(Aus meinem Buch "Erwachen und Erleuchtung")
Kapitel 26 des Shōbōgenzō trägt im Japanischen den
Titel Daigo. Dai bedeutet „groß“ und go
heißt „Verwirklichung“ oder „Erwachen“.[i] Im
alten Indien wurde der Begriff „Erwachen“ verwendet, der sich aus der
Sanskritwurzel budh ableitet. Gemeint
ist das Erwachen aus den vielfältigen Täuschungen, Illusionen und Verzerrungen
des Lebens und der Wirklichkeit, die nach der buddhistischen Lehre vor allem
durch die drei Gifte Gier, Hass und Dummheit erzeugt werden. Wenn man diese
Täuschungen mithilfe der buddhistischen Lehre und Praxis abgeschüttelt hat und
unmittelbar in der Wirklichkeit lebt, ist man erwacht.
Seit den 50er-Jahren des
letzten Jahrhunderts wird go im
Deutschen meistens mit „Erleuchtung“ übersetzt. Aber dieser Begriff hat zu vielen
Fehlinterpretationen und erheblichen Irritationen geführt. Nishijima Roshi hat
häufig davor gewarnt, ihn unkritisch zu
verwenden. Meines Erachtens ist er zudem ein Begriff aus der christlichen
Lehre, in der es heißt, dass ein Mensch vom Heiligen Geist erleuchtet wird, was
nach dem christlichen Glauben im Allgemeinen als Gnade angesehen wird, die wir
nicht selbst erwerben können, sondern die uns Gott schenkt. Hier besteht ein
deutlicher Unterschied zum Buddhismus: Nach der Lehre Gautama Buddhas ist jeder
Mensch von Natur aus in der Lage, zur Wirklichkeit zu erwachen, wenn er den von
ihm gelehrten Weg geht, konsequent die Praxis durchführt und mit einem guten
Lehrer zusammenarbeitet.
In neueren
Veröffentlichungen hat Nishijima Roshi trotz seiner Vorbehalte zum Teil auch
den Begriff Erleuchtung benutzt, zum Beispiel in der Diskussion über die
allmähliche oder plötzliche Erleuchtung.[ii] So
nennt er die Zazen-Praxis die „erste Erleuchtung“. Daher werde ich die Begriffe
Verwirklichung, Erwachen und Erleuchtung synonym verwenden und möchte das Wort
Erleuchtung nicht ganz vermeiden, da es sich weitgehend eingebürgert hat,
obgleich es häufig missverstanden wird. Dieses Buch soll dazu beitragen, solche
Missverständnisse auszuräumen.
Nishijima bevorzugt den
Begriff Verwirklichung, denn nach dem Erwachen sind wir eine Einheit mit der
Wirklichkeit, die gleichzeitig die große Wahrheit des Menschen ist. Dadurch
verwirklichen wir uns als Menschen, und wir gewinnen neue Dimensionen der
Freiheit. Täuschungen sind im Kern unwirklich und werden uns genau wie die
Illusionen früher oder später leiden lassen. Der Wirklichkeit ins Auge zu sehen
und sie ungeschminkt zu erkennen, mag zunächst oft schmerzlich sein, sodass die
Flucht in Illusionen, Verdrängungen, Träumereien und Täuschungen naheliegt,
aber die Lebensprobleme werden damit nicht an der Wurzel gepackt, und durch
verzerrte Schein-Wahrheiten kommen wir aus dem Teufelskreis des Leidens nicht
heraus.
Mit dem Erwachen und der Verwirklichung ist das reale Leben des Menschen
gemeint. Dies erfährt man exemplarisch bei der Zazen-Praxis, die laut Nishijima
Roshi das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems darstellt. Beim Zazen
verschwinden unterscheidendes Denken und Emotionen der üblichen Form, sodass
wir „direkt in der Wirklichkeit“ sitzen. Wie Dōgen lehrt, ist ein solches Leben
und Handeln im Gleichgewicht gleichzeitig die Verwirklichung der Buddha-Natur,
also unserer wahren Natur.[iii]
Diese dürfen wir uns aber keinesfalls wie einen Seelenkern oder eine andere
abgegrenzte Einheit (Entität) vorstellen, sondern sie verwirklicht sich im
erwachten und befreiten Handeln, das mit der Ethik verknüpft ist.
Im Japanischen gibt es neben dem Begriff Satori („Erleuchtung“) einen zweiten wichtigen Begriff – Kenshō –, den man am ehesten mit
„Selbst-Wesenschau“ übersetzen kann. Marianne Wachs bezieht sich in ihrer
Erklärung dazu auf Daikan Enō: „Nach einem kenshō erweist es sich aber, dass
nicht alle Begierden und Leidenschaften für immer verschwunden sind. Es wird
zwar begleitet von der Vernichtung der verblendeten Ansichten und aller Zweifel
an Buddha, Dharma und Sangha und an der eigenen Buddha-Natur. Die vier Übel
Gier, Hass, Unwissen und Stolz sind freilich noch da und es braucht noch 20,
30, 40 oder mehr Jahre harten Trainings, um sich vollständig freizumachen.“[iv]
Die Verwirklichung aus Dōgens Sicht
In diesem Kapitel behandelt Dōgen ausführlich die Verwirklichung des
Menschen beim Erwachen. Er spricht aus seiner eigenen langjährigen Erfahrung
und macht klar, dass man bei diesem Thema mit Denken und Theorien allein nicht
zum Kern vorstoßen kann, dass also die Ebene und Lebensphilosophie der Gedanken
und Ideen nur sehr begrenzt dafür geeignet ist. Das gilt auch für die
Lebensphilosophie des Materialismus, also der sinnlichen Wahrnehmung
beziehungsweise des Genusses, vor allem, wenn wir glauben, dass das Glück ohne
eigene Anstrengung zu uns kommt.
An dieser Stelle möchte ich an die Erklärungen zur ersten und zweiten
Erleuchtung im Buddhismus von Nishijima Roshi anknüpfen. Er vertritt, dass die sogenannte plötzliche und die
allmähliche Erleuchtung, die im Zen-Buddhismus bisweilen kontrovers diskutiert
werden, überhaupt nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern nur
unterschiedliche zeitliche Sichtweisen darstellen.[v] Für
Meister Dōgen ist die Erleuchtung vor allem durch das Handeln im Zustand des
Gleichgewichts im gegenwärtigen Augenblick gekennzeichnet. Was er durch die
Zazen-Praxis des Shikantaza („nichts
als Sitzen“) erlebte – und was wir mit dem Begriff „Erleuchtung“ bezeichnen –,
ist im Lehrsystem von Nishijima Roshi die umfassende buddhistische Lebensphilosophie
der Einheit von Lehre und Praxis, der intuitiven Weisheit und Klarheit im
Augenblick und vor allem der Einheit mit Moral und Ethik.
Das große Erwachen ist der Alltag und das tägliche Handeln der Buddhas
und Vorfahren im Dharma. Es wird nicht durch eine Theorie des Erwachens
erreicht oder dadurch, dass man scharfsinnig darüber nachdenkt, und auch nicht
dadurch, dass man es anderen vorspielt. Es ist wichtig, das Erwachen als
Vorstellung und Begriff zu vergessen, es loszulassen und klar zu handeln.
Genauso sinnvoll wie aktives Handeln kann es jedoch sein, etwas geschehen zu lassen
und ein Eingreifen zum Wohle des Ganzen zu vermeiden. Dieses Höchste der
Buddhas und Vorfahren im Dharma ist nach Dōgen unauflösbar mit der Zazen-Praxis
und dem Leben im Alltag verbunden und sprengt sogar den Rahmen der Vorstellung
des großen Erwachens und geht weit darüber hinaus. Er beginnt das Kapitel mit
folgenden Worten:
„Die große Wahrheit der Buddhas ist ohne
Unterbrechung in den Übertragungslinien direkt übermittelt worden. Das
verdienstvolle Handeln der Vorfahren im Dharma, das direkt offenbar wurde, ist
eine umfassende Weite der (hohen buddhistischen) Ebene.“
Damit
beschreibt er die Einzigartigkeit der Lehre Buddhas, die mit den Vier Edlen
Wahrheiten oder – wie Nishijima es formuliert – mit den vier Lebensphilosophien
eine völlig neue Dimension für die Menschheit eröffnet hat. Diese Wahrheit
Gautama Buddhas und der folgenden großen Meister ist authentisch und über
zweieinhalb Jahrtausende erprobt. Sie ist keine ausgedachte Philosophie oder
spekulative Theorie, sondern spirituelle, empirische Wirklichkeit; sie hat sich
fortlaufend bewährt und hervorragende Meister hervorgebracht. Die Buddha-Wahrheit
ist kein Glaube, aber sie benötigt Anfangsvertrauen, um den großen Weg der
Verwirklichung und Befreiung zu beginnen und weiterzugehen.
Dōgen
betont, dass die authentische, lebendige Weitergabe in einer nicht
unterbrochenen Linie von einem großen Meister zum anderen maßgeblich für die
Echtheit ist. Nur dann kann der Buddha-Dharma seine volle positive Energie und
Wirkung der Befreiung entfalten. Das Handeln und Verhalten der Meister sind in
Einheit mit der buddhistischen Lehre von zentraler Bedeutung und eine
Grundvoraussetzung für die Lebendigkeit, Kraft und Kreativität des
Befreiungsweges. Dadurch sind das große Erwachen und die Verwirklichung auch
für uns in der heutigen Zeit realisierbar.
Die
Buddha-Wahrheit unterscheidet sich im Kern fundamental von anderen Ansätzen,
zum Beispiel vom indischen Brahmanismus und der Philosophie des antiken
Griechenlands. Das erstmals von Gautama Buddha erlebte und geschilderte
Erwachen hat durch den Zugang zur direkten Wirklichkeit alles Damalige
überschritten. Die Buddha-Wahrheit weist einen völlig neuen Weg zur Überwindung
des Leidens. Gegenwärtig gewinnt sie im Westen erheblich an Kraft und
Verbreitung, nicht zuletzt in Verbindung mit der Psychologie und
Psychotherapie!
Das erwachte Handeln
Dōgen
skizziert zunächst die wesentlichen Eckpunkte des Erwachens, bevor er bei
seiner Analyse ins Detail geht.
„(Es) ist daher genau der alltägliche Zustand der
buddhistischen Vorfahren im Dharma, das große Erwachen zu verwirklichen, bei
der Wahrheit anzukommen, ohne dass dies (mit dem Verstand ganz) zu erkennen
ist. (In diesem Zustand) ist das Erwachen zu betrachten und spielerisch zu
handhaben; es wird vergessen, losgelassen und gehandelt.“
Die
verstandesmäßige Erkenntnis stehe nicht an erster Stelle, sondern es gehe um
das Handeln selbst. Mit der Formulierung „das Erwachen betrachten“ stellt er
eine Verbindung her zum großen Sūtra der Achtsamkeit und zu Kapitel 2 des Shōbōgenzō[vi], das
von der tiefen Erfahrung und Betrachtung der Leerheit des großen
Buddha-Schülers Shariputra handelt.
Mit dem Ausdruck „spielerisch handeln“ kennzeichnet Dōgen die Natürlichkeit und
Leichtigkeit, die für das Tun und Handeln der großen Erwachten und für den
Zustand in der Zazen-Praxis typisch sind.
Das
Erwachen sei der alltägliche Zustand der großen Meister, die im praktischen
Leben stehen und nicht als abgehobene, isolierte Heilige ihre Zeit verbringen.
