheit
geben könnte, denn das wäre ein Extrem, das in der Wirklichkeit nicht vorkommt.
Nishijima
Roshi formuliert es so: „Ob wir uns eingeengt und eingegrenzt oder frei fühlen, hängt ganz
wesentlich von unserer eigenen
emotionalen Situation ab. Unser psychischer und geistiger Zustand wird nach
meiner festen Überzeugung ganz wesentlich durch unser vegetatives Nervensystem
bestimmt“, also davon, ob es im Gleichgewicht ist oder nicht. „Es ist das
natürliche Bestreben und der große Wunsch des Menschen, völlig frei und
emanzipiert zu sein. Aber dies dürfte in der Wirklichkeit unmöglich sein“,
betont er ferner und rät, dass wir realistisch sein und im Hier und Jetzt leben
und handeln sollten. Zum einen spielen die realen Bedingungen, in denen wir
leben oder leben müssen, eine wichtige Rolle, aber nicht zuletzt sind auch
unsere subjektive psychische und physische Situation der Spannung oder
Entspannung von entscheidender Bedeutung.
Ein wichtiges Thema in Kapitel
16 ist außerdem die Wiedergeburt. Sie hatte in verschiedenen Lebensabfolgen des
Samsara im alten Indien einen selbstverständlichen Wahrheitsgehalt und wird
auch von Buddha nicht grundsätzlich abgelehnt. Nachdem im Buddhismus aber der
unveränderliche Wesenskern eines âtman widerlegt
wurde, fragt sich natürlich, was denn wiedergeboren wird, wenn es dieses
âtman-Selbst nicht gibt. Das sind keine einfachen philosophischen Probleme, die
im Buddhismus in der Nachfolge Buddhas häufig kontrovers diskutiert wurden.
Allerdings hat Buddha immer wieder betont, dass wir uns nicht mit Fragen und
Problemen der Wiedergeburt quälen sollten, sondern uns ganz auf die Überwindung
des Leidens sowie auf die Emanzipation und Erleuchtung in diesem Leben
einlassen und konzentrieren sollten.
Alle Theorien mit
unveränderlichen Substanzen und Entitäten sind für die Befreiung aus bindenden
Abhängigkeiten in unserem Leben, für das Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und die
Entwicklung der bestmöglichen menschlichen Freiheit unbrauchbar, zudem in sich
widersprüchlich und logisch falsch. Eine Lösung bietet nur das realistische
Welt- und Menschenbild des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung.
Für viele Buddhisten war und ist
es eine große unerfüllbare Sehnsucht, sich selbst im Nirvâna aufzulösen, alle
Leiden auszulöschen und ein seliges Glück zu erfahren. Sie meinen, dass es ein
solches Nirvâna in einer jenseitigen Welt geben würde, die sie erreichen könnten,
wenn sie die buddhistischen Regeln einhalten und der Lehre treu ergeben sind.
Sie versteifen sich immer mehr auf die Vorstellung, dass für sie selbst ein
solches „Verwehen“ im Nirvâna möglich ist und dann alle Schwierigkeiten der
hiesigen Wirklichkeit zu Ende sind. Das betrachten sie als die totale Freiheit,
die man sogar schon in diesem Leben vorbereiten könne.
Nâgârjuna hält ein solches
fixiertes und romantisierendes Konzept, das allein Doktrinen und dem denkenden
Geist entspringt, für unsinnig und sagt in aller Klarheit, dass dieses Konzept
genau das Ergreifen ist, das gerade überwunden werden soll. Wer sich also auf
eine solche Vorstellung eines zukünftigen Nirvâna versteift, ist durch diese
Fixierungen, die im Buddhismus auch Ergreifen genannt werden, festgelegt,
statisch und kann sein Ziel eben nicht erreichen. Nâgârjuna wird im folgenden
Teil seine eigenen vertieften Vorstellungen zum Nirvâna entwickeln.
Nishijima Roshi sagt dazu
Folgendes: „Der Zustand der Balance in unserem Leben ist gleichzeitig das Nirvâna. Es ist nicht ein jenseitiges
erträumtes Paradies, sondern genau das tägliche Leben im Hier und Jetzt. Ein
solches Leben im Gleichgewicht ist daher kein Gegensatz zum Nirvâna und nicht
etwas anderes oder Zukünftiges. Aber die Worte und unsere Sprache reichen nicht
aus, um das Nirvâna vollständig und erschöpfend zu beschreiben. Die
Wirklichkeit ist mehr als die Sprache. Aber selbst auf der sprachlichen Ebene
ist es unsinnig, ein erfülltes reales Leben im Gleichgewicht mit einem
erträumten Nirvâna zu vertauschen.“
Nâgârjuna
falsifiziere die zu seiner Zeit gängige buddhistische Doktrin vom „Verwehen“
ins Nirvâna und von der Beendigung des Kreislaufs der Wiedergeburten in dieser
Welt des Samsara. Die irrige oder ungenaue substantialistische Doktrin unveränderlicher substanzhafter Entitäten
kritisiere er radikal und falsifiziere sie scharfsinnig. Eine solche Doktrin
weiche gravierend von Buddhas bewährter Lehre ab, die keine statischen und
unveränderlichen Entitäten oder Substanzen kenne, sondern vernetztes Entstehen
und Vergehen und vor allem das Handeln im Gleichgewicht des Augenblicks.
Kapitel 17:
Handeln, Karma, Früchte und Verantwortung des Menschen
Buddha hat das Handeln des
Menschen und damit die Verantwortung für das eigene Handeln in den Mittelpunkt seiner neuen praktischen Lehre
der Befreiung gerückt. Die Verantwortung für die Konsequenzen oder wie es im
Sanskrit heißt die Frucht des eigenen Handelns bzw. das Karma trägt also jeder
selbst. Vereinfacht ausgedrückt ergibt gutes Handeln gute Konsequenzen und
gutes Karma für uns und für andere, schlechtes Handeln hat schlechte
Konsequenzen zur Folge. Viele buddhistischen Meister warnen aber davor, eine
solche Beziehung von Ursache und Wirkung zu sehr zu vereinfachen und naiv zu
begreifen.[47]
Im MMK wird bereits in der
Präambel die Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) charakterisiert.
Die Wirklichkeit verstehen Buddha und Nâgârjuna also als dynamisches Ganzes,
indem sie das gemeinsame Entstehen hervorheben. Der Mensch ist wiederum durch
das Zusammenwirken in der Lage, sein Leiden zu überwinden, sich zu emanzipieren
und zu befreien. Diese Wechselwirkung habe ich als Vernetzung und
wissenschaftlich als rückgekoppeltes System interpretiert. Solche Vernetzungen
sind bei Ökosystemen, sozialen Systemen und nicht zuletzt beim neuronalen Netz
des menschlichen Gehirns evident; sie können phänomenologisch und sogar
naturwissenschaftlich klar nachgewiesen und analysiert werden. Durch dieses
Verständnis der Wirklichkeit ergibt sich ein unüberbrückbarer Widerspruch zur
Doktrin einer unveränderlichen Substanz bzw. einer unveränderlichen Essenz,
also der absoluten Existenz und der absoluten Nicht-Existenz
(Substantialismus). Außerdem destruieren Buddha, Nâgârjuna und Meister Dôgen
die Doktrin der unverbundenen Zeit-Momente (Momentanismus).
Die wichtigsten Kernlehren des
Buddhismus sind auch in diesem Kapitel des MMK zu beachten: die Vier Edlen
Wahrheiten und der Achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens, die Sieben Glieder
der Befreiung und des Erwachens, die Fünf Hemmnisse des Erwachens, der Mittlere
Weg zur Vermeidung von Extremen sowie die zwölf Phasen zur Befreiung und
Erleuchtung. Außerdem ist in allem Handeln die Ethik von zentraler Bedeutung,
was zum Beispiel in den Gelöbnissen und im Bodhisattva-Ideal zum Ausdruck
kommt.
Nâgârjuna baut auf diesen
Grundlagen auf und untersucht für die Lehre des buddhistischen Handelns und des
Karmas ausführlich den Zusammenhang von Verursachung und Wirkung. Eine
Ding-Metaphorik für das Karma destruiert er dabei genauso gründlich wie den
Substantialismus. Es geht ihm hierbei auch um die Falsifizierung der
vorbuddhistischen Weltanschauung und Religion des Brahmanismus, der behauptet,
dass der Mensch einen unabhängigen, unveränderlichen und ewigen Kern (âtman) habe. Die Veränderungen in der
Welt der Phänomene und des Menschen seien nur oberflächlich und würden den Kern
nicht betreffen.
Dieser würde durch die Geburten
wandern und sich jeweils neu verkörpern. Die Eigenschaften des Menschen seien
in seinem Leben durch das Karma des Âtman weitgehend festgelegt und veränderten
sich kaum oder gar nicht. Durch unheilsames Handeln werde allerdings schlechtes
Karma beim Âtman angehäuft und müsse in den folgenden Leben beseitigt werden,
bis nach vielen Millionen Jahren der Âtman endlich bereinigt sei und die
Wiedervereinigung mit Brahman und damit die Beendigung des individuellen Lebens
erfolgen könnten. Der Âtman-Kern ergreife jeweils bei der Geburt sein altes vorheriges Karma aus dem letzten Leben.
Daraus würden sich dann zwangsläufig die Bedingungen
für das neu angefangene Leben ergeben. Die ethische Qualität des vorherigen
Karmas sei dabei determinierend für die jeweils folgenden Leben.
Nâgârjuna destruiert in diesem
Kapitel auch ähnliche doktrinäre Vorstellungen im Buddhismus, die sich dem
Âtman-Modell für Handeln, Akteur und Karma deutlich angenähert hatten, aber für
die Dinge und Phänomene – die Dharmas – dennoch Begriffe aus dem Buddhismus
benutzten, vor allem den Begriff svabhâva, der sich mit „Eigen-Substanz“
übersetzen lässt. Nâgârjuna macht deutlich, das eine solche Doktrin die
authentische Lehre Buddhas tiefgreifend entstellt oder sogar in ihr Gegenteil
verkehrt. Denn für Buddha steht im Mittelpunkt seiner praktischen Lebensphilosophie,
dass wir uns verändern, uns entwickeln und lernen, damit unser Leiden zur Ruhe
kommt und wir Erleuchtung erlangen.
Das Sanskritwort Karma bedeutet im engeren Sinne das
Handeln, die Handlung oder die Tat. In der altindischen Religion des
Brahmanismus wurde mit Karma vor allem das Ergebnis
des moralischen Handelns
verstanden und mit der Idee der Wiedergeburt verknüpft. Danach waren durch das
moralische Handeln, das Karma, im gegenwärtigen Leben wesentlich die
Wiedergeburt und unser Schicksal im nächsten Leben bestimmt. Die beiden
wichtigsten Bedeutungen von Karma sind auch im Buddhismus relevant, nämlich das
Handeln selbst, also die Tätigkeit im
Augenblick, und das Ergebnis bzw. die Wirkung
des Handelns, die häufig Frucht genannt wird. Ethisch gutes Handeln
erzeugt gutes Karma und schlechtes Handeln schlechtes Karma. Das gilt
grundsätzlich auch im Buddhismus.
Wie Dôgens kompakte Darstellung
des Handelns zeigt, wird das Handeln im Zen-Buddhismus konkret mit der
Erfahrung und dem Erleben der Wirklichkeit selbst verbunden und meist von
Theorien, Doktrinen und abstrakten Vorstellungen abgegrenzt. Im Zen geht es
daher weniger um die Tatabsichten,
die zwar von Wichtigkeit seien, sondern mehr um das Handeln selbst, und zwar
vor allem in Bezug auf andere Menschen im Sinne des Bodhisattva-Ideals.
Nach meinem Verständnis lassen
sich grundsätzlich zwei verschiedene Dimensionen des Karmas unterscheiden: zum
einen das persönliche Karma, das auch wichtiges Element der Wiedergeburtslehre
ist, und zum anderen das soziale Karma,
das sich jetzt und später auf andere auswirkt und so in den „Kulturstrom“ der
betroffenen Menschen einfügt wird.
Als ich im Jahr 2006 mit
Nishijima Roshi an diesem Kapitel Nâgârjunas arbeitete, sagte er einen
markanten Satz: „Actions are carved in
the universe.“ Das heißt, unsere Handlungen wirken weiter im Universum und
sind nicht mit unserem individuellen Leben beendet. Unser Handeln verschwindet
also nicht einfach in der Welt, sondern setzt sich fort. Das bedeutet, dass ein
positiv wirkendes Handeln die zentrale Aufgabe und Verantwortung unseres Lebens
ist. Durch ethisch gutes, klares Handeln leisten wir einen wichtigen Beitrag
für die Welt und die Menschheit. Es liegt auf der Hand, dass Nishijima Roshi
damit den wahren Buddhismus als Lehre und Praxis meinte.
Das individuelle Karma der
meisten Menschen bei späteren Wiedergeburten entzieht sich zumindest teilweise
dem rationalen Geist und der erweiterten Vernunft. So glaubte zum Beispiel
Nishijima Roshi nicht an die Wiedergeburt. Häufig gleitet der Glaube an die
Wiedergeburt in Wunschvorstellungen, Ängste und einengende Doktrinen ab. In
ähnlicher Weise ist die mögliche Erinnerung an frühere Leben sicher für die
meisten von uns eher ein Geheimnis oder vielleicht eine Ahnung und ein Gefühl.
Besonders Gautama Buddha und Nâgârjuna haben daher davor gewarnt, sich zu sehr
mit Gedanken, Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten über das vergangene Leben und
das zukünftige zu beschäftigen. Wir sollten uns eher dem jetzigen besser
überschaubaren Leben widmen, zum Beispiel den Achtfachen Pfad gehen und die
buddhistischen Gelöbnisse einhalten.
In vielen überlieferten
Gleichnissen, Geschichten und Analogien hat Buddha das Thema Karma behandelt
und die bei seinen Lehrreden anwesenden Menschen damit tief bewegt. Durch seine
persönliche Ausstrahlung und Überzeugungskraft hat er sie zur Veränderung ihrer
Lebensrichtung gebracht und zur Klarheit geführt. Ein besonders wirkmächtiges
Beispiel ist das Gleichnis des Massenmörders Angulimala, der in den Orden
Buddhas eintrat, ausdauernd und kraftvoll meditierte und Erleuchtung erlangte.
Damit kam sein furchtbares Karma zur Ruhe.
Das soziale Karma ist für jeden
Menschen direkt in diesem Leben zu erkennen und einzuschätzen, indem er sich
beispielsweise die folgenden Fragen stellt: Welche Auswirkungen hat mein
jetziges Handeln auf die Menschen, die mir nahestehen und mit denen ich zu tun
habe? Sind meine Handlungen nützlich, weiterführend und konstruktiv für andere?
Oder hemmen, belasten oder verletzen sie die anderen? Ist mein Handeln auf
Macht ausgerichtet und unterdrückt sogar die betroffenen Menschen? Solche
Fragen sind schon ziemlich komplex, aber dennoch einfacher zu analysieren und
zu beantworten als Fragen nach wirklichen Fakten der früheren Leben und der
zukünftigen Wiedergeburten. Der Zusammenhang zwischen Handeln und Karma kann
direkt hier und jetzt durch Beobachtung, Selbstreflexion und Achtsamkeit, durch
Dialog und Rückkopplung recht gut verstanden und bei unseren
Weiterentwicklungen zunehmend besser integriert werden.
Egoisten, Mächtige, falsche
Eliten, Narzissten und Betrüger neigen dazu, sich sehr wenige Gedanken darüber
zu machen, welche Auswirkungen ihre Taten für andere haben. Wer sich
rücksichtslos bereichert, interessiert sich meist wenig oder überhaupt nicht dafür,
wem er damit schadet. Solche Menschen sind zumindest scheinbar zufrieden oder
fühlen sich sogar als Helden, solange der Betrug nicht herauskommt. Sowohl
Materialisten als auch Ideologen verdrängen Überlegungen, was aus ihren Taten
folgt und wie sie sich auf andere auswirken. Allerdings verschaffen materielle
Vorteile nur sehr kurzfristige und oberflächliche Glücksgefühle und Freuden –
das haben die Psychologie und die aktuelle Neurowissenschaft nachgewiesen.
Materiell orientierte Menschen wirken nicht selten wie ausgehöhlt. Je älter sie
werden, desto deutlicher kann man erkennen, dass materielle Gier und
materieller Besitz wenig zu einem sinnerfüllten Leben beitragen können.
Wenn Ideen und Idealismus in
Ideologien umschlagen, hat auch das in der Welt langfristig schlimme Folgen.
Beispiele dafür sind die Glaubenskriege, der 30-jährige Krieg oder die
menschenverachtenden Ideologien der deutschen Nationalsozialisten und der
japanischen Imperialisten sowie in neuerer Zeit die Irrlehren moslemischer
Terroristen. Religionen verkehren sich durch unmenschliches Handeln in ihr
Gegenteil. Das menschliche Leben wird dann nicht mehr geachtet und geschützt,
sondern vernichtet. Sogar der eigene religiös motivierte Suizid wird bei
Selbstmordanschlägen so organisiert, dass möglichst viele andere Menschen
ebenfalls sterben. Die Terroristen glauben sogar daran, dass sie sich durch
ihre Taten direkten Zugang zu den jeweiligen Paradiesen ihrer Religion
verschaffen. Ähnliches gilt übrigens leider auch für die christlichen Kreuzzüge
gegen die islamische Welt, bei denen die „heiligen Stätten“ zurückerobert
werden sollten. So gehen die Ideologien des Materialismus und des Idealismus in
die Wirkungen des Handelns ein.
Zum Teil wurde auch die
Karmalehre im alten Indien von der herrschenden Elite der Priester als
Machtmittel missbraucht, um die Gläubigen mithilfe von Angst und Schrecken
gefügig zu machen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kommt diesem Kapitel
Nâgârjunas zu Akteur, Karma und Tat eine hohe Bedeutung zu.
Nishijima Roshi unterstreicht, dass Nirvâna nach Nâgârjuna die Befreiung von Ideologien und materiellen Abhängigkeiten wie Gier
und Habsucht bedeutet, auch und gerade in
diesem Leben. Und diese Befreiung sei unauflösbar mit heilsamem Handeln verbunden; das Denken und ein
isolierter Geist allein würden nicht ausreichen. Außerdem erklärt er, dass es
in der westlichen Philosophie die beiden Hauptströmungen des Idealismus auf der einen Seite und des Materialismus auf der anderen Seite
gäbe. Beim Idealismus stehen das Gedachte und die Gehirntätigkeit im
Vordergrund, beim Materialismus die äußere Form und die materiellen Aspekte
dieser Welt. Zum gleichen Ergebnis kommt der amerikanische Philosoph Nicholas
Rescher, der eine Prozessphilosophie begründet hat, die gegen den Hauptstrom
der Seinsphilosophie gerichtet ist.[48]
Die Philosophien des
Materialismus und Idealismus sind laut Nishijima Roshi zwar weit entwickelt,
aber einseitig und ungeeignet, um das wirkliche Leben philosophisch und
pädagogisch angemessen begreifen und durch Selbststeuerung ein gutes Leben
führen zu können. Eine Philosophie des
Handelns und der Bewegung sei im Westen nur in Ansätzen vorhanden, obgleich
Aktivität und Handeln einen so hohen Stellenwert in der westlichen Kultur,
Naturwissenschaft und Technik hätten. „Durch die genaue Untersuchung der
Theorie und Praxis des Handelns kann der Buddhismus daher für den Westen
erhebliche realistische Verbesserungen der Lebensverhältnisse erbringen“, fasst
Nishijima Roshi zusammen.
In Kapitel 17 des MMK geht es
nicht zuletzt um die schwierige Frage, ob das Karma ewig und unveränderlich
ist. Eine solche Unveränderlichkeit wäre allerdings mit dem Buddhismus der
Veränderlichkeit und des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung nicht
vereinbar.
Karma ist kein Ding, keine Entität, keine Substanz
und keine Essenz. Karma verschwindet nicht spurlos, löst sich nicht von selbst
auf und wird nicht zu einem Nichts. Die doktrinäre falsche Lehre über Karma,
Tat, Akteur und Frucht, die von unveränderlichen Substanzen ausgeht, gleicht
einem flimmernden verführerischen Lichtstrahl und ist ein illusionärer Traum,
der immer neue Illusionen und Verwirrungen erzeugt. Der Substantialismus
beschreibt keine Wirklichkeit in der Welt.
Das Gleiche gilt für die in der
Präambel des MMK verwendeten zentralen buddhistischen Begriffe Entstehen und Vergehen. Wer sie als unveränderliche Substanzen versteht, gerät in
eine ausweglose Illusionswelt, die ihn ins Unglück führt. Er kann dem nur
entfliehen, wenn er die ideologischen Grundlagen als Fiktion, Illusion und
Täuschung erkennt, sie überwindet und sich auf die authentische Lehre Buddhas
zurückbesinnt.
Nâgârjuna zeigt auf, dass auch
die buddhistische Lehre in seiner Zeit zum Teil in Wortgläubigkeit, Erstarrung
und naivem substantialistischem Denken gefangen war und dass es dringend
erforderlich war, einen Ausweg zu finden. Dieser besteht darin, das gemeinsame
Entstehen in Wechselwirkung, pratitya
samutpada, zugrunde zu legen, wie er bereits in der Präambel deutlich
macht.
Nishijima Roshi kommt zum
gleichen Schluss: „Das idealistische Leiden, die Ideen über Handeln, materielle
Formen und auch die Ideen über handelnde Menschen sind genauso unwirklich wie gedachte Ergebnisse, denn
Ideen und Vorstellungen werden in unserem Gehirn
erzeugt, und das ist nicht die Wirklichkeit. Man kann sie mit der
imaginären, nicht wirklichen Stadt Gandharva gleichsetzen, die nur in der
Vorstellung existiert und in der nach der Legende keine Verbrechen vorkommen,
sodass es dort auch keine Gefängnisse gibt. Aber dies alles sind nur
Illusionen. Man kann sie mit Träumen und Bildern vergleichen, die wir im Schlaf
sehen. Wer träumt nicht von einer solchen idealen Stadt? Aber die gibt es
nicht!
Kapitel 18: Wirklichkeit
des Selbst, Âtman und Buddha-Natur
In der vorbuddhistischen Zeit der Veden und
Upanishaden gab es den Glauben an einen unveränderlichen ewigen Wesens-Kern im
Menschen, der Âtman genannt wurde. Buddha lehnte diesen Glauben radikal ab.
Warum war das für ihn so wichtig? Und was war ihm bei Suche nach der Wahrheit des
Menschen, des Lebens, der Überwindung des Leidens und der Befreiung durch das
eigene Erwachen klar geworden?
Nach dem altindischen Glauben würde der
unveränderliche Âtman-Kern durch die aufeinander folgenden Millionen von
Wiedergeburten wandern. Er beschmutzt sich durch schlechte Taten und schlechtes
Karma und muss sich davon total reinigen, bis er sich mit Brahman vereinigt und
sich seine Individualität ganz auflöst. Der Kern sei dann von Natur aus rein
und ohne beschmutzte psycho-physische Merkmale. Erst dann seien die Qualen der
Wiedergeburt beendet. Er muss also von den Beschmutzungen und schlechtem Karma
gereinigt werden, um nach vielen Millionen von Wiedergeburten in dem großem Einen Brahman aufzugehen. Durch
ethisch gutes Handeln sei es möglich, eine günstige Wiedergeburt zu erlangen
durch schlechtes Karma gäbe es eine schlechte Wiedergeburt. Bei vollständiger
Reinigung des Âtman wäre es möglich, das Ende der Wiedergeburten zu erreichen.
Die hiesige Welt des Samsara sei gekennzeichnet durch Leiden, Schmerzen und
unzählige Problemen und Schwierigkeiten.
Kalupahana (S. 58 ff.) sagt dazu: Buddhas
Lehre der „Soheit“ stehe dagegen in engem Zusammenhang mit der wahren Natur des
befreiten Menschen, der seine menschliche Bestimmung und sein menschliches Ziel
erreicht hat Dabei seien spekulative
Ideen, metaphysische Behauptungen und unheilsame Doktrinen zu vermeiden. Die
vorbuddhistischen Denker hatten absolutistische Vorstellungen entwickelt, zum
Beispiel ein alles überdauerndes universales Selbst, den Âtman. Es gäbe aber im
Buddhismus leider mit buddhistischen Begriffe ganz ähnliche Doktrinen.
„Für Nâgârjuna war es evident, dass die in der
Doktrin der Sarvastivadins enthaltende Konzeption von Substanz (svabhâva) in
allem (der Wirklichkeit) maßgeblich war und wie eine solche doktrinäre Idee die
gesamte Interpretation eines Tathâgata (Buddha) beeinflussen konnte. Daher
haben wir (in dieser Doktrin) zwei metaphysische Grundlagen, die verbunden
sind: die Metaphysik von „allem“ (der Wirklichkeit) und die der „absoluten
Wahrheit“. Und weiter „wie bereits angemerkt, war Buddha nicht willens, über
die Natur des Befreiten nach dem Tode
zu spekulieren, aber er wollte positiv darüber sprechen, was sich bei seinem
Tod ereignet hatte“. Kalupahana zitiert dazu Buddha: „Dies ist der letzte
Körper und das Zentrale des höheren Lebens. Dabei ist das vollkommene Wissen
ohne (doktrinäre) Abhängigkeit von irgend etwas anderem.
Die (weitere) Geburt ist beseitigt, das höhere Leben
(der Befreiung) wurde gelebt. Getan ist, was getan werden musste, und es gibt
kein anderes dieses (Lebens)“. Ein solches Leben sei das Ergebnis moralischer
Vollkommenheit, wenn jemand von den drei Giften Gier, Hass und Verblendung
Freiheit erlangt hat. Es sei das endgültige Nirvâna und sei die vollkommene
auch moralische Wahrheit dieser Welt: „Als solches hat sich das Leben selbst
verwirklicht und ist nicht als Zustand bekannt, der (unfreie) Abhängigkeit von
anderen hat“. Diese Abhängigkeit sei das Gegenteil der Wechselwirkung, die in
der Präambel des MMK genannt ist (pratitya samutpada).
Kalupahana weiter: Dabei würde Nâgârjuna sich der unfruchtbaren und oft
überspitzten Diskussion und den unfruchtbaren Konflikten von Hinayana und
Mahâyâna entziehen. Der genannte Zustand des befreiten und erleuchteten Menschen
sei im Übrigen auch ohne eine ununterbrochene Übertragungslinie der Lehre bis
zu Buddha von den Menschen selbst zu erreichen, weil diese Befreiung der wahren
Natur des Menschen entspricht und in sofern unabhängig von schriftlicher und
mündlicher Überlieferung sei. Ich möchte allerdings hinzufügen, dass die
buddhistische Lehre, die authentisch in einer Übertragungslinie übermittelt
wurde, eine große Hilfe für die Schüler ist. Diese buddhistische Lehre ist
nicht zuletzt von genialen Meistern vertieft und erläutert worden. Allerdings
war und ist die wahre Lehre leider durch unklare selbsternannte Meister und
angebliche Lehrer immer wieder in Gefahr, verwässert und verzerrt zu werden.
Buddha lehnte den brahmanischen Glauben grundsätzlich
ab, weil er gerade das Leiden erzeugen und nicht überwinden würde. In den
Jahrhunderten nach Buddha entstanden aber mehrere Schulen und Strömungen, die
mit den buddhistischen Begriffen dem Glauben an das alte âtman-Selbst wieder
sehr nahe kamen. Die Idee der Ewigkeit und eines unveränderlichen von Natur aus
reinen Selbst ist vermutlich tief als große Sehnsucht im Menschen verankert und
zwar in vielen Religionen und Weltanschauungen. Aber führt die Abhängigkeit von
einer Sehnsucht und Illusion schon zum Glück in der Wirklichkeit, zum
Gleichgewicht und Frieden im Leben hier und jetzt? Buddha verneinte dies und
erarbeitete einen pragmatischen und geistig klaren Weg der eigenen Entwicklung
zur Freiheit von Gier, Hass und Verblendung und damit zur Überwindung des
Leidens und zur Emanzipation. Denn ein solcher von Sehnsucht getriebener Glaube
führt zu gefährlichen Spekulationen, ethischen Sackgassen, und kann sogar zu
Machtmissbrauch durch die herrschenden religiösen Eliten entarten. Meist wird
der Geist damit immer unfähiger, die eigen Probleme des Menschen in ihrer
Kausalität, Wechselwirkung und Vernetzung zu erkennen, zu durchleuchten und
kreative neue und bessere Wege im Leben zu verwirklichen.
Nâgârjuna beschäftigt sich in diesem Kapitel intensiv
mit den Widersprüchen und der Inkonsistenz des Glaubens an einen Âtman oder an
ein substanzhaftes Selbst und an substanzhafte unveränderliche Phänomene, das ist die Doktrin des Substantialismus. Er stützt
so die authentischen buddhistischen Lehre. Dabei verwendet er scharfsinnige Argumentationen, die nicht
zuletzt die logische Widersprüche der Doktrinen aufzeigen und damit die
Absurdität des Geglaubten, der nicht hinterfragten Illusionen und der
unheilsamen Konzepte offen legen.
Er untersucht, wie die Vorstellung eines isolierten
unveränderlichen Selbst für die Beziehung zu einem anderen Menschen, also zu
dem anderen Selbst sein kann, und sagt ganz einfach, dass auch das andere
Selbst nach dieser Weltanschauung isoliert und unveränderlich sein müsste. Es
kann daher überhaupt keinen Kontakt und keine Wechsel-Wirkung mit anderen Selbsten
aufnehmen. Das unveränderliche eigene Selbst als Weltanschauung verbietet also,
dass das Selbst des Anderen beweglich und entwicklungsfähig ist. Beide Aussagen
des Selbst und Anderen machen also keinen Sinn.
Der Begriff des Sanskrit-Begriffs Âtman wird häufig viel zu allgemein mit dem „Selbst“ übersetzt. Dem möchte ich nicht folgen, weil es
um den sehr spezifischen Glauben im vorbuddhistischen Indien handelt.
Zweifellos ist eine gründliche Untersuchung schwierig, was ein Ich, ein Ego,
ein großes oder kleines Ich, ein offenes oder isoliertes Selbst usw. wirklich ist und
führt bei der diesen alternativen Begriffen häufig zu Missverständnissen. Dies
umso mehr, weil in der westlichen Philosophie dem Ich und Individualismus eine
sehr große Bedeutung zukommen. Dann muss die buddhistische Lehre von dem
Nicht-Ich Erstaunen hervorrufen.
Ich verwende den Begriff des Âtman nur in der
altindischen Bedeutung, nicht zuletzt für die unzähligen Wiedergeburten. Aber
dann stellt sich unvermittelt die Frage: Gibt es bei Buddha oder im Zen ein
wahres Selbst und was wäre ein nicht-wahres Selbst? Für die buddhistischen
Doktrin des Substantialismus verwende ich dabei den Begriff „Substanz-Selbst“,
dies bezeichnet den Glauben an einen substantialen unveränderlichen und unsichtbaren Kern des Selbst.
Wir leben heute im Westen in einem Zeitalter des
dominanten Individualismus, der einen oft diffusen Freiheitsbegriff verwendet
und diesen oft über alles andere stellt, insbesondere über die ethische
Verantwortung für andere und die Gemeinschaft. Ein solcher übertriebener Ich –
Bezug kann in sehr verschiedenen Formen auftreten, zum Beispiel als
rücksichtsloser Egoismus in materieller oder ideologischer Weise. Manchmal ist
es schwierig den wirklichen Ego-Zentrismus zu erkennen, der auf Klagen, Jammern
und Verzweiflung basiert, aber nicht weniger um sich selbst kreist. Besonders
zerstörend ist ein ausgeprägter Narzissmus, sich chronisch selbst überhöht und
andere Menschen erniedrigt und niedermacht.
