Dieses
Kapitel über das Gehen und den Geher ist von zentraler Bedeutung für das
gesamte MMK, aber nicht leicht zu verstehen und zu deuten. Für viele dürfte
dieser Text in den bisher vorliegenden Fassungen zunächst fast unverständlich
sein, sodass die Relevanz fraglich erscheint. Ist der Inhalt nur noch die
ausgebrannte intellektuelle Schlacke alter buddhistischer Spitzfindigkeiten und
Kontroversen? Wo ist der Funke, der heute zu uns überspringt, mag sich
vielleicht mancher Leser fragen.
Das
Kapitel ist in fünf Bereiche gegliedert. Zuerst geht es um den Weg, den wir
begehen, also das Begangene. Wir
können ihn als konkreten Weg verstehen, den wir jeden Tag gehen, oder
symbolisch und gleichnishaft als buddhistischen
Weg. Wir können den Weg auch als unsere
geistige und psychische Bewegung begreifen, wie zum Beispiel Buddhas Achtfachen Pfad und den Weg der Mitte. Nāgārjuna beschreibt
hier, wie und auf welche Weise solche Wege von uns tatsächlich begangen werden
können und sollten und welche Wege nur unbrauchbare oder sogar gefährliche
Doktrinen sind. So gab es in der vorbuddhistischen Zeit Lehrmeinungen, die behaupteten,
dass alle Bewegungen unwirklich und Fiktion seien, weil es in der Wirklichkeit
keine Veränderungen gäbe. Ähnliche Strömungen waren auch in der antiken
griechischen Philosophie, zum Beispiel bei Zenon und sogar bei Pamenides, zu
finden.
Für
Buddha waren jedoch Veränderungen und wechselwirkende Prozesse für das
Verstehen, die Überwindung des Leidens und die Befreiung wesentlich.
Entsprechend klar sagt auch Nāgārjuna, dass wir nur in der Gegenwart wirklich
gehen und der Weg wirklich begangen wird. Denn in der Vergangenheit und Zukunft
gibt es unser Gehen nur in unserem Geist oder Gehirn als Vorstellung,
Erinnerung oder Erwartung. Ein gedachter buddhistischer Weg ist nicht die
Wirklichkeit hier und jetzt als Handeln und Leben – so wird es im
Zen-Buddhismus ausgedrückt. Und wenn der buddhistische Weg durch erstarrte,
unethische und machtorientierte Doktrinen beeinträchtigt ist, kommen wir auf
ihm überhaupt nicht voran, denn ein solcher Weg kann von uns nicht wirklich
begangen werden!
Es mag
sein, dass wir in unserem Gehirn eine feste Vorstellung vom Befreiungsweg
haben, aber wenn wir ihn nicht selbst konkret begehen, gibt es laut Nāgārjuna
scheinbar zwei begangene Wege: den wirklichen
und den nur erdachten, geglaubten und
theoretisch erlernten. Das führt zu Verwirrungen und „wegführenden
Fehlentwicklungen“, wie es in der Präambel heißt.
Im
zweiten Teil untersucht Nāgārjuna, wer eigentlich
auf dem Weg geht. Er fragt uns, ob
wir wirklich von einem Geher sprechen können, wenn dieser gerade steht, sitzt
oder liegt. Ist er immer ein Geher bis an sein Lebensende? Und war er schon
immer als Wesenskern oder als geglaubte unsichtbare unveränderliche Substanz ein Geher, vielleicht sogar bevor er gehen
lernte? Eine solche unsichtbare unveränderliche Substanz oder Essenz ist
natürlich Spekulation und nicht reale Metaphysik. Aber dieser Glaube ist auch
heute noch weit verbreitet. An diese Fragen schließen sich allgemeinere
Untersuchungen an, zum Beispiel: Wenn ein Lügner nicht lügt, ist er dann auch ein Lügner? Buddha beschreibt einen
furchtbaren Mörder, der dann in seine Sangha eintrat und Erleuchtung erlangte.
War er dann noch ein Mörder oder war schon immer ein Erleuchteter? Und wenn er
wieder aus der Erleuchtung zurückfällt, ist er dann noch ein Erleuchteter?
Wir
sehen an diesen Beispielen, dass die Sprache oft falsche unveränderliche Fakten
behauptet und Veränderungen sowie Emanzipationsprozesse ungenau oder sogar
fehlerhaft beschreibt. Solche Doktrinen können den Weg der eigenen Entwicklung
und Befreiung fundamental stören oder unmöglich machen. Das Gegenteil gilt für den
Augenblick der Gegenwart in unseren vernetzten Lebensprozessen: In ihm liegt
ein Maximum an Wirklichkeit und Erleben. Beim buddhistischen Weg geht es um den
Prozess der Überwindung des Leidens
durch das von uns selbst gesteuerte Training von Körper, Gefühlen und Geist:
Das sind vernetzte Wechselwirkungen und keine Fiktionen, wie bereits in der
Präambel unmissverständlich erklärt wird.
Eine
besondere Gefahr der ontologischen Verdinglichung und Verhärtung zur
Substanzhaftigkeit und Essenz besteht besonders, wenn Lehren der menschlichen
Veränderung und Prozesse wie von Gautama Buddha historisch übermittelt werden
und nach einigen hundert Jahren das Maßgebliche der ursprünglichen Lehre nicht
mehr angemessen wiedergeben. Mit Kalupahana stimme ich darin überein, dass dies
auf die Situation zur Zeit Nāgārjunas, etwa 600 Jahre nach Gautama Buddha,
zutrifft.[1] Die beiden Doktrinen, nämlich
einerseits der Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit von Dingen und Phänomenen
(Sarvastivadins of Buddhist Philosophy bzw. Substantialismus) und andererseits
deren plötzliches existenzielles Ende oder plötzlicher Beginn aus dem Nichts
(Sautrantikas bzw. Momentanismus), drücken diese Erstarrung der buddhistischen
Lehre aus.