In dieser Aussage kommen der radikale Praxisbezug und die fast trockene
Klarheit des Zen-Buddhismus treffend zum Ausdruck. Dōgen verwendet gern die
Begriffe „vergessen“, „loslassen“ und „handeln“, um damit die Beweglichkeit im
Umgang mit der Wirklichkeit zu charakterisieren. Die Zazen-Praxis ist bei aller
Anstrengung auch immer ein Loslassen des gewöhnlichen Denkens und Fühlens, was
psychisch wie eine Reinigung des Körper-und-Geistes wirkt. Dabei vergessen wir
insbesondere vorgefasste Meinungen, Ideologien, Zwangsgedanken und psychische
Fixierungen. Es geht nicht um isoliertes, hochgeistiges Denken, sondern um
intuitiv vernünftiges und klares Handeln.
„(Die
buddhistischen Meister) erfahren die Benutzung der zwölf Stunden (des Tages),
in denen sie Dinge aufgegriffen haben, und sie erfahren, (dass) sie von den
zwölf Stunden benutzt werden, in denen sie die
Dinge fortwerfen.“
Im alten China hatte ein
ganzer Tag zwölf Stunden, was den 24 Stunden nach unserer heutigen Zeitrechnung
entspricht. Entweder packen laut Dōgen die Meister ihre Pflichten und Aufgaben
während des gesamten Tages tatkräftig an, oder sie lassen die Dinge geschehen,
werden sozusagen benutzt, je nachdem, wie es in der konkreten Situation gerade
notwendig und sinnvoll ist. Es geht also weder um Aktionismus um jeden Preis,
noch um Trägheit und Passivität.
„(Die erwachten Meister) springen über diesen
zentralen Punkt weiter hinaus. Sie erfahren das Spielen mit den Schlammbällen
und das Spielen mit der Seele.“
Die
für uns westliche Leser ungewöhnliche Vorstellung, dass die Meister mit
Schlammbällen und der Seele spielen, steht bei Dōgen für erwachtes Handeln.
Damit charakterisiert er die Leichtigkeit des Umgangs mit den Arbeiten und
Verpflichtungen des Alltags sowie die Zazen-Praxis der erwachten Meister.
Gleichzeitig soll die Fixierung auf den bedeutungsschweren Glauben an einen Seelenkern
(Atman) aufgehoben werden, den manche sich vielleicht wie einen kleinen Ball
vorstellen.
Dōgen
will sagen, dass die buddhistischen Vorfahren im Dharma nach dem Erwachen
unausweichlich das Lernen in der Praxis meistern. Das große Erwachen sei gleichzeitig
die vollständige Verwirklichung und gerade nicht mit den Vorstellungen oder
Begriffen „Meister“ oder „vollständiges großes Erwachen“ identisch. Der Meister
springt aus der begrenzten Vorstellung und dem Begriff heraus und handelt
jenseits von vorgefassten und fixierten Ideen.
Auf diese Weise möchte Dōgen
den radikalen Unterschied zwischen Begriffen, Ideen sowie Vorstellungen
einerseits und der Wirklichkeit des Handelns der erwachten Meister andererseits
klarmachen. Beim wahren Handeln treten Ideen und Vorstellungen genauso wie
Begriffe völlig in den Hintergrund. Natürlich bedarf es längerer Übung und
intensiver Selbstbeobachtung, um zunächst einmal einen solchen Unterschied
überhaupt zu bemerken.
„Ein buddhistischer Meister springt über die Grenzen
(des Begriffs) ‚großes Erwachen‘ hinaus, und das große Erwachen ist ein Gesicht
und sind die Augen des Herausspringens in den Zustand, der über (die
Vorstellung und den Begriff) des ‚buddhistischen Vorfahren im Dharma‘
hinausgeht.“
Eindringlich
warnt Dōgen davor, die Begriffsebene mit der Wirklichkeit des Erwachens zu
verwechseln, denn der erwachte Zustand ist – um es mit den Worten Nishijima
Roshis auszudrücken – die höchste und vierte Lebensphilosophie, die über Ideen
und die sinnliche Wahrnehmung hinausgeht.[vii]
Begriffe und Vorstellungen haben die Tendenz, sich zu verselbstständigen und
von der Wirklichkeit abzulösen; dadurch verhindern sie gerade das große
Erwachen. Bei aller Wertschätzung der buddhistischen Lehre und der darin
verwendeten Begriffe muss also die Dimension der pragmatischen und genauen
sinnlichen Wahrnehmung hinzukommen, damit man dann durch das ethisch klare
Handeln im gegenwärtigen Augenblick den Zustand des Erwachens erreichen kann.
Das Erwachen ist für jeden Menschen
möglich
Dōgen
geht nun der Frage nach, welche Rolle die Intelligenz und Vernunft eines
Menschen beim Erwachen spielen. Zunächst bezieht er sich dabei auf Konfuzius, der eine Unterteilung in vier
Gruppen vornimmt:
Erstens
gibt es das Wissen und die Intelligenz, die angeboren
sind; sie werden von Konfuzius am höchsten bewertet. An zweiter Stelle
stehen diejenigen Menschen, die konsequent studieren und lernen. Drittens gibt
es jene, die mit Schwierigkeiten lernen. Als vierte Gruppe nennt Konfuzius die
Menschen, die beim Lernen und Studieren versagen; sie stehen sozusagen auf der
niedrigsten Stufe.
Dōgen
lehnt eine solche Unterteilung der Intelligenz und des Wissens ab und betont,
dass alle Menschen die Möglichkeit haben zu lernen. Auch Gautama Buddha hat
erklärt, dass das große Erwachen für jeden Menschen zugänglich ist, unabhängig
von seinem Wissen und seiner Intelligenz. Die Klassifizierung von Konfuzius hat
für Dōgen also keine Bedeutung. In dem Kapitel „Der Mönch in der vierten
Meditationsstufe der Vertiefung“[viii]
lehrt er zum Beispiel, dass es im Buddha-Dharma keine Menschen mit der bequemen
angeborenen Intelligenz im Sinne von Konfuzius gebe, denn alle müssten sich
anstrengen und praktizieren, um zur Wirklichkeit zu erwachen und damit eine
ganz neue Qualität von Geist-und-Körper zu verwirklichen.
Dann knüpft Dōgen an
Konfuzius’ Einteilung an und gibt dessen vier charakteristischen Typen eine
neue Bedeutung, die auf dem Buddha-Dharma beruht. Sie lautet kurz gesagt, dass
jeder Mensch von Natur aus mit dem natürlichen Erwachen von Geist-und-Körper
ausgestattet ist, dass es aber der Anstrengung des Lernens bedarf, um zu
erwachen und sich und das Universum zu verwirklichen. Damit erlangt er ein
tiefes intuitives Wissen und Verständnis des Lebens und der Welt. Angeborene
Intelligenz bedeutet also nicht, ein erwachter Mensch zu sein, denn dazu gehört
nicht zuletzt praktisches, ethisches Handeln. Angeborene Intelligenz im Sinne
des Konfuzius möchte ich in Einklang mit Nishijima Roshi als „naturalistisch“
bezeichnen, während die Möglichkeit zu erwachen nach der buddhistischen Lehre
„natürlich“ ist.
„Insbesondere gibt es die (Menschen) mit angeborener Intelligenz, die das Leben
durchstoßen, indem sie leben und vom Leben frei werden.“
Die
angeborene Intelligenz, die Dōgen hier anspricht, unterscheidet sich
fundamental von der Lehre des Konfuzius, obgleich er denselben Begriff
verwendet. Dieses Wissen und diese Klugheit sind mit anderen Worten das
körperliche Erwachen, ganz gleich, ob es „am Anfang, in der Mitte oder am Ende
des Lebens“ stattfindet. Damit arbeitet Dōgen präzise heraus, dass es nach der
Lehre des Konfuzius kein großes Erwachen geben kann, da bei ihm die vier
verschiedenen Stufen des Wissens und der Intelligenz durch die Geburt und den
Charakter des Menschen von vornherein
festgelegt seien. Demgegenüber ist das Lernen des Buddha-Dharma immer eine
Verbindung von Theorie und Praxis, bei dem die unterscheidende Intelligenz
keine zentrale Bedeutung hat. Das intuitive, verwirklichte Wissen und Handeln
der Menschen, die das große Erwachen erfahren haben, geht über die von
Konfuzius festgelegten Intelligenztypen hinaus. Daran ist erkennbar, dass die
Lehre Gautama Buddhas den Menschen einen radikal größeren Freiraum und damit
erweiterte Entwicklungsmöglichkeiten zuerkennt. Die Lehren des Konfuzius sind
dagegen im Kern eher traditionell und unflexibel und haben eine hierarchische,
festgefügte Struktur zum Inhalt.
„Es gibt (Menschen) mit erlernter Intelligenz, die durch das Lernen ihren eigenen Zustand
meistern und mit anderen Worten physisch die Haut, das Fleisch, die Knochen und
das Mark des Lernens verwirklichen.“
Indem
Dōgen hier die Aufzählung verwendet, die Bodhidharma für seine Schüler benutzte
und die in die Geschichte des Zen-Buddhismus eingegangen ist, macht er
deutlich, dass der Zustand des großen Erwachens nicht zuletzt körperlich zu
verstehen ist. Sein Selbst zu meistern bedeutet, über das begrenzte, ängstliche
oder arrogante Ego hinauszugehen und den Bereich des unterscheidenden Denkens
und der materiellen Wahrnehmung zu überschreiten. Obgleich die erlernte
Intelligenz ursprünglich auch ein konfuzianisches Konzept ist, erweitert Dōgen
diesen Ansatz zum großen Erwachen nach buddhistischer Lehre und Praxis und
eröffnet eine völlig neue, umfassende Dimension. Es geht immer um die Einheit
von Körper-und-Geist und nicht um eine körperfreie Intelligenz wie bei
Konfuzius, die im unterscheidenden Denken verharrt und bei der das Lernen nicht
in Einheit mit der Physis des Menschen stattfindet. Im Buddhismus sind auch die
ethischen Aspekte wesentlich realitätsnäher und konkreter als im
Konfuzianismus, der vor allem auf formale Höflichkeit setzt und den Respekt vor
hierarchisch höhergestellten Personen betont. Im Buddhismus ist dagegen das
ethisch richtige Handeln im Augenblick entscheidend.[ix]
Herkunft und Rangordnung sind unwichtig, und die Anbiederung bei „Königen und
Ministern“ wird fundamental abgelehnt. Es geht allein um die Wahrheit.
Dann
behandelt Dōgen die Buddha-Weisheit,
die jenseits der angeborenen und erlernten Intelligenz sei und die Grenzen des
isolierten Ich übersteige:
„Diese Menschen der Buddha-Weisheit sind an diesem
Ort ohne Begrenzungen und frei von den Fesseln der subjektiven und objektiven
Intelligenz.“
Das
heißt, dass die auf ein Objekt bezogene Intelligenz niemals die ganze
Wirklichkeit umfasst. Auch subjektive Intelligenz bleibt im Dualismus hängen,
ist nur Teilstück der Realität und unterliegt der großen Gefahr der
narzisstischen, verzerrten Überhöhung, die sich mit quälenden
Kleinheitsgefühlen abwechselt. Oft ist ein völlig verängstigtes oder
aufgeblasenes Ego die Folge, beides führt zu Leiden oder sogar psychischen Krankheiten,
die in der heutigen Zeit erheblich zunehmen.[x]
Dōgen
spricht die Intelligenz und das Wissen als natürlichen Buddha-Zustand der
Menschen an. Diese Art beruht letztlich nicht auf den Unterweisungen eines
Lehrers, nicht auf den Schriften der Sūtras – so wichtig diese für den
Lernprozess im Allgemeinen sein mögen – und auch nicht auf der materiellen Form
der Welt (zum Beispiel in der Naturwissenschaft). Sie verneinen sich nicht
(Nihilismus) und bewerten keine Veränderungen bei sich selbst, denn sie leben im Augenblick. In gleichem Sinne
handeln sie mit anderen Menschen.
