Samstag, 6. Juli 2019

Die Dynamik der Welt und des Lebens – Gehen, Bewegen und Verändern auf dem Weg des Lebens. Kapitel 2 des MMK

(Zusammenfassung: Aus meinem Buch "Sternstunden des Buddhismus, Band 1)

Dieses Kapitel über das Gehen und den Geher ist von zentraler Bedeutung für das gesamte MMK, aber nicht leicht zu verstehen und zu deuten. Für viele dürfte dieser Text in den bisher vorliegenden Fassungen zunächst fast unverständlich sein, sodass die Relevanz fraglich erscheint. Ist der Inhalt nur noch die ausgebrannte intellektuelle Schlacke alter buddhistischer Spitzfindigkeiten und Kontroversen? Wo ist der Funke, der heute zu uns überspringt, mag sich vielleicht mancher Leser fragen.

Das Kapitel ist in fünf Bereiche gegliedert. Zuerst geht es um den Weg, den wir begehen, also das Begangene. Wir können ihn als konkreten Weg verstehen, den wir jeden Tag gehen, oder symbolisch und gleichnishaft als buddhistischen Weg. Wir können den Weg auch als unsere geistige und psychische Bewegung begreifen, wie zum Beispiel Buddhas Achtfachen Pfad und den Weg der Mitte. Nāgārjuna beschreibt hier, wie und auf welche Weise solche Wege von uns tatsächlich begangen werden können und sollten und welche Wege nur unbrauchbare oder sogar gefährliche Doktrinen sind. So gab es in der vorbuddhistischen Zeit Lehrmeinungen, die behaupteten, dass alle Bewegungen unwirklich und Fiktion seien, weil es in der Wirklichkeit keine Veränderungen gäbe. Ähnliche Strömungen waren auch in der antiken griechischen Philosophie, zum Beispiel bei Zenon und sogar bei Pamenides, zu finden.

Für Buddha waren jedoch Veränderungen und wechselwirkende Prozesse für das Verstehen, die Überwindung des Leidens und die Befreiung wesentlich. Entsprechend klar sagt auch Nāgārjuna, dass wir nur in der Gegenwart wirklich gehen und der Weg wirklich begangen wird. Denn in der Vergangenheit und Zukunft gibt es unser Gehen nur in unserem Geist oder Gehirn als Vorstellung, Erinnerung oder Erwartung. Ein gedachter buddhistischer Weg ist nicht die Wirklichkeit hier und jetzt als Handeln und Leben – so wird es im Zen-Buddhismus ausgedrückt. Und wenn der buddhistische Weg durch erstarrte, unethische und machtorientierte Doktrinen beeinträchtigt ist, kommen wir auf ihm überhaupt nicht voran, denn ein solcher Weg kann von uns nicht wirklich begangen werden!

Es mag sein, dass wir in unserem Gehirn eine feste Vorstellung vom Befreiungsweg haben, aber wenn wir ihn nicht selbst konkret begehen, gibt es laut Nāgārjuna scheinbar zwei begangene Wege: den wirklichen und den nur erdachten, geglaubten und theoretisch erlernten. Das führt zu Verwirrungen und „wegführenden Fehlentwicklungen“, wie es in der Präambel heißt.

Im zweiten Teil untersucht Nāgārjuna, wer eigentlich auf dem Weg geht. Er fragt uns, ob wir wirklich von einem Geher sprechen können, wenn dieser gerade steht, sitzt oder liegt. Ist er immer ein Geher bis an sein Lebensende? Und war er schon immer als Wesenskern oder als geglaubte unsichtbare unveränderliche Substanz ein Geher, vielleicht sogar bevor er gehen lernte? Eine solche unsichtbare unveränderliche Substanz oder Essenz ist natürlich Spekulation und nicht reale Metaphysik. Aber dieser Glaube ist auch heute noch weit verbreitet. An diese Fragen schließen sich allgemeinere Untersuchungen an, zum Beispiel: Wenn ein Lügner nicht lügt, ist er dann auch ein Lügner? Buddha beschreibt einen furchtbaren Mörder, der dann in seine Sangha eintrat und Erleuchtung erlangte. War er dann noch ein Mörder oder war schon immer ein Erleuchteter? Und wenn er wieder aus der Erleuchtung zurückfällt, ist er dann noch ein Erleuchteter?

Wir sehen an diesen Beispielen, dass die Sprache oft falsche unveränderliche Fakten behauptet und Veränderungen sowie Emanzipationsprozesse ungenau oder sogar fehlerhaft beschreibt. Solche Doktrinen können den Weg der eigenen Entwicklung und Befreiung fundamental stören oder unmöglich machen. Das Gegenteil gilt für den Augenblick der Gegenwart in unseren vernetzten Lebensprozessen: In ihm liegt ein Maximum an Wirklichkeit und Erleben. Beim buddhistischen Weg geht es um den Prozess der Überwindung des Leidens durch das von uns selbst gesteuerte Training von Körper, Gefühlen und Geist: Das sind vernetzte Wechselwirkungen und keine Fiktionen, wie bereits in der Präambel unmissverständlich erklärt wird.