Es muss erwähnt werden, dass in der vor-buddhistischen
Zeit der feste Glaube bestand, dass man in einem Leben immer nach
unumstößlichem göttlichen Gesetz total an die eigene festgelegte Kaste durch
Geburt gebunden ist. Die Kasten-Regeln sind also göttlich und deren
Verletzung wurde streng geahndet. Erst durch die Wiedergeburt ergäbe sich je
nach Karma der Wechsel der Kaste. Dann sei vielleicht sogar ein Aufstieg in die
höchste Kaste der Brahmanen möglich. Besonders fatal und aussichtslos war
dieser Glaube für die unterste Schicht der Kastenlosen, die damit ein sehr
schweres Leben und zudem eine düstere zukünftige Wiedergeburt zu erwarten
hatten. Es fällt nicht schwer, in diesen Dogmen den Machtmissbrauch der
damaligen Eliten zu vermuten, die sich damit eine privilegierte Rolle nicht nur
im Diesseits, sondern auch im Ablauf der Wiedergeburten sichern konnten. Das
war sicher dem Buddha nicht verborgen geblieben.
Im Klartext: Buddha hielt diese angeblich göttliche
Gesetz für ethisch nicht vertretbar und zudem als solche konstruiert. Ich
vermute, dass er nicht zuletzt deswegen den Glauben an die Wirklichkeit des 1Atman kategorisch ablehnte. Seine Lehre der Vier Edlen Wahrheiten und des
Achtfachen Pfades negiert jede Bindung an eine bestimmte Kaste und eröffnet für
jeden Menschen vom Kastenlosen bis zum Brahmanen die Überwindung des Leidens und
Befreiung.
Dieses Kapitel ist zwar nicht lang, hat aber eine
sehr große Bedeutung. Es schafft Klarheit für Doktrinen, die nach Nagarjuna ein
fiktives substantiales und unveränderliches
Selbst behaupteten. Nagarjuna weist nach, das eine solche Doktrin in
unlösbaren Widerspruch zur authentischen Lehre Buddhas steht, die durch
Veränderung, Befreiung, Emanzipation und Weiter-Entwicklung zu ungeahnten
Zuständen und Prozessen des Lebens gekennzeichnet ist. Diese Aussagen zum Menschen
und seinem Selbst knüpfen an dem destruierten Sanskrit-Begriff svabhâva für die fiktive Eigen-Substanz an, den angeblich unveränderlichen Dingen und Phänomene, also den Dharmas. Sie wurden als unveränderliche und nicht teilbare Bausteine der Welt verstanden
Im vorigen Kapitel des MMK wurde
die zentrale Bedeutung von Handlungsprozessen des Karma für die Bildung und
Entwicklung des Menschen als Individuum herausgearbeitet, der in laufender
Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Welt vernetzt ist. Und eine
ähnliche Wechselwirkung findet laufend in dem neuronalen Netz unseres Gehirns
statt. Ob Buddha und Nagarjuna davon ein intuitives Wissen hatten? Denn im
neuronalen Netz gibt es keine unveränderliche Statik von Gegenständen, keine
substantialen Zustände, keine abrupt unterbrochenen Momente und schon gar
keinen ewigen Substanz-Kern des Selbst. Dies ist in der modernen Psychologie
und Gehirnforschung völlig unbestritten.
Warum haben Buddha und Nâgârjuna die Vorstellung und
Doktrin eines derartigen unveränderlichen „Ur-Selbst“, Substanz-Selbst oder
„Âtman-Selbst“ als Fiktion und Selbst-Täuschung so radikal abgelehnt? Diese
Frage ist sicher nicht einfach zu beantworten. Von zentraler Bedeutung ist aus
meiner Sicht, dass mit einer solchen Doktrin wichtige Entwicklungs- und
Lern-Prozesse sowie Wechsel-Wirkungen in der realen Welt der Veränderung und
Vernetzung nicht verstanden werden können. Denn die Überwindung des Leidens und der
Schmerzen, die selbstverständlich Veränderungs-
und Transformations-Prozesse des Menschen sind, passt nicht zu der Doktrin des statischen unveränderlichen
Substanz-Selbst und der Sbstanz-Dharmas. In der indischen Kultur und sicher auch im Westen scheint
es allerdings eine große Sehnsucht nach einer unzerstörbare, unveränderliche Ich-Substanz oder Ich-Essenz im
Menschen zu geben. Diese Weltanschauung widerspricht aber der Realität der
Weitentwicklung und Emanzipation des Menschen. Und diese Realität wird durch
die aktuelle Gehirnforschung bestätigt.
Entgegen den Vorstellungen des Âtman lehrte Buddha
die Bedeutung der Komponenten des Menschen, der sogenannten fünf Skandhas, die er
pragmatisch präzisiert und für seine Lehr-Reden zum Menschen verwendet hat. Die
Lehre oder besser den Glauben an einen Âtman hat Buddha dem gegenüber radikal
abgelehnt, aber damit zugleich ein simples Modell der Wiedergeburt negiert.
Dieser Glauben besaß gerade für weniger gebildete Menschen zweifellos wegen der
Einfachheit der Glaubensannahmen eine große Attraktivität und
Überzeugungskraft.
Die Untersuchungen zur fiktiven Eigen-Substanz, svabhâva, der Dinge und Phänomene,
lassen sich sinnvoll verallgemeinern auf das ganzheitliche menschliche Leben.
Wenn diese unveränderlichen Eigen-Substanzen nämlich als Entitäten des Menschen
existieren, fragt sich, wie die Entwicklungs- und Veränderungs-Prozesse
überhaupt erklärt werden können? Unveränderliche Eigen-Substanzen müssten
nämlich ein unveränderliches Substanz-Selbst bedingen. Ganz kurz einige
Anmerkungen zur Entwicklung des Menschen: Zunächst gibt es eine rasante
Entwicklung und gewaltige Lernprozesse des Embryos, Säuglings, des Klein-Kindes
und im Jugend-Alters, da ja fast alles auf dieser Welt erlernt werden muss.
Dies wird auch von der Entwicklungs-Psychologie und Gehirnforschung voll
bestätigt. Danach kommt es oft zunehmend leider zu Unbeweglichkeit und
Unveränderlichkeit des Menschen. Die Fähigkeit und Motivation zum Lernen und
Verändern geht zum Teil klar zurück. Aber unser „Glücks-Zentrum“ ist weitgehend
identisch mit dem Lern-Zentrum im Gehirn: ohne Weiterentwicklung keine Freude
und kein Glück. Viele Menschen wirken leider in mittleren und höheren Jahren
schon recht festgelegt und unbeweglich in ihren vorgefertigten Meinungen und
Vorstellungen und leider häufig auch in Ideologien, Doktrinen und Einsamkeit.
Sie entwickeln und verändern sich geistig und
psychisch nur noch wenig weiter. Der Slogan „lebenslanges Lernen“ soll dem
entgegenwirken, da in der heutigen Zeit mit den schnellen Veränderungen im
technischen aber vor allem im psychischen und sozialen Bereich ein solches
lebenslanges Lernen und Entwickeln erforderlich erscheint, um nicht aus der
Gesellschaft herauszufallen. Aus meiner Sicht ist dies genau die Zielrichtung
Buddhas und Nâgârjunas: Wie kann eine solche Erstarrung, Verhärtung, Verengung
oder Dogmatisierung verhindert werden, die zu Schmerzen und Leiden führen
müssen? Denn oft sind damit
Vereinsamung, Isolation, Unlebendigkeit und häufig Depressionen
verbunden. Früher hieß es „Wer rastet der rostet“, heute heißt es eher „Die
Rente und das Alter genießen“. Aber ist das wirklich Genuss? Wenn das nur so
leicht wäre. Ein alter chinesischer Chan-Meister formulierte:“ Ohne Arbeit kein
Essen“, als die jungen Mönche ihm das Handwerkzeug zur Arbeit wegnahmen, um ihn
zu „schonen“. Er begann einen Hungerstreik, bis ihm die Werkzeuge zurückgegeben
wurden.
Nâgârjuna beginnt dieses Kapitel mit der Analyse
eines isolierten, unveränderlichen Substanz-Selbst und beweist, dass dieses
nicht in der Wirklichkeit beobachtet werden kann, also eine Vorstellung,
Fiktion und abstrakte Idee ist und bleibt. Er analysiert scharfsinnig die
Widersprüche und Inkonsistenz des Glaubens an ein solches Substanz-Selbst oder Âtman und arbeitet die Unvereinbarkeit mit der authentischen buddhistischen
Lehre heraus. Er verwendet dabei eine philosophisch präzise Argumentation, die
nicht zuletzt logische Widersprüche aufzeigt und damit die Absurdität des
doktrinär Geglaubten und der nicht hinterfragten Konzepte offen legt. Auf diese
Weise destruiert er die Doktrin des Substanz-Selbst.
Wie aus den vorherigen Kapiteln klar geworden ist,
behandelt Nâgârjuna aus verschiedenen Perspektiven die Problemen der unklaren
Vorstellungen und unklaren Konzepte des Substanz-Selbst; nicht zuletzt weil
sich etwa 600 Jahre nach Buddha in Indien verschiedene Lehrmeinungen entwickelt
hatten, die sich dem Glauben an ein Âtman-Selbst bedrohlich angenähert hatten.
Dabei wurde der vorbuddhistische Begriff des Âtman nicht wörtlich verwendet,
denn das hätte wohl den Ausschluss aus der der buddhistischen Gemeinde, Sangha,
zur Folge bedeutet. Es ist sicher das große Verdienst Nâgârjunas, diesen
Unklarheiten und Fehlentwicklungen der buddhistischen Lehre und den
verfestigten Doktrinen seiner Zeit auf die Spur gekommen zu sein, um mit seinem
präzisen Wissen und Argumentieren für Klarheit zu sorgen.
Wir leben sicher im Westen heute in einem Zeitalter
des übertriebenen Individualismus, der einen absoluten Freiheitsbegriff oft
über alles, insbesondere über die ethische Verantwortung für die Gemeinschaft
stellt. Es gibt dabei die Form des
fixierten Egozentrismus, der auf Klagen, Jammern, Zweifelsucht und Verzweiflung
basiert und nur um sich selbst kreist. Damit ist die häufig anzutreffende
Opferrolle angesprochen, in die sich Menschen hinein manövrieren und sich nicht
zuletzt eine fixierte Opferbiografie konstruieren, die ihr ganzes bisheriges
Leben umfasst und in die Zukunft fortgesetzt wird. Die Psychologin Verena Kast
hat dies in ihren Therapien erfahren und vertieft analysiert. Es ist sehr
schwierig einen Menschen, der sich in die Opferrolle verbarrikadiert hat,
überhaupt positive Erlebnisbereiche zu verdeutlichen und lebendig zu machen.
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Opferrolle
die eigenen Probleme nicht löst, sondern selbstverstärkend fixiert. Wie wir
heute wissen, verengen sich dadurch Psyche und Geist und das Immunsystem wird
nachhaltig geschwächt, sodass neben den psychischen Krankheiten die
Lebenserwartung signifikant sinkt. Kreative Interaktionen mit Anderen in einer
Gruppe und nicht zuletzt im Beruf sind mit Freude verbunden, aber „Angst macht
nicht nur dumm“, sondern zerstört auch die Kreativität. Wer aber aus seinem eigenen
Leiden herauskommen und sich heraus entwickeln will, braucht gerade ein hohes Maß an Kreativität, um eigene Strategien
zu entwickeln, Kräfte aufzubauen und sich individuelle Perspektiven der
Veränderung zu erarbeiten, um aus den Schwierigkeiten herauszukommen.
Für mich sind die Lehren Buddhas der
Weiterentwicklung, der Überwindung des Leidens und schließlich des Erwachens
von zentraler Bedeutung, die mit dem Glauben an einen unveränderlichen, ewigen Âtman und unveränderlichen Dharmas unvereinbar sind.
Nishijima ergänzt: „Der Glaube an einen ganz
bestimmten ewigen Seelenkern, der im alten Indien Âtman genannt wurde, wurde
von Gautama Buddha abgelehnt. Auch Nagarjuna kritisiert die Âtman – Lehre in
diesem Kapitel.“
Die Buddha-Wahrheit des Selbst und der Phänomene kann durch das
gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) verstanden werden.
Dies kann als die wahre Natur der Menschen und der Wirklichkeit bezeichnet
werden und muss von den Doktrinen des Âtman-Selbst und Substanz-Selbst
unterschieden werden. Das wahre menschliche Selbst der Wirklichkeit hat keine
Extreme wie plötzliches Verschwinden, das Nichts oder die unveränderliche
Dauerhaftigkeit und Ewigkeit. Diese Selbst wird durch die Leerheit von solchen
Doktrinen und durch das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung treffend
verstanden und beschrieben. Die Buddha-Wahrheit ist letztlich unabhängig von
bestimmten erleuchteten Menschen.
Nishijima Roshi ergänzt: „Auch die Buddhas, die ohne
Lehrer erwacht sind, werden das Problem des substantialen Selbst als fiktiv und
ohne reale Bedeutung durchschauen“
Buddha und Nagarjuna lehnen daher ein solches Substanz-Selbst oder Âtman-Selbst sowie der Substanz-Phänomene für
die Lebenspraxis ab, denn diese fiktiven Selbste führten unweigerlich ins
Leiden. Sie sind die Ursache für Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Intoleranz,
Narzismus, Überheblichkeit usw. aber auch für Kleinheitsgefühle,
Hoffnungslosigkeit, Selbstanklagen, Depressivität und Verzweiflung. Ein solches
Selbst ermöglicht gerade nicht die Überwindung des Leidens und die Befreiung durch
Erwachen und Erleuchtung.
Kapitel 19: Zeit, Augenblick und Wirklichkeit
Für Gautama Buddha stehen Entwicklungs- und
Befreiungsprozesse des Menschen im Mittelpunkt seiner praktischen und
theoretischen Philosophie. Da es sich um Veränderungen und Prozesse handelt,
ist die Dimension der Zeit und des Zeitablaufes natürlich von fundamentaler
Bedeutung: die Zeit ist nicht hintergehbar, ohne Zeit keine Lebendigkeit und
keine Emanzipation. Konstante Entitäten und Substanzen können sich nicht
verändern, weder zum Guten noch zum Schlechten. Sie können bestenfalls Zustände
beschreiben. Auch für die Untersuchung von Handeln und Karma hat die Zeit eine
zentrale Bedeutung. Daher ist die Doktrin des Substantialismus und damit der
Unveränderlichkeit für Phänomene und Prozesse der Entwicklung und des Entstehens problematisch und sogar unbrauchbar. Gleiches gilt für das ideologisch verhärtete
Verständnis des Momentanismus in der Zeit von Nagarjuna: Wenn man die Zeit
„zerhackt“ in Zeit-Momente, die nicht verbunden sind, kann es keine Kontinuität
und keine prozessuale Verbindung im Zeitablauf geben. Beide Doktrinen, der
Substantialismus und der Momentanismus werden in diesem Kapitel als unvereinbar
mit Buddhas Lehre destruiert.
Für Nâgârjuna ist es daher notwendig, im MMK eine
kurze Analyse der Zeit einzubringen und vor allem eine Abgrenzung gegenüber dem
Zeit-unabhängigen Substanz-Denken durchzuführen. Bei einer Weltanschauung von
unveränderlichen Dingen, Substanzen und Entitäten, die Zeit-unabhängig sein sollen,
ergibt sich eine radikale nicht überbrückbare Abgrenzung der Vergangenheit von der Gegenwart und zur Zukunft. Dann handelt es sich einschließlich der Gegenwart um drei jeweils
abgegrenzte blockhafte Entitäten. Aber es entsteht die zwingende philosophische Frage, wie
der Zusammenhang und die Kontinuität der Zeit mit Prozessen und dem Handeln
konstituiert sind. Dass die abgegrenzten und getrennt gedachten Zeitabschnitte
wenig brauchbar für Prozesse sind, steht außer Frage. Wenn es abgegrenzte
Zeit-Entitäten gäbe, müsste nämlich die Gegenwart und Zukunft in vollem Umfang
irgendwie in der Vergangenheit enthalten sein. Das heißt, wir hätten den
paradoxen Zustand, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft total identisch sind. Das ist natürlich
absurd: Wie sollen dabei Prozesse der Entwicklung, Befreiung und Emanzipation
ablaufen?
Bei der Doktrin des Momentanismus werden
diskontinuierliche sehr kurze abgegrenzte Zeiteinheiten angenommen, wie die
Sautrantikas zur Zeit Nagarjunas behaupten. Er untersucht daher in diesem
Kapitel in prägnanter Weise diese beiden wenig brauchbaren doktrinären Ansätze
der Zeit und schafft damit die Grundlage für die folgenden Untersuchungen, zum
Beispiel der Vier Edlen Wahrheiten Buddhas, den Achtfachen Pfad und die Befreiungsprozesse des
Menschen und die zu überwindende Hemmnisse.
Es ist spannend darauf hinzuweisen, dass die
Zeit-Philosophie des Augenblicks im
Zen-Buddhismus zwar ähnlich erscheint, aber als praxisorientierter Ansatz das Handeln im Augenblick und gerade auch die drei Zeiten der Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft einbezieht.[49]
Diese praxisorientierte Lebensphilosophie des Hier und Jetzt ist unauflösbar
mit dem Handeln verknüpft.
Das Zeit-Kapitel ist bei Nâgârjuna mit sechs Versen
kurz gefasst und präzisiert die Falsifizierung der beiden unbrauchbaren
Zeit-Philosophien einer totalen Identität
und totalen Differenz von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Entwicklung der
westlichen Philosophie unterscheidet sich durchaus seit Parmenides zumindest bis zu Hegel. Typisch ist, dass die Zeit weitgehend marginalisiert (Elberfeld) wurde und das Sein weitgehend zeitunabhängig philosophisch untersucht wurde. Es ist spannend
festzustellen, dass im Gegensatz zu dieser philosophischen Frage nach dem
unveränderlichen Sein in der westlichen Philosophie die Dimension der Zeit für
die Entwicklung der Naturwissenschaft zur wichtigsten Grundlage wurde. Als
Beispiele seien genannt: Fallgesetze, Bewegungsgesetze des Sonnensystems,
chemische Umwandlungen, mathematische Infinitesimalrechnung und schließlich
Einsteins Relativitätstheorie. Jede naturwissenschaftliche Untersuchung, die
nach wie vor hauptsächlich auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung innerhalb
der wechsel-wirkenden Welt basiert, kann ohne Zeitablauf überhaupt nicht
formuliert werden.
Nishijima Roshi sagt zur
Zeit: „Die wahre erlebte Zeit
des Buddhismus ist in der Theorie und Praxis von sehr großer Bedeutung. Auch in
der modernen Physik ist das Verhältnis von Zeit und Raum wichtig. Diese
Kenntnisse standen den Buddhisten zur Zeit Nagarjunas natürlich noch nicht zur
Verfügung, aber die großen Meister hatten eine tiefe intuitive Einsicht, was
die prozessuale wirkliche Zeit und
die Sein-Zeit des Handelns für den
Menschen und die Welt ist.“ Nagarjuna unterscheidet daher wie Dôgen zwischen der
wahrhaft erlebten erfahrenen Zeit des Augenblicks, bei der die Fülle der
Sinneskanäle und des neuronalen Netzes voll aktiv sind, und der Vergangenheit,
die lediglich durch im Gehirn gespeicherte Informationen erinnert wird, und der
Zukunft, die erwartet wird. Die Gegenwart hat damit zwei verschiedene
„Gesichter“. Sie ist einmal die gedachte und theoretische
Verbindung von der Vergangenheit und Zukunft und ist zum anderen die volle
lebendige Erfahrung des Augenblicks im Hier und Jetzt. In der lebendigen Gegenwart findet das
wahre Handeln statt: sei es das materielle Handeln des Menschen mit
Gegenständen, wie zum Beispiel beim Handwerk oder in der Landwirtschaft, oder
sei es die Kommunikation als lebendiges Erlebnis und Entwicklungsprozess in der
Wechselwirkung zweier oder mehrerer Menschen.
Nishijima Roshi: "Der Buddhismus hat als wesentliche Grundlage die
Wirklichkeit des wahren Handelns im gegenwärtigen Augenblick. Dies ist die
wahre Zeit der Wirklichkeit. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft lassen
das Handeln in der Realität zu. Sie sind lediglich Erinnerungen und
Widerspiegelungen in unserem Gehirn. Ich bezeichne sie als lineare Zeit. Für organisatorische und technische Fragestellungen
und Aufgaben ist die lineare Zeit sicher ein wichtiges Hilfsmittel, aber für
die Bereiche der existenziellen Wirklichkeit, nicht zuletzt in der spirituellen
Erfahrung, ist der gegenwärtige Augenblick wichtiger als alles andere.
Gegenüber dem wahren erlebten Augenblick ist eine Zeitangabe mit dem Begriff
„Gegenwart“ sehr viel abstrakter und ungenauer. Daher zähle ich die Vorstellung
der Gegenwart wie die Vergangenheit und Zukunft zur linearen Zeit und nicht zur
Sein-Zeit.
Im Shôbôgenzô von Meister Dôgen gibt es ein
gesondertes Grundlagen-Kapitel zur Sein-Zeit mit der japanischen Bezeichnung Uji, wobei U die Existenz und ji die
Zeit bedeutet. In diesem Vers kommt Nagarjuna
viele Jahrhunderte früher auf die gleichen existentiellen Aussagen über die
wahre Zeit wie Dôgen."
Selbst wenn die Bereiche des Lebens und die Dinge und
Phänomene der Welt sich in der Vergangenheit irgendwie entwickelt und verändert
hätten, aber dann statisch, verfestigt und doktrinär erstarrt sind, kann man
keine Verbindung zum Werden und zu Entwicklungsprozessen in der Zeit finden.
Wie erwähnt wird dies durch den Sanskrit-Begriff svabhâva und bhâva m. E. sehr
präzise von Nagarjuna beschrieben. Zum einen ist im Sanskrit der Begriffe svabhâva und bhâva zwar die Wurzel für
Werden enthalten, aber zum anderen ist die Bedeutung der Entwicklung und des
Werdens erstarrt oder verschwunden, sie hat keine Verbindung für die Gegenwart und Zukunft. Nagarjuna destruiert hier
die Doktrin des Substantialismus und der zeitlichen Unveränderlichkeit. Eine solche
Weltanschauung ist selbstverständlich für Befreiungs- und Entwicklungs-Prozesse unbrauchbar. Demgegenüber bedeutet das Wort bhava (kurzes a) wirkliche Veränderung,
Prozesshaftigkeit und Temporalität. Die beide Begriffe bhâva und bhava werden
hier verwendet und gegen einander gestellt. Sie dürfen nicht verwechselt werden!
Wie in dem Kapitel über das Selbst und des Phänomens mit dem Sanskrit-Begriff
svabhâva ist ein solches verfestigte Verständnis der Dharmas des Menschen und
seines Lebens besonders fatal. Zudem kommt es der vor-buddhistischen
Weltanschauung eines ewigen unveränderlichen Ich-Kerns, des Âtman-Selbst,
bedenklich nahe, den Buddha zu Recht in aller Klarheit abgelehnt hat.
In der Philosophie der Gegenwart hat sich Rolf
Elberfeld in seinem Buch Phänomenologie
der Zeit im Buddhismus, Methoden des interkulturellen Philosophierens
intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Er hat den tiefgreifenden Unterschied der westlichen Philosophie mit dem Buddhismus klar herausgearbeitet.
Nâgârjuna klärt hier das sinnvolle und
weiterbringende Verständnis der Zeit und macht dies an dem Begriff der
Wechsel-Wirkung, Vernetzung und Selbststeuerung im Zeitablauf mit und ohne
einwirkende Kraft fest. Er schlägt damit den Bogen zur Präambel und dem
gemeinsamen Entstehen in Wechsel-Wirkung,
pratitya samutpada. Eine verfestigte Vorstellung der Existenz und der
Unbeweglichkeit des Seienden als substantiale Entität ist
damit mit Veränderung und Emanzipation grundlegend nicht vereinbar.
Wie in dem vorigen Kapitel des MMK über das substantiale Sein des
Sanskrit-Begriffs svabhâva und das
substantialen Selbst, Âtman, ist ein
solches statisches und starres Verständnis des Menschen und seines Lebens besonders fatal:
Lernen und Emanzipationen sind dann unmöglich. Besonders die
vor-buddhistische Weltanschauung eines ewigen unveränderlichen Ich-Kerns, des Âtman-Selbst, wurde von Buddha als Leid bringend radikal abgelehnt. Im
gegenwärtigen Zeitalter des übertriebenen Individualismus zeigen sich leider
ganz ähnliche Probleme. Dieser Individualismus kommt mit Egoismus, Narzissmus,
Mangel an Empathie, Macht-Anspruch materieller Selbstsucht, Fake-News usw. daher. Nicht
zuletzt deswegen kann der Buddhismus heute im Westen das Leiden, die Depressionen und die Vereinsamung nachhaltig
vermindern und den Weg zur wahren Selbst-Steuerung und Freiheit eröffnen.
Kapitel 20: Gesamtheit von Verursachung, Frucht und
Wechselwirkung
Das Zusammenwirken von Ursache oder Verursachung und
Wirkung in einer ganzheitlichen Situation ist im Buddhismus von zentraler
Bedeutung und hat nicht zuletzt für die Vier Edlen Wahrheiten zur Überwindung
des Leidens eine hohe Aussagekraft. Gautama Buddha war einer der ersten in der
Menschheitsgeschichte, der Leiden direkt auf eigene oder fremde Fehler
zurückführte und lehrte, dass man das Enstehen des Leidens genau
analysieren, achtsam beobachten und wissen könne. Dann sei es möglich beim Entstehen und den Ursachen anzusetzen, Veränderungs-Prozesse in die Wege zu leiten und
dadurch aus dem Leiden heraus zu kommen. Buddha war also ein Therapeut, der
ohne religiöse Glaubens-Modelle durch Vernunft und geschulte Intuition die
Ursachen und Wechselwirkungen von Schmerzen und Leiden angegangen ist. Nach der
Überwindung des Leidens auf ein "normales" Niveau ging es ihm um die weitere Fortsetzung des Wegs zum Erwachen, das heißt um die Befreiung des Menschen von
Doktrinen, Dogmen, Hemmnissen, Vorurteilen, Eingrenzungen usw, die wiederum Ängste und
Leiden hervorrufen.
Das Grundmodell des Lebens ist für Buddha also, dass
verursachende und auslösende Prozesse auf ein gesamtheitliches Gefüge treffen
und dadurch Wirkungen entstehen, die zum Leiden oder gerade zum Gegenteil der
Befreiung führen. Es geht dabei aber nicht um ein eindimensionales Modell von
einer Ursache und einer Wirkung. Das ist zu simpel und wirklichkeitsfremd für
jedes Leben. Kalupahana spricht daher beim System als Ganzes von der „Harmonie“
der Ursache, Bedingungen und Wirkungen oder Früchten [50].
Damit wird deutlich, dass wir es mit einem Systemansatz zu tun haben, der eine
große Ähnlichkeit mit Ökosystemen aufweist. So war das Verursacherprinzip beim
ersten Umweltprogramm in Deutschland von zentraler Bedeutung. Der oder die
Verursacher für Folgeschäden im Ökosystem sollen dabei ausfindig gemacht werden
und die zur Verantwortung gezogen werden.
Dies ist ein neuer Ansatz und das zentrale Thema des
ersten Umweltprogramms der Bundesrepublik Deutschland und der folgenden
Gesetzgebung. Wenn es einer klaren Hauptverursacher gibt, kann man leicht und
fast linear von der schädlichen Wirkung aus auf die Ursache schließen. Das gibt
es sicher auch im körperlichen, geistigen und psychischem Bereich. Aber nicht
immer sind die Zusammenhänge so einfach und eindimensional, sondern bedürfen
einer gründlichen Analyse der Achtsamkeit beim Menschen. Gautama Buddha hatte vor allem das
Wohlergehenden der einzelnen Menschen und die menschlichen Gruppen im Sinn und
entwickelte eine praktische Philosophie, die für Entwicklungsprozesse und
therapeutisches Handeln gleich gut geeignet sind. Dies ist aus meiner Sicht das
Besondere und Einzigartige seines Wirkens. Er baut auf dem gemeinsamen Entstehen
in Wechselwirkung (prartitya samutpada)
und auf der Vermeidung von absoluten und doktrinären Extremen auf. Damit
gewinnt es eine praktikabel handhabe Komplexität, ohne in chaotische und
verwirrende Zusammenhänge zu geraten (prapanca). In der Wirklichkeit haben wir es meist nicht mit einer
uni-direktionalen Kette von Ursache und Wirkung zu tun, sondern eben um Vernetzungen,
Rückkoppelungen und Nicht-Linearitäten.
Wie in der Präambel des MMK thematisch umrissen,
ergibt sich durch die Lehre des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung ein Realitäts nahes philosophische System, das die Grundlage
für die weiteren Kapitel des MMK bildet. Die Wechselwirkung ist eine
Prozess-Vernetzung und nicht ein linearer Prozess, wie die Aussage, von Ursache
und Wirkung vielleicht zunächst suggerieren mag. Zwischen Ursache und Wirkung
sind im Allgemeinen komplexe lebende Systeme wirksam, die verschiedene
Gesetzlichkeiten und Selbststeuerungen haben, aber gleichwohl zu einem Output
nämlich der Wirkung führen. Im Buddhismus wird die Wirkung im Allgemeinen als
Frucht oder Ergebnis bezeichnet und häufig an dem Modell der Wiedergeburten und
von mehreren Leben festgemacht. Damit wird eine Verbindung hergestellt, was im
folgenden Leben aus dem vorherigen wirksam ist, insbesondere ob man ein gutes
oder schlechtes Schicksal oder Karma hat.
Ein Schwerpunkt liegt drauf, ob man auf der
Sonnenseite leben kann oder aber mit großen Problemen und Schwierigkeiten zu kämpfen
hat. Unabhängig davon ist aus meiner Sicht vor allem wichtig, dass die
Wirkungen vom Handeln bereits in diesem Leben da sind, also dass vernetzte Kausalprinzip
wirksam ist. Im Zen-Buddhismus steht daher dieses konkrete Hier und Jetzt des Handelns im
Mittelpunkt der Lehre und Praxis. Das Modell der Wiedergeburt birgt die
Schwierigkeiten, dass man mit phänomenologischen oder empirischen Methoden nur
sehr schwer Klarheit bei der Reinkarnation bekommen kann und dass dadurch Raum
für Spekulationen entsteht, der wiederum
Ängste und Abhängigkeiten von religiösen Machtstrukturen und Unterdrückungs-Mechanismen
erzeugt. Dann wird eventuell ein Mensch, dem es schlecht geht, zusätzlich
dadurch abgestempelt, dass er ja ein schlechtes Karma von früher habe und damit
selbst fertig werden muss. Er müsse sein schlechtes Karma abarbeiten. Eine
solche Lebensphilosophie kann natürlich nicht mit Buddhas authentischer Lehre
in Einklang gebracht werden.