„Aber (immer) noch offenbaren sie die Gegenwart in
ganzer Kraft.“
Aus meiner Sicht skizziert Dōgen
hier einen Menschentyp, der fast als Idealtyp in buddhistischen Geschichten
dargestellt wird. Seine Art von Intelligenz ist der von Konfuzius beschriebenen
angeborenen Intelligenz zwar in gewissem Sinne ähnlich, aber es handelt sich
nicht um theoretische Intelligenz, sondern um die Einheit mit der Praxis. Dōgen
will solche Menschen auf keinen Fall ausschließen, weil sie ebenfalls das
Erwachen verwirklichen können, wenn sie sich auf den buddhistischen Weg
begeben. Er betont:
„Bei diesen verschiedenen Arten (der Menschen) sehen
wir nicht die eine als scharfsinnig und die zweite als dumpf.“
Alle
Menschen zeigen laut Dōgen lobenswertes und verdienstvolles Verhalten in
jeweils spezifischer Art und Weise. Die Unterscheidung nach Intelligenz,
Scharfsinn oder Beschränktheit ist für den höchsten Zustand des Erwachens zur
Wirklichkeit nicht maßgeblich. Fast provokativ fragt er dann:
„Welche Art von Wesen, empfindend oder
nicht-empfindend, könnte unfähig für dieses angeborene Wissen sein? Wir müssen
dies in der Praxis studieren.“
Damit
fordert er uns auf, den erwachten Zustand genau zu untersuchen und praktisch zu
verstehen, soweit dies möglich ist. Der Lernvorgang soll sich aber nicht von
der Wirklichkeit ablösen und in Theorien verfangen, sondern sich anhand des
konkreten Erfahrens und der Zazen-Praxis entwickeln und den höchsten Zustand
erreichen, der gerade natürlich ist.
„Wenn es angeborenes Wissen gibt, gibt es angeborene
Verwirklichung, angeborenes Erwachen, angeborene Erfahrung und Klarheit sowie
angeborenes (praktisches) Training.“
Alles was Dōgen hier als
angeboren bezeichnet, ist nach buddhistischer Lehre natürlich und mit der Natur
identisch. Das gilt also für Wissen, Intelligenz und Vernunft, die
Verwirklichung, das Erwachen usw. Er betont dabei das praktische Training, das
eine angeborene und natürliche Fähigkeit ist, die wir einsetzen können und
müssen, um unser Leiden zu überwinden und zur Freiheit von Körper-und-Geist zu
gelangen.
„Auf diese Weise wird der große buddhistische
Vorfahre im Dharma (Gautama Buddha), obgleich er schon der Führer der Menschen
ist, als (der Mensch des) angeborenen Erwachens gepriesen.“
Dōgen kommt zu dem Schluss,
dass Gautama Buddha, der als Erster die Befreiung von Leiden empirisch bei sich
selbst erarbeitet hatte, damit seine eigene Natur zur Verwirklichung gebracht
hat – als Modell und Vorbild für alle Menschen. Wir alle besitzen also von
Natur aus die angeborene Eigenschaft des Erwachens, aber es gibt auch
Selbsttäuschung und Täuschung.
Buddha selbst betonte, dass jeder Mensch die Erleuchtung erlangen kann,
ganz gleich, wie tief er in Illusionen, Unklarheiten und falsches Handeln verstrickt
ist. Es wird in diesem Zusammenhang sogar berichtet, dass sich ein ehemals
bösartiger Massenmörder nach der direkten Begegnung mit Gautama Buddha
entschloss, sein Leben vollständig zu ändern, sich der Sangha anschloss und
tatsächlich das große Erwachen verwirklichte.
„Wenn man mit dem Zustand des großen Erwachens
zufrieden geworden ist, kann dies als angeborene und natürliche Verwirklichung
bezeichnet werden.“
Die
dreifache konkrete ganzheitliche Welt der Wirklichkeit, die vier materiellen
Elemente sowie die vielen problematischen Geschehnisse, die Dōgen als
„Unkräuter“ bezeichnet, werden auf diese Weise verwirklicht und vorangebracht. In diesem Zusammenhang stehen auch das grundlegende
Kapitel „Das verwirklichte Leben und Universum“[xi]
sowie das Kapitel über die Leerheit und das Herz-Sūtra.[xii] Mit
den folgenden Sätzen beendet Dōgen den Abschnitt über die Fähigkeiten und
Eigenschaften der Menschen:
„Dadurch wird der Zustand des großen Erwachens frisch
und neu verwirklicht. JETZT ist die Zeit, die genau der Augenblick dieses
(Erwachens) ist.“
Jeder ist ein potenzieller Buddha
Zum
Thema Erwachen zitiert Dōgen nun den großen Meister Rinzai[xiii],
den er durchaus schätzte:
„Wenn wir im ganzen großen Königreich des Tang nach
jemandem suchen, der nicht erwacht ist, ist es schwer, einen einzigen Menschen
zu finden.“
Aus
Dōgens bisherigen Ausführungen haben wir entnommen, dass es langer Übung und
einiger Anstrengung bedarf, um das große Erwachen zu verwirklichen. Was
bedeutet nun diese Aussage Rinzais? Sind alle Menschen wirklich schon
erleuchtet? Sicher nicht. Nishijima Roshi erklärt dieses Kōan so, dass jeder
Mensch von Natur aus das Erwachen besitzt und eigentlich in der Wirklichkeit
ist, selbst wenn er sich dessen nicht bewusst ist und die Wahrheit noch nicht
erlangt hat. Jeder ist also ein „potenzieller“ Buddha. Und in diesem Sinne gibt
es auch keinen einzigen Menschen im großen Königreich des Tang, der nicht diese
Natur besitzt. Wer aufrichtig Zazen praktiziert und die Fähigkeit hat, im
Augenblick zu handeln, der ist gemäß seiner Natur ein Buddha. Dies ist der Kern
der buddhistischen Lehre und die Grundlage des Buddha-Dharma.
Laut
Dōgen muss man dabei Vorstellungen und Begriffe wie „das ganze Universum“ und
„Länder des Staubes“ überschreiten. Es geht um den konkreten Ort des Hier und
Jetzt eines Menschen, und wenn dieser verwirklicht ist, kann man tatsächlich
niemanden finden, der nicht erwacht ist.
Wie
im Kapitel über die Sein-Zeit[xiv]
macht Dōgen dann deutlich, dass ein Mensch auch im Augenblick des Gestern die
Buddha-Eigenschaft hatte. Damit wird die abgegrenzte subjektive Sicht des
Selbst überschritten. Das Selbst der Gegenwart im Hier und Jetzt bezeichnet er
als das objektive Selbst und meint damit, dass es direkt in der Wirklichkeit
lebt. Das heißt, dass es für jeden Menschen möglich ist, sowohl subjektiv als
auch objektiv in der Wirklichkeit des Buddhas und der Buddha-Natur zu leben.
Nicht ein einziger Mensch ist davon ausgeschlossen.
Aber
Dōgen gibt sich mit dem Zitat von Meister Rinzai nicht zufrieden und fragt ihn,
ob er weiß, dass es auch schwer ist, einen Menschen zu finden, der wirklich erwacht ist. Meister Rinzai
müsste dann viel genauer untersuchen, was es bedeutet, erwacht oder nicht
erwacht zu sein.
Dies scheint ein Widerspruch
zur obigen Aussage von Meister Rinzai zu sein. Ich interpretiere das so: Dōgen
möchte noch einmal klarstellen, dass das Potenzial zur Buddha-Wahrheit in jedem
Menschen noch nicht bedeutet, dass diese Wahrheit auch verwirklicht ist. Wie er
vielfach betont, bedarf es dazu der Anstrengung und der Praxis. Sonst handelt
es sich um Theorie, Hoffnung, Spekulation oder Einbildung, aber nicht um die
Wirklichkeit. Das Potenzial ist noch nicht die Verwirklichung im Hier und
Jetzt! Er fährt fort:
„Aber hast du (Rinzai) jemals einen halben Menschen
getroffen, der jenseits des Erwachens ist und dessen Gesicht, Augen und
entspannter Ausdruck beeindruckend und königlich sind?“
Als halber Mensch wird im Shōbōgenzō oft derjenige bezeichnet, der
alle Illusionen und Täuschungen abgeworfen und daher alles Überflüssige
überwunden hat. Ein solcher Mensch ist nach Dōgens Überzeugung in der konkreten
Realität und lebendig, nachdem er sich verwirklicht hat. Deshalb hat er ein
entspanntes, freundliches Gesicht und klare Augen. Aufgrund seiner natürlichen
Ausstrahlung übt er eine starke positive Wirkung auf andere aus und ist
spirituell „majestätisch“.
Dōgen kommt noch einmal auf
die Frage zu sprechen, ob es schwierig ist, einen erwachten Menschen zu finden,
oder nicht:
„Ist
es schwierig, ist es nicht schwierig? Wenn wir mit diesen Augen ausgerüstet
sind, können wir als Vorfahren im Dharma bestätigt werden, welche die (große)
Zufriedenheit erfahren.“
Damit zeigt er zusätzliche
Dimensionen auf und möchte verhindern, dass wir uns mit einer schnellen
Erklärung und Antwort zufriedengeben und die Notwendigkeit der Praxis
vernachlässigen. Und in der Tat sind große erwachte Vorfahren im Dharma, die Dōgen
als ewige Buddhas bezeichnet, nicht häufig anzutreffen. Außerdem stellt sich
die Frage, wie man diese erkennen kann, denn in einem anderen Kapitel des Shōbōgenzō heißt es: „Nur die Buddhas
und großen Meister sind in der Lage, die Buddhas und großen Meister zu
erkennen.“[xv]
Zweifellos ist bei Dōgen
eine gewisse Kritik an Meister Rinzai zu erkennen. Es wird berichtet, dass
dieser erhebliche Probleme hatte, aus seiner hochintellektuellen Fähigkeit zur
Theorie in die lebendige Praxis der Wirklichkeit zu gelangen. Als er jung war,
wird er vermutlich wegen seiner überragenden Intelligenz und Kenntnis der
buddhistischen Lehre zur Arroganz geneigt haben, die er nur recht mühsam und
mit erheblicher Steuerung und Stockschlägen(!) durch seinen Meister ablegen
konnte. Besonders eindrucksvoll sind mehrere übermittelte Dialoge mit Meister
Fuke, der eher ein „verrückter Heiliger“ war und in einem fundamentalen
Gegensatz zu der theoretischen Ausrichtung Meister Rinzais stand. Fuke war
allem spitzfindigen und selbstgefälligen Philosophieren grundsätzlich abgeneigt
und handelte spontan und oft in verblüffender oder sogar schockierender Weise.
Er hat in der buddhistischen Geschichte eine große Bedeutung und gilt als
Modell des „Glücklichen Buddhas“.