Nāgārjuna
beweist mit logischer Präzision, dass es bei einem erstarrten Denken und Reden
über das Gehen zwei Geher geben
müsste, einen wirklichen und einen, den wir uns in unserem Gehirn vorstellen.
Nishijima Roshi sagt hierzu: „Die nicht reale Welt gibt es in unserer
Vorstellung und unserem Denken. Wie wir tagtäglich beobachten können,
beeinflussen solche Fiktionen und Ideen unser Handeln erheblich. Insofern
existieren derartige Ideen sozusagen als Scheinrealitäten in unserem Gehirn.“
Aber die Wirklichkeit des gehenden Menschen ist nicht mehrfach dualistisch
gespalten, sondern ein Ganzes: Ein Mensch
geht auf dem Weg. Nāgārjuna arbeitet hier den gravierenden Unterschied
zwischen Wirklichkeit und Theorien sowie Doktrinen heraus. Für unseren
Befreiungsweg benötigen wir verlässliche Grundlagen und keine weltfremden
Philosophien. Deshalb ist dieses Kapitel so wichtig.
Im
dritten Teil wird scharfsinnig bewiesen, dass es beim Gehen auf einem Weg dann
keinen Anfang und kein Ende geben dürfte, wenn man sich an Worte und bestimmte
Theorien klammert und das Gehen wie ein Ding und als metaphysische
unveränderliche Entität und Substanz versteht. Das erweist sich natürlich bei
genauer Analyse als falsch, wenn wir die Wirklichkeit unverstellt und direkt
erfahren und beobachten. Denn wir Menschen gehen, schlendern, wandern oder
eilen ganz selbstverständlich und weitgehend unbewusst, und ebenso beginnen und
beenden wir das Gehen. Daraus folgt, dass wir die lebenden vernetzten Prozesse
und die Wechselwirkungen des gehenden Menschen ganzheitlich verstehen müssen.
Im
vierten und fünften Teil geht es um den gesamten Zusammenhang von begangenem
Weg, dem Gehen als Handeln und dem gehenden Menschen. Dabei stellt Nāgārjuna
fest, dass wir keinen Gang, keinen begangenen Weg und keinen Geher finden, wenn
wir erstarrten statischen Doktrinen anhängen. Das klingt paradox, ist es aber
nicht: Er meint die unwirkliche Welt
der Einbildungen, Theorien und wegführenden Fehlentwicklungen. Demgegenüber
verstehen Buddha und Nāgārjuna die Wirklichkeit der Welt als „gemeinsames
wechselwirkendes Entstehen“ – und zwar ohne Extreme. Ein solches Enstehen ist
von uns selbst beeinflussbar und steuerbar. Wenn wir den buddhistischen Weg so
begreifen und praktizieren, kann man zwischen dem Passiv des begangenen Weges
und dem Aktiv des gehenden Menschen nicht mehr sinnvoll als totale Trennung
unterscheiden, auch wenn die Sprache das nahelegen mag. Gehen und
Begangen-Werden bilden zusammen eine ganze Wirklichkeit. Das direkte Handeln
übersteigt dabei die Theorie, die Logik, die Sprache und Grammatik. Es kommt
genau auf den Augenblick unseres achtsamen unverstellten Handelns und Bewegens
an. Eine solche Wirklichkeit ist ein lebendiges Ganzes auf dem Achtfachen Pfad
und dem Mittleren Weg, eben das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Und
wenn wir dies ungeteilt und ohne Ablenkung erfahren, erfüllt es uns mit Freude
und Klarheit und befreit uns von Stress und sogar Angst. Diese Tatsache hat
auch die heutige Gehirnforschung eindeutig nachgewiesen. Buddha, Nāgārjuna und
Zen-Meister Dōgen wussten es schon erheblich früher.
Wenn
die Prozesse der Welt ohne
Scheinwelten von Doktrinen, Begriffen, Weltanschauungen und Illusionen, ohne
isolierte und als dauerhaft angesehene Essenzen in gemeinsamer Wechselwirkung
entstehen, wird die Welt im Sinne Nāgārjunas als leer bezeichnet – im Zen-Buddhismus heißt es: die Wirklichkeit,
„wie sie ist“. Dann kann sich die nahezu unbegrenzte Fülle der wirklichen
menschlichen Potenziale entfalten.
In
diesem fundamentalen Kapitel geht es also um das klare Verständnis von Handeln,
Bewegen und Prozessen. In den folgenden Kapiteln des MMK wird sich zeigen, dass
die ausführliche Analyse und Argumentation zum Gehen auch für andere Prozesse
und Vorgänge in gleicher Weise erfolgen kann und muss. Nāgārjuna wird daher im
Hinblick auf Zusammenhänge und Schlussfolgerungen häufiger auf das zweite
Kapitel verweisen. Es bildet die Grundlage für die Bearbeitung zentraler
buddhistischer Fragen in späteren Kapiteln, zum Beispiel in Kapitel 23
(Nirvāna) und 24 (Vier Edle Wahrheiten).