In diesem Kapitel untersucht Nâgârjuna fehlerhafte
Ansätze und doktrinäre Lehren des Zusammenhangs von Verursachung und Wirkung
und verwendet dabei im Allgemeinen den Begriff Frucht für die Wirkung. Bestimmte doktrinäre Lehren wurden in den Jahrhunderten nach Buddha im Rahmen des
Abidharma entwickelt. Im ersten Kapitel des MMK wird ausgeführt, dass alle
lebenden Zusammenhänge durch Wechselwirkung und bestimmte wechselwirkende
Faktoren gekennzeichnet sind, die mit der Verursachung unauflösbar zusammen
hängen. Eine buddhistische Theorie, die Entwicklungen und zeitliche Prozesse
vernachlässigt, kann daher nicht in der
Lage sein, den zusammenhängenden Prozess von Verursachungen, Bedingungen und
Wirkungen richtig zu beschreiben. Eine solche fehlerhafte Lehre gab es allerdings zur
Zeit Nâgârjunas für die Dinge und Phänomene und des Menschen, die als
unveränderliche ewige Substanzen verstanden wurden, die grundsätzlich keine prozessualen Veränderung
und Wechselwirkung zulassen. Die meisten Argumente dieses Kapitels beschäftigen
sich mit dieser fehlerhaften Weltanschauung. Wenn dieses Fehler vermieden werden, entwickelt die buddhistische Praxis und Theorie eine neue gute Energie!
Nâgârjuna weist präzise nach, dass mit der fehlerhaften Doktrin der
Zusammenhang von Verursachungen, wechselwirkende Faktoren und Wirkungen nicht
schlüssig verstanden und beschrieben werden kann. Ich bezeichne
substantialistisch verstandene Dinge und Phänomene, Dharmas, als Entitäten. Es kann zwar unterstellt werden, dass die Dharmas eventuell in irgendeiner Weise einmal durch
zeitliches Werden entstanden sind, aber dann unveränderlich dauerhaft, isoliert
und ewig verstanden werden. Die Sanskrit-Bezeichnung dafür ist svabhâva: etwas
Isoliertes und Unveränderliches. Diese Vorstellung kommt dem Âtman der
vor-buddhistischen Zeit sehr nahe und kann etwa als unveränderlicher Ich-Kern
oder Eigen-Substanz bezeichnet werden.
Heute würden wir eine solche Weltanschauung als extremen Individualismus
bezeichnen, der ausschließlich auf sich selbst und das eigene Ich zentriert ist. Er lässt wenig oder kaum Lernprozesse zu und vernachlässigt weitgehend die Wechselwirkung und Empathie im
sozialen Zusammenhang. Daraus wird klar, dass ein
solcher extremer Individualismus zwangsläufig zu Schwierigkeiten, Leiden und Vereinsamung im
Leben führen muss, weil er die Sicht der Wirklichkeit viel zu sehr beengt. Es ist
bekannt, dass ein ich-zentrierter Mensch entweder zu Depressionen oder zu
Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen neigt. Aber der Mensch ist nicht zuletzt
durch seine Evolutions-Geschichte das sozialste aller Lebewesen auf dieser
Erde, wie der Psychologe und Gehirnforscher Manfred Spitzer unmissverständlich sagt.
In der Zeit Nâgârjunas gab es als Reaktion auf die
Weltanschauung der unveränderlichen Dauerhaftigkeit und Ewigkeit
(Sarvastivadins) die extreme Theorie isolierter Zeitmomente in der Welt, die
zwar die Starrheit der Dauerhaftigkeit und Ewigkeit überwunden hatte, aber die
zeitliche Kontinuität von Prozessen und Vernetzungen nicht angemessen
beschreiben konnte (Sautrantika). Danach würde die gesamte Welt und alle Dinge
und Phänomene in einer Folge und Kette von isolierten Momenten neu entstehen und total
verschwinden und vergehen. Diese Weltanschauung konnte zwar eine gewisse
Beweglichkeit in der Zeit begründen, aber keine kontinuierlichen Entwicklungs-Prozesse im
Zeitablauf beschreiben. Wenn also die Dinge und Phänomene plötzlich
total verschwinden und überhaupt nichts mehr da ist, so muss man dies auch als
nihilistische Doktrin ansehen. In einer extrem kurzen Übergangszeit zwischen
den substanzhaften Momenten ist danach überhaupt nichts mehr da.
Diese Philosophie darf jedoch nicht mit der Lehre der
Augenblicklichkeit des Handelns im Zen -Buddhismus verwechselt werden, die
phänomenologisch sowohl den zeitlich prozessualen Zusammenhang als auch den
Augenblick des Erlebnisses und der Erfahrung anerkennt und beides
zusammenbringt. So spricht beispielsweise der große Zen-Meister Dôgen von
vier Zeiten der erwachten Vernunft: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und
besonders und darüber hinaus der Augenblick [51].
Dabei wird das dualistische Denken im Handeln und im Augenblick vollkommen überwunden. Wer isolierte Momente in der Wirklichkeit behauptet, kann den Zusammenhang von
Ursache und Wirkung und schon gar nicht von vernetzten Ganzheiten erklären. Er negiert damit eine Kernaussage Gautama Buddhas, nämlich das Entstehens in
Wechselwirkung. Nâgârjuna falsifiziert diese naive Philosophie der getrennten
Momente, die keine prozessualen zusammenhängenden Entwicklungen der Dinge und
Phänomene zulässt.
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass sowohl eine
Philosophie der totalen Identität von
Ursache, Bedingungen und Ergebnis als auch eine Philosophie der totalen Unterscheidung und Differenz von
Ursache, Bedingungen und Wirkung unbrauchbar ist, um die Phänomene dieser Welt
und den Menschen in seinem Zusammenleben sinnvoll und realitätsnah zu
beschreiben. Die Philosophie der totalen Identität ergibt sich daraus, dass die
Phänomene von Ursache, Bedingungen und Wirkung als dauerhafte unveränderliche
und isolierte Entitäten gedacht werden und daher nur entweder zusammen und
ineinander geschachtelt auftreten können oder überhaupt nicht. Zeitliche
Veränderungen sind dann gar nicht möglich. Totale Differenz und Unterscheidung
bedeutet, dass die zeitliche Verbindung nicht vernünftig beschrieben werden kann,
die aber für alle prozessualen Entwicklungen und Veränderungen von zentraler
Bedeutung ist. Das ist besonders wichtig für Veränderungs-Prozesse des Menschen,
also die Überwindung des Leidens, der Befreiung und Emanzipation.
Nishijima Roshi unterscheidet hier den Buddhismus und
die Philosophie weltlicher Gesellschaften, die Gegenstand der westlichen
intellektuellen Philosophie sei. Demgegenüber sei der Buddhismus die
Philosophie der umfassenden Wahrheit, also der höchsten, dem Menschen
zugänglichen Wahrheit: „Aber in der buddhistischen Philosophie sind wir fest davon überzeugt, dass es unmöglich für uns ist, Erfahrung, Praxis oder Handeln zu
erkennen, ohne dass wir den Bereich des dualen Intellekts verlassen und in den
Bereich der Erfahrung, der Praxis und des Handelns direkt eingehen. Wir müssen
daher deutlich unterscheiden, wann die Idee eines Ergebnisses gedacht und
intellektuell konstruiert sei, wie es in den sozialen Gesellschaften üblich sei. Dann müsse
man das Ergebnis von der Ursache genau unterscheiden, weil eben das Ergebnis eine
intellektuelle Leistung ist, aber nicht eine unmittelbare Wirklichkeit des
Erfahrens und Handelns.
Und weiter: Die Ganzheit von Ursache und Wirkung, könne daher
nicht in zwei getrennte Entitäten unterteilt werden, sondern sei eine umfassende Ganzheit
im Handeln des Augenblicks. Dabei müsse man diese Ganzheit sich nicht zuletzt
als intuitive Vernunft vorstellen: „Meister Nâgârjuna stellt klar, dass sich
unsere umfassende und intuitive Ganzheit im Zustand des Gleichgewichts
ereignet.“ Dieses sei die ursprüngliche Quelle der buddhistischen Philosophie.
Nâgârjuna warnt davor die
Augenblicke wie Entitäten von einander zu trennen, sodass dann der Zusammenhang
von einem Augenblick zum nächsten nicht oder nur mysteriös erklärbar sei. Ich
folge ihm dabei aus dem Wissen der heutigen Gehirnforschung: In unserem
neuronalen Netz werden die verschiedenen Informationen der Vergangenheit mehr
oder minder genau gespeichert. Es werden ebenfalls Erwartungen der Zukunft
vorgehalten. Dabei spielt die Neugier für das nächste, was passiert, eine
besondere Rolle zur Aktivierung der entsprechenden Teilsysteme im neuronalen Netz
(Spitzer). Daher ist es einleuchtend, dass es im neuronalen Netz die Verbindung
von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft informationell gibt, aber es ist eine offene Frage,
wie weit uns dies überhaupt bewusst ist und bewusst sein kann. Wir wissen
heute, dass unser Gehirn mit dem Bewusstsein in großen Teilen des
Wissens und des Könnens nicht zu erschließen ist, sodass der Gehirnforscher
Spitzer zum Beispiel sagt: „Durch bewusstes Denken und Wollen sollten wir unser
Gehirn nicht stören“.
Was meint er damit? Viele Funktionen des Gehirns
laufen ohne unseren bewussten Willen ab. Dabei ist unser Unbewusstes ein
selbstlernendes und sich selbst organisierendes System. Ich mache selber häufig die Erfahrung, dass ich komplexe Zusammenhänge an einem Tag versuche
zu verstehen, dies aber nur zum Teil gelingt. Am folgenden Tag erkenne ich fast plötzlich Zusammenhänge und Verbindungen, die mir vorher nicht klar waren. Was
ist also passiert? Das neuronale Netz hat die Aufgaben während des Schlafens
weiter bearbeitet und Informationen, Verknüpfungen und sogar logische
Zusammenhänge hinzugefügt, die mir gar nicht bewusst waren. Diesen gesamten
Zusammenhang kann man als intuitive Vernunft bezeichnen, weil nämlich der
bewusste Teil unseres Gehirns sich mit den großen Leistungen des nicht-bewussten
Teils verbinden kann und damit Zusammenhänge und Lösungen ermöglicht werden,
die wir mit bewusstem oder gar intellektuellem Denken nicht leisten können. Auf
diese Weise kann man meines Erachtens auch die Bedeutung der Zazen-Meditation
zumindest teilweise erklären: Durch das „Abfallen von Körper und Geist“ im Zen
wird bewusstes Denken, bewusstes Wollen und bewusstes Fühlen zur Ruhe gebracht.
Dann wird die erweiterte intuitive Vernunft, also das Zusammenwirken größerer
Bereiche des neuronalen Netzes ermöglicht. Die Meditation des Zazen bewirkt
nicht nur die Minderung von Stress und Unruhe, sondern ermöglicht neue geistige
und auch ethische Klarheit.
Wenn wir dieses Wissen der modernen Gehirnforschung
auf das vorliegende Kapitel des Zusammenhangs von Verursachung und Wirkung
anwenden, so wird klar, dass in dem Augenblick, wenn wir psychisch und geistig
im Gleichgewicht sind, ein intuitives Gesamt-Verständnis im Augenblick möglich
ist. Diese Gesamt-Verständnis verbindet gespeicherte Informationen der Vergangenheit,
also der gedachten Gegenwart, und der Zukunft. Diese Informationen erscheinen
nicht in der bewussten Logik des Gehirns. Vereinfacht kann man dann sagen, dass
es eine funktionale Einheit von Verursachung und Wirkung im Geist gibt und dass
dies ein typischer Augenblicks-Zustand des von Buddha und Nâgârjuna gelehrte
„gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung“ ist. Es geht also um das gemeinsame
Entstehen als neuer Impuls aus den vorhandenen Informationen im vernetzten
Zusammenwirken unseres Geistes.
Dieser Zusammenwirken ist dem bewussten oder
intellektuellen Denken allerdings nur zum Teil zugänglich, denn er umfasst eine
viel größere intuitive geistige und psychische Ganzheit, eben das
wechselwirkende System. Ich finde es erstaunlich und habe tiefe Bewunderung für
Buddha und Nâgârjuna, dass sie diese Funktionen unseres Geistes und unserer
Psyche so klar erkannt haben, und zur Grundlage unseres geistigen, körperlichen
und psychischen Entwicklungsprozess gemacht haben. Wenn eine Philosophie sich
nur auf die Vernunft und Intellektualität bezieht, sind derartige Zusammenhänge
nicht erkennbar. Die gesamtheitliche intuitive geistige Leistungen, die sich
genau im gegenwärtigen Augenblick ereignen, bleiben dabei unberücksichtigt.
Es wird damit deutlich, dass ein vereinfachtes Modell
von Ursache und Wirkung in einem eindimensionalen uni-direktionalen zeitlichen
Ablauf die Realität der Gesamtheit von Verursachungen und Wirkungen im Netz
nicht wiedergeben kann. Daher muss das Verständnis der Kausalität dieser vereinfachten
Form erweitert werden, um der vernetzten Wirklichkeit näher zu kommen. Das ist
unter Verwendung der modernen Neuro-Wissenschaften eine brauchbare Erklärung für
die von Nishijima Roshi hervorgehobene Bedeutung der Einheit im Augenblick für
dieses Kapitel. Besonders schädlich wäre eine Substanz-Philosophie, die sowohl
die Ursache als auch die Wirkung wie eine getrennte Substanz und Entität
versteht und damit gravierende Unklarheit erzeugt. Das zu Grunde liegende
Modell der eindimensionalen Kausalität entspricht einer sehr einfachen Mechanik, dass zum
Beispiel eine Kugel den Impuls an eine andere Kugel weitergibt und insofern der
Zusammenhang von Ursache und Wirkung erklärt werden könne. Unsere geistige komplexe intuitive Vernunft kann mit solchen einfachen Modellen wirklich nicht
verstanden und beschrieben werden.
Die moderne Gehirnforschung zeigt uns, welche großen
Leistungen unser neuronales Netz erbringt, ohne dass wir davon bewusst etwas
mitbekommen oder gar durchschauen. Der Gehirnforscher Spitzer führt als
Beispiel an, wie Kinder die Sprache erlernen: Wenn sie zur Schule kommen, also
mit etwa sechs Jahren, beherrschen sie bereits ihre Muttersprache.
Sie haben die eigene Sprache dabei ohne „Büffeln“ und ohne besondere
Anstrengung erlernt. Sie haben kommuniziert, zugehört und selbst
gesprochen. Dadurch haben sich die Lern-Prozesse selbst organisiert. Wer eine
Sprache beherrscht, hat gleichzeitig die gesamte Grammatik ohne jede Mühe
mitgelernt. Wer umgekehrt die Grammatik einer fremden Sprache erlernen musste, weiß wie groß der Aufwand des bewusstes Vorgehen und „Büffeln“ notwendig ist.
Die deutsche Grammatik wird in einem Buch von vielen hundert Seiten beschrieben
und all dieses hat das Kind beim Erlernen der Sprache ohne Mühe ganz von allein
mitgelernt. Erst später kann die Grammatik zum Beispiel in der Schule bewusst
gemacht werden, indem die grammatikalischen Details benennbar und sozusagen
wieder entdeckt und ins Bewusstsein geholt werden.
Wenn ein Kind allerdings unter Angst-Druck und
verkrampft aufwächst und vor allem die Kommunikation mit der Familie verengt
und verspannt ist, kann sich ein solcher Lernprozess nicht gut selbst entwickeln,
er kann sich nicht selbst organisieren. Die hohe Bedeutung der Mitte und des
Gleichgewichts im Buddhismus für ein gutes und gelungenes Leben wird in diesem
Zusammenhang besonders klar. Der Geist als selbstlernendes System kann unter
Angst, Stress und Krampf nicht richtig funktionieren und Lernprozesse werden
sehr mühsam und wenig effizient durchlaufen, wenn sie denn überhaupt gelingen. Eine Befreiung von
bisherigen Leiden und die Eröffnung neuer intuitiver energetischen Möglichkeiten und
Kreativitäten erfordern daher, dass dieses Leben im Gleichgewicht und in der
Mitte gelingt und dass Extreme vermieden werden.
NishijimaRoshi ergänzt: "Aus meiner Sicht sind fast alle
philosophischen Systeme nur intellektueller Natur und vernachlässigen das
praktische Handeln, die Erfahrung, das menschliche Erleben und nicht zuletzt
das Gleichgewicht und die intuitive Klarheit des Buddhismus. Den Buddhismus
nenne ich daher die Philosophie der
umfassenden Wahrheit im Gegensatz zur intellektuellen Philosophie des
Denkens und der Sprache im herkömmlichen Sinne. (Die buddhistische Philosophie)
ist die Wahrheit der sozialen Gesellschaften.
Besonders die westliche Philosophie basiert auf dem
intellektuellen Denken oder der Sinneswahrnehmung, die aber letztlich auch ihre
Grundlage im intellektuellen Verständnis des Gehirns hat. Wir müssen aber den
Bereich des dualen Intellekts überschreiten und die Erfahrung, das Handeln und
vor allem das meditative Gleichgewicht einbeziehen. Dadurch gelangen wir zu
einer Philosophie der umfassenden
intuitiven (und nicht dualen) Vernunft und Klarheit. Diese sind für die
moderne jetzige Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Aus meiner Sicht ist die
Zeit jetzt reif dafür, um die gravierenden Missverständnisse zwischen Theorie
und Praxis zu überwinden.
Das umfassende intuitive Verstehen aus unserer
menschlichen Mitte und Balance, ist der Kern der buddhistischen Lehre. Dabei
ist vor allem zwischen der wahren umfassenden Vernunft und den angestrebten
Zielen und Ergebnissen zu unterscheiden, die dem Bereich der Ideen und des
dualen Intellekts angehören. Außerdem sind sie nicht selten Teile von völlig
unzuverlässigen Schein-Wahrheiten der Gesellschaft Politik, Wirtschaft usw.."
Nâgârjuna hat in den vorangegangenen Versen dieses
Kapitels mit allen Varianten und logischen Alternativen nachgewiesen, dass eine
Weltanschauung oder Doktrin getrennter Entitäten oder isolierter aus sich
selbst entstandener Substanzen für den zentralen Zusammenhang von Verursachung
und Wirkung in die Irre geht. Man kommt dann bei den wichtigen Phänomene der
Verursachung, wechselwirkenden Bedingungen und des Ergebnisses, hier als Frucht
bezeichnet, nicht weiter und es ergeben sich für viele möglichen Alternativen
unsinniger und widersprüchliche Schlussfolgerungen. Eine ethische Verantwortung
muss aber von dem Zusammenhang von Verursachung und Wirkung ausgehen, sonst
würde es zur totalen Willkür des moralischen Handelns unter den Menschen
führen, die für alle fatale Folgen hätte. Eine Gemeinschaft und ein sinnvolles
Zusammenleben wären dann nicht möglich, weil die Menschen keine Verantwortung
für ihre Handlungen übernehmen. Das widerspräche im Kern der buddhistischen
Lehre.
Der letzte Satz diese Kapitels im MMK unterstreicht, dass es
die Gesamtheit von Verursachung, wechselwirkenden Faktoren und Wirkung
selbstverständlich in der Wirklichkeit gibt. Die wahre buddhistische Lehre muss
so aufgebaut sein, dass es hierbei keine Widersprüche und Unsinnigkeiten gibt.
Auf diese Weise wird die Brücke zur wahren Lehre errichtet, die gerade nicht durch
Entitäten, Substantialität oder dem Nihilismus geprägt ist. Sie vermeidet alle Extreme
von total richtig und total falsch oder von totaler Existenz und totaler Nicht-Existenz.
Die obigen unterstellten Doktrinrn der totalen Identität und der totalen Differenz können also nicht richtig sein und widersprechen dem Buddhismus
fundamental.
Denn ohne Zweifel können
beim wechsel-wirkenden gemeinsamen Entstehen, pratitya samutpada, Verursachung, Bedingungen und Früchte des
Handelns sowie deren integrierte Gesamtheit wahrgenommen und gefunden werden.
Je genauer man dabei beobachtet, desto wirksamer sind die darauf aufbauenden
Handlungen. Diese Lehre ist Grundlage des heilsamen Zusammenlebens der Menschen
und des schonenden und nachhaltigen Umgangs mit der Umwelt und den Ökosysteme.
In diesem Kapitel geht es vor allem um die
Destruktion falscher Doktrinen, die eine effektive Analyse des Zusammenhangs
von Ursache und Wirkung unmöglich machen, die aber offensichtlich im indischen
Buddhismus eine erstaunliche Verbreitung gefunden hatten. Dies gilt besonders
für die westlichen Regionen des Buddhismus, in denen vereinfacht gesagt, ein
indisch-griechischer Buddhismus entwickelt worden war. Bekanntlich basiert die
griechische und die darauf aufbauende westliche Philosophie vor allem auf den
Denkern Parmenides, Platon und den nachfolgenden Philosophen bei denen das
unveränderliche Sein und das veränderliche aber nicht so wichtige Seiende von
vorrangiger Bedeutung waren. Daher wurden Veränderungen, Prozesse und das
Zusammenwirken verschiedener Faktoren und Ursachen des Philosophen Heraklit
nicht weiter tradiert und sogar zum Teil wie von Platon stark bekämpft.
Die Gesetzmäßigkeiten von Ursache und Wirkungen haben
eigentlich für ein unveränderliches Weltbild vom Sein keine oder geringe
Bedeutung. Es geht dabei vornehmlich um Zustände, das „wahres unveränderliche
Sein“. Die Veränderungen, Prozesse und Wechselwirkungen wurden weitgehend
übersehen oder marginalisiert. Nach meinem Verständnis betreffen die von
Nâgârjuna destruierten Fehlentwicklungen der buddhistischen Lehre seiner Zeit
und der Fehlinterpretationen des frühen Abidharma, die enge Verbindung mit der
griechischen Philosophie des wesentlichen Seins und des unwesentlichen
Seienden. Wenn es um die Veränderung, Befreiung und Emanzipation des Menschen
geht, kommt den Verknüpfungen von Ursache und Wirkung eine zentrale Bedeutung
zu. Dabei dürfen Überlegungen der Verursachung nicht auf Ursachen zurückgeführt
werden, die als unveränderliches Sein gedacht werden. Denn dadurch würde
bereits präjudiziert, dass Veränderungen und Prozesse eine untergeordnete
Bedeutung haben.
Es ist spannend festzustellen, dass mit dem Aufstieg
und der Blüte der Naturwissenschaft den Veränderungen und Prozessen auch im
Westen ein Aufschwung beschieden war, den es so in der Philosophie nicht
gegeben hat. Für mich ist dabei die mathematische Formulierung der Veränderung
und Beschleunigung durch die Infinitesimalrechnung von Newton und Leibnitz von
kaum zu überschätzender Bedeutung. Interessanterweise wird die Bedeutung dieser
mathematischen Gesetze in der schulischen Ausbildung im Westen für menschliche
Prozesse eine geringe Bedeutung gegeben, obgleich sie doch für Veränderungen
und Emanzipation maßgebend sind. Im Buddhismus gibt es zwar keine mathematische
Formulierung von Veränderung, Geschwindigkeit, Beschleunigung und Ähnlichem,
aber in der Theorie und Praxis der buddhistischen Therapie kommt ihnen eine zentrale
Bedeutung zu. Etwas überspitzt könnte man daher Nâgârjunas Destruktion der
Doktrin des Substantialismus, vor allem der Sarvastivadins, mit dem Einfluss
der griechischen Philosophie des zeitunabhängigem Seins in Verbindung bringen.
Das Handeln im Augenblick ist zentral für den Zen – Buddhismus, wie er von Dogan formuliert und der Nachwelt übermittelt wurde. Aber diese praktische Philosophie des Augenblicks darf nicht mit dem Momentanismus der Sautrantika verwechselt werden. Dann würde gerade ein kontinuierliches Handeln unmöglich werden und außerdem wäre die Verantwortung des jetzigen Handelns für die folgenden Augenblicke und die zeitliche Dimension ausgehebelt.
Kapitel 21
Entwicklung, Werden, Auflösung und Entwerden
beim Menschen
Kalupahana formuliertl: „Dieses Kapitel schließt
Nâgârjunas Untersuchung der Natur der menschlichen Persönlichkeit ab, wie sie
sich fortlaufend entwickelt und auflöst, und zwar in Abhängigkeit von den
eigenen Handlungen (Karma). In dem Diskurs über das Wissen des Anfangs spricht
Buddha von der Evolution und dem Auflösen nicht nur der Welt, sondern auch der
menschlichen Persönlichkeit. Dieser Diskurs war primär dafür gedacht, die damalige statische Konzeption der Welt und der sozialen Ordnung zurückzuweisen,
die von den indischen, philosophischen und religiösen Partitionen angeboten
wurden“. Dabei ist zu betonen, dass Buddha sich nicht primär um Schöpfungs-Theorien
und Schöpfungs-Mythen der Welt und des Menschen beschäftigt hat, sondern sehr
viel pragmatischer über therapeutische Möglichkeiten der Befreiung und
Entwicklung gearbeitet hat.
In diesem Kapitel wird der Mensch als Ganzes
analysiert: Wie er sich entwickelt, was sich bei ihm ereignet und was zur
Entwicklung beiträgt. Vor Allem wird also die Beziehung zum Handeln untersucht, das
heißt, wie ein Mensch durch sein Handeln, Denken, Reden usw. zu seiner eigenen
Entwicklung und Emanzipation beiträgt und welche kausalen Prozesse der
Veränderung er steuert und steuern kann. Dabei werden die Grundlagen der
vorherigen Kapitel verwendet, die für die Dharmas, Dinge und Phänomene, und für
den Menschen erarbeitet wurden. Hier geht es nun um den ganzen Menschen zum Beispiel
beim Zusammenwirken der fünf Komponenten (Skandas). Die wörtliche Übersetzung
des Prozesses der Entwicklung (sambhava)
kann wörtlich mit „Zusammen-Werden“
übersetzt werden, wobei die Vorsilbe „sam“
an die Präambel erinnert, in der das gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung
(patitya samutpada) herausgehoben wird. Beim Menschen gibt es neben der
körperlichen und geistiger Entwicklung fundamentale Auflösungs- und
Zerfallsprozesse. Am deutlichsten wird dies durch den Tod des Menschen, bei dem die Körperlichkeit verschwindet und sich auflöst und
auch die beobachtbaren geistigen und psychischen Bereiche des Menschen zu Ende
gehen.
Diese Veränderungs-Prozesse des Menschen in seinem
Leben lassen sich mit einem statischen Modell wie dem vor-buddhistische Âtman
philosophisch und auch psychologisch nur ungenau oder überhaupt nicht
fehlerfrei beschreiben. Wer an eine substantiale Doktrin glaubt, kann
Veränderungen, Entwicklungen oder Auflösungen nicht angemessen erkennen,
analysieren und beschreiben. So weit also Doktrinen im Rahmen des Buddhismus
entstanden sind, die dem Substantialismus zuzuordnen sind, haben sie große
Ähnlichkeiten mit den von Buddha abgelehnten Doktrinen des unveränderlichen Âtman. An diesem Punkt setzt die De-Konstruktion Nâgârjunas an, denn er weist
nach, dass zentrale Lehren des Buddhismus mit solchen Doktrinen wie dem
Substantialismus im radikalen Widerspruch zu Buddha stehen, sodass die Lehre der
Befreiung und Emanzipation ad absurdum geführt wird. Die erstarrte statische
Gesellschafts- und Religions-Ordnung der Kasten des Brahmamismus war nach Buddha
eine wesentlichen Ursachen des damaligen Leidens der Menschen. Diese Doktrinen
sind ausgesprochen schädlich für individuelle Befreiung und Emanzipation.
Buddha hatte demnach gravierende ethische Vorbehalte gegenüber der
damaligen Gesellschaftsstruktur. Es ist übrigens bekannt, dass in seiner Sangha keine
Unterschiede der Kasten anerkannt wurden oder wirksam waren.
Dieses Kapitel richtet sich daher auch gegen eine
zutiefst ungerechte starre Schichtung der Gesellschaft in Form der Kasten. Noch
gravierender war das religiöse Unrecht gegenüber den Kastenlosen, also den nicht arischen Einwohnern Indiens. Man kann dieses Kapitel durchaus als
generelle Absage an eine derartige Gesellschafts-Ordnungen in der Welt
verstehen. Dadurch werden auch Fragen des sozialen Karmas von Gruppen und Völkern im Buddhismus einbezogen, also der Wirkungen der Menschen, Gruppen und Gesellschaften auf
die gesamte kulturelle Entwicklung des Landes. Buddha hat sich demnach nicht
nur zur individuellen Entwicklung und Befreiung geäußert, sondern durchaus
die gesamtgesellschaftliche kulturelle Situation behandelt.
Aus der aktuellen Gehirnforschung wissen wir, dass
nur ein verhältnismäßig kleiner Bereich des Menschen durch genetische
Informationen bestimmt ist und dass ein sehr viel größerer Bereich durch Lernen
und soziales Handeln geprägt wird. Wie auch immer dieses Verhältnisse eingeschätzt wird, so ist sicher, dass physisches, psychisches und geistiges
Handeln maßgebliche verursachende Impulse für die individuelle und soziale
Entwicklung des neuronalen Netzes verwirklicht. Diese Relevanz gilt für das Überwinden des eigenen
individuelle Leidens und für die weitergehende Befreiung, die Buddha als
Erwachen bezeichnet.
Die Prozesse des Werdens und der Auflösung im
menschlichen Leben werden als Samsara bezeichnet,
sind also Lern- und Veränderungs-Prozesse des Menschen. Dabei schließt Nâgârjuna
statische, starre und spekulativ metaphysische Denkmuster aus und geht nach meiner
Einschätzung konsequent phänomenologisch vor. Das heißt, er beobachtet und
analysiert genau das, was sich in der Wirklichkeit ereignet, ohne Verzerrungen durch
Doktrinen und Ideologien. Dieses Werden ist durch das Sanskritwort „bhava“ (mit kurzem ‚a’) gekennzeichnet
und wird von Nâgârjuna gegenüber dem substantialistisch Seiendem und Sein bhâva (mit
langem ‚a’) radikal kontrastiert.
Kalupahna deutet dieses Kapitel vor allem als Kritik
an der Doktrin der Sarvastivadins (Substantialismus) und der Sautrantikas
(Momentanismus) und destruiert deren metaphysischen Grundlagen (S. 62 und S.
292 ff). Die Aufeinanderfolge von Augenblicken wird bei den Sautrantikas in
getrennte kürzeste Zeitscheiben unterteilt, während eine phänomenologische
Betrachtung von einem Strom der Augenblicke ausgehen muss. Die akute
Gehirnforschung kann mit einer temporalen absoluten Trennung von Zeitscheiben
im neuronalen Netz nichts anfangen, denn die Informationen des Gehirns sind
selbstverständlich im neuronalen Netz gespeichert und wirken auf den Augenblick des Handels und Denkens ein.
Die gespeicherten Informationen sind aber nicht total statisch und
unveränderlich, wenn auch die Veränderungen recht unterschiedlich sein können.
Die Gehirnforschung steht mit dem Substantialismus und Momentanismus in
radikalem Widerspruch. Gleiches gilt für Erwartungen in die Zukunft, sodass es
zeitlich isolierte Momente im neuronalen Netz nicht geben kann. Man darf die
Doktrin der Sautrantikas auch nicht mit der Philosophie des Augenblicks im Zen -Buddhismus von Meister Dôgen verwechseln. Die Semantik des Werdens in den
authentischen Schriften Buddhas unterscheidet sich demnach fundamental vom
Substantialismus und Momentanismus.