Mit dem Zitat von Meister Rinzai
und seiner eigenen Interpretation hat Dōgen die Basis für das zentrale Thema
der Verwirklichung und Erleuchtung gelegt. Im Folgenden geht es um die Frage,
was passiert, wenn ein Mensch wieder aus der Wirklichkeit herausfällt und zum
Beispiel erneut in Illusionen und Täuschungen versinkt.
Rückfall aus dem Erwachen
Dōgen zitiert dazu den großen Meister Kegon[xvi],
den ein Mönch fragte, was denn geschähe, wenn jemand im „Zustand der großen
Verwirklichung wieder in die Täuschung zurückkehrt“. Der Meister antwortete:
„Ein zerbrochener Spiegel reflektiert nicht wieder.
Heruntergefallene Blüten können nicht mehr auf die Bäume zurückklettern.“
In diesen Sätzen kommt zum Ausdruck, dass man das Erwachen nicht als
bleibende Eigenschaft ansehen kann, die man erwirbt und dann sein ganzes Leben
lang behält. Vielmehr kann sich dies von einem Augenblick zum anderen ändern;
alles wird durch das jeweilige klare Handeln von Körper und Geist bestimmt.
Wenn der Spiegel einmal zerbrochen ist, hat es wenig Sinn, lange darüber
nachzudenken oder zu trauern, wie gut er reflektiert hatte und wie schön er im
früheren Zustand gewesen ist, als er noch unversehrt war. Denn jetzt in der
Gegenwart ist er zerbrochen, alles andere sind nur Erinnerungen und
Bewertungen, die im Denken und im Bewusstsein auftauchen, denen aber keine Qualität
der Wirklichkeit mehr zukommt. Wenn die Blüten von einem Baum, wie zum Beispiel
einem Kirschbaum, heruntergefallen sind, nützt es Dōgen zufolge ebenfalls
nichts, sich traurig oder romantisch vorzustellen, dass sie wieder oben auf den
Ästen sitzen, und es ist noch unsinniger, sie dort wieder anheften zu wollen.
Die Tatsachen und die Wirklichkeit bestehen im Hier und Jetzt und haben so
ihren eigenen Platz in der Welt und im Universum, und zwar genau so, wie sie
gegenwärtig sind – nicht mehr und nicht weniger. Bei der Erleuchtung kommt es
nur auf den jetzigen Augenblick an, sie ist kein dauerhafter, unveränderlicher
Zustand.
Es ist auch wenig sinnvoll zu behaupten, im großen Erwachen gebe es
keine Augenblicke der Illusion und Täuschung. Denn Klarheit, Reife und Reinheit
können immer noch weiter entwickelt werden, und die buddhistische Übungspraxis
sollte während des ganzen Lebens fortgeführt werden. Dōgen fordert uns auf,
dass wir uns sehr gründlich mit verschiedenen Fragen und Möglichkeiten der
Verwirklichung und des Erwachens beschäftigen, zum Beispiel mit dem Thema, dass
ein Erwachter wieder in die Täuschung zurückfällt. Möglicherweise erkennt ein
solcher Mensch dadurch aber umso klarer, was Täuschung ist, und kann anderen
umso besser als Lehrer und Therapeut helfen, damit sie aus Selbstlügen,
Verdrängungen und Illusionen herausfinden. Wie häufig verwechseln wir in
unserem Alltag den äußeren Anschein mit der Wirklichkeit!
Dann greift Dōgen die damalige Diskussion über das Wesen der
Verwirklichung auf:
„Ein Mensch im Zustand der großen Verwirklichung
besitzt weder eine ihm innewohnende große Verwirklichung, noch ergreift er eine
große Verwirklichung, die außerhalb von ihm realisiert wurde.“
Es
gab damals zwei verschiedene theoretische Standpunkte. Der eine beinhaltete,
dass es im Menschen ein innewohnendes Erwachen gibt, das sich dann sozusagen
befreit und öffnen kann. Diese Vorstellung kommt einer innewohnenden
Buddha-Natur sehr nahe, die Dōgen in dem Kapitel Busshō[xvii]
eingehend behandelt. Die andere theoretische Vorstellung bestand darin, dass
der bisher nicht erwachte Mensch sozusagen das Erwachen ergreift, das es
außerhalb von ihm schon immer gab; er macht sich dieses zu eigen, sodass er selbst
das Erwachen besitzt.
Dōgen
lehnt beide Standpunkte als zu theoretisch ab, denn das Erwachen wird bei der
Zazen-Praxis in der Einheit von Körper-und-Geist erfahren, wobei das
unterscheidende und theoretisierende Denken aufgelöst oder – wie Dōgen es ausdrückt
– fallen gelassen wird. Er hatte selbst mit dieser kontroversen Sichtweise
schwer zu kämpfen, als er in der Tendai-Linie als junger Mönch ins Kloster
eingetreten war. Trotz seines brillanten Verstandes konnte er diese Frage
theoretisch nicht beantworten. Erst seine Erfahrungen in China im Zusammenhang
mit dem Zazen und dem Tun im Augenblick löste diese scheinbar unlösbare Frage
auf und ließ sie ganz unwichtig werden.
Es sei unsinnig anzunehmen,
dass ein Mensch in früheren Zeiten der großen Verwirklichung begegnet sei, die
allgemein und öffentlich vorhanden war und die es schon immer gegeben hat,
erklärt Dōgen. Die Erleuchtung wäre in diesem Fall wie ein Ding zu verstehen,
das in der Welt vorhanden ist, dem man durch irgendwelche Umstände begegnet und
das man sich dann gewissermaßen aneignet. Eine romantische Verklärung der
buddhistischen Vergangenheit hilft uns nicht weiter. Auch bringen die Erwachten
„(die Verwirklichung) nicht willentlich aus sich selbst hervor, und doch haben
sie die große Verwirklichung zweifellos realisiert.“ Damit unterstreicht Dōgen,
dass das Erwachen – trotz der Unzulänglichkeit der rein theoretischen
Diskussion und des Willens zum Erwachen – als Wirklichkeit real existiert und
im Augenblick erfahren wird.
Er
fügt hinzu, dass es auch nicht schon das große Erwachen ist, wenn man „nicht in
Täuschung ist“. Damit setzt er das Tun und Handeln des Erwachens im Augenblick
noch einmal deutlich ab von dem manchmal eher geistig verstandenen Zustand der
Befreiung von der Täuschung. Erwachen und Verwirklichung sind unauflösbar mit
dem Handeln verbunden und überschreiten insofern die Dimension von Täuschung
oder Nicht-Täuschung.
„Die
Menschen der großen Verwirklichung realisieren noch die große Verwirklichung.
(Aber auch) die Menschen der großen Täuschung realisieren noch die große
Verwirklichung.“
Dies scheint ein eklatanter
Widerspruch in sich zu sein. Denn bei einfacher Betrachtung könnte man sagen,
dass man entweder in der Verwirklichung oder in der Täuschung ist, und die
Täuschung kann nicht gleichzeitig die Verwirklichung sein. Ich interpretiere
diese Aussage jedoch so: Eigentlich gibt es keine absolut sichere
Unterscheidung des Zustandes der Verwirklichung und desjenigen der Täuschung.
Oder etwas anders ausgedrückt: Es bedarf der besonderen Klarheit in der
Verwirklichung, um überhaupt zu erkennen, was Täuschung ist. Sicher täuschen
selbsternannte Meister die Erleuchtung und das Erwachen sich selbst und anderen
vor, etwa um ihre Schüler zu beeindrucken und von sich abhängig zu machen. Brad
Warner schreibt zum Beispiel, dass es in den USA eine äußerst beliebte Frage an
den Lehrer ist, ob er wirklich voll erleuchtet ist oder nicht.[xviii]
Auf diese Weise soll er geprüft werden, und wenn er diese Prüfung nicht
besteht, wird er als Meister abgelehnt. Brad Warner betont, dass er auf eine
solche sinnlose Frage konsequent antwortet, dass er nicht erleuchtet sei. Ist
es denn wirklich so wichtig, ob man einmal ein sogenanntes Erleuchtungserlebnis
gehabt hat? Was sagt das über das Handeln und Verhalten eines Menschen anderen
gegenüber wirklich aus?
Aber
zurück zu Dōgen: „Wenn es einen Menschen in der
großen Verwirklichung gibt, gibt es entsprechend einen Buddha in der großen
Verwirklichung“, stellt er fest, und es gebe Erde, Wasser, Feuer, Wind und
Luft, die alle im Zustand der Verwirklichung und des Erwachens seien. Durch
diese für den Zen-Buddhismus charakteristische Lehre wird das Erwachen aus der
psychisch-geistigen Isolation befreit und zur umfassenden Wirklichkeit
erweitert. Sie ist gleichzeitig Buddha und die Einheit mit den materiellen
Elementen Erde, Wasser, Feuer, Wind und Luft, also der Wirklichkeit des Hier
und Jetzt. Dōgen lehnt die Vorstellung ab, dass ein in Täuschung lebender
Mensch versucht, die Samen für das große Erwachen bewusst zu säen, um in diesen
„anderen, ganz besonderen Zustand“ zu kommen. Dies widerspräche dem zentralen
Ansatz, dass beim Zazen die Einheit von Praxis und Erwachen als Wirklichkeit
vorhanden ist und nicht zeitlich voneinander getrennt werden kann. Es würde dem
falschen Modell entsprechen, dass man bei der Praxis zunächst den Samen sät,
aus dem man später das Erwachen ernten kann. Die Einheit von erster Erleuchtung
und Praxis wäre damit zerstört.
Nun
kommt Dōgen wieder auf die Frage zurück, was
passiert, wenn jemand nach dem Erwachen erneut in die Täuschung zurückfällt.
Diese Überlegung ist zweifellos von größter Bedeutung. Ich kenne mehrere
Buddhisten, die zunächst eine große Klarheit in der Lehre und Praxis erkennen
lassen und sich dann fast unmerklich in Ideologien und Vorteilsdenken
verrennen. Dadurch klafft eine tragische Lücke zwischen der buddhistischen
Lehre und dem Selbstverständnis einerseits und dem realen Handeln andererseits.
Das Erstaunliche dabei ist, dass sich diese Menschen dessen oft gar nicht
bewusst sind. Man hat wirklich das Gefühl, dass ihr Geist aus „zwei Personen“
besteht, die keine Wechselwirkung miteinander haben. Die Selbsterkenntnis über
die wahren Motive und die Wirklichkeit des eigenen Handelns verschwindet bei
ihnen immer mehr. Besonders isoliert lebende Menschen sind in Gefahr, sich so
zu entwickeln. Wie Wilber und andere Autoren[xix]
belegen, kommt es vor allem bei Sekten häufig zu diesem fatalen Phänomen, weil
unterwürfige Schüler den Lehrer und Meister wirklichkeitsfremd idealisieren und
dieser schließlich die auf ihn projizierten Idealisierungen annimmt und selbst
daran glaubt. Diese Entwicklung schadet sowohl dem Lehrer als auch den Schülern
erheblich. Sie treiben sich in eine Sackgasse, die nicht leicht zu erkennen und
aus der noch schwerer zu entkommen ist.
