Montag, 19. September 2022

Mit Zen der richtige Kurs deines Boots

 


Aus buddhistischer Sicht und Erfahrung kann man sagen, dass diese Welt, das Universum und das Leben die Verwirklichung allen Handelns und aller Aufgaben sind.[i] Das dynamische Ganze unseres Lebens ist nichts Statisches, sondern es beruht auf dem Handeln je im Augenblick, in dem wir unsere Aufgaben und Verpflichtungen wahrnehmen und auf natürliche Weise moralisch handeln. Das sind die Augenblicke der Wirklichkeit und der höchsten Wahrheit, die dem Menschen zugänglich ist. Und solche Augenblicke sind nicht absolut voneinander getrennt, sondern prozesshaft verbunden: ohne Prozesse und deren Augenblicke kein Leben und keine Dynamik. Vor allem sind diese Wechselwirkungen zugleich die Voraussetzungen für unsere Veränderungsprozesse und Emanzipation. Buddha hat diese tiefgreifende Transformation des gesamten Menschen erkannt und durch seine Lehre und Praxis für die Menschheit verfügbar gemacht.

Wenn wir leben, handeln wir meist automatisch, selbst wenn unser Geist etwas festhalten will, sich isoliert oder wenn aufgeladene Emotionen und Bewertungen uns wie in einem Gefängnis eingemauert haben. Dann sind dogmatische und eindimensionale Theorien nicht mehr weit, und die Menschen klammern sich an erstarrte, angeblich authentische Lehren und Begriffe. Genau davon werden wir durch den buddhistischen Weg befreit – durch das wirkliche Gehen, das Nāgārjuna in Kapitel 2 des MMK präzise analysiert und das mit dem Substantialismus eben nicht richtig erfasst werden kann. Dieser scheitert bei den wichtigen Entwicklungsprozessen des Lebens und den Augenblicken der großen Wirkkräfte.

Das Handeln im Fluss und im Augenblick sollte nicht von düsteren Gedanken des Todes oder von anderen Ängsten überschattet werden, denn es vollzieht sich im Hier und Jetzt der Gegenwart. Nur dies sei die Wirklichkeit und dann seien wir frei von einengenden Gedanken und Sorgen, erklärt Dōgen. Die große Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist diese Befreiung vom Leiden und die Öffnung für ein von Dogmen, wie zum Beispiel dem Substantialismus, freies und erwachtes Leben. Es bedeutet Verwirklichung, wenn wir handelnd das Leben meistern. Dann befreit nach Dōgen das wahre Leben unser bisheriges eingeengtes Leben, und der wahre Tod befreit uns von den Ängsten des Todes. Auf diese Weise meistern wir in der Wahrheit Leben-und-Tod.

Gerade im Augenblick in der Gegenwart wird das Leben wahrhaftig gelebt. Dies überschreitet nach Dōgen Begriffe und Vorstellungen wie groß oder klein und auch von einer großen oder begrenzten Welt. Die üblichen Maße für die lineare Zeit haben keine Bedeutung mehr und lösen sich auf. Das Leben ist dann auch kein nur gedachter Vorgang des Erscheinens und Vergehens und auch nicht die Erwartung der zukünftigen Verwirklichung der Erleuchtung. Es ist dann wirkliches Entstehen und Vergehen. Die Welt offenbart sich als dynamisches Handeln, indem wir praktizieren, unsere Aufgaben wahrnehmen und unseren Verpflichtungen gerecht werden. Dies schließt auch die vielfältigen materiellen Dinge und Zusammenhänge um uns herum ein, die wir als Basis und Strukturen dringend für unser Tun und Handeln in der Wirklichkeit benötigen. Aber wir sollten auch unser Handeln nicht einfach leichtgläubig hinnehmen, sondern gründlich bedenken, mahnt uns Dōgen. Jedes einzelne Ding, jeder einzelne Dharma und jeder Augenblick sind Teile des wechselwirkenden Lebens. Dōgen sagt hierzu:

„Es gibt keinen einzigen Augenblick und keinen einzigen Dharma, die nicht das Leben sind, und es gibt keine einzige Tatsache und keine einzige Funktion des Geistes, die nicht das Leben sind.“

Er beschreibt dann das aufschlussreiche Gleichnis von einem auf dem Meer gleitenden Segelboot, das von den Menschen im Boot bedient wird und dadurch mithilfe des Windes im Wasser vorwärtskommt:

„Das Leben kann damit verglichen werden, dass zum Beispiel ein Mensch in ein Boot steigt: In diesem Boot setze ich den Mast, ich führe das Ruder und ich bediene das Segel. Ich werde von dem Boot getragen und es gibt (eigentlich) kein Ich, sondern nur (mein Handeln mit) dem Boot. Durch mein Handeln mit dem Boot wird dieses Boot erst zu einem (wirklichen) Boot.“

In diesem Gleichnis stehen keinesfalls die materiellen Gegenstände wie das Boot, das Ruder, das Segel oder der Mast im Mittelpunkt, denn damit wäre eine Trennung der Objekte von dem handelnden Subjekt behauptet. Sondern Dōgen stellt ganz im Sinne Nāgārjunas fest, dass erst durch das gesamte wechselwirkende Tun und Handeln des Menschen mit dem Boot dieses zu einem wirklichen Boot wird. Er formuliert es folgendermaßen:

„Der Himmel, das Wasser und die Küste kommen zusammen und werden der Augenblick des Bootes. Und sie unterscheiden sich von anderen Augenblicken abseits vom Boot.“

Das Leben ist genau das, was ich tue, und auch ich selbst bin das, was ich mache. Ganz ähnlich formuliert der Gehirnforscher Manfred Spitzer die Funktion und das Lernen unseres Gehirns.[ii] Das Ich besteht also laut Dōgen aus den Augenblicken des Handelns im sinnvollen Ganzen. Es existiert nicht als dauerhafte getrennte Entität, die quasi wie ein Ding gedacht wird und eine unveränderliche substanzhafte „Seele“ – vergleichbar mit dem ātman der vorbuddhistischen Zeit – besitzt.

Dōgen zitiert einen alten Meister, der sagte: „Das Leben ist die Offenbarung und Verwirklichung der Welt des Handelns und aller Funktionen; der Tod ist die Offenbarung und Verwirklichung aller Handlungen und Funktionen.“ Es geht dabei nicht um den Beginn oder das Ende der Welt oder des eigenen Lebens, sondern es geht um die Gegenwart, in der sich das Handeln als Bewegung in der Welt und als Selbst offenbart und verwirklicht. Die Welt baut sich sozusagen aus verbundenen Handlungselementen auf, die sich dynamisch verändern und je in der Wirklichkeit existieren.

Dōgen bittet uns, dies gründlich zu erfahren und zu erforschen und nicht einfach gläubig hinzunehmen. Wenn wir nur im Kopf denken, dass die Erde und der Raum eine Einheit bilden, so unterliegen wir einem Irrtum. Solche Gedanken und Worte entspringen nur dem Gehirn, sind absolut und stellen nicht die Wirklichkeit im Hier und Jetzt dar. Die Wirklichkeit und Dynamik des Universums bestehen jenseits von Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten des Lebens und des Todes. Diese wirkliche Welt als Leben und Tod existiert, „wenn zum Beispiel ein starker Mann seinen Arm beugt und anspannt und wenn ein Mensch im Schlaf die Hand nach hinten ausstreckt und nach seinem Kissen greift“, erläutert Dōgen.[iii]

In dieser Welt des dynamischen Handelns gibt es wunderbare Kräfte sowie große Klarheit und Schönheit. Die Welt und die Menschen entwickeln ihre ganze großartige Kraft im gegenwärtigen Augenblick.


[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 62ff.

[ii] Spitzer, Manfred: Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln

[iii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 22ff.