Es liegt nahe, dass diese wirklichkeitsnahe Lehre
Buddhas und Nâgârjunas die Verantwortung für das eigene Handeln in den
Mittelpunkt stellt, weil dadurch die weitere eigene Entwicklung des Menschen
maßgeblich beeinflusst ist. Auf keinen Fall handelt es aber sich um einen
strikten Determinismus, in dem der Wille des Menschen keine Rolle spielt und
der zu einem fatalistischen Weltbild führen muss. Damit ist allerdings
keinesfalls der absoluten Freiheit
das Wort geredet, denn es geht immer um die konkreten speziellen Situationen
und den möglichen Freiheitsgrad des rechten menschlichen Handelns. Hier gibt es
übrigens interessante Verbindungen und Analogien zum Schlusskapitel von Hegels
Phämenologie des Geistes (Kapitel 9),
die Georg W. Bertram in seinem systematischen Kommentar besonders hervorhebt
(S. 282 ff.).
Wir müssen also einen grundsätzlichen
Paradigmen-Wechsel vornehmen und von konstanten unveränderlichen Dingen,
Phänomenen, Entitäten oder gar Substanzen, den Dharmas, zu den vernetzten wechsel-wirkende Prozesse. Das gilt für die Dharmas aber in
besonderem Maße für den ganzen Menschen. Bei dauerhaften und statischen Entitäten kann es kein
Entstehen und Vergehen der Dharmas und auch kein gemeinsames Werden und die
Auflösen geben. Wahres reales Werden
ist die Übersetzung von bhava, ich
möchte dafür auch den Begriff des Entwickelns
benutzen. Dieses Werden und Entwickeln hat im Buddhismus eine sehr große Bedeutung für die
Welt und das menschliche Leben. Solches Werden ist für die Erfahrung und Beschreibung
unserer Lebens-Prozesse, Entwicklungen, Lern-Chancen und Befreiungs-Wege
unabdingbar.
In der westlichen Philosophie dominierte das
Paradigma des Seienden und des Seins, dessen Zeitlichkeitm. E. viele Jahrhunderte
immer mehr an die Peripherie des philosophischen Denkens geriet (so auch Elberfeld).
Jede Verdinglichung und Trennung von isolierten und dauerhafte Entitäten geht aber in die Irre und verdeckt die Wirklichkeit anstatt sie zu beschreiben, eine
solche Entität wird in Sanskrit mit bhâva
bezeichnet. Darin ist zwar noch die Sanskrit-Wurzel des Werdens enthalten, aber
die Bedeutung ist statisch, dauerhaft und unveränderlich.
Etwas derartig total Dauerhaftes und Statische des
Menschen kann nach Nagarjuna in unserem Leben und in der Welt nicht real gefunden
werden und es gibt so etwas gar nicht. Mit einem solchen fehlerhaften Ansatz der Statik-Metaphorik kann man Befreiungs- und Lern-Prozesse nicht
sinnvoll angehen. Aber genau um diese Prozesse der Befreiung vom Leiden und der
Weiterentwicklung zum Erwachen und Erleuchtung des Menschen geht es im
Buddhismus und in diesem Kapitel.
Nach Kalupahana gab es als Reaktion auf die
Philosophie der buddhistischen Dauerhaftigkeit und Ewigkeit des
Substantialismus eine Lehrrichtung, die den Momentanismus in den Mittelpunkt
stellte. Diese Doktrin ging davon aus, dass sich die ganze Welt, die Menschen und alle Dinge und Phänomene, Dharmas, permanent total neu bilden und im
Augenblick sofort wieder total verschwinden. Diese Richtung der Sautrantika wird von
Nâgârjunâ im MMK insbesondere in diesem Kapitel destruiert. Allerdings glaubten
deren damalige Vertreter, dass sie mit diesem Ansatz der Augenblicklichkeit,
die Veränderungen, Entwicklungen und Lernprozessen bei Gautama Buddhas gerecht
werden würden. Nach Nâgârjuna ist das aber nicht der Fall. Was ist nun die
Haupt-Aussage dieser Lehrmeinung?
Die Anhänger der Sautrantika-Lehre erkannten zu
Recht, dass die Lebensphilosophie unveränderlicher Entitäten oder Substanzen
der Substantialisten mit den Kern-Aussagen Buddhas nicht in Übereinstimmung
ist. Wenn man dauerhafte Substanzen voraussetzt und behauptet die Welt und die
Menschen seien aus diesen Substanzen aufgebaut, kann es kaum gelingen,
Veränderungs-Prozesse, Entwicklungen, Befreiungs-Prozesse und überhaupt das
Lernen im Gang der Zeit zu beschreiben.
Eine Lebensphilosophie des Augenblicks und der
Augenblicklichkeit hat zweifellos den Vorteil, dass man wichtige
augenblickliche Zustände des Menschen und der Phänomene besser in den Blick
bekommt und zulässt, dass im rfolgenden Augenblick eine andere Situation
besteht. Das ist auch die Lehre des Zen. Nach der aktuellen Gehirnforschung erfolgt die Mustererkennung gerade im Augenblick, bei der eine bestmögliche
Übereinstimmung der Daten der Sinnes-Kanäle für die Wahrnehmung mit den vorhandenen Mustern im neuronalen Netz ermöglicht wird. Die im neuronalen Netz
gespeicherten Informationen, Regeln und Muster der Vergangenheit und Gegenwart
haben also nicht die gleiche Informationsqualität wie die Inputdaten der
Sinnes-Kanäle.
Das ist auch die wichtige Grundlage des Zen-Buddhismus der so verstandenen Sein-Zeit. Die
Lebensphilosophie des Zen und die Doktrin der Sautrantikas dürfen also nicht gleichgesetzt werden. Die buddhistische
Doktrin des Momentanismus hat den Strom, Zusammenhang und Übergang von einem
Zeit-Moment zum anderen philosophisch und pragmatisch nicht überzeugend
ausgearbeitet, sodass sie die kontinuierliche Prozesse nicht richtig
beschreiben kann. Nach dieser Lehre verschwindet die Wirklichkeit und Welt
eines Zeitmoments vollständig, bevor sie in einem neuen Augenblick wieder
entsteht. So gibt es eine permanente Kette von nicht zusammenhängenden
Realitäts-Momenten und daher momenthaftes Entstehen und Vergehen. Kritisch ist
insbesondere die Vorstellung, dass die gesamte Realität des Augenblicks
vollständig vergeht, also zu einem Nichts wird. Dieses metaphysische Nichts ist aber etwas
total anderes als die Leerheit, die von Nâgârjuna vertreten und begründet wird.
Aber wie soll diese Doktrin des Momentanismus für den Menschen aussagekräftig sein?
Wenn man diese Lebensphilosophie der Sautrantikas auf
unsere materielle Wirklichkeit anwendet, wird deutlich, dass sie in sich wenig
überzeugend um nicht zu sagen absurd ist. Wie kann zum Beispiel die Materie des
Menschen von einem Augenblick zum anderen total entstehen und total wieder
verschwinden? Es bedarf dazu sicher nicht einmal der westlichen Naturwissenschaft, sondern
eine gute phänomenologische Betrachtung ist hinreichend. Wir wissen ja durch
die heutige Gehirnforschung, dass das hoch komplexe lebende neuronale Netz ohne
Unterbrechung tätig ist und die codierten Informationen als zeitliche
Impulse im Netz prozessiert werden. Die Neuronen des Gehirns selbst können
dabei nur zwei Zustände einnehmen, sind also wie die moderne
Informationstechnik digital aufgebaut. Die Nervenfasern haben dabei die
Funktion der Informationsübertragung, während die sogenannten Synapsen wiederum
die Verbindungen zwischen Neuronenzellen und Nervenfasern herstellen und durch
ihre Lernfähigkeit die Grundlagen für
Motorik, Wahrnehmung, Denken, Gefühle, Generalisierungen, Gedächtnis usw.
bilden.
Die Lehre der Sautrantikas von den Augenblicken hat
aber nur scheinbare Analogien zu Basisprozessen unseres neuronalen Netzes. Unser Gehirn wird nicht von einem Augenblick zum
anderen auf Null gestellt und startet danach im folgenden Augenblick völlig
neu. Daher ist das ganz andere Selbstverständnis der Sautranitkas, dass sie
nämlich den Glauben der Dauerhaftigkeit und Ewigkeit des Substantialismus
überwinden, nicht wirklich überzeugend. Wie Nâgârjuna nachweist,
ist diese Selbsteinschätzung der Sautrantikas nicht haltbar und muss daher
destruiert werden.
Mit diesen logischen Aussagen und Schlussfolgerungen
werden die doktrinären Behauptungen zur Kausalität der Substantialisten und
Momentanisten destruiert. Damit wird der Übergang zum äußerst wichtigen
nächsten Kapitel eines erwachten und erleuchteten Menschen erarbeitet, der die
vielfältigen Destruierungen der vorherigen Kapitel des MMK intergriert und nach
Nâgârjuna den wahren Buddhismus der großen Energie des Mittleren Weges verwirklicht. Besonders wichtig ist das Kapitel zu den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad, in dem auch die
Leerheit und deren rechtes oder des falsches Verständnis als Nichts im Einzelnen
behandelt wird. Schließlich ergibt sich die fast revolutionäre Aussage zum Nirvana, das nicht als jenseitige und
spekulativ-metaphysische Antithese zum Leben in dieser Welt des Samsara
verstanden wird. Das Nirvana kann nämlich nach Nagarjuna in diesem Leben durch Befreiung und
Erleuchtung verwirklicht werden. Dies entspricht aber m. E. genau der Lehre
Gautama Buddhas zum Erwachen: Die fundamentale Befreiung von Vorurteilen,
unheilsamen Doktrinen, Verhärtungen von Hass, durch Abhängigkeit, Gier,
Ehrgeiz, Stolz usw., kurz, das was wir auch mit Erleuchtung bezeichnen, ist dann die
Wirklichkeit des Lebens im Nirvana.
Hier besteht eine fundamentale Übereinstimmung mit
dem später in China und Japan entwickelten Zen-Buddhismus.
Kapitel 22: Tathâgatha
der Erwachte
In der der
vor-buddhistischen Zeit war es das höchste ersehnte menschliche Ziel die
Unsterblichkeit der ewiger Seeligkeit im Nirvana zu erlangen und endgültigen Erlösung von
den Leiden und Katastrophen unseres Lebens zu finden.
Aber ein solcher
wunderbarer Glaube ist eben nur ein Glauben und kann für die Bewältigung der
realen Probleme im Hier und Jetzt, denen wir nicht ausweichen können, gerade zu
neuen unlösbaren Problemen und Leiden führen. Den meisten Leiden können wir durch Illusionen gerade
nicht beikommen.
Der Buddhismus entwickelt
dem gegenüber das in dieser Welt realisierbare
Leitbild des Buddha oder Tathāgata als höchste Lebensform des Erwachens oder wie es
heute meistens heißt, der Erleuchtung. Diese Lebensform ist gemäß dem Buddhismus
in diesem Leben für alle Menschen grundsätzlich erreichbar. Im Übrigen werden
die Begriffe Tathāgata und
Buddha weitgehend synonym verwendet.
Wenn die fünf Skandhas, die Komponenten des Menschen,
als dingartige isolierte Entitäten ohne
Wechsel-Wirkung miteinander
verstanden werden, ergeben sich die von Nagarjuna dargestellten unlösbaren
Probleme: Ist der Mensch zum Beispiel die Summe der Skandhas oder nicht? Hat ein bestimmtes Skandha Dominanz über die anderen? Mit der Annahme
dinghafter von einander getrennter Entitäten oder Substanzen kann man die schwierige und
fundamental wichtige Frage des Tathāgata nicht sinnvoll angehen. Besonders
kompliziert und sicher unbeantwortbar sind diese Fragen, wenn man von einem
unveränderlichen ewigen und selbst-identischen Âtman des Menschen
ausgeht: Wie und wo existiert dieser Âtman im Verhältnis zu den Skandhas? Es
wäre besonders unsinnig anzunehmen, dass der Tathāgata identisch mit dem
gedachten und geglaubten aber nicht wirklichen Âtman sei.
Durch die Erleuchtung und Befreiung kommen nach Buddha das nicht konntrollierbare Haben-Wollen, die Gier, der Hass, Neid, das Übelwollen,
die Hektik, die Trägheit usw. zur Ruhe und wir können ein glückliches,
sinnerfülltes und zufriedenes Leben im Gleichgewicht und Lebensenergie führen. Dann verschwindet auch die
Sehnsucht nach einer zukünftigen Existenz. Warum ist das so? Wir sind dann
erfüllt vom Flowing, der Ruhe und Kraft des Augenblicks, unseren Aufgaben und unserer Verantwortung in dieser Welt. Wir kreisen nicht sinnlos um uns selbst wie ein
Hochleistungs-System, das funktionslos im Leerlauf auf hohen Touren dreht.
Wie werden sehen, wie Nagarjuna diesen zentralen
Bereich des Buddhismus von den damaligen Fehlentwicklungen der Praxis und Lehre bereinigt und klärt.
Der Sanskrit-Begriff Tathâgata lässt sich je nach
Unterteilung übersetzen als "der so Gekommene" oder "der so Gegangene". Die häufige Übersetzung
und Bedeutung in der Literatur lautet "der so Gegangene". Dabei werden
verschiedene Varianten beschrieben: Ob der "so Gegangene" Buddha noch
existiert, wo er existiert, welche Bedeutung er für die jetzt Lebenden in
dieser Welt hat und ob er nach einigen Zeitaltern wieder auf die Welt zu den normalen
Menschen zurückkehrt, um ihnen zu helfen. Außerdem ist damit der im Mahâyâna
durchaus verbreitete Glauben verbunden, es gebe einen absoluten, vollkommenen
Buddha, der sich von dem historischen Buddha unterscheidet, denn der Letztere
habe auch Fehler gemacht und so etwas könne ja für einen absoluten Buddha nicht
richtig sein. Es wird also ein absoluter vollkommener Buddha von dem
menschlichen Buddha, der historisch lebte, unterschieden. Der absolute Buddha
fungiert dabei wie ein absolutes Prinzip.
Die zweite Übersetzung des Tathagata lautet „der so
Gegangene“. Wie kann der „so Gegangene“ aber konkret und phänomenologisch
verlässlich beschrieben werden? Wohin ist er gegangen? Diese Frage ist nicht mehr einfach zu
beantworten, weil ein direktes einfaches Fortleben nach dem Tod doch phänomenologisch nicht fassbar ist. Während in den altindischen Upanishaden bekanntlich der Âtman
fortlebt und sich von den Beschmutzungen des Karma gereinigt hat, um dann in
die ewigen Seligkeit einzugehen. Nicht zuletzt hat Buddha den Glauben oder die
Doktrin an ein solches vereinfachtes Karma abgelehnt und den Realitätsbezug zum
Leben der Menschen, die Übungen der Praxis und die zunehmende Befreiung
vom Leiden gelehrt. Damit ist die psychische, physische und eigentlich auch
geistige Trennung vom Âtman und Körper durch den Tod nicht mehr überzeugend zu
begründen. Und auch die Verschmelzung mit dem universale ideale All-Selbst
(Brahman) und dem entsprechenden ewigen Leben nicht mehr tragfähig. Buddha
lehrte dagegen eigentlich recht einfach und pragmatisch die Entwicklung und Emanzipation des
Werdens. Er legte den Schwerpunkt auf dieses jetzige Leben, das im Übrigen ja auch nicht gerade
leicht zu durchschauen und zu gestalten ist.
Ich schlage nun eine umfassendere Interpretation des
Begriffes Tathâgata vor: Für mich ist es naheliegend, dass sowohl die beiden Bedeutungen des "so Gekommenen" und des "so Gegangenen" als auch der reale Lebensbereich in dieser Welt und an dem besonderen Ort in Indien angesprochen
wird. Damit wird man dem gesamten Leben und Wirken Buddhas gerecht. Nach den
historischen Überlieferungen wurde Buddha als ein besonderes Kind in einer
Königsfamilie eines kleinen Königreiches geboren und hatte als hochbegabter
Junge die ganze Breite der damaligen Ausbildung durchlaufen. Er erhielt eine
ausgezeichnete Unterrichtung in der damaligen Religion und Philosophie, zeigte
große Begabung und Fähigkeiten in Musik und Sport und nahm nicht zuletzt an den
Regierungsgeschäften und dem Management seines Vaters teil. Er heiratete
relativ zeitig und standesgemäß und hatte einen Sohn.
Es gibt zu denken, dass im zweiten Kapitel des MMK fundamentale Aussagen zum Gehen, zum gegangenen Weg und zum Menschen, der geht,
vorangestellt werden, bevor die eigentliche Untersuchung des Mittleren Weges
durchgeführt wird. Zudem ist das zweite Kapitel ungewöhnlich lang und hat
sicher daher für das MMK eine besonders hohe Bedeutung. Nun wird in diesem
Kapitel 22 anhand des Begriffes Tathâgata das Thema, die mögliche Problematik
und die Richtigstellung des Gehens und des Gegangenen wiederum aufgegriffen.
Das kann aus meiner Sicht kein Zufall sein, sondern ist wohlüberlegt und
bewusst von Nâgârjuna so gestaltet worden. Eine wichtige Aussage des zweiten
Kapitels besteht darin, dass es unsinnig ist, einen unveränderlichen Geher zu behaupten, selbst wenn dies von der
indogermanischen Sprache in Sanskrit und auch in Deutsch vielleicht so
suggeriert wird. Genauso unsinnig ist es, von einem unveränderlichen oder gar substanzhaften Gegangenen des Weges zu
sprechen. Vielmehr will der Autor die Veränderung, den Prozess, die Befreiung
und die Emanzipation im menschlichen Lebensgang analysieren.
Das heißt verkürzt, dass man schon zu Beginn seines
Lebens zum Beispiel durch seine genetische Disposition nicht total determiniert
ist, sondern sich auf seinem Lebensweg aufgrund der zunehmenden
Wahrheits-Erfahrung und Realitäts-Erfahrung verändert. Daher hat man nach der
buddhistischen Lehre die reale Chance hat, sich zu befreien und sich zu
emanzipieren. Solche Emanzipation geht nicht nur über die genetischen Begrenzungen
der Vererbung hinaus, sondern baut auf den interaktiven Lernprozessen im Rahmen
der Familie des Kindes und zunehmend in größeren sozialen Kontexten auf. Der
Sanskrit-Begriff Tathâgata wäre in diesem Sinne etwa verkürzt damit zu umreißen,
dass der gesamte Entwicklungsgang des Lebens von der Geburt zur Befreiung und zum Tod beschrieben
wird. Die Übersetzung des Sanskrit könnte dann etwa heißen: „Der so durch sein
Leben Gegangene“. Damit wäre aus meiner Sicht auch dem Grundsatz Buddhas
entsprochen, sich nicht unnötig mit spekulativen Gedanken zum Ende des Lebens,
also zum Tod, zu belasten, sondern viel mehr die Möglichkeiten und Chancen des
Lebens selbst zu sehen, zu erkennen, zu entwickeln und die jeweils für sich
selbst höchste Lebensform zu verwirklichen. Buddha selbst kann hierfür als bestes Beispiel genommen werden.
Und Buddha betont häufig, dass ein solcher Lebensgang der
Befreiung jedem Menschen offen steht und zugänglich ist. Aus der heutigen
Psychologie und Neuro-Wissenschaft wissen wir, dass Menschen, die sich zuviel
mit dem eigenen Tod beschäftigen, eine signifikant kürzere Lebenserwartung
haben, als solche, die dies nicht tun. Diese wissenschaftlich fundierte
Tatsache stimmt erstaunlich gut mit den Lehren des Buddhismus überein und dies
gilt besonders für die Linien des Buddhismus, die sich im Chan- und Zen –
Buddhismus entwickelt haben. Danach wären Spekulationen, was mit dem Menschen
Buddha nach seinem Tode passiert, nicht nur überflüssig, sondern sogar
gefährlich. Sie würden vermutlich auf die eigenen Lebensführung zurückschlagen
und durch pessimistisch gefärbte Gefühle und Gedanken das eigene Leben
verfinstern und signifikant zu verkürzen. Angst vor Alter und Tod erzeugt nach
gesicherten Erkenntnissen der Neuro-Wissenschaften die Aktivierung der sogenannten Mandelkerne im Gehirn und dies führt zur Absenkung und Schwächung des
Immunsystems. Schon allein dadurch entstehen Krankheiten und Insuffizienzen,
die das Leben erschweren und verkürzen. Leider muss an dieser Stelle angemerkt
werden, dass viele Glaubens-Religionen dazu neigen, genau eine solche depressive
Grundstimmung, erhebliche Ängste vor dem Tod und dem, was danach folgt, zu
erzeugen.
Dies mag die Macht der religiösen Eliten über die
Psyche und den Geist der Untergebenen erhöhen und wurde sicher auch so für die
damalige Zeit des Brahmanismus von Buddha erkannt und destruiert. Im gleichen
Zuge könnte man die Doktrin der Erbsünde des Christentums interpretieren. Angst
vermindert die Intelligenz und vor allem die Kreativität des Menschen.
Emanzipation, Befreiung und Entwicklung hängen im Gegensatz dazu mit den
positiven Kräften von Freude, Flowing und Glück zusammen.
Die Ängste vor Altern, Krankheit und Tod sind sicher
nicht zufällig zentrale Aussage der Vier Edlen Wahrheiten, denn sie verursachen
unausweichlich Leiden und Schmerzen. So kann überhaupt der Achtfache Pfad als
praktischer Gang der Befreiung und Emanzipation als typisch für den
Sanskritbegriff Tathagata der so durch das Leben Gegangene verstanden werden.
Dieser Zusammenhang wurde nach meinem Verständnis bisher in der buddhistischen
Lehre zu wenig beachtet.
Es gibt noch einen zweiten wichtigen Aspekt, der im
zweiten Kapitel genau untersucht wird. Dabei wird der begangene Weg oder das
Begangene in den Mittelpunkt gestellt, und ein substanzhaftes Verständnis des
begangenen Weges etwa in Form einer ewigen Wegstrecke negiert. Der Weg hat im
Buddhismus eine zentrale Bedeutung und dies wird nicht zuletzt durch den
Achtfachen Pfad hervorgehoben. In diesem Kapitel zum Tathâgata kann man sowohl
den Menschen Buddha erkennen, der seinen Lebensweg von der Geburt über die
Jugend zu den Entwicklungsphasen der idealistischen Meditation und zur Periode
der extremen Askese bis zur Erleuchtung und zum Erwachen gegangen ist. Buddha
hat dann über vierzig Jahre seines Lebens weitere Erfahrungen hinzu gewonnen
und unermüdlich seine geradezu revolutionäre Lehre zur Emanzipation und
Befreiung des Menschen an die Lernenden nicht zuletzt der Mönche seiner eigenen
Sangha weitergegeben. So ist mit dem Begriff Tathâgata aus meiner Sicht auch
der von ihm selbst begangene Weg der Befreiung gemeint.
Bei Buddha wurden unbeantworteten Fragen an die
damalige Religion, Philosophie und praktischen Lebensführung immer drängender.
Er entschloss sich, ein Hausloser zu werden und zunächst zwei der
bekanntesten Weisen und Heiligen des damaligen Brahmanismus aufzusuchen, um
fundiert Meditation zu erlernen. Es gelang ihm in relativ kurzer Zeit das
Gelehrte selbst zu verwirklichen. Er war jedoch damit nicht zufrieden und
suchte nach weiteren Wegen, um Klarheit und Erwachen zu erlangen. In der damaligen
Philosophie gab es eine strikte Trennung von Âtman-Geist einerseits und Körper
andererseits, sodass er nach dem, wie er meinte, vergeblichen Versuchungen der
geistig meditativen Entwicklung zum Extrem der körperlichen Askese überging und
diese bis ins Extrem und zur Todes-Nähe praktizierte. Er stellte aber fest,
dass auch dieser Weg unbrauchbar war, um tiefe nachhaltige Befreiung zu
erlangen, sodass er auf sich selbst gestellt war und eigene ganz neue Wege suchen
musste. Nach der Überlieferung wählte er dann eine einfache Methode der
Meditation, die nach chinesischer und japanischer Überlieferung dem Zazen im
Lotussitz gleich war.
Im Zen heißt, er „ließ Körper und Geist fallen“ und
überlasse dich in der korrekten Sitzposition des Lotus dem Hier und Jetzt ohne
konkrete oder drängende Ziele, ohne Gedanken, Vorstellungen und Gefühle. Beim
aufgehenden Morgenstern erfuhr er dann das große umfassende Erwachen und die
Erleuchtung. Es wurde ihm klar, dass einseitige körperliche noch so große
Anstrengungen einerseits und die damals gebräuchlichen Methoden der Meditation
nicht geeignet waren, um Befreiung und Emanzipation zu verwirklichen. Kaluphana
interpretiert den Fehlschlag der damaligen Meditation damit, dass im
Brahmanismus das absolute universelle Wissen, die Allwissenheit, angestrebt wurde. Buddha erkannte, dass eine
solche Allwissenheit nicht von einem Menschen erlangt werden kann. Dies
entspricht im Übrigen der aktuellen Gehirnforschung, denn die Allwissenheit
würde bedeuten, alles über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der
Welt, in sich selbst, in seinem eigenen Geist und Gehirn, bei Anderen, bei
Tieren, im Kosmos und überhaupt zu wissen, zu kennen und zwar sowohl als Ganzes
als auch im Detail. Das ist natürlich unmöglich. Die Welt und das eigene neuronale
Netz sind von unendlicher Komplexität. Im Gehirn ist zudem die unbewusste
Intelligenz um viele Größenordnungen umfassender als der bewusste Teil.
Nach der Erleuchtung lehrte und verfeinerte er seine sehr praktische und
therapeutische Lehre zur Überwindung des Leidens, zur Befreiung und
Emanzipation über 40 Jahre, bis er mit etwa 80 Jahren verstarb.
Als er aus dem Leben ging, hatte er also die
höchste, dem Menschen mögliche Weisheit und Praktikabilität des Handeln,
Denkens und Redens, aber auch der Gefühle, Planungen und des Erkennens erlangt.
Er kam also als ein hoch Begabter in eine ausgezeichnete Zeit und soziale
Umwelt, lernte und entwickelte sich dort bis zum Augenblick der Erleuchtung,
lehrte dann und entwickelte die Lehre für verschiedene Menschen in
verschiedenen Situationen immer weiter, bis er in hohem Alter starb. Aus meiner
Sicht ist es möglich den Sanskrit-Begriff Tathâgata so umfassend als die gesamte Lebensspanne und seinen ganzen Lebensweg mit dem Beginn,
dem gesamten Leben und dem Ende zu verstehen: der so „Gekommene, der so Lebende und der so
Gegangene“
Es ist eine alte Frage ist, ob Buddha ein
‚normaler’ Mensch war, der bekanntlich im Buddhismus durch die fünf Komponenten oder
Skandhas gekennzeichnet ist. Diese Komponenten sind nicht isoliert zu
verstehen, sondern wirken zusammen und sind eben der lebende Mensch.
Nagarjuna untersucht, ob Buddha als Erwachter
und Erleuchteter mit diesen Skandhas identisch ist oder nicht. Sicher ist es
eine vereinfachte dualistische Frage, die nicht mit Ja oder Nein beantwortet
werden kann. Es ist auch wichtig dabei in Erinnerung zu behalten, dass der
Buddhismus nicht von der Lehre eines ewigen unvergänglichen Âtman als Kern des
Menschen ausgeht. Dann wäre die Frage in der Tat leicht zu beantworten, denn
innerhalb der fünf Skandhas müsste die ewige Substanz oder Essenz des Âtman in
irgendeiner Form enthalten sein und auch aufgefunden werden können. Nâgârjuna
stellt daher auch hier diese Frage und beginnt in diesem Kapitel damit die
Analyse des Tathagata als der Erwachter.
Es geht in diesem wichtigen Kapitel also vor allem um
folgende Klärungen: In welchem Verhältnis steht der Tathâgata oder Buddha zu
den fünf Komponenten des Menschen, den Skandhas, und gibt es eine totale
Identität oder Differenz mit diesen? Wenn man die in der Präambel genannte Wechselwirkung
für das Verständnis der Wirklichkeit voraussetzt und auch auf den Tathâgata
bezieht, fragt sich, ob man mit einer substantialistischen Doktrin weiterkommen
kann. Dabei wird auf das erste Kapitel Bezug genommen, wo eine Entstehung total
aus sich selbst, also in einer isolierten Situation eines Substanz-Selbst, nicht weiterführt, und wie der Bezug zu anderen `Selbsten` ist. Nâgârjuna stellt
fest, dass der Tathâgata auf jeden Fall menschliche Skandhas umfasst.
Denn wenn er sie nicht hätte, müsste er sie sich
aneignen also ergreifen. Aber auch ein solches Aneignen darf nicht als
substantial, verdinglicht und isoliert verstanden werden, weil das der
Wirklichkeit des Lebens widerspricht. Für die Abwesenheit jeder Eigen-Substanz
verwendet Nâgârjuna den Begriff leer und
deutet gleichzeitig an, dass man die Begriffe Selbst und Ich als Hilfe zwar bei
der Kommunikation verwenden könne, aber nicht verabsolutieren dürfe. Das wahre Selbst
bezeichnet daher nicht eine bestimmte Substanz oder Essenz im Menschen, sondern
das Ganze des Menschen. Er warnt weiterhin vor den Extrem-Aussagen, dass der
Tathâgata existiert oder nicht existiert, weil eine solche Doktrin ebenfalls
eine unveränderliche aber nicht wirklich vorhandene Substanz voraussetzt.
Dann sei es unmöglich, den Tathâgata wirklich zu sehen und zu
erkennen. Schließlich wird verallgemeinert, dass auch das Universum nicht aus keine Eigen-Substanzen und nicht aus Substanz-Seiendes besteht, die dann aus sich selbst
entstanden sein müssten. Buddhas „Nicht-Ich“
oder „Nicht-Selbst“ bedeutet auch,
dass es kein absolutes substantiales
Selbst im Sinne des Âtman-Selbst
gibt. Also ist jeder Mensch ein einzigartiges Individuum im Universum, aber der
Mensch hat kein Âtman-Selbst im Sinne
der altindischen Religion und Philosophie.
Das Âtman-Selbst ist für Buddha
eine gefährliche Fiktion, Spekulation und Illusion und gerade nicht die wahre Natur des Menschen! Die wahre individuelle Natur des Menschen
hat also kein derartiges spekulatives und
metaphysisches Ich oder Selbst.
Nishijima Roshi übersetzt den Sanskrit-Begriff Tathagata mit Verwirklichung und betont bei diesem Begriff Tathagata für Buddha,
dass er ein Mensch sei. Jemand der sich verwirklicht habe, der also einengende
und schädliche Vorurteile, Ideologien, Doktrinen und Unmoral überwunden hat und
so in der lebendigen Wirklichkeit lebt, fühlt, denkt und handelt wirklich. Dies ist
besonders nach dem Zen ein Zustand und Prozess der tiefen inneren
Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Lebensfreude: „So bezieht (sich der Begriff
Tathagata) auf einen besonderen Menschen wie Gautama Buddha, der wie aus der erstarrten Welt fortgegangen sei und in den Zustand der Verwirklichung
eingetreten ist“. Und weiter er habe "mit der Bedeutung den ´Zustand in dem die Wirklichkeit
realisiert ist´, erreicht.
Und dies sei eine andere Beschreibung dafür, dass die
wirkliche Welt erkannt und erfahren wird. Nishijima Roshi ist fest davon
überzeugt, dass der Buddhismus eine realistische Philosophie ist, die eng mit
dem menschlichen Körper und Geist verbunden ist. Dabei sei auch das vegetative
Nervensystem wichtig, denn es bewirkt fundamentale Steuerungs-Funktionen und ist
die Grundlage für viele psychische und geistige Zustände und Prozesse.