Vor allem für Menschen in
Ostasien ist es auch heute noch keineswegs selbstverständlich, kritisch
nachzuhaken. Wer Fragen an einen Lehrer stellt, gerät in Gefahr, den Verdacht
der Illoyalität auf sich zu ziehen. Einige Lehrer neigen bei öffentlichen
Veranstaltungen dazu, die treu ergebenen Schüler zu bitten, nur „artige“ Fragen
zu stellen, damit die Kritiker nicht zu Wort kommen oder die Oberhand in der
Diskussion gewinnen. Dies mag eine häufige Taktik bei politischen Diskussionen
sein, ist aber meines Erachtens für Vorträge und Diskussionen in buddhistischen
Gruppen völlig ungeeignet. Nishijima Roshi freute sich zum Beispiel über
spitzfindige oder kritische Fragen, bei denen er den sachlichen Teil
beantwortete, ohne sich von Polemiken nur im Mindesten beeinflussen zu lassen.
Auch die alten Meister und Dōgen schätzten Fragen außerordentlich. So hielt
Dōgen nichts davon, dass Schüler gläubig die buddhistische Lehre annehmen, ohne
darüber zu reflektieren und ohne durch Fragen und Dialoge tiefer in die Themen
des Buddha-Dharma einzudringen.
Als Nächstes fordert uns
Dōgen auf zu überlegen, ob ein Mensch, der aus dem Zustand der großen
Verwirklichung in die Täuschung zurückkehrt, „derselbe ist wie ein Mensch, der
sich (noch) im nicht-erleuchteten Zustand befindet“, also niemals in der
Verwirklichung war. Meines Erachtens kann man diese Frage eindeutig mit Nein
beantworten. Denn wer einmal die Klarheit des Handelns in der Wirklichkeit
erfahren hat und danach für eine kürzere oder längere Zeit aus dem Zustand des
Erwachens wieder herausfällt, der hat einen anderen praktischen
Erfahrungshintergrund als jemand, der nur über Erleuchtung nachgedacht hat, den
Zustand selbst aber nicht kennt. Zumindest hat er die Erinnerung an jene
erfüllte Zeit. Vielleicht können nach einem solchen Rückfall sogar größere
Kräfte und Energien mobilisiert werden, die den wenig erfreulichen und unklaren
Zustand wieder beenden. Mithilfe der Zazen-Praxis ist das möglich, denn durch
sie tritt laut Nishijima sofort die erste Erleuchtung ein, unabhängig davon,
was vorher gedacht oder gefühlt wurde.
Dōgen
untersucht verschiedene Alternativen, wie jemand aus dem großen Erwachen wieder
in die Täuschungen und Illusionen zurückfällt:
„Oder nimmt ein Mensch im Zustand der großen
Verwirklichung trotzdem an der Rückkehr zur Täuschung teil, während er ein ganzer
Mensch bleibt und die große Verwirklichung nicht zerbricht?“
Das
würde ebenfalls voraussetzen, dass die große Verwirklichung ein dauerhafter
Zustand ist, der auch dann unverändert anhält, wenn der Mensch in den Zustand
der Illusionen und Täuschungen zurückfällt. Dies könnte zum Beispiel geschehen,
wenn jemand zeitweilig in Träumereien und Unklarheiten abgleitet.[xx] Wenn
wir davon ausgehen, dass es überhaupt nicht einfach ist zu unterscheiden, ob
jemand in Täuschungen oder in der Verwirklichung lebt, kann es auch sein, dass
ein erneuter Zustand der Täuschungen sogar einen neuen Schritt beim Erwachen
einleitet.
„Wir
müssen (diese Fragen) eine nach der anderen meistern“, so Dōgens Aufforderung.
Er rät uns also keinesfalls, diesen wichtigen Fragen und deren vielleicht
unbequemen Antworten auszuweichen, sondern ganz im Gegenteil, dass wir bei
aller Begrenztheit unseres Denkens und unserer sprachlichen Fähigkeiten eine
möglichst große Klarheit erzielen. Er hält es aber für notwendig, dass wir eine
abstrakte Diskussion vermeiden und uns in sehr konkreten Überlegungen bewegen,
um dem Problem möglichst nahe zu kommen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass es
die Wirklichkeit des erwachten Zustandes gibt, aber ebenso die Realität, wieder
in die Täuschung zu fallen. Dies kann auch häufiger im Laufe des Lebens
geschehen:
„Wir sollten wissen, dass es das große Erwachen gibt,
das es zu einer vertrauten Erfahrung macht, wenn wir zur Täuschung
zurückkehren.“
Allerdings
muss zunächst tatsächlich ein Zustand des erwachten Handelns vorhanden gewesen
sein. Wenn wir zum Beispiel einen Räuber als ein Kind ansehen, bleibt dieser
dennoch ein Räuber, der nicht erwacht ist und daher auch nicht in die Täuschung
zurückfallen kann. Es gilt auch das Umgekehrte, dass ein Kind nicht deshalb in
die Täuschung zurückfällt, nur weil wir es als Räuber wahrnehmen. Dabei wird
hier unterstellt, dass das Kind im erwachten Zustand lebt. Nishijima und Cross[xxi]
sehen das Kind in diesem Zusammenhang als Symbol für die Schüler Buddhas, den
Räuber dagegen als Feind des Buddha-Dharma. Das heißt, dass bei der Frage nach
Erwachen oder Täuschung nicht der Anschein maßgeblich ist, sondern der
wirkliche Zustand im Augenblick.
„Es mag das große Erwachen sein, den Räuber als
Räuber zu erkennen, und die Rückkehr zur Täuschung, wenn wir (die Wirklichkeit)
eines Kindes (nur) als den (Begriff) des Kindes verstehen.“
Wir
müssen uns also auch der Wirklichkeit eines Räubers in aller Klarheit stellen,
und das ist genau durch die Verwirklichung möglich. Und nach buddhistischem Verständnis
geht zum Beispiel ein Kind bei umfassender Sichtweise weit über das hinaus, was
wir unter dem Begriff „Kind“ verstehen. Es kann mit unserem unterscheidenden
Verstand nicht vollständig begriffen werden. Der Begriff kann immer nur ein
Hinweis auf die Wirklichkeit geben, ist aber niemals die Wirklichkeit selbst.
„Wir sehen die große Verwirklichung so an, dass im
Zustand des Überflusses Weniges hinzugefügt wird. Wenn (aber) Weniges im
Zustand der Knappheit weggenommen wird, dann ist dies die Rückkehr zur
Täuschung.“
Damit
meint Dōgen, dass ein Mensch, der bereits ein erfülltes Leben hat, der
sozusagen spirituell im Überfluss lebt, noch ein wenig hinzufügt, wenn er in
der großen Wirklichkeit ist. Wenn jemand jedoch bereits ein karges und
spirituell verarmtes Leben führt und davon noch etwas weggenommen wird, dann
ist dies die Täuschung und Illusion. Die wirklich klare Erkenntnis darüber,
wann ein Mensch in die Täuschung zurückfällt, ist ganz wesentlich für das
Erwachen. Wenn wir dieses Erwachen selbst verwirklicht haben, führt das vielleicht
auch den anderen aus der Täuschung heraus, denn bei der Verwirklichung gibt es
die gewöhnliche individualistische Abgrenzung zwischen Ich und Du nicht. Sie
ist jedoch typisch für den Zustand in der Täuschung, in dem die Dualität
vorherrscht und zementiert ist.
Dazu
stellt Dōgen folgende Frage: „Ist das Selbst jetzt dabei, zur Täuschung
zurückzukehren? Ist es jenseits der Täuschung?“ An anderer Stelle verdeutlicht
er, dass das Selbst nicht mit dem abgegrenzten Ich zu verwechseln ist. Wenn
sich also das offene Selbst zu einem Ich-zentrierten Ego isoliert, kann man das
mit der Täuschung gleichsetzen. In diesem Augenblick fällt der Mensch aus der
Wirklichkeit wieder in die Täuschung zurück. Das in diesem Sinne offene Selbst
überschreitet die Täuschung und wird zum Beispiel beim Bodhisattva-Handeln
genau im Augenblick realisiert.[xxii]
Nun
knüpft Dōgen noch einmal an die zu Beginn des Abschnitts zitierte Aussage von
Meister Kegon an – „Ein zerbrochener Spiegel
reflektiert nicht wieder“ – und betont, dass Gedanken darüber, welche
Eigenschaften der Spiegel hatte, als er noch nicht zerbrochen war, wenig Sinn
machen. Insbesondere sollen wir uns nicht an den Worten „zerbrochener Spiegel“ festhalten, denn von Bedeutung ist
genau der Augenblick, in dem der
Spiegel zerbricht. Welchen Zustand haben Körper und Geist im gegenwärtigen
Augenblick, wenn jemand aus dem großen Erwachen durch sein Handeln in Täuschung
und Illusionen fällt?
„Heruntergefallene Blüten sind genau
heruntergefallene Blüten, auch wenn sie sich zur Spitze eines Mastes von
einhundert Fuß hoch bewegen, sind sie immer noch heruntergefallene Blüten.“
Dōgen
schildert hier die Wirklichkeit des Augenblicks, bei dem die gedachte
Vergangenheit und die erwartete Zukunft völlig bedeutungslos sind. Dasselbe
gilt für den zerbrochenen Spiegel. Überlegungen sind dann nur isolierte
Aktivitäten des Verstandes, aber sie sind nicht der wirkliche, reflektierende
Spiegel. Wenn er zerbrochen ist, reflektiert er genau in diesem Augenblick
nicht, oder der Mensch lebt dann nicht in der Wirklichkeit. Auch Überlegungen
oder Sorgen über die Zukunft – um im Bild zu bleiben: ob man den Spiegel
reparieren kann oder nicht – haben dabei keine Bedeutung. Dem entspräche die
Hoffnung auf eine erneute Verwirklichung. Genau den Augenblick, wenn der
Spiegel zerbricht, spricht Meister Kegon an, und Dōgen
zieht diesen Augenblick heran, um zu erklären, was passiert, wenn jemand
aus der großen Verwirklichung in die Täuschung fällt. Es geht nicht darum, das
große wirkliche Erwachen von vorher darzustellen, und es geht nicht darum, den
späteren Zustand der Täuschung zu beschreiben. Nur genau der Augenblick des
Zerbrechens selbst ist hier für Dōgen wichtig.
Genau
in diesen Augenblick sollen wir uns hineinversetzen und ihn wirklich praktisch
erfahren. Dadurch kommen wir aus abstrakten Überlegungen heraus, die meistens
nicht in der Lage sind, die Wirklichkeit angemessen zu beschreiben. „Wir
sollten den Augenblick in der Erfahrung erfassen, der die Zeit ist, wenn ein
Mensch im Zustand der großen Verwirklichung zur Täuschung zurückkehrt“, fasst
Dōgen zusammen.
Es
handle sich um den Augenblick, der dem Zustand ähnlich sei, „ein Buddha
geworden zu sein. In den Zustand der Täuschung zurückzukehren, ist (dem Zustand
der) gewöhnlichen Wesen ähnlich“. Im Augenblick gibt es keinen zeitlichen
Prozess, der zum Beispiel das Zurückfallen in die Täuschung beschreibt. Auch
frühere Zustände der Verwirklichung und ihre übrig gebliebenen „Spuren“ können
den Augenblick, um den es hier geht, nicht erfassen.