Eine besondere Gefahr der ontologischen Verdinglichung und Verhärtung zur Substanzhaftigkeit und Essenz besteht besonders, wenn Lehren der menschlichen Veränderung und Prozesse wie von Gautama Buddha historisch übermittelt werden und nach einigen hundert Jahren das Maßgebliche der ursprünglichen Lehre nicht mehr angemessen wiedergeben. Mit Kalupahana stimme ich darin überein, dass dies auf die Situation zur Zeit Nāgārjunas, etwa 600 Jahre nach Gautama Buddha, zutrifft.[1] Die beiden Doktrinen, nämlich einerseits der Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit von Dingen und Phänomenen (Sarvastivadins of Buddhist Philosophy bzw. Substantialismus) und andererseits deren plötzliches existenzielles Ende oder plötzlicher Beginn aus dem Nichts (Sautrantikas bzw. Momentanismus), drücken diese Erstarrung der buddhistischen Lehre aus.

Nāgārjuna beweist mit logischer Präzision, dass es bei einem erstarrten Denken und Reden über das Gehen zwei Geher geben müsste, einen wirklichen und einen, den wir uns in unserem Gehirn vorstellen. Nishijima Roshi sagt hierzu: „Die nicht reale Welt gibt es in unserer Vorstellung und unserem Denken. Wie wir tagtäglich beobachten können, beeinflussen solche Fiktionen und Ideen unser Handeln erheblich. Insofern existieren derartige Ideen sozusagen als Scheinrealitäten in unserem Gehirn.“ Aber die Wirklichkeit des gehenden Menschen ist nicht mehrfach dualistisch gespalten, sondern ein Ganzes: Ein Mensch geht auf dem Weg. Nāgārjuna arbeitet hier den gravierenden Unterschied zwischen Wirklichkeit und Theorien sowie Doktrinen heraus. Für unseren Befreiungsweg benötigen wir verlässliche Grundlagen und keine weltfremden Philosophien. Deshalb ist dieses Kapitel so wichtig.

Im dritten Teil wird scharfsinnig bewiesen, dass es beim Gehen auf einem Weg dann keinen Anfang und kein Ende geben dürfte, wenn man sich an Worte und bestimmte Theorien klammert und das Gehen wie ein Ding und als metaphysische unveränderliche Entität und Substanz versteht. Das erweist sich natürlich bei genauer Analyse als falsch, wenn wir die Wirklichkeit unverstellt und direkt erfahren und beobachten. Denn wir Menschen gehen, schlendern, wandern oder eilen ganz selbstverständlich und weitgehend unbewusst, und ebenso beginnen und beenden wir das Gehen. Daraus folgt, dass wir die lebenden vernetzten Prozesse und die Wechselwirkungen des gehenden Menschen ganzheitlich verstehen müssen.
Im vierten und fünften Teil geht es um den gesamten Zusammenhang von begangenem Weg, dem Gehen als Handeln und dem gehenden Menschen. Dabei stellt Nāgārjuna fest, dass wir keinen Gang, keinen begangenen Weg und keinen Geher finden, wenn wir erstarrten statischen Doktrinen anhängen. Das klingt paradox, ist es aber nicht: Er meint die unwirkliche Welt der Einbildungen, Theorien und wegführenden Fehlentwicklungen. Demgegenüber verstehen Buddha und Nāgārjuna die Wirklichkeit der Welt als „gemeinsames wechselwirkendes Entstehen“ – und zwar ohne Extreme. Ein solches Enstehen ist von uns selbst beeinflussbar und steuerbar. Wenn wir den buddhistischen Weg so begreifen und praktizieren, kann man zwischen dem Passiv des begangenen Weges und dem Aktiv des gehenden Menschen nicht mehr sinnvoll als totale Trennung unterscheiden, auch wenn die Sprache das nahelegen mag. Gehen und Begangen-Werden bilden zusammen eine ganze Wirklichkeit. Das direkte Handeln übersteigt dabei die Theorie, die Logik, die Sprache und Grammatik. Es kommt genau auf den Augenblick unseres achtsamen unverstellten Handelns und Bewegens an. Eine solche Wirklichkeit ist ein lebendiges Ganzes auf dem Achtfachen Pfad und dem Mittleren Weg, eben das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Und wenn wir dies ungeteilt und ohne Ablenkung erfahren, erfüllt es uns mit Freude und Klarheit und befreit uns von Stress und sogar Angst. Diese Tatsache hat auch die heutige Gehirnforschung eindeutig nachgewiesen. Buddha, Nāgārjuna und Zen-Meister Dōgen wussten es schon erheblich früher.

Wenn die Prozesse der Welt ohne Scheinwelten von Doktrinen, Begriffen, Weltanschauungen und Illusionen, ohne isolierte und als dauerhaft angesehene Essenzen in gemeinsamer Wechselwirkung entstehen, wird die Welt im Sinne Nāgārjunas als leer bezeichnet – im Zen-Buddhismus heißt es: die Wirklichkeit, „wie sie ist“. Dann kann sich die nahezu unbegrenzte Fülle der wirklichen menschlichen Potenziale entfalten.

In diesem fundamentalen Kapitel geht es also um das klare Verständnis von Handeln, Bewegen und Prozessen. In den folgenden Kapiteln des MMK wird sich zeigen, dass die ausführliche Analyse und Argumentation zum Gehen auch für andere Prozesse und Vorgänge in gleicher Weise erfolgen kann und muss. Nāgārjuna wird daher im Hinblick auf Zusammenhänge und Schlussfolgerungen häufiger auf das zweite Kapitel verweisen. Es bildet die Grundlage für die Bearbeitung zentraler buddhistischer Fragen in späteren Kapiteln, zum Beispiel in Kapitel 23 (Nirvāna) und 24 (Vier Edle Wahrheiten).





[1] Kalupahana, David J.: A History of Buddhist Philosophy