Bekanntlich arbeitet es mit den beiden gegensätzlichen Teilsystemen des
Sympathikus für die Aktivierung, auch von Illusionen und Fantasien, und dem
parasympathischen System, das eher verengte materialistische Aktivitäten im
Geist steuert. Nishijima Roshi nennt beides das Zusammenspiel von Idealismus und
Materialismus. Beide Philosophien sind auch in der westlichen Philosophie von
grundlegender Bedeutung. Nishijima Roshi sagt unmissverständlich, dass ein
Gleichgewicht dieser Basissysteme für unser Leben im Gleichgewicht in der Ruhe,
in der Aktivität, in der ausgeglichenen Weise von Aktivität und Passivität
fundamental wichtig sei. Gautama Buddha habe das klar erkannt, realisiert und entsprechend
gelehrt.
Meister Dogen betont im Zen-Buddhismus, dass die weitere Entwicklung der Buddhas nach der Erleuchtung immer weiter geht. Das ist für
mich ein überzeugenden Ansatz, denn die Erleuchtung ist kein Ding und auch kein statischer Zustand, sondern die Verwirklichung unserer wahren Natur.
In der Welt ist überall das Prinzip des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung,
pratitya samutpada, zu beobachten und
zu erfahren. Das stimmt auch mit aktuellen verlässlichen Ergebnissen der
Öko-Systemforschung, Neuro-Biologie und den systemischen Aussagen der
Soziologie und Psychologie überein. Es ist höchst bemerkenswert, dass das große
erleuchtete Genie Gautama Buddha bereits vor etwa 2.500 Jahren davon wusste und
diese Wechselwirkung zur Grundlage des seitdem bewährten Befreiungs-Weges machte.
Und Nagarjuna hat einige Jahrhunderte später den falschen Ansatz und diesen Weg
mit seinem Werk MMK fulminant und auf höchstem Niveau destruiert,
restrukturiert und den Weg fortgesetzt. Dadurch hat Buddha die bis dahin unbekannten
menschlichen Energien der eigenen Befreiung und Emanzipation freigesetzt und
kreativ verstärkt.
Nishijima Roshi hebt hervor, dass das Erwachen eines
Menschen von Vorstellungen einer doktrinären gedachten Existenz unterschieden
werden müsse, denn die sei eine scheinbare Individualität, die durch Kräfte der
Gesellschaften mit ihren Doktrinen und Vorurteilen geprägt sei. Die
Verwirklichung oder Befreiung wird von solchen illusionären Idealisten
vermutlich als ärmlich abgewertet, aber das sei falsch. Denn auch die Welt in der
wir leben, entfaltet ihre ganze Schönheit und Vielfalt für einen Erwachten ist
und ist weder grob noch ärmlich. Dies gilt für das wirkliche Leben des
Erwachten im Hier und Jetzt. Spekulationen was es wohl vor der Geburt Buddhas
für wunderbaren Vorstellungen gebe, sei genau so unwirklich, wie märchenhaftes
Vorstellungen nach seinem Tode. Derartige Fantasien sind Nishijima Roshi fremd.
Nishijima Roshi destruiert ein materialistisches oder
substanzhaftes Verstehen der Fünf Skandhas, der Gliederung des Menschen, die
Gautama Buddha sehr nüchtern und pragmatisch vorgenommen habe. Dann sei eben der
Begriff des "Ergreifens" fehlerhaft, weil dann die Skandas dinghaft als
Entitäten verstanden werden. Dadurch verliert die Wirklichkeit die Qualität des
Natürlichen und werde durch Doktrinen und Vorurteile verborgen. Wer wiederum
alle Theorien im Buddhismus ablehnt, und das gibt es auch im Zen, würde den
Fehler begehen, dass er die Vernunft und die wahre Lehre geringschätzt. Dann
würden die Chancen zur Verwirklichung und Erleuchtung des Menschen drastisch vermindert: „Wenn wir die verengte materialistische Interpretation der
wirklichen Welt und der Fünf Skandas überschreiten, wird es wahrscheinlicher, dass wir die Verwirklichung erreichen“.
Kapitel 23: Vertauschung, Verfälschung und Ethik
In diesem wichtigen Kapitel untersucht
Nâgârjuna das sogenannte normale Leben und normale Denken der Menschen, die
vielfältigen Täuschungen, Irrtümern, Illusionen und Verfälschungen aufsitzen.
Das Sanskrit Wort heißt vipariasa und wird nach Möbius in Deutsch wie folgt
übersetzt: Umwerfen, Wechsel, Vertauschung, Gegenteil, Irrtum, Verkehrtheit,
Unglück und Unfall. Dieses semantische Feld charakterisiert meines Erachtens
recht gut die zentralen Aspekte, die Nâgârjuna nunmehr angeht. Eine gewisse
Beziehung gibt es dabei zu ethischen Bewertungen, wie gut und schlecht, sündig
oder heilig usw. eine Handlung ist. Nach Buddhas Erfahrungen sind für solche Vertauschungen und
Verfälschungen der Wahrnehmung, der Gefühle, des Denkens und der Ethik vor
allem die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung maßgebend. Und oft "kleiden" sich diese Gifte in täuschende Ideologie und Doktrinen und sie schaden dann den Täter und anderen.
Diese Gift führen zu einem Leben der Passivität,
Dumpfheit, der fehlenden Selbstreflexion und Achtsamkeit aber auch zu wildem Aktionismus. Kennzeichnend ist eine unzureichenden
Selbst-Steuerung und fehlende Selbst-Kontrolle bei Hass, Wut, Rache usw.. Diese Gifte verhindern die gute Entwicklung des Menschen auf dem Achtfachen Pfad und die Verwirklichung der
Befreiung und Erleuchtung, die Buddha in sieben Bereiche gliedert. Jemand der
von den drei Giften abhängig und determiniert ist, unterliegt Täuschungen,
Verfälschungen oder auch romantisierenden Illusionen, die er nicht durchschaut
und die letztlich ins Leiden führen müssen. Oft sind dabei individuell-doktrinäre
Bewertungen und Vorurteile maßgebend, nicht zuletzt um sich selbst entweder zu
überhöhen und der Wirklichkeit des eigenen Lebens auszuweichen. Das trifft zum
Beispiel bei Narzisten zu. Aber auch das Gegenteil kann beobachtet werden:
Manche Menschen verdammen sich selbst über die Maßen und verachten sich. Damit
kreisen sie aber auch um sich selbst zu, sodass wichtige Lern- und Befreiungsprozesse
schwierig sind oder ganz unterbleiben. Diese Menschen sind gerade nicht wach
und klar im Augenblick, sind geradezu immun gegenüber der Wirklichkeit. Es kann
sich um Dumpfheit oder Dösigkeit handeln oder auch um ideologisch aufgeladene
Rechthaberei und Indoktriniertheit und Brutalität.
Wie kann es nun zu solchen Täuschungen, Verdrehungen
und Verfälschungen kommen? Buddha nennt die berühmten Fünf Hemmnisse und Blockaden auf dem Weg des Erwachens und der
Emanzipation . Sie werden im frühen Buddhismus den sieben
Gliedern der Erleuchtung gegenüberstellt. Es handelt sich um folgende
Hemmnisse: auf Sinnlichkeit gerichtetes
Wollen, das unkontrolliert und rücksichtslos gegenüber den Objekten der
Sinnlichkeit entsteht, vorhanden ist und im besten Fall vergeht und überwunden
werden kann. Ähnliches gilt für das Übelwollen
anderen gegenüber, das oft sogar verdeckt und nicht einfach erkennbar ist.
Buddha nennt weiterhin Erstarren und
Trägsein, das heißt eben Dumpfheit, laues oder abgestorbenes Interesse und
Passivität, die heute im Übrigen nicht zuletzt durch ein Übermaß an
Fernsehkonsum und Smartphon-Abhängigkeit und Smartphon-Sucht erzeugt werden.
Das Gegenteil, aber in ähnlicher Weise negativ
wirksam, ist das Hemmnis Aufgeregtheit und Unruhe.
Dazu sind Stress, ungezügelter Ehrgeiz und krankhafte Konkurrenz zu zählen.
Schließlich wird von Buddha die Zweifelsucht
genannt, die aus meiner Sicht einem nihilistischen aber oft aggressiven Geist
entspringt. Wer an allem und jedem zweifelt, hat keine Möglichkeit der
Befreiung und Emanzipation. Der Philosoph Gadamer stellt für chronische
Nihilisten ein erhebliches Maß an Unehrlichkeit und Verlogenheit fest, weil
auch ein Nihilist vegetativ überleben will und der Nihilismus vielleicht nur
Show und Wichtigtuerei ist. Ein Nihilist meint wohl, besonders intellektuell zu
sein und er durchschaue die totale Negativität der Welt. Diese fünf
Hemmnisse würde ich ohne Schwierigkeiten dem Thema zuordnen, das in diesem Kapitel
von Nâgârjuna als Täuschungen, Verdrehungen und Verfälschungen behandelt wird.
In einem bekannten Sutta (angutara nikaya, A 2.52)
werden vier grundlegende Irrtümer und Verdrehungen genannt. Diese betreffen drei verschiedene Funktionen, nämlich die Wahrnehmung, das Denken und
die Sichtweise. Für diese so wichtigen Funktionen des menschlichen Lebens gibt
es dabei vier gravierenden Verwirrungen bis zu üblen Pervertierungen, bei
denen sich das Gegenteil von dem entwickelt und durchgesetzt hat, was
wahrgenommen, gedacht oder gesehen wird:
1. Erstens die Vertauschung und das falsche Verständnis, dass das Lebendige
1. Erstens die Vertauschung und das falsche Verständnis, dass das Lebendige
und Veränderliche konstant
und unveränderlich sei.
2 Etwas erscheint zweitens etwas als Leiden, das überhaupt kein Leiden
ist.
3 Das Nicht-Substantiale der Wirklichkeit wird als drittens substantialistisch verstanden.
4 Das Nicht-Reine wird viertens als rein eingeschätzt.
Da sich diese Vertauchen, die jeweils auf die
Wahrnehmung, das Denken und die Sichtweise beziehen, handelt sich um
fundamentale Verdrehungen und Pervertierungen der Wirklichkeit. Solche Menschen sind unklar und entwickeln sich vor allem
nicht auf dem Buddha-Weg zur Wirklichkeit und Wahrheit. Sie kommen menschlich überhaupt nicht voran.
Die ersten drei obigen Bereiche Vertauschens und der Täuschung werden als typisch und
charakteristisch für die unklare menschliche Existenz verstanden:[52] also die Unveränderlichkeit, das Leiden und die Substantialität. Sie wurde von
Nâgârjuna insbesondere in den vorangegangenen Kapiteln 2, 12 und 17
eingehend derstruiert. In diesem Kapitel geht es nun um die Frage, was rein und
was nicht rein ist und wie das mit den Giften von Gier, Hass und Verblendung
zusammenhängt. Denn durch diese Gifte werden nach der buddhistischen Lehre die
fünf Komponenten des Menschen, Skandhas, maßgeblich beeinflusst, oft sogar
deterministisch bestimmt und sogar pervertiert. Von besonders großer Bedeutung
ist dabei die Ethik, was also moralisch gut und was als nicht gut ist oder
um es anders auszudrücken, was rein und was nicht rein ist. Dadurch wird
deutlich, dass Ethik und Moral von entscheidender Bedeutung für die Wahrnehmung, das Denken und die Sichtweise sind.
Aus diesen Vorüberlegungen wird deutlich, welche
fundamentale Relevanz der rechten Ethik oder pervertierte Unmoral zukommen. Er erweist sich
zudem als außerordentlich wichtig, ob die jeweiligen fiktiven Merkmale wie Unveränderlichkeit, Leiden und Substantialität absolut verstanden werden oder ob die für alles Leben charakteristische Wechselwirkung wirklich
einbezogen wird. Die Verabsolutierung besonders ethischer und moralischer
Aspekte führt unweigerlich zu den als Giften bezeichneten Fehlentwicklungen und
Perversionen von Gier, Hass und Verblendung. Starke Affekte wie Gier und Hass
bewirken im Übrigen nach der aktuellen Gehirnforschung, dass Vernunft, Logik
und Ethik in unserem neuronalen Netz weitgehend oder vollständig „abgeschaltet“
werden und damit die Vernunft und psychisch geistige Klarheit fehlen. Das
Leiden entsteht danach vor allem deswegen, weil die Veränderlichkeit und
Nicht-Substantialität geleugnet werden und sich die Weltanschauung einer fixierten Scheinsicherheit der Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit hingibt.
Damit wird ein ewigen Substanz-Kern der Dinge,
Phänomene und des Menschen geglaubt und behauptet. Da die Wirklichkeit aber
nicht statisch und unveränderlich ist, schlägt sie gewissermaßen als
verstärktes Leiden zurück und die scheinbare Sicherheit erweist sich als
brüchig und unzuverlässig. Ein ewiges unveränderliches Sein, das der
europäischen westlichen Philosophie durchaus nicht fremd ist, kann daher gerade
zu Verunsicherungen und Leiden in unserem Leben führen. Dass eine große
Sehnsucht nach derartiger Unveränderlichkeit und Substanzhaftigkeit bei vielen
Menschen vorherrscht, soll sicher nicht bestritten werden. Aber in Wirklichkeit
handelt es sich um Scheinsicherheit und psychische Abwehr-Mechanismen, deren Zerbrechen umso leidvoller und
tragischer erfahren wird. Wer sich allerdings umgekehrt dauernd mit negativen
Veränderungen und dem angeblich unaufhaltsamen Niedergang bis zum Tod
beschäftigt und darauf fixiert ist, wird auch ein Leben voller Unzufriedenheit und
Leiden führen müssen. Aus der Gehirnforschung und Psychologie wissen wir, und
das ist empirisch einwandfrei nachgewiesen, dass eine überstarke Fixierung und
Beschäftigung mit dem Tod das Immunsystem schädigt und die Lebenserwartung um
viele Jahre verkürzt. Der kraftvolle Mittelweg führt also zur Befreiung.
Die Extreme der Scheinsicherheit durch Dauerhaftigkeit
einerseits und tragischem permanenten Niedergang andererseits sind also für den
Menschen überhaupt nicht heilsam. Weder die Verleugnung noch die Überbewertung
von Gefahren des Alters, der Krankheit und des Todes können also ein gutes
Leben ermöglichen. Beide Extreme führen zudem zu einem oft pathologischen Ich-Bezug und zu einer gefährlichen Ich-Zentrierung, die wiederum in die Einsamkeit
und Isolation des Menschen mündet. Vor allem lebende soziale Netze und soziale Gruppen geben den
Menschen dagegen ein hohes Maß an Lebens-Sicherheit und Wohlbefinden. Während
Einsamkeit nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Leiden, Stress, Angst
und hoher Sterblichkeit führen. Einsamkeit ist die häufigste Todes-Ursache
In neuerer Zeit kann man eine zu starke Nutzung der
digitalen Netze als wichtige Ursache für Stress und Einsamkeit erkennen. Es ist
deutlich, dass das durchschnittliche Wohlbefinden besonders der jüngeren
Menschen durch die digitalen Netze seit etwa 2014 sich deutlich vermindert.
Digitale Netze geben daher zwar eine gewisse oft nur scheinbare Verbundenheit
mit anderen, aber diese Verbundenheit bezieht sich nicht ganzheitlich auf den Menschen, sondern eben nur auf verkürzt digitale Informationen mit
einem zudem sehr kleinen technischen Gerät. Die digitale Technik ermöglicht nur eine
drastisch verengte Kommunikation mit anderen. Umso erstaunlicher ist es, wie
schnell und wie rapide sich diese digitalen Netze ausgebreitet haben und sich
bei Übernutzung unverzüglich in das Gegenteil sinnvoller und guter sozialer
Kommunikation verkehren. Sie pervertieren dann zu un-sozialen Netzen, ohne dass
den Abhängigen das vermutlich deutlich und bewusst erkennen. Die übertriebenen
pervertierten Nutzungen der digitalen Netze bewirken daher das Gegenteil
sinnvoller sozialer Netze. Sie führen zu Vereinsamung, Depression,
Aggressivität und zunehmender Lebensunsicherheit. So kann die Gier nach Informationen,
die Neugier, sich in das Gegenteil der Einsamkeit und
Depression verdrehen.
In diesem Kapitel geht es
nun vor allem um menschliche Einschätzungen und Bewertungen von schön,
erfreulich und wahr, aber auch von rein, unrein im Zusammenhang mit Irrtümern,
Täuschungen und Verwechslungen durch die drei Giften Gier, Hass und
Verblendung. Wie können wir objektive Klarheit bei körperlichen, geistigen
und psychischen Problemen gewinnen? Gibt es dabei nicht doch absolute
Wahrheiten, wie auch die westliche Philosophie der Metaphysik zumindest
teilweise behauptet hat? Und wie vermeidet man ideologische Simplifizierungen
und dogmatische Verhärtungen zum Beispiel mit einfachen Ja-Nein-Bewertungen,
moralischen Diffamierung anderer Menschen oder Gruppen und extremen
ideologischen Konzepten? Kalupahana spricht von Perversionen,
die bei Doktrinen und Ideologien gerade bei manchen Religionen,
Weltanschauungen oder Vorurteilen zu beobachten sind.[53]
Sind die Hexenverbrennungen des späten Mittelalters und der beginnenden
Renaissance etwas anderes als furchtbare Perversionen der christlichen Religion
der Wahrheit und Nächstenliebe zu verstehen: „Liebe Deine Feinde wie dich
selbst“? Das wir wohl keiner bestreiten. Wann und warum entstehen Vertauschungen und Verfälschungen
von schön und hässlich, erfreulich und unerfreulich, redlich und unredlich
sowie wahr und nicht-wahr?
Das sind zweifellos
schwierige aber sehr wichtige Fragen und Themen der buddhistischen Lehre, die in diesem Kapitel
einer gründlichen Analyse und Klärung unterzogen werden.
Wenn wir wie Gautama
Buddha und Nagarjuna Wechsel-Wirkungen und gemeinsames Entstehen in unserem
Leben einbeziehen, können wir nicht mehr an simplen dogmatischen Extremen festhalten. Aber wie gewinnen wir umgekehrt Klarheit und Sicherheit in unserem
Leben, wenn alles relativ und damit unbestimmt oder sogar chaotisch sein soll?
Wir werden sehen, wie
Nagarjuna diese Fragen angeht.
In der westlichen
Philosophie hat sich Nieztsche gegen dichotome Simplifizierungen von Ethik und
Moral positioniert, vor allem in seinem Werk „Jenseits von Gut und Böse“. Wenn
sich Moral zu Doktrinen und Dogmen verhärtet, gibt es nicht zuletzt die große
Gefahr der Instrumentalisierung, Disziplinierung und Entmündigung der
Abhängigen. Aber Ethik soll keine Unfreiheit bewirken sondern helfen, dass das
Leben gelingt (Maerten). Hier gibt es erstaunliche Parallelen zu Nagarjunas
Kritik der einfache insbesondere substantialen und plakativer Lehren zu recht
und nicht-recht. Die ist umso beachtlicher, weil das MMK schon vor über
1700 Jahre verfasst wurde.
Nishijima Roshi leitet seine Interpretationen zu
diesem Kapitel wie folgt ein: Eine Philosophie, die auf dem Verständnis beruht,
dass unsere Gedanken die wahre Wirklichkeit sind, wird Idealismus genannt. Eine
Philosophie, die an die Wirklichkeit der Sinnes-Reizungen glaubt, wird
Materialismus genannt. Gautama Buddha erkannte, dass diese beiden Philosophien
auf deren Grundlagen fast alle anderen Philosophien aufgebaut sind, beide
einseitig oder falsch sind, wenn sich der Mensch befreien will. Weiterhin entdeckte Buddha, dass wir Zen praktizieren
sollten, wenn wir diese beiden falschen Philosophien loswerden wollen. Dann
können wir deren Dualität überwinden. Nishijima Roshi fährt fort: „Es ist die Verwirklichung
selbst, wenn wir diese beiden Philosophien ausschalten“. Er kommt zu dem
Schluss, dass diese beiden illusionären Philosophien etwas grundsätzlich
anderes sind als der Buddhismus.
Nagarjuna geht also davon
aus, dass die Phänomene und Dinge dieser Welt, des Menschen und unseres Lebens
in Wechselwirkung und mit Verursachungen entstanden sind. Sie sind wie es im
Zen heißt, hier und jetzt da und verändern sich laufend. Wenn man ein
statisches unveränderliches Selbst, eine unveränderlich Substanz oder Essenz
annimmt, so ist das ein gravierender Fehler der Vertauschung und Verfälschung.
Dann wäre die Befreiungs-Lehre Buddhas sinnlos, weil es ja gar keine
Veränderungen und Lernprozesse geben könnte. Dann wären auch unsere Plagen und
Schmerzen trotz des Achtfachen Pfades nicht
zu überwinden.
Und das
widerspricht radikal den Erfahrungen der Menschen seit 2500 Jahren. Aber wie
können wir uns selbst wirksam von unseren Verirrungen von den Plagen des Lebens
befreien?
Um Irrtümer, Verblendungen und geistige
Vergiftungen anzugehen und zu überwinden, brauchen wir den klaren Willen, uns
von Schein-Wahrheiten und Ideologien zu lösen. Besonders schwierige Widerstände
ergeben sich aus erstarrten Fixierungen zum eigenen Ich, sei es ein
heldenhaftes Sieger-Ich oder ein
klagendes Opfer-Ich. Beides wird
jeweils psychisch zu erstarrten und statischen Ich-Biographien verdichtet,
fixiert und deterministisch fortgeschrieben, an die sich die Menschen klammern,
ohne sich dessen vielleicht bewusst zu sein. Aber letztlich schaden sich die
Menschen damit viel mehr, als es ihnen nützt. So lassen sich die Plagen nicht
überwinden. Daher ist die Suche nach der psychischen, ethischen und
spirituellen Wirklichkeit so wichtig. Sie wird maßgeblich durch eine wirksame
Achtsamkeit und ethisch klaren Handeln ermöglicht.
Kapitel 24: Die Vier Edlen Wahrheiten:
Überwindung des Leidens, Freiheit und die Leerheit
Nagarjuna hält in der Präambel und in den
vorangegangenen Kapiteln den direkten Bezug zu den authentischen Lehren Buddhas
für unverzichtbar und verknüpft sie mit der Wahrheit des wechsel-wirkenden
Entstehens und dessen Bezeichnung der Leerheit. Daher möchte ich kurz die Vier Edlen Wahrheiten in ihrer
authentischen Fassung der Pali-Übersetzung nennen.[54]
Peter
Gäng fasst sie und deren
wesentlichen Kernbereiche der frühen buddhistischen Lehre wie folgt zusammen:
„Die
Bedeutung der vier edlen Wahrheiten ist unübersehbar. Sie bildeten für fast
alle buddhistischen Schulen das Zentrum der Lehre und den Ausgangspunkt ihrer
Überlegungen, auch wenn die Bedeutung der vier edlen Wahrheiten oft
unterschiedlich gewichtet wird.“ [55]
Die Vier Edlen Wahrheiten benennen das Leiden
der Menschen, das es zweifellos in jedem Leben gibt. Gautama Buddha zählt ganz
konkret zwölf Bereiche auf, die hauptsächlich das Leiden ausmachen. Aber er
sagt nicht, dass das ganze Leben generell nur aus Leiden besteht, wie das in
manchen buddhistischen Linien und besonders von Kritikern des Buddhismus
vertreten wird. Das ist aus meiner Sicht nicht haltbar. Peter Gäng beschreibt
den Inhalt der Vier Edlen Wahrheiten so:
„Zusammengefasst
ist ihre Aussage: Leben birgt immer die Möglichkeit des Leidens. Das Leiden
kommt nicht zufällig, sondern es hat klar erkennbare Ursachen. Das Leiden ist
nicht unentrinnbar, sondern es gibt die Möglichkeit, es zu überwinden. Der
Buddhismus zeigt hierfür einen Weg.“
In der großen Lehr-Rede von den Grundlagen der
Achtsamkeit heißt es:
„Da
erkennt, ihr Mönche, ein Mönch der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies
ist das Leiden.’
Er
erkennt der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies
ist die Entstehung des Leidens.’
Er
erkennt der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies
ist die Aufhebung des Leidens.’
Er
erkennt der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies
ist der zur Aufhebung des Leidens führende Weg.’“
Im ersten dieser vier Schritte zählt Gautama
Buddha die verschiedenen Bereiche und Formen des Leidens auf, die für ihn eine
zentrale Bedeutung haben: Geburt, Altern, Krankheit, Sterben, Kummer, Jammer,
Schmerz, Gram, Verzweiflung. Außerdem: mit Unliebem vereint zu sein, zum
Beispiel Menschen, Lebensbedingungen oder geistigen Gegebenheiten. Und weiter:
von Liebem getrennt zu sein und sehnlich Erwünschtes nicht zu erlangen.
Wenn wir uns diese zwölf von Buddha
aufgeführten Kernbereiche des Leidens, die teils physisch begründet sind, aber
überwiegend in psychischen und sozialen Problem-Bereichen liegen, aus heutiger
Sicht vergegenwärtigen, wird ihre Aktualität offensichtlich. Die
psychotherapeutischen Praxen sind heute voller denn je mit Patienten, die oft
schwer unter Verzweiflung, Ängsten, Depressionen, Antriebsstörungen und einer
negativen Grundeinstellung zum Leben leiden. Unsere materiell orientierte
Konsumwelt suggeriert auf der anderen Seite, dass wir durch das Erwerben von
Konsumgütern glücklich werden, und das Angebot am Markt ist immer wesentlich
umfangreicher, als es sich die meisten leisten können. Man wünscht sich mehr,
als man bekommen kann, und das erzeugt ebenfalls einen Leidensdruck.
Die als wissenschaftlich valide angenommenen
Grundlage der Wirtschaftswissenschaften besteht darin, dass die Bedürfnisse des
Menschen sich immer weiter vermehren, je mehr er bekommt. Dies ist nach der
aktuellen Psychologie und den Neuro-Wissenschaften allerdings so nicht haltbar.
Es ist eher einseitige
Wirtschaftstheorie, enthält aber durchaus realistische Teil-Aussagen. Besonders
deutlich wird dieser Ansatz bei
Luxusartikeln, die mit den Grundbedürfnissen der Menschen nichts mehr zu tun
haben. Und viele Menschen kaufen etwas, das sie sich nicht gar nicht leisten
können, irgendwann sind sie dann überschuldet und in der ökonomischen Falle.
Angesichts der geschichtlichen religiösen
Zeit, in der Gautama Buddha lebte, ist es erstaunlich, wie nüchtern und
pragmatisch er den Kernbereichen des Leidens begegnete. Denn magische
Zuordnungen, die damals üblich waren, fehlen ganz. So sagte er zum Beispiel
nicht, dass Menschen leiden, weil sie wichtige Rituale der Götter verletzt oder
angebliche göttliche Gebote übertreten haben, dass sie die Götter beleidigt
haben oder den Brahmanen keine Ehrerbietung oder finanzielle Zuwendungen
zukommen ließen. Es ist auch nicht die Rede davon, dass angeblich heilige Rituale
unterlassen worden sind oder falsch durchgeführt wurden.
Im zweiten Schritt untersucht Buddha, wie das Leiden
in den einzelnen Bereichen entsteht. Peter Gäng übersetzt an dieser Stelle
wörtlich aus dem Pali und wählt den Begriff „Durst“, um die Ursache für die
Entstehung des Leidens zu bezeichnen.[56]
Der Durst ist eine körperliche und psychische Kraft, die große
Überlebens-Energien entwickelt und unbedingt gestillt werden möchte. Wer den
Durst nicht löscht, muss verdursten und stirbt, besonders in heißen Gegenden
wie in Indien. Dies legt nahe, dass man den Durst nur schwer durch bewusstes
Wollen bändigen kann, dass er also den Menschen in eine Richtung treibt, die
nicht mehr kontrollierbar ist. Wir würden heute wahrscheinlich von Sucht und
Abhängigkeit sprechen, z. B. Drogen-Abhängigkeit, Spiel-Sucht,
Alkohol-Abhängigkeit, Internet-Sucht aber auch Fresssucht usw.. Auf der anderen
Seite heißt es bei Buddha, dass der Durst gestillt und kontrolliert werden
kann, wenn man die richtigen psychischen und geistigen „Werkzeuge“ erlernt und
anwendet:
„Es ist
dies der Wiederwerden erzeugende, mit Freude und Verlangen verbundene, bald
hier, bald dort sich erfreuende Durst, nämlich der Durst nach Sinnlichkeit, der
Durst nach Werden und der Durst nach Entwerden.“
Dann geht es im Sūtra um die verschiedenen
körperlichen Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung und der sinnlichen Freuden, an
denen der diese Sucht ansetzt – nämlich die Sinnesorgane Auge, Ohr, Nase,
Zunge, Körper, Geist und die Sinnes-Objekte wie Formen, Töne, Düfte, Geschmäcke,
Berührungen und „geistige Gegebenheiten“ –, sowie um die nach der alten
indischen Lehre damit verbundenen Bewusstseine, also Bereiche des neuronalen
Netzes. Maßgeblich mit dem Durst und der Sucht sind laut Gautama Buddha das
unbedingte Wollen, das fixierte Denken, ruhelose Grübeln und Nachdenken
verbunden.
Durst und Wollen sind im Buddhismus eng mit
den sogenannten drei Giften verbunden: Gier, Hass und Verblendung, aber auch Stolz, Neid, Egoismus,
Machtgier, Ruhm usw.. Zen-Meister Dōgen kommt in vielen Kapiteln des Shōbōgenzō auf die Schädigungen zu
sprechen, die zum Beispiel durch die Gier nach Ruhm, Profit oder Macht
verursacht werden. Als Lösung dieser Probleme wurde das Leitbild des Mittleren
Weges entwickelt, auf dem man sich von den Extremen fernhält und die
Abhängigkeit von der Gier und dem hier genannten Durst beseitigt.
Die dritte der Edlen Wahrheiten gibt konkret
an, wie das Leiden nach Gautama Buddha aufgehoben werden kann: [57]
„Was
nun, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens? Eben
jenes Durstes restlose von Gier freie Aufhebung, sein Aufgeben, seine
Entäußerung, die Befreiung davon, das ohne Grundlage sein.“
Das heißt, dass wir uns vollständig von der
Gier befreien und ihr alle Grundlagen für ihre Entstehung zur ruhe kommen, also
keine psychische, geistige oder körperliche Energie mehr erzeugen. Dies
betrifft alle Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung und der Gefühle, die durch
die Berührung mit den Sinnes-Objekten entstehen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die
ersten drei Schritte der Edlen Wahrheiten sich mit der Identifizierung und
Analyse des Leidens beschäftigen und den grundsätzlichen Weg aufweisen, wie man
das Entstehen des Leidens verhindern kann. Im vierten Schritt wird der
sogenannte Achtfache Pfad der
Leidensaufhebung[58]
im Einzelnen beschrieben:
„Rechte
Sichtweise, rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter
Lebenswandel, rechte Bemühung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung.“
Nach der Überlieferung wurde der Achtfache Pfad zur
Überwindung des Leidens und zum Erwachen zur Wirklichkeit von Gautama Buddha in
seiner ersten Lehrrede nach seinem Erwachen in Vārānasī dargelegt.