Dōgen zählt dann einige
unzutreffende Formulierungen seiner Zeit über die Erleuchtung auf. Man sprach
zum Beispiel davon, dass „der große Zustand der Erleuchtung bricht“, dass sie
„verloren wurde“ oder dass „die Täuschung kommt“. Diesen Wendungen liegt eine
dinghafte Weltanschauung zugrunde, in der Erleuchtung und Täuschung wie
unveränderte, abgegrenzte Entitäten verstanden werden. Demnach würde die
Erleuchtung oder Täuschung als statischer Zustand entweder ein- oder
ausgeschaltet. Eine solche abstrakte Denk- und Redeweise kann den wirklichen
handelnden Zustand im Augenblick nicht erfassen.
„Wahrhaftig,
große Verwirklichung ist grenzenlos, und zur Täuschung zurückzukehren ist
grenzenlos.“ Auch damit will Dōgen ausdrücken, dass wir uns beides nicht
dinghaft und abgegrenzt vorstellen sollen. Es sind jeweils Zustände im
Augenblick, bei denen zeitliche und räumliche Grenzen keine Bedeutung haben,
wenn wir sie ganz genau erfahren und erforschen. Sie behindern sich auch nicht
gegenseitig in dem Sinne, dass die Täuschung das Erwachen verhindert, weil es
selbst genau so existiert, wie es ist.
„Wir haben drei Augenblicke des großen Erwachens
vorangebracht und erzeugen einen halben Augenblick der kleinen Täuschung.“
Was
heißt das? Nishijima und Cross[xxiii]
vergleichen diese Situation damit, dass wir in den drei genannten Augenblicken
gutes Essen für andere zubereitet haben und im Zustand der Verwirklichung
waren. Wenn wir dabei Alkohol trinken, mindert das jedoch unsere Klarheit,
sodass wir teilweise „einen halben Augenblick“ in der „kleinen“ Täuschung sind.
Dōgen beleuchtet hier ganz genau die einzelne Situation und hält sich von
Generalisierungen fern. Das ist von größter Bedeutung, denn nur wenn man
sorgfältig und sogar nüchtern beobachtet, analysiert und auch die Täuschung an
sich selbst erfährt, kann man Zugang zur Wirklichkeit finden.
Das Erwachen und die Sein-Zeit
Die verwirklichten
Schneeberge seien wirklich Schneeberge; das Gleiche gelte für die Bäume und
Steine der Buddhas. Dōgen knüpft mit dieser Aussage an das Kapitel Genjō-kōan sowie das Kapitel über die
Natur und deren Einheit mit den wirklichen Menschen an.[xxiv]
„Die
große Verwirklichung der Lebewesen ist das große Realisieren der großen
Verwirklichung der Buddhas: Es kann nicht in Beziehung zum (zeitlichen) Vorher
und Nachher sein.“
Die lineare Zeit kann also
existenzielle Zustände wie die Erleuchtung oder Täuschung überhaupt nicht
erfassen. Zeitstrecken und zeitliche Prozesse können gedacht werden und mögen
für bestimmte organisatorische und materielle Aufgaben im Leben ihre begrenzte
Bedeutung haben, sind aber für spirituelle und psychische Existenzfragen viel
zu ungenau und meistens irreführend.[xxv]
Eine dualistische
Unterscheidung zwischen dem Ich und den Anderen ist ebenfalls für die
Verwirklichung ungeeignet. Durch dualistische Bewertungen entstehen immer
wieder unnötige Konflikte mit katastrophalen Folgen. Man denke nur an den
deutschen Rassenwahn und zwei verheerende Weltkriege. Das Erwachen aber ist in
der Lage, „Gräben zuzuschütten und Täler aufzufüllen“. Damit sind wohl vor
allem die trennenden Gräben zwischen den Menschen, Kulturen, Völkern oder auch
einzelnen Gruppen gemeint. Die Wirklichkeit und das Erwachen verhindern völlig
überflüssige Probleme und furchtbare Leiden der Menschen.
„(Die
Verwirklichung) geht nicht (fort). Zur gleichen Zeit lehnen wir in aller
Schärfe ein Streben ab, das externen Objekten (und nicht dem wahren Selbst
blind) folgt. Warum ist das so? (Weil) wir den (wahren) Dingen (des großen
Gesetzes) vollständig folgen.“
Der Beginn des Zitats
verneint das Kommen und Gehen der Verwirklichung, als ob es sich um eine Sache
oder Person handeln würde. Abhängigkeiten von äußeren Umständen und vor allem
von materiellen externen Objekten werden durch die Verwirklichung überwunden.
Die Verführung zum Konsum überflüssiger Produkte ist dann zum Beispiel
ausgeschlossen. Der letzte Satz beschreibt, dass sich der Mensch im
harmonischen Einklang mit seiner Umgebung, anderen Menschen, dem Universum
sowie dem großen Rhythmus befindet und dem Gesetz der Wirklichkeit folgt.
Dann zitiert Dōgen den
Dialog zwischen dem großen alten Meister Kyozan und einem Mönch:
Der Mönch fragte: „Stützt sich auch ein Mensch des
gegenwärtigen Augenblicks auf die Verwirklichung oder nicht?“
Kyozan antwortete: „Die Verwirklichung existiert
(zweifellos), aber wie kann sie (uns) davor bewahren und helfen, dass wir nicht
in das (unterscheidende) zweite Bewusstsein fallen?“
Wenn man ganz im Hier und Jetzt lebt, also in der wirklichen Sein-Zeit,
ist man bereits in der Wirklichkeit und Wahrheit angekommen, man ist erwacht
und erlebt die erste oder zweite Erleuchtung. Man ist dann nicht durch das
Denken auf vergangene Zeiten fixiert und verliert sich nicht in Spekulationen
über die Zukunft. Der Mensch des Jetzt lebt also in der Wirklichkeit: im Handeln,
Denken, Wahrnehmen, Reden und Empfinden.
Die Frage des Mönchs kann also nicht nur mit einem einfachen Ja beantwortet
werden. Der Meister bestätigt zwar, dass die Verwirklichung existiert und auch
für den Menschen des Jetzt gilt, aber er sieht dennoch die Gefahr, dass man in
das unterscheidende und bewertende Denken zurückfällt und sich damit das
Bewusstsein in ein Subjekt und ein Objekt spalten könnte, also eine Trennung
des Ich von Anderen und vom Universum auftreten würde. Der Meister stellt die
Gegenfrage, wie die Verwirklichung helfen kann, nicht in eine solche Spaltung
und Täuschung zu fallen.
Diese sind im Leben der Menschen häufig die Ursache für Leiden,
Missverständnisse, Empfindlichkeiten, Verletzungen und Aggressionen. In solchen
Augenblicken betrachtet man dann den anderen als Feind und unterstellt ihm böse
Absichten, was wiederum bei ihm negative Emotionen und Reaktionen hervorruft.
Das abgespaltene „zweite Bewusstsein“, wie es in dem Zitat heißt, kann also
bewirken, dass wir aus der buddhistischen Wirklichkeit herausfallen, es sei
denn, wir erkennen dies in aller Klarheit und praktizieren entsprechend, wenn
möglich mit der Hilfe eines vertrauenswürdigen Lehrers oder Freundes. Dann
können wir uns durch wahres buddhistisches Handeln und zum Beispiel durch Zazen
oder die Himmlischen Verweilungen[xxvi]
befreien. So entlasten wir unseren Geist von den Hemmnissen auf dem Weg des
Buddha-Dharma. Wenn dies nicht gelingt, ist uns die intuitive buddhistische
Weisheit verloren gegangen, und wir können nicht mehr unmittelbar ethisch
handeln.
„Der gegenwärtige
Augenblick, von dem (der Meister) redet, ist das Jetzt jedes Menschen“, sagt
Dōgen. Die Bedeutung des wirklichen Augenblicks arbeitet er im Shōbōgenzō im Kapitel „Die Sein-Zeit der
Wirklichkeit im Hier und Jetzt“[xxvii]
in geradezu revolutionärer Weise heraus und weist den Augenblick als Grundlage
des buddhistischen Handelns und Denkens aus. Mir ist im Westen keine
philosophische Ausarbeitung zum gegenwärtigen Augenblick der Existenz des
Menschen bekannt, die den tiefgründigen Ausführungen Dōgens gleichkommt.
Heideggers Werk Sein und Zeit[xxviii]
erreicht meines Erachtens in dieser Hinsicht weder die Eindeutigkeit und
Klarheit noch die Vielschichtigkeit des Zen-Buddhismus in Dōgens Shōbōgenzō.
Die Zusammenhänge, die unser
Denken über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzeugen, ereignen sich
aber genau im Augenblick. Insofern ist der Denkvorgang
gegenwärtiges Handeln im Augenblick, aber nicht der Inhalt des Denkens. Der Inhalt des Denkens mag dabei erheblich von
der Wirklichkeit des Augenblicks in der Vergangenheit und Zukunft abweichen.
Zum Beispiel kann die Erwartung oder gar Spekulation über die Zukunft niemals
die Wirklichkeit sein, weil der Augenblick der Zukunft noch nicht gekommen ist.
„Der Zustand jedes Menschen
ist unausweichlich der gegenwärtige Augenblick.“ Dabei können das Sehen und
Schauen – oder, wie es bei Dōgen heißt, „die Augen“ – der wahre Augenblick
sein. Das Gleiche gilt für die „Nüstern“, die oft das Symbol des Ein- und
Ausatmens und wie im alten Indien damit des
Lebens selbst sind.
Das Wandern zwischen Erwachen und dualistischem
Denken
Ob wir uns im Handeln und Denken tatsächlich auf das Erwachen stützen,
sollen wir nach Dōgen gründlich und ruhig mit ganzem Herzen und im Geist prüfen
und uns darüber Klarheit verschaffen, soweit das irgend möglich ist.
Mit oberflächlichen und
eingebildeten Mönchen, die er als Kahlköpfe im großen Königreich des Sung
bezeichnet, geht er hart ins Gericht, wenn sie sich dabei gefallen zu sagen:
„Es ist das ursprüngliche Ziel, die Wahrheit zu verwirklichen“, aber überhaupt
nicht praktizieren und sich nicht anstrengen. Er erklärt, dass sie allein durch
Reden nicht weiterkommen und vergeblich auf die Verwirklichung warten, wenn sie
sich nicht um ein vertieftes Verständnis des Buddha-Dharma sowie um ehrliche
und intensive Praxis bemühen. Und sie könnten nicht einmal Befreiung und
Verwirklichung erfahren, wenn sie Gautama Buddha persönlich begegnet wären.
„Ihre
Trägheit führt auch dazu, dass sie sich nicht um einen guten, erfahrenen Lehrer
kümmern, sondern selbstgerecht oder dumpf ihre Zeit im Kloster absitzen.“
Dōgen zitiert dann eine berühmte Frage Daikan Enōs: „Stützen wir uns auf
die Verwirklichung oder nicht?“ Es geht hier nicht um die „Existenz der
Verwirklichung“ als Idee, Glaube oder Wort, und insofern ist es ziemlich
unwichtig, ob wir sie postulieren oder ablehnen, denn die Verwirklichung kann
mit dem Begriff „Existenz“ oder „Nicht-Existenz“ allein keinesfalls angemessen
erfasst werden. Es geht um die Verwirklichung selbst, auf die wir uns im
Buddhismus tatsächlich stützen.
Aber laut Dōgen wäre es ein
Irrtum, aus Daikan Enōs Frage zu schließen, dass ein Mensch des Augenblicks die
Verwirklichung bereits dauerhaft realisiert hat. Umgekehrt könnte man daraus
fälschlicherweise folgern, dass sie normalerweise gar nicht vorhanden ist.
Leicht können auch falsche zeitliche und räumliche Vorstellungen entstehen, zum
Beispiel dass die Verwirklichung hierher gekommen ist oder irgendwo anders
existiert, oder dass sie einen bestimmten Anfang hat, also irgendwo in der
Vergangenheit begonnen hat. Das alles sind spekulative Behauptungen, welche die
Wahrheit der Verwirklichung aushebeln. Sie widersprechen dem Sein im
Augenblick, das allein die Verwirklichung ist.
Dōgen hält solche überspitzten Diskussionen für falsch und betont: „Wenn
wir die Verwirklichung untersuchen, fragen wir nicht, ob wir uns auf die
Verwirklichung stützen müssen.“ Die Frage nach dem ewigen Wesen der Erleuchtung
macht keinen Sinn, und jeder ehrliche buddhistische Meister warnt davor, sich
solchen gedanklichen Fantasien hinzugeben, wenn es darum geht, Befreiung und
Glück zu finden. Durch buddhistisches Handeln im Jetzt kann das gespaltene
dualistische Denken von Ich und Du, von Gut und Böse, von Ich und Universum
usw. aufgelöst und zur Harmonie gebracht werden. Dadurch verliert es seinen
zerstörenden Einfluss. Dann können auch Gedanken wie „Ich bin erwacht“ oder
„Das Erwachen ist zu mir gekommen“ verschwinden.
Wenn
dieses neue Denken und Handeln aus der Verwirklichung selbst hervorgegangen ist
und auf deren Grundlage stattfindet, kann man sie ohne Frage als wahre
Erleuchtung bezeichnen. Dann kann ich zum Beispiel ruhig darüber nachdenken,
was ich gestern getan habe, ohne dass mein Selbst von gestern wie ein anderes
abgespaltenes Objekt erscheint, das vom jetzigen Selbst getrennt ist. Dann kann
das gestrige Selbst mit dem jetzigen Selbst eine harmonische Einheit bilden.
Dies alles darf aber nicht nur gedacht, sondern muss in der Übungspraxis und im
Alltag erfahren werden.
Das
obige Zitat von Daikan Enō ist auch als Kōan-Gespräch im Shinji Shōbōgenzō[xxix] in
einer etwas anderen Formulierung enthalten. Dort heißt es: „Benötigt ein
Mensch, der im Augenblick der Gegenwart lebt, die Erleuchtung oder nicht?“ Meister
Kyozan antwortet darauf: „Es ist nicht wahr, wenn ich sage, dass es keine
Erleuchtung gibt, aber ich kann es nicht vermeiden, in das duale Bewusstsein zu
fallen.“ Nishijima Roshi erläutert, dass das duale Bewusstsein geteilt ist, das
heißt, es gibt ein getrenntes Ich, das beobachtet, und eines, das als Objekt
beobachtet wird. In manchen Kōans wird dieses Objekt auch als „zweite Person“
bezeichnet. Dadurch entsteht eine Trennung von Subjekt und Objekt, die nicht
die ganze Wirklichkeit umfasst, also nicht das Erwachen oder die Erleuchtung
ist. Demgegenüber gibt es das ganze umfassende Bewusstsein, wenn wir handeln,
und wir heben die Trennung zwischen Subjekt und Objekt auf. Nishijima Roshi
erläutert dazu: „Meister Kyozan sagt, dass es wahr ist, dass er selbst zu
bestimmten Zeiten die Welt in geteilter Weise sieht, obgleich er nicht leugnen könne,
dass für ihn ein Zustand der Erleuchtung existiert. Dies war eine sehr
realistische und ehrliche Antwort.“
Das
bedeutet, dass selbst ein großer Meister, der häufig oder überwiegend im
Zustand der Verwirklichung und der Erleuchtung lebt, auch andere Zustände und
Augenblicke kennt, in denen die dualistische Aufteilung von Subjekt und Objekt
besteht. Dies ist besonders beim Denken, aber auch beim Beobachten der Fall,
also bei der ersten und zweiten Lebensphilosophie, um es mit Nishijima Roshi
auszudrücken. Die idealisierte Vorstellung, dass man immer in einem
erleuchteten Zustand lebt, wenn man diesen einmal erreicht hat, würde bedeuten,
dass wir „spirituelle Supermenschen oder Götter“ wären.
Diese gibt es aber in der Wirklichkeit nicht. Wenn also jemand behauptet, dass
er dauernd im Zustand der vollen Erleuchtung lebt, so ist dies laut Dōgen nicht
glaubhaft, da selbst die großen Meister in der chinesischen Geschichte nüchtern
erklären, dass sie manchmal aus dem Zustand des Erwachens wieder in den Dualismus
kommen:
„Meister Kyozan bestand darauf, dass manchmal unser
Bewusstsein geteilt ist, obgleich wir manchmal den Zustand der Erleuchtung
erfahren.“
Wir
„wandern“ also gleichsam zwischen einem Zustand des Erwachens und des
Dualismus, und Dōgen möchte diesen wirklichkeitsnahen Lebenszustand besonders
beleuchten. Er fragt, wie das Erwachen mit dem zweiten Bewusstsein des
dualistischen Denkens zusammenhängt.
„Während er (Kyozan) die Tatsache bedauert, dass er
in das zweite Bewusstsein fällt, scheint er es zu verneinen, dass das zweite
Bewusstsein existiert. Das zweite Bewusstsein, das aus dem Erwachen erzeugt
ist, kann gleichzeitig als wahres zweites Bewusstsein angenommen werden.“
Wir
müssen also genau unterscheiden, ob das zweite Bewusstsein des unterscheidenden
Denkens aus dem erwachten Zustand hervorgegangen ist oder nicht. Wenn es daraus
entstanden ist, bezeichnet Dōgen es auch als wahres zweites Bewusstsein. Und in
der Tat können wir davon ausgehen, dass ein Mensch, der die Augenblicke der
Erleuchtung und des verwirklichten Zustandes kennt, auch beim unterscheidenden
dualistischen Denken, also beim zweiten Bewusstsein, anders handelt, denkt und
redet als jemand, der den Dualismus noch niemals überwunden hat. Diese
Überlegungen fasst Dōgen schließlich folgendermaßen zusammen: „In diesem Fall
mag es der Zustand der Verwirklichung sein, auch wenn es das zweite Bewusstsein
ist und auch wenn es das Bewusstsein ist, das in Hunderte und Tausende
(geteilt) ist.“ Und er fügt hinzu:
„Es ist nicht wahr, dass das zweite Bewusstsein von
dem vorher existierenden ersten Bewusstsein übrig gelassen sein muss, um zu
existieren.“
Als
Erklärung kann hier die Philosophie des Augenblicks dienen: Das duale zweite
Bewusstsein existiert selbstständig und ist nicht der Rest des ungeteilten
ersten Bewusstseins. Ich möchte diesen schwierigen Zusammenhang als zeitlichen
Ablauf erläutern, in dem wir unser eigenes Denken und Erinnern an das Selbst
von gestern mit dem heutigen Erleben in der Wirklichkeit vergleichen. Heute
leben wir im Jetzt, in der Gegenwart, wenn wir verwirklicht sind. Die
Erinnerung an gestern ist laut Nishijima Roshi nicht die volle und wahre
Wirklichkeit, sondern eben nur die Erinnerung daran. Gestern lebten wir aber
auch in der Sein-Zeit, im gestrigen Jetzt, wenn wir gestern in der
Verwirklichung waren. Dann hat die Erinnerung sicher eine andere Qualität, als
wenn wir gestern nicht im Augenblick der Sein-Zeit, also nicht in der
Verwirklichung, gelebt haben. Darüber sollten wir uns im Klaren sein.
„Während ich zum Beispiel
das gestrige Ich als mein Selbst sehe, nannte ich gestern (das Ich von) heute
einen zweiten Menchen“, erklärt Dōgen. Das ist nicht einfach zu verstehen. Ich
interpretiere das Zitat so: Im obigen Fall ist das unterscheidende Denken der
Dualität wirksam, weil aus dem Standpunkt von gestern das Ich des Heute als
getrenntes Objekt gesehen wird. Überlegungen, die auf der Grundlage der
linearen Zeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft basieren, lassen also
die Unterscheidung zwischen dem ersten und dem zweiten Bewusstsein – den
Dualismus – entstehen. Derartige zeitliche Vergleiche lehnt Dōgen für die
Wirklichkeit des Erwachens ab. Er legt uns nahe, dass wir diese Zusammenhänge
in der konkreten Erfahrung erfassen sollen.
Nishijima und Cross[xxx]
erläutern, dass es im gegenwärtigen Augenblick nur eine einzige Wirklichkeit
geben kann. Was wir als geteiltes Bewusstsein bezeichnen, ist also auch die
Wirklichkeit oder die Verwirklichung im Augenblick, da es das Erleben und
geistige Handeln ist. Davon ist allerdings streng zu unterscheiden, wenn es
sich lediglich um das Denken mit der Weltanschauung der linearen Zeit von gestern,
heute und morgen handelt. Ein solches Denken kann die Unterscheidung zwischen
Verwirklichung und zweitem Bewusstsein, also Dualität, hervorrufen. Dann sind
zum Beispiel das Ich und der andere Mensch getrennt.
„Wir
sagen nicht, dass die jetzige Verwirklichung gestern nicht da war, noch, dass
sie jetzt begonnen hat. Wir sollten sie so in der (praktischen) Erfahrung
erfassen.“
Damit bestätigt Dōgen den
fundamentalen Unterschied zwischen dem Handeln in der Wirklichkeit selbst und
dem Denken darüber. Verwirklichung, Erwachen und Erleuchtung sind immer
praktische Erfahrungen im Augenblick und kein unterscheidendes theoretisches
Denken. Bei der praktischen Erfahrung ist das Bewusstsein nicht getrennt vom
Handeln und auch nicht beim Handeln und Denken als sogenanntes zweites
Bewusstsein geteilt. Bestes Beispiel für diesen Zusammenhang ist die
Zazen-Praxis: Dabei sitzen wir in der ungeteilten Wirklichkeit, und trennende
Unterscheidungen haben keine Bedeutung. Das Bewusstsein ist nicht
ausgeschaltet, wie manche Zen-Buddhisten fälschlicherweise behaupten, aber das
Denken an Objekte ist ausgeschaltet. Denn Bewusstsein und einfaches Handeln
bilden eine Einheit.
„Zusammenfassend
sind die Köpfe der großen Verwirklichung schwarz, und die Köpfe der großen
Verwirklichung sind weiß.“
Mit schwarzen und weißen
Köpfen sind junge und alte Menschen gemeint. Beide haben das große Erwachen.
Nishijima und Cross[xxxi]
halten hierzu fest, dass alle Menschen von Natur aus im Zustand der großen
Verwirklichung sind, ganz unabhängig davon, ob sie es wirklich erkennen und ob
sie jung oder alt sind. Der verwirklichte Zustand ist unser natürlicher
Zustand, und jeder lebt durch das Handeln im Augenblick in diesem natürlichen
Zustand.
Zusammenfassung
Dōgen schildert in diesem Kapitel, dass die Menschen trotz aller
Unterschiede das Erwachen durch verdienstvolles Tun jeweils auf ihre eigene
Weise und mit den ihnen eigenen Fähigkeiten verwirklichen. Es kann auf
natürliches Wissen gegründet sein, wird aber immer durch Anstrengung
entwickelt.