Zurück zu Nâgârjuna: Die vorhergehenden Kapitel des MMK dienen vor allem der
Kritik und Destruktion nicht haltbarer Ansätze verschiedenen Übertragungs-Linien
des Buddhismus zur Zeit Nâgârjunas. Hauptkritikpunkt ist dabei jegliche
Dogmatisierung und Verhärtung des Buddhismus und vor allem das Substanz- und
Entitäts-Denken, das Veränderungen, Entwicklungen, das Entstehen und überhaupt
die Dynamik der Wirklichkeit vernachlässigt oder marginalisiert. Es geht um die
bestmögliche Klarheit der Wirklichkeit und der Wahrheit des Lebens und der
Welt. Es geht um die Unabhängigkeit von schädlichen und einengenden
Vorstellungen, Theorien, Doktrinen und Dogmen und seien sie als noch so heilig
überliefert! Nicht zuletzt geht es um Perversionen und Verdrehungen von Ethik
und Moral, die sogar mit Machtmissbrauch und Disziplinierungen durch die
religiösen Eliten einher gehen. Um diese Gefahren auszuhebeln können
unverfälscht überlieferte und konkrete Beschreibungen früherer großer Meister
besonders hilfreich sein. Aber unumgänglich sind eigenes Erfahren, Denken,
Selbstreflexion und die genaue und zunehmend klare Selbstbeobachtung, also
buddhistische Achtsamkeit. Und ohne rechtes Handeln gehrt es nicht.
Im vorherigen Kapitel untersucht Nâgârjuna die
Gefahren von Verwechslungen, Verdrängungen und Verfälschungen, dass also das
Gute für etwas Schlechtes und das Nicht Gutes angesehen und gedacht wird und
umgekehrt Ungutes und Schlechtes als gut eingeschätzt wird. Nâgârjuna zielt damit
vor allem auf den Substantialismus der von einer unveränderlichen dauerhaften
Substanz und deren dualen Eigenschaften in den Dingen und Phänomenen, den
Dharmas, ausgeht. In dieser Doktrinen wird also behauptet, dass sich nichts
verändert und alles dauerhaft und ewig in der Welt ist. Die Unveränderlichkeit und das Andauern
werden als gut und wahr verstanden, obgleich es in Wirklichkeit eine solche
Statik nicht gibt und die Wirklichkeit als dynamisches Entstehen in
Wechselwirkung verstanden werden muss. Der Irrtum liegt also darin, dass etwas
Veränderliches als unveränderlich und damit angeblich wertvoll eingeschätzt
wird. Eine solche Doktrin führt aber unweigerlich ins Leiden, denn die
Veränderlichkeit ist positiv, da sie die wahre Wirklichkeit beschreibt, während
die Unveränderlichkeit nicht gut ist. Die Unveränderlichkeit der Welt wird also
mit ihrer Veränderlichkeit verwechselt.
Ähnliches kann zum Leiden ausgesagt werden: Wer daran
leidet, dass die Welt und das Leben veränderlich sind, schafft sich damit
gerade das Leiden, weil er die Wirklichkeit verzerrt. Ohne Veränderlichkeit
kann es keine Überwindung des Leidens und keinen Wandel zum Guten und Besseren
geben. Das Gute ist also gerade veränderlich und eine solche Sichtweise und
Erkenntnis überwindet das Leiden und führt zur Freiheit. Wer sich an Ewigkeit
und Unveränderlichkeit klammert, wird demgegenüber nach Buddha leiden und
verwechselt das Ungute mit dem Guten.
Kalupahana verdeutlicht aus der geschichtlichen
Entwicklung des Buddhismus und Brahmanismus Folgendes:[59]
Die Kritik des Brahmanismus, der eine substanzhafte Religion- und
Weltanschauung ist, will nicht akzeptieren, dass die Veränderlichkeit wirklich
ist und nicht die Unveränderlichkeit und Ewigkeit. Eine derartige doktrinäre
Lebensphilosophie sei jedoch bei den Substantialisten also vor allen den
Sarvastivadins innerhalb des Buddhismus wieder aufgetaucht und müsse destruiert
werden. Der Substantialismus, welcher Herkunft auch immer, hat mit der Aussage
des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung die als Leerheit bezeichnet wird,
große Probleme und neigt dazu die Leerheit als Nihilismus und Nicht-Existenz zu
„verstehen und zu kritisieren. Leerheit wird also mit Nicht-Existenz
verwechselt.
Entsprechend sind die ersten Verse dieses Kapitels einer
solchen Fehlinterpretation des Buddhismus in der Sekte der Substantialisten
gewidmet. Wenn diese die Leerheit anerkennen, müssen sie die Leerheit als
Nicht-Existenz interpretieren. Sie kommen dann zu dem Schluss, dass die
Leerheit auch die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas ad absurdum führt. Diesen
Problemen und diesen Fragestellungen geht Nâgârjuna in den ersten Versen
dieses Kapitels nach.
Die Aussagen Nagarjunas entsprechen nach meinem
Verständnis in gewissem Umfang der Entwicklung der westlichen Philosophie der
Moderne nach Nietzsche, Wittgenstein, früher Heidegger und Derridá und der Überwindung
der „klassischen“ Metaphysik. Diese hatte sich seit Parmenides und Platon mehr
oder minder stark auf das unveränderliche
Sein als das Wesentliche der Welt bezogen und es von dem oft als
oberflächlich abgetanen wahrnehmbaren Seienden
abgrenzt. Etwas vereinfacht aus gedrückt sei Das Seiende veränderlich nach Ort
und Zeit, aber von viel geringerer philosophischer Bedeutung als das Sein. Wie
Elberfeld bei seiner Untersuchung zur Phänomenologie der Zeit richtig bemerkt,
hat der frühe Heidegger mit seinem Werk Sein und Zeit diese für mich wenig überzeugende
Tendenz stark beeinflusst. Elberfeld baut darauf eine andere Philosophie des
Buddhismus auf, die sich besonders in dem grundlegenden Werk des Shobogenzo von
Zen – Meister Dôgen überzeugend niederschlägt, die sich aus seiner Ansicht nach
fundamental von der überkommenden Seins-Philosophie unterscheidet.
Ich möchte nun zu der angesprochenen Problematik
dieses Kapitel des Mittleren Weg Nagarjunas untersuchen und kommentieren. Dabei
wird sich die fundamentale Bedeutung dieses nicht zufällig längsten Kapitels
gerade für die Probleme zur Wirklichkeit, der dynamischen Wechselwirkung, der
Überwindung des Leidens, Befreiung und
der wahren Bedeutung der Leerheit herausstellen.
Die Vier Edlen Wahrheiten sind ein Kernpunkt der
buddhistischen Befreiungs-Lehre und beinhalten die entscheidenden Prozesse der
Entwicklung und Befreiung des Menschen. Neben dem philosophischen Grundsatz von
pratitya samutpada, dem gemeinsamen
Entstehen in Wechselwirkung und der Vermeidungen von Extremen, sind sie das
Fundament der buddhistischen Lehre. Nâgârjuna fasst in diesem Kapitel die
wesentlichen Aussagen der Vier Edlen Wahrheiten zusammen und verbindet sie mit pratitya
samutpada und dem Begriff der Leerheit. Dieses Kapitel 24 ist mit 40 Versen das
längste des MMK und sicher auch eines der bedeutendsten. Nâgârjuna
verlässt hier die bisherige überwiegend von ihm verwendete Methode der
Destruktion doktrinärer und damit falscher oder unzureichender Annahmen und
beschreibt seine eigene positive Sicht und damit die therapeutische Kraft des
Buddhismus.
Es ist sinnvoll die maßgeblichen Aussagen zu
den Vier Edlen Wahrheiten auf der Grundlage des authentischen Pali – Buddhismus
voranzustellen um damit den direkten Bezug zu Nâgârjunas Aussagen herzustellen.
Die Vier Edlen Wahrheiten basieren wie erwähnt auf
Buddhas Erkennen der wahren Natur des Menschen zwischen fixierter Bindung
einerseits und Freiheit andererseits. Diese Wahrheiten beschreiben den Weg, wie
aus einer solchen mit dem Leiden verknüpften Bindungen und Fesselungen die Befreiung und Emanzipation des Menschen
gelingt. Es gibt dabei gewisse Ähnlichkeiten mit dem berühmten Höhlengleichnis des Platon, der das
„normal“ unklare Leben mit dem Halbdunkel des Höhlen-Daseins beschreibt und mit
dem geistig freien Leben des Philosophen kontrastiert, der die Sonne, den Mond,
die Sterne und das ganze lebendige Leben sehen und erkennen kann. Allerdings
gibt Platon kaum Hinweise, wie ein Emanzipations-Prozess der in der Höhle
Angeketteten vor sich gehen kann, damit die Befreiung zur Klarheit und
Helligkeit des Lebens gelingt. Anders Gautama Buddha: Er beschreibt zunächst
die wichtigsten Bereiche des konkreten Leidens, nennt deren wichtigste
Ursachen, nämlich die Fixierung durch die drei Gifte Gier, Hass und
Verblendung. Diese Gifte binden und fixieren danach sowohl die Wahrnehmung als
auch die fünf Komponenten des Menschen, die Skandhas. Buddha gibt dann als
Lösungsweg an, wie diese Fixierungen überwunden werden können und nennt
schließlich im Achtfachen Pfad sehr konkret den Befreiungs- und
Emanzipations-Weg.
Es wurde häufig in der Geschichte des Buddhismus
kontrovers diskutiert, ob die Vier Edlen Wahrheiten sowohl für normale als auch
für erleuchtete und befreite Menschen gelten, wobei im Laufe der Zeit sich eher
die Meinung durchsetzte, dass es nur um die Erleuchteten und Befreiten ginge.
Ich folge dieser Interpretation ausdrücklich nicht, denn aus meiner Sicht ist
der Achtfache Pfad für alle Menschen sinnvoll, denn auch die Erleuchtung ist
kein fixierter zeitunabhängiger dauerhafter Zustand, sondern bedarf als Prozess
der Verwirklichung im Leben.
In buddhistischen und nicht-buddhistischen Kreisen
ist manchmal zu hören, Buddha habe gelehrt, alles
sei Leiden und es sei in Wirklichkeit fundamentale Illusion zu glauben,
dass man nicht leidet. Wer also Freude und Glück empfindet, irrt sich
grundsätzlich, weil er eigentlich leidet und sich nur einbildet glücklich zu
sein. Er verwechsle also Freude und Leiden. Derartige Fehlinterpretationen
wurden im vorherigen Kapitel Täuschungen, Verwechslungen und Perversionen
bereits eingehend behandelt. Der gravierende Fehler liegt in der Übersetzung
aus dem Pari, wie auch Kalupahana bemerkt.[60]
Die genaue Übersetzung lautet: Dies alles
ist das Leiden. Indem das Wort idam,
das dieses oder das Folgende bedeutet, weggelassen wird, ergibt sich die
falsche Übersetzung. „Alles ist Leiden.
Dieses bedeutet aber gerade das Hier und Jetzt, wie im Zen – Buddhismus
herausgearbeitet wird und ist keine Verabsolutierung.
Ein zweiter wichtiger Fehler entsteht dadurch, dass
eine substanzhafte Doktrin zur Grundlage genommen wird. Dann gibt es entweder
das totale substanzhafte Leiden oder die totale Befreiung, Nirvana. Dabei
Nirvana meistens substanzhaft ins Jenseits und in nachfolgende Wiedergeburten
verlagert. Eine solche Doktrin widerspricht dem authentischen Buddhismus wie Nâgârjuna
in den vorhergegangenen 23 Kapiteln der Verwechslungen überzeugend nachweist.
Nâgârjuna (nach Kalupahana 67) gibt eine weitere Erklärung zur
nicht authentischen Auffassung, alles sei Leiden, und nennt dabei den späteren
Hinduismus, der diese Fehlinterpretation eventuell gezielt oder aus
Unverständnis dem Buddha unterstellt. Es ist nicht auszuschließen, dass dabei
religionspolitische Aspekte die Oberhand gewonnen haben, indem der Buddhismus
als Leidensreligion abgewertet wird
und die eigene hinduistische Erlösungsreligion
gegenüber gestellt wird. Es ist weiterhin nicht ausgeschlossen, dass diese
Version von den christlichen Europäern der Kolonialzeit übernommen wurde, um
den Buddhismus abzuwerten. Danach wurde dies Fehlübersetzung fälschlich weiter
verbreitet.
Eng mit dieser Fehlinterpretation ist das falsche
Verständnis der Leerheit verbunden.
Sie wurde entsprechend als das totale Nichts und damit als Nihilismus
interpretiert. Nâgârjuna verbindet die Leerheit jedoch in den berühmten Versen
24.18 und 24.19 direkt mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung,
pratitya samutpada, und räumt damit gründlich die Fehlinterpretationen
beiseite. Daher möchte ich den Vers 24.18 genauer einbringen, hier die exakte Übersetzung:
Vers 24.18
Vers 24.18
Was gemeinsames Entstehen
in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben,
ergibt sich eben der mittlerer Zugang (zur Buddha-Wahrheit).
Dieser Vers ist zweifellos von fundamentaler
Bedeutung: Er beschreibt in großer Klarheit die Bedeutung und Funktion,
Sichtweise und Bezeichnung der Leerheit, Shūnyatā,
für die unverzerrte Realität der
Wechselwirkung des gemeinsamen Entstehens.
Wie kann dieser zentrale Vers zusammengefasst werden?
Die Aussagen gliedern sich zunächst in zwei Schritte
und eröffnen dann den Weg zum Ziel des Buddhismus, also dem Zugang zum Mittleren Weg. Dieser Weg der
Mitte führt zur Buddha-Wahrheit und zum Erwachen. Er vermeidet die Extreme von
ideologischen Übertreibungen, die die Wirklichkeit nicht sachgerecht
beschreiben können und damit auch kein Ausweg aus dem Leiden eröffnen. Solche
Extreme können nicht zum Erwachen und nicht zur Erleuchtung führen.
Ausgangspunkt ist das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung der Wirklichkeit, pratitya
samutpada. Allerdings kann diese Wirklichkeit mit dem Denken allein nicht
vollständig erfasst werden. Nagarjuna behauptet aber nicht, dass es überhaupt
keine Wirklichkeit gibt, denn das wäre unsinniger Nihilismus. Durch duales
Denken ist überhaupt kein Zugang zur Wirklichkeit möglich, und duales Denken
widerspricht grundsätzlich der Buddha-Wahrheit.
Im nächsten Schritt wird die Leerheit beschrieben:
„Wir sehen das gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung als Leerheit an“. Das heißt,
dass die Wirklichkeit ohne Extreme ist. Sie ist wie sie ist. Die Wirklichkeit
ist vor Allem von Natur aus frei von einer ideologischen und falscher Buddha-Wahrheit. Leerheit
bedeutet die Leerheit von
Buddha-Unwahrheiten und anderen falschen Doktrinen, die das Leiden nicht überwinden
können.
Im nächsten Schritt eignen wir uns die Bezeichnung
der Leerheit an und können so gut kommunizierten und umfassender denken. Wie
überwinden damit den Dualismus. Aber die Leerheit ist kein Selbstzweck und
nicht das Ziel des Erlösungsweges sondern eröffnet die Weiter-Entwicklung zum
Erwachen. Diese Weiter-Entwicklung ereignet sich auf dem Mittleren Weg.
Damit ergeben sich die folgenden Schritte:
- Erkennen der intellektuell unfassbare Wirklichkeit,
das ist das
gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung,
- Erkennen der Leerheit
dieser Wirklichkeit von falschem Buddha-
Dharma und falschen Doktrinen,
- Benutzen der Bezeichnung der Leerheit zur
effektiven Kommunikation
für die weitere Entwicklung des Menschen,
- Eröffnung des Mittlere Weges zum Erwachen und zur
Erleuchtung.
Verkürzt kann gesagt werden, dass die Leerheit nicht das letzte Ziel der
menschlichen Entwicklung ist, sondern nach Nagarjuna die Voraussetzung und
Bedingung für für eine solche kreative Weiterentwicklung. Er bezeichnet diesen
Zugang durch die Leerheit als den Weg der
Mitte oder den mittleren Weg. Dieser Weg über die Leerheit führt zur Fülle,
Lebendigkeit und unverzerrtem umfassenden Wissen, also die Buddha-Wahrheit. Also verkürzt: Die Leerheit von hemmenden und falschen
Doktrinen wie dem Substantialismus eröffnet die kreative Entwicklung des
Menschen und die Verwirklichung der Buddha-Natur.
Weitere
Verwirrungen können dadurch entstehen, dass die umfassende Wahrheit der realen
Wirklichkeit mit einer doktrinären absoluten Wahrheit
verwechselt wird. Ich folge Nâgârjuna in aller Klarheit, dass es ein absolutes
Allwissen und das entsprechende absolute Wissen nicht gibt und nicht geben
kann. Eine substantialistische Unterscheidung einer „relativen“ und
einer absoluten Wahrheit ist nicht tragfähig. Es geht um die immer größer
werdende Klarheit auf dem Mittleren Weg. Vermutlich hatte Buddha nach seinen
intensiven Versuchen, die absolute Wahrheit bei zwei der besten anerkannten
Meister seiner Zeit zu verwirklichen, selbst klar erkannt, dass dies objektiv unmöglich
ist. Seine beiden Lehrer praktizierten zwar mit effiziente
Meditations-Methoden, aber durch das unerreichbare Ziel des absoluten Wissens
waren deren Wirksamkeit unterminiert und ins Gegenteil verkehrt. Eine solche
Allwissenheit der absoluten Wahrheit müsste nämlich für die gesamte
Vergangenheit, die Gegenwart und die ganze Zukunft gelten. Und das ist
unmöglich
Das erscheint mir phänomenologisch absurd. Damit
entfällt im Übrigen auch der Glaube, dass mit dem Begriff der Wahrheit eine
absolute unveränderliche und allgemein gültige Semantik verbunden sei. Dies ist
nach meinem Verständnis ebenfalls doktrinärer Substantialismus. Vielmehr ist
die Semantik jedes Begriffes zwar zum Teil Zeit-übergreifend aber nicht total
unveränderlich. Sie wird maßgeblich von den sozialen Systemen der Gesellschaft
beinflusst (Niklas Luhman) und ist zudem individuell geprägt.
Nishijima
Roshi gliedert die
höchste dem Menschen zugängliche Wahrheit in vier Bereiche und zwar in drei
Teilbereiche und in die Gesamtheit dieser Wahrheit. Die erste Teilwahrheit
bezieht sich auf Theorie, Denken, Philosophie, Bewusstsein usw. die er Idealismus
nennt. Diese Teilwahrheit wird vor allem in der Philosophie untersucht, die
sich im Westen vor allem auf Parmenides und Platon stützt. Demgegenüber hat
Buddha im Achtfachen Pfad der Edlen Wahrheit sehr praktische Handlungsbereiche
für den Prozess der Befreiung und Emanzipation genannt, zum Beispiel Handeln,
Ausdauer und Meditation. Im Übrigen wissen wir durch die Neuro-Wissenschaften,
dass im neuronalen Netz physische, psychische und mentale Leistungen sowie den
dazugehörigen Daten eng miteinander verknüpft sind, also in der Wirklichkeit
zusammenhängen. Ein isolierter Idealismus kann also nur begrenzte Aussagen
Die zweite Teilwahrheit betrifft das Materielle, also die Teil-Wirklichkeit
vor allem der externen Welt der Dinge und Phänomene, aber auch der
Veränderungs-Prozesse dieser materiellen Welt. Nishijima verbindet diese
Teilwahrheit vor allem mit den Naturwissenschaften wie der Physik und Chemie.
Im Westen führen wir die Naturwissenschaften meist auf Aristoteles zurück. Eine
gewaltige Entwicklung habe seit der Renaissance stattgefunden, die zu einer
grundsätzlichen Veränderung unseres Alltagslebens geführt hat.
Im Zen gehe es drittens vor allem um das Handeln im gegenwärtigen Augenblick.
Dies Teilwahrheit wird im Idealismus beiseite gelassen. Derartiges Handeln
steht im chinesischen Chan- und japanischen Zen – Buddhismus an zentraler
Stelle, auch für die Entwicklung ganzheitlicher Klarheit und die Befreiung aus
dem Bodhisattvaweg.
Nishijima nennt viertens die höchste dem Menschen
zugängliche Wahrheit, die er als Ganzheit mit dem Universum versteht. Dies sei
die umfassende Wirklichkeit des Universums und des Menschen. Er betont, dass
damit die anderen drei Teilwahrheiten zusammenfassend integriert sind und nicht
von dieser umfassenden Wahrheit getrennt werden können. Diese höchste Wahrheit
sei sehr konkret auf unser Leben und unsere Entwicklung bezogen und sei nicht
in Gefahr, in absolute Abstraktionen zu verfallen, wie dem Idealismus.
In diesem Kapitel des MMK erarbeitet Nâgârjuna die wahre Bedeutung der Vier
Edlen Wahrheiten anhand der Leerheit und dem gemeinsamen Entstehen in
Wechselwirkung. Er entwickelt eine präzise Argumentation, dass mit der Doktrin
des Substantialismusder unveränderlicher Dharmas, Dinge und Phänomene, Buddhas
Lehre ad absurdum geführt würde. Der Substantialismus hatte sich zum Beispiel
bei den Sarvastivadins durchgesetzt. Deren "Buddhismus" ist daher nach
Nagarjuna nicht haltbar. Mich überzeugt seine Argumentation.
Die Vier Edlen Wahrheiten mit dem Achtfachen Pfad der Überwindung des
Leidens,der Befreiung und Emanzipation ist zweifellos zur Kernlehre des
Buddhismus zählen. Buddha hatte nach eigenen gründlichen Erfahrungen
festgestellt, dass die damaligen Substanz- und Essens-Lehren sowie deren
Weisheiten nicht wirklich geeignet waren, um Menschen zu befreien, indem das
menschliche Leiden erkannt, reduziert oder ganz aufgehoben wird. Von zentraler
Bedeutung dabei war seine klare Erkenntnis und Erfahrung, dass der Glaube an
einen unveränderlichen Wesenskern des Menschen, des Âtman, gerade nicht zur
Befreiung aus dem Leiden und zur Emanzipation führen kann. Daher ist ein
zentraler Punkt seiner neuen Lehre der anâtman, also der Nicht-Âtman des
Menschen. Nach seiner festen Ansicht und seinen Erfahrungen war gerade dieser
Glaube das fundamentale Hemmnis zur Befreiung, während es in den damaligen
Religionen als der Schlüssel zum ewigen Glück und zur ewigen Seeligkeit
gepredigt wurde. Diese wurde auch von allen buddhistischen Lehr-Meinungen der
Folgezeit anerkannt.
Aber dann wurden angeblich buddhistische Philosophien entwickelt, dass
die Dharmas, die als Bausteine der Welt verstanden wurden, unteilbar,
unveränderlich und ewig seien. Sie hätten danach einen unveränderlichen Kern,
den ich im Einklang mit der überwiegenden Literatur als Substanz bezeichet, in
Sanskrit svabhâva. Diese sei die Realität und Natur.
Buddha klärte aber, dass auch die Dinge, Phänomene und Prozesse,
Dharmas,gerade keine ewige unveränderliche Substanz oder Essenz haben, sondern
veränderlich sind, also entstehen, andauern und vergehen. Damit ist die
altindische Philosophie der unveränderlichen und unteilbaren kleinsten
Bausteine der Welt ebenfalls unhaltbar und der Glauben an derartige Bausteine
und Dharmas macht die reale Befreiung und Emanzipation des Menschen unmöglich.
Es ist auffällig, dass diese so geglaubten Dharmas den Atomen (Demokrit) oder Ideen (Platon)der griechischen Philosophie sehr
ähnlich sind. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil beide Kulturen der
Weltanschauung und dem tiefen Glauben der Indo-Europäer angehören, denen sowohl
die eingewanderten Arier in Indien als auch die Griechen angehörten. Der
indische Glaube der Dharmas im Buddhismus als ewige, unveränderliche und
unteilbare Bausteine, der Eigen-Substanz, wird mit dem Sanskrit-Begriff svabhâva bezeichnet.
Buddhas positive Aussage zu diesem zentralen Thema ist, dass die
Wahrheit und Wirklichkeit der Welt durch das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung (pratitiya samutpada) gekennzeichnet ist. Diese Aussage bedeutet
auch, dass der Mensch leer von dem metaphysisch geglaubten Âtman ist und dass
die Dharmas leer von einer unveränderlichen und ewigen unveränderlichen Eigen-Substanz (svabhâva) sind. Die so definierte
Leerheit wird in diesem Kapitel 24 klar beschrieben.
Die ersten Verse dienen dazu, die falsch verstandene Leerheit der
Substanz-Gläubigen also der Substantialisten zu destruieren. Sie verstanden die
Leerheit nämlich als Nicht-Existenz ihrer geglaubten Substanz also als das
Nichts in der Welt. Wer nach Nâgârjuna mit diesem falschen Verständnis der Leerheit des
Nichts die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas untersucht, kommt zu dem Schluss, dass
diese gar nicht existieren können. Dann ist diese Leerheit gerade die Negation
der Vier Edlen Wahrheiten Buddhas. Damit würde die gesamte buddhistische Lehre
der Überwindung des Leidens und der Befreiung entfallen. Dieses absurde
Ergebnis ergibt sich für die damals bereits verbreitete Doktrin der
Sarvastivadins.
Demgegenüber behaupteten die von Nagarjuna ebenfalls abgelehnten
Sautrantikas, dass die in zeitliche Momente unterteilten nach einem Moment
abbricht und im Nichts endet. Ein Zeit-Moment würde also aus dem Nichts
entstehen, sehr kurz andauern und wieder im Nichts verschwinden. Nâgârjuna
klärt, dass eine derartige Doktrin und Philosophie ebenfalls unhaltbar ist,
weil man das Nichts mit der Leerheit verwechselt. Auch dann wäre Buddhas Lehre
gegenstandslos. Daher bleibt nur der Schluss, dass diese beiden Doktrinen und
das falsche Verständnis der Leerheit mit der Buddha-Lehre der Vier Edlen
Wahrheiten und des Achtfachen Pfades unvereinbar ist.
In einer weiteren Argumentations-Kette beweist Nâgârjuna, dass die
absolute Unterscheidung von Erleuchtung und Nicht-Erleuchtung also absolute
Befreiung und Nicht-Befreiung unhaltbar ist. Daher kann es die totale
Unterscheidung als konventionelle weltliche Wahrheit und eine absolute höchste
Wahrheit des Erleuchteten und Erwachten nicht geben. Eine solche absolute
Unterscheidung hatte sich in den Jahrhunderten nach Buddha heraus entwickelt.
Diese Unterscheidung bedeutet eine radikale Abqualifizierung der
konventionellen Wahrheiten und des konventionellen Lebens. Daraus folgt auch,
dass die Vier Edlen Wahrheiten und besonders der Achtfache Pfad nur für die
höchste absolute Wahrheit der Erleuchteten gelten würde. Nâgârjuna destruiert
diese Doktrin und in der Tat würde eine solche Aussage die praktische Bedeutung
von Buddhas Lehre für das normale Leben erheblich schwächen.
Nâgârjuna sagt vielmehr, dass der Mensch sich aus konventionellen Bindungen
und Restriktionen mit Hilfe seiner Lehre befreien kann und sich damit Schritt
für Schritt weiterentwickelt und zur Freiheit und Emanzipation gelangen kann.
Dafür gibt es den Mittleren Weg. Es ist klar, dass die absolute Unterscheidung
der konventionellen und absoluten Wahrheit ein Glaube an absolute Extreme ist,
die von Buddha eindeutig abgelehnt werden. Damit wird auch die Doktrin richtig
gestellt., dass die konventionelle Wahrheit eine totale Un-Wahrheit und
Nicht-Wahrheit sei.
In der Wirklichkeit, die man beobachten und erfahren kann, gibt es gerade keine
unveränderliche ewige Existenz (svabhâva)
der Dinge und Phänomene. Das würde Buddhas Wahrheit des
gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung fundamental widersprechen. In der heutigen Zeit kann man diese
Aussage ohne Zweifel mit der Vernetzung und Wechselwirkung lebender natürlicher Systeme verstehen. Man muss allerdings gleichzeitig beachten, dass die Wirklichkeit nicht vollständig
erkannt werden kann und dass man ihr eine unendliche Komplexität zuerkennen
muss. Daher ist es unmöglich, dass es Allwissenheit des Erwachten und
Erleuchteten geben kann. Alle natürlichen und realen Phänomene würden mit einer
Doktrin der Unveränderlichkeit und Substanzhaftigkeit ad absurdum geführt. Dazu
zählen zum Beispiel folgende Phänomene: Effekt, Ursache, handelnder
Tätigkeiten, Handlung, Entstehen, Vergehen und Ergebnis als Frucht usw.. Damit
ist der Boden für den wichtigen und zentralen Vers 24.18 als positive Aussage
der Lehre Buddhas bereitet, dass das Entstehen in Wechselwirkung als Leerheit angesehen
wird.
Indem man diesen Begriff der Leerheit akzeptiert und verwendet, eröffnet sich der
Mittlere Weg der Befreiung. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies genau die
exakte Übersetzung dieses wichtigen Verses ist (Kap. 24.18), dass es aber in der Literatur
auch vielfältige Vereinfachungen und Verzerrungen gibt. Zum Beispiel wurde pratitiya samutpada
als abhängiges Entstehen übersetzt
und dieses sei dasselbe und identisch mit der Leerheit und dem Mittleren
Weg. Eine solche Argumentation scheint mir schon deswegen verkürzt, weil
hier eine Identität dieser drei Aussagen bestehen soll. Aber nach der Lehre
Buddhas gibt es in der Wirklichkeit weder eine totale Identität, noch eine totale Differenz. Dies Interpretation ist im Übrigen kompatibel mit der neuen Forschung zur Ökologie und
zur Funktion des menschlichen neuronalen Netzes also des Gehirns.
Mit diesen Aussagen kann auch die Frage der Kausalität also der
Beziehung von Ursache und Wirkung geklärt werden. Derartige Funktionen gibt es
in jedem lebenden System. Vernetzung und der Rückkopplung gibt es allerdings
nicht in der simplen Form einer einzigen Ursache und einer einzigen Wirkung, das
wäre eine absoluten derterministische Abhängigkeit. Wie wir aus der empirischen
Forschung jedoch wissen, wäre dies nämlich eine Korrelation von 1,0 , die in
der Wirklichkeit nicht zu finden ist. Eine total eindeutige Beziehung von
Ursache und Wirkung ist also ein Produkt des theoretischen menschlichen
Denkens und nicht der Beobachtung der Natur und des Realität des Menschen. Es
handelt sich dabei um eine idealistische Lebensphilosophie im Sinne von
Nishijima Roshi. Eine solche Philosophie kann aber niemals die Wirklichkeit und
Wahrheit sachgerecht beschreiben, sondern ist immer nur eine Teilwahrheit,
deren Anwendbarkeit und Relevanz jeweils geprüft werden muss. Es handelt sich
gerade nicht um eine absolute Wahrheit die immer und überall gilt.
Nach diesen präzisen Argumentationen kommt Nâgârjuna zu der eindeutig
positiven Aussage, dass man die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt und der
Dinge und Phänomene und damit auch des Menschen am klarsten erkennt, wenn man
die zentrale Bedeutung des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung begriffen
hat. Dafür verwendet er den Begriff der Leerheit. Damit eröffnet sich dann der
fundierte und bewährte Mittlere Weg der Befreiung des Menschen, um die fünf
Hemmnisse zu überwinden und die sieben Faktoren des Erwachens zu verwirklichen.