Manche Menschen beschreiten den Weg des Buddha-Dharma eher durch Lernen
und Studium, andere verfügen bereits über das tiefe Wissen der Buddhas, das weder
angeboren noch erlernt ist und das die Trennung des Ich von den anderen oder
von Subjekt und Objekt schon überwunden hat. Es gibt auch Menschen, die eine
wunderbare und klare Ausstrahlung haben, ohne dass sie einen Lehrer hatten oder
die buddhistischen Schriften studiert haben. Aber immer muss der Buddha-Weg
verknüpft sein mit der Praxis.
Dōgen betont, dass es unsinnig ist, nach klugen und törichten Menschen
zu unterscheiden, denn es geht vor allem um das Handeln und nicht um Theorie,
Wissen und Bewertung. Es sei auch falsch zu sagen, dass ein Mensch dauerhaft
erwacht ist, denn im Buddhismus gilt die erlangte Wahrheit nicht als
fortdauernde Eigenschaft eines Menschen, sondern er ist in der Wirklichkeit,
wenn er im Augenblick handelt.
Dann geht es um das Thema des Rückfalls aus dem Erwachen in die
Täuschung. Hierzu zitiert Dōgen einen alten Meister: „Ein zerbrochener Spiegel
reflektiert nicht wieder. Heruntergefallene Blüten können nicht auf den Baum
zurückklettern.“ Auch in dieser Aussage kommt zum Ausdruck, dass man das
Erwachen nicht selbstverständlich sein ganzes Leben lang behält. Vielmehr kann
sich der Zustand von einem Augenblick zum anderen ändern – alles wird durch das
jeweilige Handeln bestimmt. Wenn der Spiegel einmal zerbrochen ist, hat es
wenig Sinn, lange darüber nachzudenken, wie schön er im unversehrten Zustand
gewesen ist. Und wenn Blüten einmal von einem Baum heruntergefallen sind,
lassen sie sich nicht wieder anheften. Erinnerungen und Bewertungen, die im
Denken und im Bewusstsein auftauchen, kommt keine Qualität der Wirklichkeit
mehr zu. Die Tatsachen und die Wirklichkeit bestehen im Hier und Jetzt und
haben so ihren eigenen Platz in der Welt und im Universum, und zwar genau so,
wie sie gegenwärtig sind; nicht mehr und nicht weniger.
Wenig sinnvoll ist es zu behaupten, im großen Erwachen gebe es keine
Augenblicke der Illusion und Täuschung. Klarheit, Reife und Reinheit können
immer noch weiter entwickelt werden, und die buddhistische Übungspraxis sollte
während des ganzen Lebens fortgesetzt werden. Gautama Buddha selbst lehrte,
dass jeder Mensch die Erleuchtung erlangen kann, ganz gleich, wie tief er in
Täuschungen, Unklarheiten und falsches Handeln verstrickt ist.
Wir sollen uns, so lautet Dōgens Rat, sehr gründlich mit verschiedenen
Fragen und Möglichkeiten des Erwachens beschäftigen, zum Beispiel mit dem Thema,
dass ein Erwachter wieder in die Täuschung zurückfällt. Es könnte sogar sein,
dass ein solcher Mensch dadurch umso klarer erkennen kann, was Täuschung ist,
und anderen umso besser als Lehrer und Therapeut helfen kann, aus Selbstlügen,
Verdrängungen und Illusionen herauszufinden.
Dōgen zitiert den Dialog zwischen einem Meister und seinem Schüler.
Letzterer fragte: „Stützt sich auch ein Mensch des gegenwärtigen Augenblicks
auf das Erwachen oder nicht?“ Der Meister antwortete: „Das Erwachen ist nicht
ohne Existenz, aber wie können wir vermeiden, in das (unterscheidende) zweite
Denken zu fallen?“ Wenn man ganz im Hier und Jetzt lebt, also in der wirklichen
Sein-Zeit, ist man bereits in der Wirklichkeit und Wahrheit angekommen, man ist
erwacht und erlebt die erste oder zweite Erleuchtung. Man ist dann nicht durch
das Denken auf vergangene Zeiten fixiert und verliert sich nicht in
Spekulationen über die Zukunft. Das ganze Leben, Handeln, Denken, Wahrnehmen
und Empfinden ist von diesem Erwachen durchdrungen und baut darauf auf.
Die Frage des Schülers kann also nur mit einem einfachen Ja beantwortet
werden. Der alte Meister bestätigt dies, aber er sieht auch die Gefahr, dass
man in das unterscheidende und bewertende Denken zurückfallen kann, was häufig
die Ursache für Leiden, Missverständnisse, Empfindlichkeiten, Verletzungen und
Aggressionen ist. Das gespaltene zweite Denken, wie es Dōgen nennt, kann also
bewirken, dass wir aus dem Erwachen wieder herausfallen, es sei denn, wir
erkennen dies in aller Klarheit. Dann können wir uns durch wahres
buddhistisches Handeln befreien und entlasten unseren Geist von den Hemmnissen
auf dem Weg der Erleuchtung, also vor allem von der Gier nach sinnlichen
Genüssen zu Lasten anderer, vom Übelwollen anderen Menschen gegenüber, von
dauernder Zweifelsucht, aufgeregter Hektik, unruhigem Leben usw. Gelingt das
allerdings nicht, dann ist uns die intuitive buddhistische Weisheit verloren
gegangen, und wir können nicht mehr unmittelbar moralisch handeln.
Ob wir uns im Handeln und Denken auf das Erwachen stützen, sollen wir,
wie Dōgen sagt, gründlich im Herzen und im Geist prüfen und uns darüber
Klarheit verschaffen. Dies geht natürlich nicht ohne eine gewisse Anstrengung
und Mühe. Von allein kommt das Erwachen nicht!
Man darf sich das Erwachen jedoch nicht wie ein Ding oder eine Entität
vorstellen. Es kommt also nicht von irgendwoher oder geht irgendwohin. Auch die
Frage, ob das Erwachen schon in der Vergangenheit vorhanden war oder nicht, ist
von untergeordneter Bedeutung und würde nur zu Spekulationen verführen.
Erwachen heißt im Hier und Jetzt erwacht handeln und erwacht denken, erwacht
empfinden und aus einem umfassenden Geist heraus und ohne innere Spaltung zu
leben. Man könnte es fast als nüchtern und pragmatisch bezeichnen, und dies
zeichnet den Buddhismus ja unter anderem aus.
Die Frage nach dem ewigen Wesen des Erwachens macht also keinen Sinn,
und jeder buddhistische Meister warnt davor, sich solchen gedanklichen
Fantasien hinzugeben, wenn es darum geht, Befreiung und Freude zu finden. Aus
dem Geist des Erwachens kann auch das gespaltene dualistische Denken von Ich
und Du, von Gut und Böse, von Ich und Universum usw. aufgelöst und zur Harmonie
gebracht werden. Dadurch verliert es seinen zerstörenden Einfluss. Auf diese
Weise finden das unterscheidende Denken und das gespaltene Bewusstsein in einem
erwachten Geist wieder zurück zur Einheit. Dann können Gedanken wie „Ich bin
erwacht“ oder „Das Erwachen ist zu mir gekommen“ verschwinden und sich in
Harmonie im Geist zusammenfügen.
Auch
Hans-Peter Dürr, der große Physiker und Träger des alternativen Nobelpreises,
spricht davon, dass wir ein neues, nicht dualistisches Denken benötigen. Wenn
dieses neue Denken aus dem Erwachen selbst hervorgegangen ist und auf der
Grundlage des Erwachens stattfindet – wie Dōgen sagen würde –, kann man es ohne
Frage als Erleuchtung bezeichnen. Dann kann ich zum Beispiel ruhig darüber
nachdenken, was ich gestern getan habe, ohne dass mein Selbst von gestern wie
ein anderes abgespaltenes Objekt erscheint, das vom jetzigen Selbst getrennt
ist. Dann kann das Selbst von gestern mit dem Jetzt eine harmonische Einheit
bilden. Dies alles darf aber nicht nur gedacht, sondern muss in der
Übungspraxis des Zazen und nicht zuletzt im Alltag erfahren werden.
[i] Dōgen: Shōbōgenzō, deutsche Fassung, Bd. 2, S. 110
ff. und englische Fassung, Bd. 2, S. 83 ff.
[ii] Nishijima, Gudo Wafu: Aus meinem Leben. Wirklichkeit
und Buddhismus, S. 47 ff.
[iii] Kap. 22, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 192 ff.: „Das
Geheimnis der Buddha-Natur (Busshō)“
[iv] Wachs, Marianne (Hrsg.): Form ist Leere – Leere
Form. Buddhistische Themen und Lehrbegriffe 2, S. 73
[v] Nishijima, Gudo Wafu: Aus meinem Leben. Wirklichkeit
und Buddhismus, S. 53 f.
[vi] Kap. 2, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 36 ff.: „Die
große intuitive Weisheit, die das Denken überschreitet (Makahannya haramitsu)“
[vii] Nishijima, Gudo Wafu: Begegnung mit dem wahren
Drachen. Leben und ZEN, S. 288 ff.
[viii] Dōgen: Shōbōgenzō, Bd. 4, S. 207, Kap. 90: „Der
Mönch in der vierten Meditationsstufe der Vertiefung (Shizen-biku)“
[ix] Kap. 10, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 100 ff.:
„Erzeugt kein Unrecht und erlangt die Freiheit! (Shoaku makusa)“
[x] Kernberg, Otto F. (Hrsg.): Narzißtische Persönlichkeitsstörungen
[xi] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das
verwirklichte Leben und Universum
(Genjō-kōan)“
[xii] Kap. 2, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 36 ff.: „Die
große intuitive Weisheit, die das Denken überschreitet (Makahannya haramitsu)“
[xiii] Meister Rinzai lebte von 815 bis 867.
[xiv] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[xv] Kap. 91, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 280 ff.: „Nur
die Buddhas zusammen mit den Buddhas verwirklichen die wahre Form (Yoi-butsu-yo-butsu)“
[xvi] Meister Kegon Kyuju war Nachfolger von Meister Tozan
Ryokai.
[xvii] Kap. 22, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 192 ff.: „Das
Geheimnis der Buddha-Natur (Busshō)“
[xviii] Warner, Brad: Hardcore Zen. Punk Rock, Monsterfilme
& die Wahrheit über alles
[xix] Wilber, Ken; Ecker, Bruce; Anthony, Dick (Hrsg.):
Meister, Gurus, Menschenfänger. Über die Integrität spiritueller Wege
[xx] Dogen: Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 86,
Fußnote 16
[xxi] Dogen: Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 87,
Fußnote 19
[xxii] Kap. 33, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 80 ff.: „Der
Bodhisattva des großen Mitgefühls und des Helfens (Kannon)“
[xxiii] Dogen: Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 88,
Fußnote 26
[xxiv] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das
verwirklichte Leben und Universum (Genjō-kōan)“
und Kap. 14, S. 129 ff.: „Das Sūtra der wirklichen Berge und Wasser (Sansui gyō)“
[xxv] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[xxvi] Kolk, Sylvia (Hrsg.): Meditationstexte des
Pali-Buddhismus III
[xxvii] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[xxviii] Heidegger, Martin: Sein und Zeit
[xxix] Nishijima, Gudo Wafu: Die Schatzkammer der wahren
buddhistischen Weisheit (Shinji Shobogenzo). Sammlung von 301 Koan-Geschichten,
Bd. 1, Nr. 7
[xxx] Dogen: Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 90,
Fußnote 34
[xxxi] Dogen: Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 90,
Fußnote 35