Philosophische Zusammenfassung
Philosophische Zusammenfassung
Ontologische Grundlage der Wirklichkeit:_ Gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada
Bezeichnug, Wortebene: Leerheit, Shunyata
Funktion: Zugang zum Mittleren Weg der Befreiung, zu den Vier Edlen Wahrheiten
Kapitel 25: Befreiung
und Nirvana
Dieses Kapitel über Befreiung und Nirvana ist ohne
Zweifel ein Höhepunkt des gesamten MMK. Nur kurz zur Erinnerung: in der
Präambel und den beiden ersten Kapiteln legte Nâgârjuna die Grundlage für die
folgenden kritischen Anmerkungen und Destruktionen einer Doktrin der
unveränderlichen Substanz in allen Dingen und Phänomenen (Dharmas) und dem
Menschen als Ganzes. Das ist semantisch auch ein Wieder-Aufleben der
vorbuddhistischen Religion des Brahmanismus also des Âtman-Selbst. Mit
philosophischer Präzision destruiert Nâgârjuna diese falschen doktrinären
Grundlagen des Buddha Dharma mit den Schwerpunkten des Handelns Buddhas als
Menschen des Tahâgata und die gravierenden Verdrehungen und Verfälschungen, die
sich in der buddhistischen Lehre eingeschlichen hatten. Zentraler Aspekt ist
die Gegenüberstellung mit der Präambel, die durch das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung (pratitya samutpada). Dabei ist maßgeblich, wie der Mensch in
dieses wechselwirkende System eingreifen und es durch eigenes Handeln aktiv
steuern kann, ohne irgendwelchen Ideologien von den absoluten Extremen einer
totalen Existenz oder Nichtexistenz zu verfallen.
Der Hauptpunkt der Kritik Nagarjunas ist eine Doktrin
unveränderlicher ewiger Substanzen, die angeblich in den Dharmas enthalten ist
und wie er nachweist, mit der authentischen Lehre Buddhas nicht vereinbart
werden kann. Diese Substanz-Lehre ist im Übrigen weit verbreitet und oft
Grundlage der westlichen Philosophie seit dem griechischen Philosoph
Parmenides. Sie ist eine Grundlage der Metaphysik des Seins, die bis in die
neue Zeit etwa von Heidegger hinein wirksam ist. Es ist also nicht von der Hand
zu weisen, dass gerade diese griechische Philosophie der Substanz und des Seins
in den Buddhismus hinein diffundiert ist. Wir wissen historisch, dass es einen
indisch-griechischen Buddhismus gab, der sich in den östlichen Gebieten der
Nachfolgereiche von Alexander dem sogenannten Großen entwickelt hatte.
Demgegenüber vertreten Buddha und Nâgârjuna in aller
Klarheit die Wirklichkeit Prozesse der Veränderung, der Befreiung und
Emanzipation und nicht zuletzt der Überwindung des Leidens, oder wie es genauer
heißt, dass das „Leiden zur Ruhe kommt“. Abruptes Umschlagen von Sein und
Nicht-Sein, oder Existenz und Nichtexistenz werden abgelehnt, denn sie sind in
der Wirklichkeit nicht vorfindbar und daher doktrinäre Extreme des Denkens und Glaubens. Ich folge
diesem Ansatz der Veränderungen und Prozesse ausdrücklich, weil ich in der Tat
eine Philosophie der Substanz und des Seins für ungeeignet halte, um wichtige
Befreiungsprozesse lebendiger Wesen und vor allem des Menschen philosophisch
analysieren und beschreiben zu können. Die notwendige Reduzierung von
Komplexität lebender vernetzter Prozesse lassen sich meines Erachtens mit einer
Philosophie unveränderlicher Substanz, die zudem noch ewig ist, nicht
behandeln.
Es ist am Rande bemerkt durchaus erstaunlich, dass
die westliche Philosophie auf einer Substanz-Philosophie aufbaut und nicht
einmal die Ratio der Veränderung des griechischen Philosophen Heraklit sinnvoll
integriert. Eine auf dem Buddhismus aufbauende Philosophie der Veränderung,
Befreiung und Emanzipation des Menschen möchte ich als Differential-Ontologie bezeichnen, die in wichtigen Aussagen auch
im Westen von den modernen französischen Philosophen Deleuze und Deridá
vorangebracht wird. Aus meiner Sicht sind die philosophischen Grundlagen und
Differenzierungen bei Buddha, Nâgârjuna und Dôgen besonders lebensnah und
umfassend. Die Beschreibung der Welt und des menschlichen Lebens mit einem
wechselwirkenden sich entwickelnden und vernetzten Ganzen ist zweifellos ein
moderner Ansatz, der in der Systemtheorie Niklas Luhmans, der Öko-Systemforschung und
nicht zuletzt der Neuro-Gehirnforschung wissenschaftlich erfolgreich angewendet
wird.
Metaphysische Grundlagen erscheinen mir daher weniger
geeignet, um das Problem, wie wir unser Leiden überwinden und uns befreien
können, zu behandeln. Rein empirisch quantitative Methoden sind sicher für
einzelne Experimente und Versuche nützlich, wie die Öko-Systemforschung und
Gehirnforschung beweist. Als Methode ziehe ich jedoch eine Phänomenologie
vernetzter Prozessen vor, die über die Phänomenologie der Dinge, Sachen und des
Seins hinausgeht. Die Phänomenologie wird oft dem Philosophen Husserl
zugeschrieben.
Im vorherigen Kapitel arbeitete Nâgârjuna das
Verhältnis von Leerheit und wechselwirkendem Entstehen heraus. Leerheit heißt
demnach verkürzt, dass die Doktrin und Ideologie der Substanzhaftigkeit
(Substantialismus) beseitigt werden, dass die dynamische Wirklichkeit also leer
von derartigen unveränderlichen Substanzen und Essenzen ist. Die gilt besonders
für die Doktrin einer Eigen-Substanz (svabhâva) und eines Substanz-Selbst wie
des Âtman-Selbst des Brahmanismus.
Nachdem im vorherigen Kapitel, das das Längste des
MMK ist, die Vier Edlen Wahrheiten gegenüber einer Doktrin von Substanzen oder
des falschen Verständnisses der Leerheit als dem Nichts verteidigt wurden geht
es nun um das große Lebensziel des Menschen, nämlich die Befreiung und
Emanzipation in diesem Leben im Hier und Jetzt. Nâgârjuna nennt diese Befreiung Nirvana und distanziert sich damit von dem Glauben, das Nirvana
wäre in einer jenseitigen transzendenten Welt, die total verschieden von der
hiesigen realen Welt sei. Oder kurz gefasst: die buddhistische Lehre und Praxis
gibt uns die Möglichkeit jetzt in unserem Leben sich so weiter zu entwickeln,
dass wir ein derartiges befreites Leben führen können. Dies ist gleichzeitig
ein gutes und freudiges Leben, das die Hemmnisse überwunden hat und durch die
sieben Faktoren der Erleuchtung von Buddha authentisch beschrieben wurde.
Die folgenden sieben Verse sind die Gegenargumente
gegen die authentische Lehre Buddhas und Nâgârjunas, weil der Kontrahent die
Leerheit falsch versteht und als Nichts und Nihilismus interpretiert. Danach
erläutert Nâgârjuna im Einzelnen das wahre Verständnis der Leerheit und der
Befreiung also des Nirvana.
Nishijima Roshi betont zu Beginn dieses wichtigen
Kapitels, dass es beim Leiden und bei
Überwindung des Leidens vor allem um Gefühle gehe, die schnell kommen
und gehen: „Unglücklicherweise tendieren viele Menschen dazu, in diesen
Bedingungen und Ursachen stehen zu bleiben, sodass große Ängste über sie
kommen. Wir wollen für immer glücklich sein und niemals uns traurig fühlen.
Aber eine solche Situation ist unmöglich. Aus dieser Angst heraus entstehen die
emotionalen Voraussetzungen, dass wir für immer dem Glück nachjagen und vor der
Traurigkeit davon fliehen. Diese Situation ist in hohem Maße unstabil und
unerfreulich“. Wenn wir jedoch die buddhistische Praxis eingerichtet und
verwirklicht haben, verlieren sich die angstbesetzten Gedanken und unsere
physischen Begierden stören unseren Alltag nicht mehr. Dann seien wir im
Gleichgewicht und nach dem Verständnis Nishijima Roshi’s sei dies das
Gleichgewicht von sympathischen und parasymphatischen Nervensystemen. Er bezeichnet dieses mentale
und physische Gleichgewicht als „Nirvana oder den freien und friedlichen
Zustand“.
Die Doktrin des
Substantialismus ist eine zentrale Gefährdung der authentischen buddhistischen
Lehre. Solche ungenauen oder irreführenden Doktrinen können wir nach dem
Achtfachen Pfad, also durch die rechte Sichtweise, durch rechtes Entscheiden,
Reden, Handeln, durch rechte Lebensweise, Ausdauer, Achtsamkeit und Meditation
vermeiden. Derartige Fehlentwicklungen führen ziemlich wahrscheinlich in die
Irre, sie führen uns weg vom guten erfüllten Leben: Das ist die wichtigste
Lehre des Achtfachen Pfades.
Bei falschen vor Allem
substantialistischen Doktrinen sind die buddhistischen Lehre und Praxis also
weitgehend unwirksam. Dann sind die Aussagen der Präambel des MMK zum
gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und das zur-Ruhe-Kommen der
wegführender Fehlentwicklungen weitgehend gegenstandslos. Eine Argumentation
des radikalen Unterschiedes von Nirvāṇa
und Samsara, beide als Substanzen gedacht und geglaubt, hat Buddha nicht
gelehrt. Er hat vor Allem keine methaphysischen Doktrin des Substantialismus
gelehrt. Denn es geht um gute wechsel-wirkende Veränderungs-Prozesse des
Werdens und Befreiens in unserem Leben. Wenn wir das Nirvana in diesem Leben
verwirklichen, dann verwirklichen wir den großen Frieden.
Für die zentralen Probleme und Fragen der Befreiung,
der Überwindung des Leidens und letztlich der Erleuchtung präzisiert Nâgârjuna
mit großer Exaktheit verschiedenen Fehlentwicklungen, Illusionen und enttäuschte
Hoffnungen, die vor allem durch ungenaue oder sogar falsche buddhistische
Doktrinen entstehen. In 24 Versen dieses Kapitels destruiert er im Einzelnen
doktrinäre Ansätze der Substantialisten, vor allem der Sarvastivadins, und der
Momentanisten, vor allem der Sautrantikas. Beide haben ein ontologisches
Grundmodell von unveränderlichen substanzhaften Entitäten für die zentralen
Bereiche des Lebens. Danach werden die Existenz und die Nicht-Existenz, der
erste Anfang und das Ende des Lebens substanzhaft verstanden. Nagarjuna
destruiert die philosophische Hilfskonstruktion dieser beiden Doktrinen als
ungenau uns sogar in sich widersprüchlich. Denn trotz der behaupteten
isolierten Substanzhaftigkeit der Dinge, Phänomene und Ereignisse, also der
Dharmas, müssen irgendwelche Verbindungen zwischen diesen Entitäten angenommen
werden. Beim Momentanismus werden danach die zeitlich abgegrenzten und
eigentlich total isolierten Zeitmomente durch äußerst subtile verbunden.
Diese nicht wahrnehmbare Verbindungselemente werden
benötigt, um die Doktrin scheinbar der Wirklichkeit anzupassen. Ich folge dabei
Kalupahna, dass derartige Hilfskonstruktionen die fundamentalen Schwächen
dieser Doktrin nicht beseitigen können und der Ontologie getrennter Zeitmomente
fundamental widersprechen. Derartige Doktrinen werden wohl von menschlichen
Hoffnungen, Ängsten und Bedürfnissen angetrieben und halten einer philosophisch
präzisen Analyse nicht stand.
Nach den 24 Versen dies Kapitels zur Befreiung und
zum Nirvana ist nunmehr der Boden bereitet, um im folgenden Kapitel den
möglichen positiven Entwicklungsgang und Befreiungsprozess des Menschen präzise
zu beschreiben, den Buddha vor allem im Sutta des Katjayana dargelegt hat. In
12 Schritten entwickelt Nâgârjuna den Befreiungsweg. Bei diesem Sutta führen
dagegen schrittweise Fehlentwicklungen in die Unausweichlichkeit des Leidens.
Und dieses Leiden setzt bei den Fünf Skandas des Menschen an, die Buddha als
Realität der Welt beschrieben hat.
Kapitel 26: Der Befreiungsweg in zwölf Phasen
Mit diesem Kapitel schließt Nâgârjuna seinen
fundamentalen Zyklus zur Bereinigung und weiteren Entwicklung des wahren
Buddhismus ab. Es lehnt sich dabei an die zwölf Phasen der menschlichen Entwicklung
des Kaccana Sutta an, an dessen Anfang der von Unwissen „umhüllte“ Mensch mit
seiner Lebens-Dynamik und den formenden Kräften steht. Ein unwissender Mensch,
der in unreflektierten Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien verfangener
ist, geht gewissermaßen einen zwangsläufigen oder vorgegebenen Ablauf seines
Lebens, der in dem Sutta in zwölf Schritten beschrieben wird. Umgekehrt gibt es
in jeder Phase unseres Lebens nach Gautama Buddha die Möglichkeit der
Emanzipation und Befreiung von einer solchen Zwangsläufigkeit, sodass Leiden
und Elend weitgehend aus unserem Leben verschwinden und überwunden werden. Ich
möchte an die Geschichte des Massenmörders Angulimala erinnern, der von Buddha in
die Sangha aufgenommen wurde und Erleuchtung und Befreiung erlangte. Sein Leben
hatte durch die Begegnung mit Buddha eine fundamentale neue Richtung und einen
neuen Sinn erfahren.
Nâgârjuna hat in den vorherigen 25 Kapiteln
doktrinäre Fehlentwicklungen mit großer philosophische Präzision destruiert und
dabei nur in kurzen Anmerkungen auf den wahren Buddhismus verwiesen. Meist hat
er den Bezug zur Präambel, das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung als
Kennzeichnung des wahren Buddha-Dharma mit den Fehlentwicklungen kontrastiert.
Durch die Einführung des Begriffs der Leerheit gelingt es ihm besonders, die
Doktrin des Substantialismus zu enttarnen und ad absurdum zu führen, die für
eine Philosophie und Praxis der Befreiung ungeeignet und sogar gefährlich sei.
Verkürzt sagt er, dass die Wirklichkeit leer von einer Metaphysik von
unveränderlichen und ewigen Substanzen ist. Die bedeutet auch eine Kritik an
der westlichen Substanz-Ontologie, die Ähnlichkeiten mit einer Seins-Ontologie
hat. Buddhas und Nagarjunas philosophische Grundlagen möchte ich demgegenüber
als Differential-Ontologie bezeichnen, denn es geht um menschliche
Veränderungen der Befreiung, Kreativität und Emanzipation, also um Differenzen
und Differentiale. In der gegenwärtigen Philosophie finden sich meines Wissens
verwandte Überlegungen bei Deleuze und Derridá.
Nagarjuna fasst in diesem Kapitel die beiden
grundsätzlich möglichen Abläufe menschlichen Lebens zusammen und schildert
einerseits den Ausweg und die Befreiung aus einer determinierten negativen
Entwicklung, selbst wenn sie schon weit fortgeschritten ist. Dass ist
Nagarjunas klare positive Interpretation der buddhistischen Lehre. Andererseits
umreißt er eine zwangläufige Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung, die
zum Leiden führen muss. Diese leidhafte Entwicklung im menschlichen Leben nimmt
nach Nagarjuna seinen fatalen Gang, wenn die Lehre Buddhas unbekannt ist oder
durch falsche Doktrinen verzerrt wird.
Grundsätzlich gibt es für dieses Kapitel zwei
durchaus unterschiedliche Interpretationen und zwar beim Glauben an die
Wiedergeburt. Erstens däbe eine Verteilung der zwölf Phasen auf drei
aufeinander folgenden Leben und Wiedergeburten. Zweitens ist eine sinnvolle
Interpretation für ein einziges Leben von der Geburt bis zum Tod wie in der
Geschichte des Mörders möglich. Aus meiner Sicht ist eine solche Unterscheidung
allerdings nicht erforderlich und ich gehe davon aus, dass Nâgârjunas stark
empirisch und phänomenologisch orientierte Arbeitsweise für beide Alternativen
anwendbar ist. Sicher verfügt die überwiegende Mehrzahl heutiger Menschen über
keine realen und belastbaren Erfahrungen der Wiedergeburt, möchte ich die
Interpretation vor allem auf dieses eine Leben beziehen. Für die Interpretation
in drei Wiedergeburten verweise ich besonders auf die MMK-Werke von Kalupahana
und Garfield. Zu meiner Interpretation ergeben sich jedoch keine gravierenden
Widersprüche. Schon in diesem einen Leben gibt es nämlich viel Unwissen und
Unbewusstes, die geklärt werden können, um Freiheit, Klarheit und Emanzipation
zu verwirklichen.
Die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas haben keinen
direkten Bezug zur Wiedergeburt, sondern beschreiben die Emanzipation und
Befreiung aus Leiden und Elend in einem Leben und zwar unabhängig von dem
Glauben an die Wiedergeburt. Gleiches gilt für die Fünf Hemmnisse der Befreiung
und die Sieben Faktoren der Erleuchtung. Da sich Nâgârjuna in der Präambel
explizit auf die Lehren Buddhas bezieht und selbstverständlich die Vier Edlen
Wahrheiten und den Achtfachen Pfad den Mittelpunkt seiner eigenen Lehre stellt,
sollte meines Erachtens auch dieses Kapitel vor allem für den Emanzipations-Weg
verstanden werden. Diese Befreiung ist der Gegensatz zu einer deterministischen
Abhängigkeit und Unklarheit durch Gier, Hass und Verblendung, sei es in einem
Leben oder mehreren Wiedergeburten. Im übrigen warnt Nagarjuna in dem folgenden
und letzten Kapitel des MMK eindringlich vor irreführenden Doktrinen,
verwirrten Vorstellungen oder illusionären menschlichen Sehnsüchten zur Frage
der Wiedergeburt.
Dieses Kapitel beschreibt zwölf Faktoren die
maßgeblich dafür sind ob ein Leben in Abhängigkeit, Unfreiheit und Leiden
verläuft oder ob es zur Befreiung und Emanzipation als Aufbruch in eine neue
Zukunfts- und Lebens-Form führt. Die zwölf Faktoren sind dabei zeitlich
gegliedert und werden zu recht meist als eine schrittweise Abfolge des
Befreiungs-Weges interpretiert. Aber dieser zeitliche Ablauf ist meines
Erachtens variabel und kann je nach der Individualität des Menschen, der ihn
geht, abgewandelt werden. Beide grundsätzlich möglichen Lebensabläufe sind
maßgeblich davon gesteuert, welche Weltanschauungen, Sichtweisen und Doktrinen
jemand hat. Es gab in der bisherigen Rezeption des Mittleren Weges von
Nâgârjuna eine Argumentationslinie, die davon ausgeht, dass Nâgârjuna falsche
Sichtweisen total falsifiziert und keine positiven Sichtweisen und Lebensformen
beschreibt. In der Tat sind die meisten Kapitel des MMK durch die Destruktion
und Falsifizierung falscher Ansichten gekennzeichnet. Ich folge allerdings
Kalupahana [S.61],
der diesen einseitigen Ansatz nicht für tragfähig hält, weil Buddha sowohl im
Kaccana Sutta positive Sichtweise in aller Klarheit darstellt.
Nâgârjuna folgt in diesem Kapitel dieser Sichtweise.
Nishijima nimmt in diesem Sinne die meisten wichtigen Aussagen im MMK als
Ausgangslage, um sowohl positive Aspekte herauszuarbeiten als auch als auch kritische buddhistische Aspekte
darzustellen. Ich folge diesem Ansatz ausdrücklich. Er entspricht ziemlich
genau dem Sinn der Präambel des MMK.
Es geht um den Mittleren Weg, der Extreme vermeidet,
die durch falsche einseitige Sichtweisen gekennzeichnet sind. Wer von solchen
meist doktrinären Extremen abhängig ist, kann kein gutes Leben führen und keine
Befreiung vom Leiden erlangen. Schlagende Beispiele dafür sind religiöse
Extremisten, wie zum Beispiel des Islam aber auch des Christentums und des
Hinduismus. Ihre extremen Glaubens-Verirrungen lassen Menschen verachtenden Mord
sogar an Kindern als gottgefällige gute Tat erscheinen, indem sie die Welt von
„Unrat“ und „Schädlingen“ befreien. Dies sind sicher Extrembeispiele. Aber ein
Blick in die Massenmedien zeigt uns, dass mit Extremen immer wieder
Manipulationen der Menschen versucht werden, aus welchen Beweggründen auch
immer. Es kommt also für uns tagtäglich darauf an, uns selbst von solchen
Extremen freizuhalten und uns auch nicht durch falsche Sichtweisen der Extreme
anderer fesseln zu lassen. Wir sollten mit Nachdruck und Ausdauer daran
arbeiten, von solchen Realitäts fremden Doktrinen wegzukommen und von ihnen
unabhängig zu werden und zu bleiben.
Wie in der Präambel und verschiedenen Kapiteln
ausgeführt wird für die Freiheit und Unabhängigkeit von falschen Doktrinen der
Begriff Leerheit verwendet. Er hat zugleich die Bedeutung des gemeinsamen
wechselwirkenden Entstehens, nämlich ohne Verzerrungen durch extreme und falsche
Ansichten. Eine solche zunehmende Unabhängigkeit und Befreiung erfordert die
klar Beobachtung von uns selbst, die Buddha mit Achtsamkeit bezeichnet. Dabei
möchte ich auch auf Kants zentrale Aussage der Aufklärung hinweisen: „ Habe den
Mut, selbst zu denken“.
Nâgârjuna untersucht nun in diesem Kapitel, die
verschiedenen Faktoren der Befreiung in unserem Lebens daraufhin, ob sie von
falschen Ansichten und Extremen abhängig sind oder im Gegenteil durch die
eigene Unabhängigkeit zur Freiheit führen und unser Leiden zur Ruhe kommt.
Dabei ergibt sich wie von selbst die Übereinstimmung mit den Vier Edlen
Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad, den Buddha in seiner ersten Lehr-Rede seinen
früheren Freunden aus der Zeit der Askese vortrug. Mit diesen zwölf Faktoren
wird eine zusammenhängende Deutung der Emanzipation des Menschen gegeben, die nicht durch den
religiösen Glauben an ein ewiges Atman-Selbst dominiert wird.
In diesem zentralen Kapitel geht es um den Weg der
Befreiung und Emanzipation des Menschen, in dem Unwissenheit und hemmenden
formende Kräfte zur Ruhe kommen und überwunden werden. Die Ausgangslage dieser
Befreiung der hier beschriebenen zwölf Phasen wird also als Fixierung durch
Unwissenheit im Gegensatz zum Wissen und zur Weisheit gebildet. Dabei wird
besonders die Wechselwirkung der Komponenten des Menschen (Skandhas) mit der Dynamik der formende Kräfte des Menschen (Samskara) hervorgehoben. Wissen
und formende Kräfte sind keine isolierten Entitäten oder Substanzen, sondern
interagieren miteinander. Denn ein Wissen in unserem Geist und Gehirn, das
losgelöst vom Handeln gedacht wird, kann keine weiterführende Phasen und
Entwicklungen der Befreiung des Menschen in Gang bringen. Ein solches
substanzhaft gedachtes Wissen muss weitgehend wirkungslos und folgenlos
bleiben, wenn es isoliert ist. Auch die heutige Gehirnforschung und Biologie
geht von der Wechselwirkung unseres Wissens, Könnens, Planens, Handelns und
Ethik des neuronalen Netzes mit den anderen Bereichen des Menschen aus. Eine
Doktrin der substanzhaften oder essenzhaften Isolation wäre unsinnige und
einseitige metaphysische Doktrin.
Leider können wir bei vielen Menschen beobachten,
dass sie in ihrem Leben zyklisch immer wieder gleiche oder ähnliche Fehler
begehen, die dann in einen zwangsläufigen erneuten Ablauf des Zyklus münden,
der wie durchprogrammiert wiederum zu Leiden, Elend und zu psychischen
Schmerzen führt. Buddhas Befreiungs-Lehre setzt genau bei diesem Problemen an,
um die deterministischen Abhängigkeit der verschiedenen nach einander
ablaufenden Phasen eines Teufel-Kreises zu durchbrechen.
Mit den Begriffen „Unwissen“ sowie „Wissen und
Erkenntnis“ spricht Nâgârjuna sicher die wahre buddhistische Lehre an, die ohne
Zutun göttlicher Kräfte oder überirdischer Energien den Menschen in die Lage
versetzt, sich selbst zu befreien und neue bessere Lebens-Chancen wahrzunehmen.
Allein dieser Ansatz muss meines Erachtens in der Zeit von 500 vor Christus als
Explosion für die menschlichen Befreiung und Therapie eingeschätzt werden. In
allen mythischen Gesellschaften geht es überwiegend um außer menschliche meist
gute oder gefährliche göttliche Kräfte, die auf das Leben der Menschen,
Familien und den Volksstämme einwirken. Sie seinen nur durch religiöse
Praktiken zu beeinflussen. In der vor-buddhistischen Zeit hatte sich eine
derartige determinierende und ritualisierte Religion (Brahmamismus,
Upanischaden) Gesellschafts wirksam entwickelt. Die Brahmanen, also die Priester
der damaligen Religion, konnten sogar von sich behaupten, dass sie auch die Götter
mit ihren Ritualen und Fähigkeiten steuern können und damit selbstverständlich
auch die lebenden Menschen determinieren.
Buddha hat daher neue Wege gesucht, um derartige
unheilsame Abhängigkeiten von gefährlichen Religionen, Ideologien und Doktrinen
zu überwinden, somit die Menschen ihre Entwicklung, ihr Schicksal und ihre
Chancen selbst in die Hand nehmen konnten. Er beschreibt dies vor allem im
Achtfachen Pfad der Befreiung: Die rechte Sichtweise, das rechten Handeln, die
rechten Achtsamkeit, der rechte Lebenserwerb, die rechte Ausdauer und Energie
und die rechte Meditation und Sammlung. Buddha beschreibt die Meditation dabei
sehr praktisch und detailliert und gibt den Menschen damit ein wirksames Mittel
an die Hand, um zu Reflexion, Selbstreflexion und größtmögliche
Selbstbeobachtung sowie Entscheidungsfreiheit zu gelangen. In der chinesischen
und japanischen Tradition wird die Meditationsform des Zazen (nichts als
sitzen) für außerordentlich wirksam gehalten, um durch „das Tor des Friedens
und der Freude“ zu gehen, wie es mein Lehrer Nishijima Roshi formulierte. Es
handelt sich dabei um eine gegenstandslose und emotional beruhigte
Meditations-Form, die aus meiner Sicht auch den direkten Zugang zum Erleben der Leerheit eröffnet, ohne dass
komplizierte philosophische Denkprozesse erforderlich wären.
Nach Buddha gliedert sich der Mensch in fünf
Komponenten, die man sich allerdings nicht abgegrenzt konkretistisch vorstellen
darf, sondern die zentrale Bereiche des Lebens und des Menschen aber auch der
gesamten Welt umfassen und durch ihre Wechselwirkung
das Leben überhaupt erst ermöglichen. In diesem Kapitel, wie auch in den
vorhergehenden, kommt der Komponente des Menschen, die in Sanskrit samskara heißt, ganz besondere Bedeutung
zu. Es gibt dafür eine große oft verwirrende Bandbreite von Übersetzungen und
Interpretationen für diese Komponente. So bezeichnet beispielsweise der
bekannte Wissenschaftler Kalupahana sie
englisch als disposition, also etwa
als Disposition oder Bestimmung und vielleicht als Potential. Der deutsche Indologe und
Buddhologe Peter Gäng verwendet die Übersetzung formende Kräfte, um damit nicht nur die Disposition sondern auch
die handelnden Kräfte selbst zu
beschreiben. Ich folge dieser Übersetzung weitgehend, bin sogar darüber hinaus
davon überzeugt, dass mit dieser Komponente samskara überhaupt die umfassende
steuernde Dynamik und das Handeln des Menschen und der Wechselwirkung in
unserer Welt bezeichnet wird. Nishijima Roshi verwendet daher einfach die
Übersetzung „Handeln“ (action), die meinem eigenen Verständnis recht nahe
kommt. Sicher geht es bei den formenden Kräften in erheblichen Maße um
Unbewusstes, dass bekanntlich wenig oder nur indirekt beeinflusst werden kann.
Die Gliederung in Komponenten des Menschen kann man
sich recht gut am Beispiel der Wahrnehmung klar machen: Dazu gehören die
Wahrnehmungs-Organe wie Augen, Ohren, Nase, usw., und darum, die Fähigkeiten
überhaupt wahrzunehmen. Dazu gehört Sehen, Hören, Riechen usw., also die
entsprechend trainierten und ausgebildeten Fähigkeiten zur Wahrnehmung. Sie
sind eng mit den zugehörigen Teil-Systemen des Geistes und damit auch des
neuronalen Netzes und der Informationsverarbeitung verbunden, also vor allem
mit den Tätigkeiten des Sehens, Hörens, Riechens usw. selbst. Schließlich
werden Erinnerungen und Ergebnisse der Wahrnehmungs-Vorgänge als Spuren oder
Bahnungen im Gehirn mehr oder minder dauerhaft und langfristig gespeichert und
ergeben so die Fähigkeiten zu sehen, zu hören und zu riechen usw. Alle diese
verschiedenen Bereiche der Wahrnehmung sind nach Buddhas Gliederung in dieser
bestimmten Komponente des Menschen enthalten.
Aus meiner Sicht ist eine solches Gesamtverständnis
auch für die menschliche Komponente des der formenden Kräfte, samskara, anzuwenden. Es geht dabei um
das Potential, die real trainierten und eingeübten Fähigkeiten, das Tun und
Handeln selbst und um die bahnende Ergebnisse im Gehirn, die für zukünftiges
Leben und Überleben unbedingt erforderlich sind. Daraus ist zu erkennen, dass
meine Interpretation umfassender und breiter ist, als etwa die Bedeutung der dispositions, die letztlich nur das
Potential aber nicht die Verwirklichung selbst umfasst. Mit dem Potential ist
nämlich die lebendige Verwirklichung gerade nicht identisch, sondern es ist nur
eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung. Die von anderen Autoren
verwendete Bedeutung Tatabsichten
erscheint mir ebenfalls zu begrenzt, denn mit den Absichten ist das wirkliche
Tun und Handeln auch nicht vollständig erfasst.
Tatabsichten führen nicht zwangsläufig zum
entsprechenden Tun und Handeln, sondern können getrennt von den weiteren
Prozessen als reine Absicht und Vorstellung verbleiben. Der bekannte Autor des
MMK, Garfield [S. 62]
neigt m. E. zu dieser Auffassung. Damit würde der im Zen – Buddhismus so
zentrale Lebensmoment des Tun und Handelns in der Form des Bodhisattva-Handelns
nur als Tat-Absicht verstanden. Möglicherweise steht dahinter der Ansatz der
Wiedergeburt, indem diese Tatabsichten von einem Leben zum nächsten
weitergegeben werden und den Start im neunen Leben bestimmen. Eine derartige
Sichtweise überzeugt mich nur teilweise, da Buddha und Nâgârjuna recht klar
äußern, dass keine der Komponenten des Lebens dinghaft und unverändert in eine neue Inkarnation übernommen werde.
Es bleibt im Buddhismus dabei durchaus schwierig, eine rationale Erklärung der
Wiedergeburt zu formulieren. Aus meiner Sicht sollte man die gesamte
Reinkarnation daher als Bereich des Glaubens verstehen und sie jedem Menschen
selbst überlassen.
Von großer Bedeutung ist der Vers 26.7, in dem die
Befreiung von Abhängigkeit, Ergreifen und Determinierung explizit erwähnt wird.
Damit wird die Zwangsläufigkeit des Ablaufs der Phasen, die zum Leiden und
Elend führen, außer Kraft gesetzt und die Befreiung aus dem fatalen vorprogrammierten
unheilsamen Ablauf zum Leiden durchbrochen. In Vers 26.10 wird dann in aller
Klarheit formuliert, dass wir selbst die Wurzeln des Leidens erzeugen,
formieren und in die Dynamik der formenden Kräfte einbringen, die uns zum
Leiden und Elend zwingend vorantreiben.
Wir haben nach Buddha und Nâgârjuna die Freiheit,
derartige Wurzeln zu beseitigen und dafür zu sorgen, dass sie überhaupt nicht
neu entstehen. Eine ähnliche Formulierung finden wir im sutta der Grundlagen der Achtsamkeit und bei den Vier Edlen Wahrheiten. Im folgenden Vers
verwendet Nâgârjuna den wichtigen Begriff „zur
Ruhe kommen“, um aus dem fatalen deterministischen Ablauf heraus zu kommen.
Dieser Begriff hat auch zentrale Bedeutung in der Präambel für die Beschreibung
des Befreiungsweges. Danach werden die formenden Kräfte und die Dynamik des
Lebens gerade nicht deterministisch und mit mechanischer Zwangsläufigkeit zum
Leiden, Elend und zu Schmerzen, sondern der Mensch befreit sich von einer
derartigen negativen Entwicklung. Dadurch kann er den großen Frieden bei
gleichzeitigem klaren Handeln verwirklichen.
Kapitel 27: Doktrinen
und Buddhas umfassende Wahrheit
Wer zum Grübeln neigt, aber auch wer
dogmatische philosophische Grenzfragen liebt, die man nicht sinnvoll
beantworten kann, wird sich mit folgenden Fragen zur Wiedergeburt und der
Existenz der Welt herumschlagen:
1. Woher bin ich gekommen? Gab es ein
früheres Leben für mich? War ich derselbe und was habe ich eventuell aus diesem
früheren Leben in das jetzige Leben übernommen? Habe ich gutes oder schlechtes
Karma gemacht? Bin ich arm, weil ich schlechtes Karma habe? Bin ich wohlhabend,
weil ich gutes Karma habe? Ist nicht jeder selbst schuld, wenn er wegen seines
Karmas arm ist?
2. Was ist nach meinem Tode? Werde ich als
gleicher Mensch ein zweites Leben haben? Werde ich dann identisch sein, mit dem
was ich jetzt bin? Was wird aus dem jetzigen Leben eventuell in das nächste
übertragen, zum Beispiel mein Karma? Welche guten und schlechten Taten werden
überhaupt ins nächste Leben mitgenommen und bestimmen eventuell meinen
zukünftigen Zustand, insbesondere meine zukünftige Wiedergeburt? Werden
besonders meine formenden Kräfte (samskara) übertragen und behindern mich bei
weiteren Entwicklung?
3. Was ist überhaupt die jetzige Existenz von
mir? Existiere ich also wirklich oder nicht? Wie kann ichmeine jetzige Existenz
wirklich beweisen? Bin ich wie aus einem Samen genauso geworden, wie es vor der
Geburt für mich festgelegt war? Habe ich mich demnach wie eine Pflanze, von
einem Samen zu einer Pflanze, zu einer Blüte und zu einer Frucht entwickelt?
Welche Freiheits-Möglichkeiten habe ich, um mein Leben zu gestalten? Oder ist
alles schon determiniert und festgelegt?
4: Seit wann existieren die Welt und das
Universum? Wird das Universum ewig existieren?
Die dritte Frage hat auch die westliche
Philosophie immer wieder zentral betroffen und sogar erschüttert: Bin ich zum
Beispiel durch meine materiellen Gegebenheiten festgelegt oder habe ich die
Willensfreiheit zu tun, was ich möchte oder nicht möchte? Die klassische
Antwort ist paradox: Naturwissenschaftlich bin ich vollständig determiniert,
aber mein Geist ist total frei. Diese Aussagen sind also mit der Weltanschauung
des Materialismus und des Idealismus eng verknüpft, denn Idealisten behaupten
im Allgemeinen, dass es vollkommene Willensfreiheit gibt, während Materialisten
genau dies bezweifeln und behaupten, alles sei materiell und biologisch
determiniert.
Mit diesen Problemen sind natürlich Ethik und
Moral eng verbunden, denn wenn es überhaupt keine Willens-Freiheit gibt, wäre
es unsinnig moralische Maßstäbe zu verwenden und nach gutem und nicht gutem
Handeln zu unterscheiden. Bei einer Pflanze, die fast voll determiniert aus
ihrem Samen entsteht, würde sicher niemand auf die Idee kommen, nach Moral und
Ethik zu fragen, denn die Pflanze hat keine Willens-Freiheit und
Entscheidungsmöglichkeit. Sie ist durch die genetische Struktur ihres Samens
festgelegt und von dieser Genetik abhängig. Es gibt lediglich gewisse
Varianten, die von den Umweltbedingungen abhängig sind, also
Bodenbeschaffenheit, Fruchtbarkeit, Besonnung, Feuchtigkeit, Klima usw. Aber
wir wissen auch, dass es Mutationen gibt, bei denen sich die genetische
Struktur plötzlich verändert. Doch auch Mutationen wird man wohl nicht als Willens-Freiheit
bezeichnen.
Die jetzt vorhandenen Pflanzen haben viele
Millionen von Jahren überdauert und sich den verändernden Umweltbedingungen
durch Mutationen angepasst, denn sonst hätten sie nicht überlebt. Aber es wäre
also falsch, ihnen jede Art von „Lebens-Intelligenz“ abzusprechen.
Wenn wir die Pflanzen als den einen Pol der
Determination in der Evolution annehmen, bilden die Menschen den anderen Pol.
Denn die Menschen haben ein zentrales Nervensystem mit den Funktionen des
Gedächtnisses, der Planung, der Intension, der Moral und Ethik und des
wechsel-wirkenden Lernens mit anderen Menschen und der Umwelt, nicht zuletzt
mit anderen Menschen. Die Tiere nehmen dabei sicher eine Mittelstellung ein.
Sie sind zum einen genetisch und durch Instinkte in weiten Bereichen ihres
Lebens determiniert, haben aber auch ein nicht unerhebliches Maß an sozialer
und ökologischer Lernfähigkeit in der Interaktion mit anderen Tieren z. B. der
Gruppe, in der sie aufwachsen und der Umwelt. Man denke nur an soziales Lernen
in einer Elefantenherde, an Insekten-Völker wie Bienen und Ameisen oder an
Primaten, wie Schimpansen oder Gorillas.
Das höchste Maß an Lernfähigkeit,
Anpassungspotential und Kreativität hat bei dieser Untersuchung sicher die
Menschen. Aber jeder von uns benötigt eine lange Entwicklungs- und Lerns-Srecke,
bevor er den Aufgaben und Anforderungen des Lebens gerecht wird. Wir leben
zudem in kulturellen und durchaus unterschiedlichen Traditionen und Strömungen,
die uns in erheblichem Maße unbewusst beeinflussen. Durch die Fähigkeit, eine
Sprache zu erlernen und zu benutzen, hat sich in der Evolution des Menschen
eine große Bandbreite des individuellen und sozialen Lernens eröffnet. Oder
umgekehrt ausgedrückt: Menschen können ohne Sprache überhaupt nicht leben.
In der westlichen Philosophie wird die
Überwindung des Dualismus von Rationalismus oder Idealismus einerseits und dem
naturwissernschaftlichen Materialismus andererseits große Bedeutung zuerkannt.
Der Idealismus wird meist mit dem griechischen Philosophen Platon
verbunden und dem materielle Empirismus
der angelsächsischen Philosophen Hobbes und Hume gegenübergestellt. Für die
griechische Philosophie maßgeblich ist aus meiner Sicht maßgeblich, dass das
psychische Individuum bei der Untersuchung der Wahrheit im Allgemeinen nicht
einbezogen wird Für die griechische Philosophie ist also die außen liegende
objektive Welt im Fokus, während seit Descartes der subjektiv denkende Mensch
in den Mittelpunkt gestellt wird. Nishijima bezeichnet die scheinbar objektive
Sichtweise als Materialismus und die subjektive als Idealismus.
Die herausragende Bedeutung des Philosophen
Kant wird im Allgemeinen innerhalb der Philosophiegeschichte durch dessen
intensiven Versuch, dem Dualismus von nach außen gerichteter objektiver Philosophie
und innen gerichtete Subjektivität zu überwinden. Dabei greift Kant für den
Bereich der Vernunft und des Rationalen auf ein Modell der Propädeutik zurück,
das heißt, dass es in der Welt Vor-Festlegungen gibt, die der empirischen
Beobachtung und Erfahrung vorgeschaltet sind. Er betont, dass dieses kein
zeitliches Vorwegnehmen ist, sondern dass diese Aussagen philosophisch und
rational propädeutische und empirische sind. Beide Aussagen dürfen nach Kant
nicht von einander getrennt werden, sondern sind aufeinander bezogen. Das heißt
also: Ohne empirische Untersuchungen gibt es keine Propädeutik und umgekehrt.
Aus buddhistischer Sicht ist dieser Ansatz
nicht ganz überzeugend, denn es bleibt unklar, wie einerseits dieser
Zusammenhang sein soll, wenn eine gewissen Unabhängigkeit beider Denk- und
Erfahrungsmodelle gegeben ist. Nishijima Roshi betont zu Recht, dass der
Dualismus in einfach und direkt durch das Handeln im Augenblick aufgehoben
wird. Im Augenblick des Handelns gibt es keine sinnvolle Unterscheidung und
Trennung zwischen dem handelnden Subjekt, einem Objekt und dem Prozess des
Handelns selbst. Das heißt, dass der Dualismus ist maßgeblich durch unser
Denken erzeugt wird, also in unserem Gehirn verankert ist. Der Dualismus
verliert fundamental an Bedeutung, wenn die Motorik des Handelns, die sinnliche
Wahrnehmung und das Denken im Augenblick als Ganzheit zusammen wirken. Ein
Modell des Dualismus geht an der so erfahrbaren Wirklichkeit vorbei. Wichtig
ist dabei, dass Handeln, sinnliche Wahrnehmung und Bewusstsein in enger
Wechselwirkung mit den formenden Kräften interagieren.
Dabei soll nicht übergangen werden, dass Kant
der für die Aufklärung fundamentale Grundlagen und Fortschritte bereitgestellt
hat, wenn er sagt, man solle nichts glauben und nichts übernehmen, was man
nicht selbst durchdacht hat: Habe den Mut, selbst zu denken. Damit spricht er
die Befreiung des Geistes an.
In diesem letzten Kapitel 27 des MMK
behandelt Nâgârjuna nun die spekulativen Fragen: Woher komme ich, wohin gehe
ich und was ist überhaupt meine Existenz im jetzigen Leben, also in der
Gegenwart? Da es Buddha vor allem um die Verbesserung des eigenen Lebens, also
insbesondere um die Überwindung des Leidens, die eigene Befreiung und das
Erwachen oder die Erleuchtung geht, hält er es für unsere Lebenspraxis nicht
sinnvoll und ergiebig, sich mit den genannten spekulativen Fragen zu
beschäftigen. Damit werde nur unnötig Lebensenergie für nicht sinnvolle Fragen
verbraucht. Da diese Fragen grundsätzlich nicht eindeutig und präzis zu
beantworten sind, verbleibt alles im Spekulativen und phänomenologisch nicht
Fassbaren. Es kann daher nicht verwundern, dass er solche hoch spekulativen und
psychisch verwirrenden Fragen für unergiebig und sinnlos hält. Sie binden Kraft
und führen weg von einem sinnvollen und sinnerfüllten Leben.
Durch die Naturwissenschaft haben wir heute
sehr viel belastbares Wissen als zu Zeiten Buddhas: Wie sich unsere Welt
entwickelt hat, wie alt sie ist, wann in der Evolutionsgeschichte die
verschiedenen Pflanzen- und Tierarten entstanden sind und welche Eigenschaften
sie hatten. Es ist zum Beispiel ziemlich sicher, dass vor etwa 60 Millionen
Jahren durch große Erdkatastrophen die meisten Pflanzen- und Tierarten
ausgestorben sind, dass es aber in der Folgezeit zu einer großen Mutations- und
Vervielfältigungs-Phase kam, sodass fast explosionsartig neue Pflanzen- und
Tierarten entstanden sind und sich in der Folgezeit der weiteren Evolution
bewährt haben und so überleben konnten.
Aber trotz all dieser Fortschritte in den
Naturwissenschaften bleiben zentrale Fragen unbeantwortet: Zum Beispiel was vor
dem angenommenen Urknall vor etwa 12 Milliarden Jahren war und was in der
fernen Zukunft sein wird. Wir sehen daran, dass die Naturwissenschaft zwar
erstaunliche Fortschritte in materiellen Bereichen des Lebens und der Welt
erzielt hat, aber die Grundfragen der Welt keinesfalls erschöpfend beantwortet
werden können. Es bleibt ein großer Raum für alle möglichen spekulative
Meinungen.
Dies gilt auch für die Menschen, wenn wir zum
Beispiel fragen, wie Unbewusstes, Bewusstes und Ethisches bei uns
zusammenspielt, wie wir Auswege aus unsere Leiden finden und wie wir ein
erfülltes und glückliches Leben führen können. Und genau dieses sind die Themen
und Fragen Buddhas für die Menschheit, die Nâgârjuna im MMK schärfer
herausarbeitet und von Fehlentwicklungen befreien will, die durch verwirrenden und eventuell
verführerischen Spekulationen entstehen und entstanden sind.
Mit Kalupahana [63]stimme
ich überein, dass nicht zuletzt durch dieses letzte Kapitel des MMK das
unnützes Meinen von der hilfreichen Erlebenspraxis Gautama Buddhas abgegrenzt
werden: Ein wirklich gutes Leben wird durch den Mittleren Weg ermöglicht, der
die Extreme von Dogmatik, fixierte Ansichten und festgefahrene Positionen
vermeidet und sowohl der Wahrheit des Alltäglichen dient als auch die
Verwirklichung der höchsten Wahrheit ist. Dabei hat die Klarheit und Offenheit
des Augenblicks, die Meister Dôgen und Nishijima Roshi so sehr in den
Mittelpunkt stellen, eine besonders hohe Bedeutung, die in China im
Chan-Buddhismus. Wie in Kapitel 24 des MMK besonders deutlich herausgearbeitet
wurde, darf dabei auch die Leerheit nicht
zu einem Dogma verhärtet werden, denn ein solches Dogma wäre sehr ähnlich
dem, was Nâgârjuna in diesem Kapitel 27 destruiert. Der Begriff der Leerheit wird dabei immer wieder
missverstanden, weil er in das Dogma des
Nichtsund des Nihilismus abgleiten könnte und damit die Wirklichkeit des
jetzigen Lebens unterminiert. Nâgârjuna bezeichnet dies als „giftige Schlange“, die falsch gegriffen
wird und daher höchst gefährlich ist.
Selbst der Ansatz, bestimmte Lehrmeinungen zu
vermeiden, kann zum unreflektiertem Dogma werden und damit die Offenheit und
Beweglichkeit des menschlichen Geistes empfindlich einschränken. Der Weg zur
Befreiung wird dadurch behindert oder sogar ganz versperrt. Jedes Dogma
verhindert die geistige, psychische und spirituelle Freiheit, engt den Denk-
Handlungs-Raum des Menschen ein und verhindert die klare Offenheit des
Handelns, der Wahrnehmung und Denkens. Die Existenz von Dogmen widerspricht im
Kern der Lehre des Mittleren Weges vom MMK.
Kaupahana sagt zum Kapitel 27 (S. 78 f):
„Buddhas Ablehnung eines unveränderlichen und ewigen Selbst (Âtman) und seine
Erklärung der menschlichen Persönlichkeit und dessen Überleben des Todes mit
seiner Formulierung der Lehre des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung
(wörtlich bei Kalupahana – abhängiges Entstehen), sind für die meisten
Philosophen seit dem er es präsentiert hat, unverdaulich geblieben“. Die
späteren Interpretationen seien daher widersprüchlich und mit dem authentischen
Buddhismus nicht vereinbar. Zum einen würde wiederum ein permanentes und ewiges
Selbst unterstützt, dies seien die Internalisten. Andere lehnten das Ganze mehr
oder minder als Halluzinationen ab. „Diese beiden Sichtweisen haben in der Welt
überdauert, bis in den heutigen Tag, ähnlich wie die Sichtweisen über die
Beziehung zwischen Ursachen und Wirkung überdauert haben“. Buddha habe dies im
Sutta des Kacchanaya behandelt, das auch Grundlage des MMK sei. „Wenn er von
der Neigung des Ergreifens und der Verwicklung auf der Seite des Menschen
sprach“. Es gibt demnach drei Grundtypen derartiger Fragen über die Existenz:
Habe ich in der
Vergangenheit existiert oder nicht?
Werde ich in der
Zukunft existieren oder nicht?
Existiere ich in der
Gegenwart oder existiere ich nicht in der Gegenwart.
Buddha habe diese Fragen als Spekulationen
abgelehnt, weil sie zu einer Vielfalt von Meinungen und Sichtweisen führt, die
er selbst in einem Sutta untersucht hat. Es gibt nach seiner Analyse deren 62
Sichtweisen und Philosophien. Dabei sind die Meinungen einer dauerhaften
unveränderlichen Existenz und umgekehrt der totalen Auflösung der Existenz am
meisten vertreten. Weder gibt es ein sicheres Wissen über die Vergangenheit und
schon gar nicht über die Zukunft und auch philosophisch theoretische Fragen der
Existenz im absoluten Sinne können nicht beantwortet werden. Buddha hat daher
dringend empfohlen sich mit dem gegenwärtigen Leben intensiv zu beschäftigen,
sich selbst zu analysieren und durch Entwicklungs- und Befreiungsprozesse ein
gutes Leben zu gestalten.
Kalupahana: (S. 79 f.)[64]:
„(Buddha) rät ( seinen Schülern) stattdessen mit ihren verfügbaren
Möglichkeiten und Ressourcen zu versuchen, die Dinge und Zusammenhänge zu
verstehen, wie sie sind und entstanden sind, und die Freiheit vom Leiden
auszuarbeiten“. Wenn man sich zu viel mit den Fragen beschäftigen würde, würde
dies geradezu neuer Bindung und Fesselung und damit zum Leiden führen. Er
zitiert Buddha, der seinen Schülern dringend rät: „Wenn man keine Sichtweise
(und Meinung) ergreift, mit einer angemessenen Wahrnehmung und Moral beschenkt
ist und die Gier nach (oberflächlichen) Freuden der Sinne gebändigt hat „sei
dies wie in diesem Leben auch das Beste um zukünftige Geburten zu vermeiden“.
Nâgâjuna untersucht nun in diesem abschließenden
Kapitel derartige Meinungen, Sichtweisen und unheilsamen Doktrinen die eine
Weiterentwicklung und Emanzipation des Menschen beinträchtigen oder unmöglich
machen. Für unsere Lebenspraxis bedeutet dies schlicht und einfach, dass es
nicht sinnvoll ist, sich mit den Fragen des Vorlebens, der absoluten Existenz
in der Gegenwart oder in der Zukunft zu beschäftigen und damit sich in neue
Verwirrungen, Abhängigkeiten und Irrtümer zu verstricken. Denn es geht um
dieses Leben und dessen guter Gestaltung mit den Möglichkeiten und der
Umgebung, wie sie ist. Eine solche Befreiung oder Erleuchtung ist sicher nicht
einfach und erfordert unsere volle Achtsamkeit , Energie, Ausdauer und Freude
zur Veränderung und zum Besseren: „Die Vielfalt falscher Sichtweisen wurde von
Buddha hauptsächlich aus pragmatischen Gründen abgelehnt und zwar deswegen,
weil sie nicht zur Freiheit und zum Glück führen“.
Dies gelte weder für die weltlichen Früchte der
Praxis noch kann es einen guten Beitrag zur höchsten dem Menschen zugänglichen
Frucht geben und dies sind Freiheit und Glück. Stattdessen führen sie zu
Dogmatismen, Konflikten und Leiden“. Deshalb sei die mittlere Position der
Mittlere Weg richtig, um Extreme zu vermeiden und den Befreiungsweg zu erkennen
und zu gehen. Welche Perspektiven eröffnen sich bei der Analyse der doktrinären
Probleme des Substantialismus und Momentanismus, wenn es um unser Leben in der
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht? Oder anders ausgedrückt: Wie
ergänzen oder widersprechen sich moderne gesicherte Erkenntnisse der heutigen
Wissenschaft mit Buddhas und Nagarjunas zentralem Verständnis des gemeinsamen
Entstehens in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und der Nicht-Realitaät von
Extremen in der Welt und in unserem Leben?
Nishijima Roshi beschreibt die Wirklichkeit
des Universums und des Lebens als ein Zusammenwirken individueller
Gegebenheiten in einem gesamten Gefüge. Einerseits gäbe es die Sicht der
Individualität und der Besonderheit, auf der anderen Seite die Notwendigkeit
des Gesamten, die häufig im Buddhismus auch als Einheit bezeichnet wird. Damit
sagt Nishijima Roshi aus seiner eigenen Erfahrung und Erkenntnis des Zen –
Buddhismus von Meister Dôgen genau die Zentral-Aussage der Präambel:
„Gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung“. Bei dem Extrem einer totalen Einheit
gäbe es keine Wechselwirkung, weil eine Einheit in sich selbst identisch wäre
und keine Dynamik, Entwicklung, Emanzipation und Befreiung bewirken könne. Auf
der anderen Seite sind die einzelnen Bereiche dieses Zusammenwirkens in einer
gewissen Selbständigkeit die gerade durch das Zusammenwirken erst ermöglicht
wird. Systemtheoretisch geht es um die Systemgrenze verschiedener gekoppelter
Teilsysteme oder eines einzelnen beobachteten Systems mit seiner Umwelt.
Die Systemgrenze hat demnach eine doppelte
Funktion: Zum einen grenzt sie die einzelnen Systeme in gewissem Maße von
einander oder von der Umwelt ab, zum anderen ermöglicht sie eine Wechselwirkung
gegenseitige Beeinflussung und Resonanz. Dadurch kann es überhaupt erst zu
einem Zusammenwirken kommen. Diese von Niklas Luhmann theoretisch erarbeitete
allgemeine Systemtheorie datiert aus den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts
und ist nach meiner festen Überzeugung also von hoher wissenschaftlicher
Qualität. Ganz ähnliche Ansätze gibt es in der modernen Gehirnforschung, die
das Zusammenwirken von spezialisierten Teilsystemen im neuronalen Netz in den
Mittelpunkt stellt. Auch hier gibt es die Abgrenzungen der Module und
Teilsysteme, die je nach Entwicklung und Lernprozessen miteinander in
intensiver Wechselwirkung und im Informationsaustausch sind. Auch hier kann man
theoretisch ohne Schwierigkeit von Teilsystemen und Systemgrenzen sprechen. Je
intensiver deren Wechselwirkungen sind, desto höher ist die Leistungsfähigkeit
und Informationsverarbeitung der so gekoppelten Teilsysteme.
Philosophisch und erkenntnistheoretisch kann
man es eigentlich als Sensation bezeichnen, dass Gautama Buddha diese
Zusammenhänge intuitiv vor 2.500 Jahren erkannt hatte und zur Grundlage seiner
praktischen Philosophie der Befreiung und Emanzipation gemacht hat. Es ist das
große Verdienst Nâgârjunas, dass er diese fundamentalen philosophischen und
praktischen Wahrheiten von fehlgeleiteten Doktrinen und vorbuddhistischem
Aberglauben freigelegt und an die heutige Zeit übermittelt hat. Es ist zu
vermuten, dass es dabei auch Missbrauchsfälle von ideologisch verengten Mönche
gegeben hat.
Aus meiner Sicht eröffnen sich dabei neue
Perspektiven auch für die westliche Philosophie, auf der Grundlage einer
Differentialontologie, die bisherige Grenzen der Seins- und Substanzontologie
und deren metaphysische Ausdifferenzierung maßgeblich erweitern kann. Es ist in
diesem Zusammenhang spannend zu sehen, dass Heidegger in seinen letzten Jahren
einen engen Bezug zum Zen – Buddhismus formuliert hat, ohne allerdings seine
Quellen anzugeben. Seine Philosophie des Ereignisses und Augenblicks haben
erstaunliche Ähnlichkeiten der mit zen-buddhistischer Philosophie eines Dogen
und Nishijima Roshi.
Es geht darum irrige Ansichten, Dogmen,
Doktrinen und Ideologien, auch wenn sie religiös gefärbt, sind eine klare
Absage zu erteilen, sie zu hinterfragen und sich von ihnen zu entfremden
(Hegel). Durch eine derartige gründliche Selbstreflexion kann nach den
Darstellungen der zwölf Entwicklungsschritte zur Befreiung eine neue
Lebenskraft, oder wie es im Buddhismus heißt, die formenden Kräfte entfaltet
werden, die zu befreienden Lernprozessen führen und sowohl das Leiden
überwinden. Das kann zu einem höheren und befreiten Leben der Erleuchtung
führen. Der Weg zur Erleuchtung ist also ein kontinuierlicher Abbau von Dogmen
und Ideologien, woher sie auch immer kommen, wodurch sie auch immer entstanden
sind und von wem sie auch immer verbreitet werden.
Besondere Gefahr geht dabei von falschen
Lehrern und falschen Heiligen aus, die durch ihre Überzeugungskraft oder
Verführungskraft durch ihr Charisma Einfluss auf die Psyche und den Geist der
Menschen gewinnen können. Bei genauer Analyse wird sich herausstellen, dass es
sich hierbei oft um narzisstisch gestörte Menschen handelt oder solche, die am
Borderline Syndrom leiden. Sie sind durch egozentrische Weltanschauung geprägt
und versuchen in der Selbstdarstellung andere für sich zu gewinnen, nicht um
diesen zu helfen, sondern um sich selbst zu erhöhen.
So ist die befreiende Lehre des Buddha Dharma
vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht vorhandene Glaubensdogmen
durch andere Dogmen ersetzt, sondern derartige Ansichten grundsätzlich
überwindet und zur Ruhe kommen lässt.
Auch die Lehre des Buddha Dharma ist damit
wie es im Gleichnis des Floßes nach dem Übersetzen über den Strom zur Befreiung
nicht mehr notwendig: Dogmen, Doktrinen und durch sie gesteuerte Ansichten
werden nicht mehr benötigt.
Der wahre Buddha-Dharma benötigt letztlich keine
Doktrinen, denn er ist das Leben selbst, in seiner wunderbaren Schönheit,
Vielfalt und Gesamtheit. Die buddhistischen Lehren sind zwar wichtige
Hilfsmittel zum erfüllten Leben: Der Finger, der auf den Mond, also auf die
Wirklichkeit zeigt oder das Floß für die Überquerung des trennenden Flusses.
Aber später benötigt man diese Lehren nicht mehr.
Wir dürfen aber diese Lehren nicht als erstarrte
Dogmen oder Doktrinen missverstehen, von falschen und gefährlichen Dogmen und
Doktrinen eines falsch verstanden Buddhismus ganz zu schweigen. Nagarjunas
letzte Aussage im MMK.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Lehren
Gautama Buddhas eine hervorragende Qualität gerade für die Gegenwart besitzen.
Ich fühle tiefe Dankbarkeit gegenüber Gautama Buddha, Nâgârjuna , vielen
Meistern des Buddhismus und nicht zuletzt meiner Lehrerin Dae Poep Sa Nim und
besonders meinem Lehrer Nishijima Roshi.
[1] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana, S. 9ff.
[2] Zölls, Doris: Disziplin als
Anfang. Der Zen-Weg zur Liebe, S. 72
[3] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana, Kap. 15, S. 228ff.
[4] Heidegger, Martin: Zeit und Sein. In: Gesamtausgabe, Band
14. Zur Sache des Denkens, S. 5ff.
[5] Bertram, Georg
W.: Hegels „Phänomenologie des
Geistes“. Ein systematischer Kommentar
[6] Im selben
Sinne: Nâgârjuna: The
Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana)
[7] Schmidt, Kurt:
Buddhas Reden. Majjhimanikaya, S. 285
[8] Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way.
Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika. Translation by Gudo Wafu Nishijima
Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana)
Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana)
[9] Kalupahana, David J.:
A History of Buddhist Philosophy
[10] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer
allgemeinen Theorie
[11] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (übersetzt von David J.
Kalupahana), S. 370ff.
[12] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (übersetzt von David J.
Kalupahana)
[13] Hegel: Phänomenologie des Geistes, „Arbeit des
Negativen“, zitiert in Bertram, Georg W., S. 316f.
[14] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes
[15] Derrida, Jacques: Randgänge
der Philosophie
[16] Kalupahana,
David J.: A History of Buddhist Philosophy
[17] Gäng, Peter:
Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17ff.
[18] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 159ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 61ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 61ff.
[19] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 39
[20] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S.
17ff.
[21] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana),
S. 42
[22] Gäng, Peter:
Meditationstexte des Pali-Buddhismus I
[23] Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra
[24] Nâgârjuna:
The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 159
[25] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 51ff.
[26] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 180ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 85ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 85ff.
[27] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 188ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 95ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 95ff.
[28] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 44
[29] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 195ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 103ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 103ff.
[30] Kalupahana,
David J.: A History of Buddhist
Philosophy, S. 3ff.
[31] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 206ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 115ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 115ff.
[32] Spitzer, Manfred: Einsamkeit. Die unbekannte Krankheit.
Schmerzhaft, ansteckend, tödlich
[33] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 211ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 121ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 121ff.
[34] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 217ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 128ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 128ff.
[35] Nagarjuna:
MMK, Kapitel 24.18, (siehe „Sternstunden des Buddhismus“, Bd. 3, in
Vorbereitung)
[36] Monier-Williams, Monier: Sankrit-English
Dictionary
[37] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S.
43ff.
[38] Die Verbindung von gemeinsamem Entstehen in
Wechselwirkung, Leerheit und Mittlerem Weg analysiert Nâgârjuna in Kapitel
24.18 des MMK.
[39]
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 50ff.
[40] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 224ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 134ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 134ff.
[41] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 228ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 141ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 141ff.
[42] Anacker, Stefan: Seven Works of Vasubandhu. The Buddhist
Psychological Doctor, S. 287ff.
[43] Nagao, Gadjin M.:
Madhymika and Yogacara
[44] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 235ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 149 ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 149 ff.
[45] Nach Kant,
zitiert in: Bertram, Georg W.: Hegels „Phänomenologie des Geistes“.
Ein systematischer Kommentar
[46] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 51f.
[47] Nâgârjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 243ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 156ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 156ff.
[48] Rescher, Nicolas:
Philosophical Reasoning: A Study in the Methodology of Philosophizing
[49] Shobogenzo 1, Uji
[50] Kalupahana, S. 280 ff.
[51] Shobogenzo, Kap. 2
[52] Kalupahna S. 65 ff.
[53] Kalupahana, S. 312 ff.
[54] Gäng Meditationstexte I
[55] Gäng, Peter: Buddhismus, S. 76
[56] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 59 f.
[57] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 63 f.
[58] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 65 f.
[59] Kalupahna S. 326 ff.)
[60] S. 326 f.
[61] Kalupahana, Seite 78
[62] Garfield
[63] Kalupahana (S. 80)
[64] Kalupahana: (S. 79 f.)