Aus buddhistischer Sicht und Erfahrung kann man sagen, dass diese Welt, das Universum und das Leben die Verwirklichung allen Handelns und aller Aufgaben sind.[i] Das dynamische Ganze unseres Lebens ist nichts Statisches, sondern es beruht auf dem Handeln je im Augenblick, in dem wir unsere Aufgaben und Verpflichtungen wahrnehmen und auf natürliche Weise moralisch handeln. Das sind die Augenblicke der Wirklichkeit und der höchsten Wahrheit, die dem Menschen zugänglich ist. Und solche Augenblicke sind nicht absolut voneinander getrennt, sondern prozesshaft verbunden: ohne Prozesse und deren Augenblicke kein Leben und keine Dynamik. Vor allem sind diese Wechselwirkungen zugleich die Voraussetzungen für unsere Veränderungsprozesse und Emanzipation. Buddha hat diese tiefgreifende Transformation des gesamten Menschen erkannt und durch seine Lehre und Praxis für die Menschheit verfügbar gemacht.
Wenn
wir leben, handeln wir meist automatisch, selbst wenn unser Geist etwas
festhalten will, sich isoliert oder wenn aufgeladene Emotionen und Bewertungen
uns wie in einem Gefängnis eingemauert haben. Dann sind dogmatische und
eindimensionale Theorien nicht mehr weit, und die Menschen klammern sich an
erstarrte, angeblich authentische Lehren und Begriffe. Genau davon werden wir
durch den buddhistischen Weg befreit – durch das wirkliche Gehen, das Nāgārjuna
in Kapitel 2 des MMK präzise analysiert und das mit dem Substantialismus eben
nicht richtig erfasst werden kann. Dieser scheitert bei den wichtigen
Entwicklungsprozessen des Lebens und den Augenblicken der großen Wirkkräfte.
Das
Handeln im Fluss und im Augenblick sollte nicht von düsteren Gedanken des Todes
oder von anderen Ängsten überschattet werden, denn es vollzieht sich im Hier
und Jetzt der Gegenwart. Nur dies sei die Wirklichkeit und dann seien wir frei
von einengenden Gedanken und Sorgen, erklärt Dōgen. Die große Wahrheit der
Buddhas und Vorfahren im Dharma ist diese Befreiung vom Leiden und die Öffnung
für ein von Dogmen, wie zum Beispiel dem Substantialismus, freies und erwachtes
Leben. Es bedeutet Verwirklichung, wenn wir handelnd das Leben meistern. Dann
befreit nach Dōgen das wahre Leben unser bisheriges eingeengtes Leben, und der wahre Tod befreit uns von den
Ängsten des Todes. Auf diese Weise meistern wir in der Wahrheit Leben-und-Tod.
Gerade
im Augenblick in der Gegenwart wird das Leben wahrhaftig gelebt. Dies
überschreitet nach Dōgen Begriffe und Vorstellungen wie groß oder klein und
auch von einer großen oder begrenzten Welt. Die üblichen Maße für die lineare
Zeit haben keine Bedeutung mehr und lösen sich auf. Das Leben ist dann auch
kein nur gedachter Vorgang des Erscheinens und Vergehens und auch nicht die
Erwartung der zukünftigen Verwirklichung der Erleuchtung. Es ist dann
wirkliches Entstehen und Vergehen. Die Welt offenbart sich als dynamisches
Handeln, indem wir praktizieren, unsere Aufgaben wahrnehmen und unseren
Verpflichtungen gerecht werden. Dies schließt auch die vielfältigen materiellen
Dinge und Zusammenhänge um uns herum ein, die wir als Basis und Strukturen
dringend für unser Tun und Handeln in der Wirklichkeit benötigen. Aber wir
sollten auch unser Handeln nicht einfach leichtgläubig hinnehmen, sondern
gründlich bedenken, mahnt uns Dōgen. Jedes einzelne Ding, jeder einzelne Dharma
und jeder Augenblick sind Teile des wechselwirkenden Lebens.
Dōgen sagt hierzu:
„Es gibt keinen einzigen Augenblick und keinen
einzigen Dharma, die nicht das Leben sind, und es gibt keine einzige Tatsache
und keine einzige Funktion des Geistes, die nicht das Leben sind.“
Er
beschreibt dann das aufschlussreiche Gleichnis von einem auf dem Meer
gleitenden Segelboot, das von den Menschen im Boot bedient wird und dadurch
mithilfe des Windes im Wasser vorwärtskommt:
„Das Leben kann damit verglichen werden, dass zum
Beispiel ein Mensch in ein Boot steigt: In diesem Boot setze ich den Mast, ich
führe das Ruder und ich bediene das Segel. Ich werde von dem Boot getragen und
es gibt (eigentlich) kein Ich, sondern nur (mein Handeln mit) dem Boot. Durch
mein Handeln mit dem Boot wird dieses Boot erst zu einem (wirklichen) Boot.“
In
diesem Gleichnis stehen keinesfalls die materiellen Gegenstände wie das Boot,
das Ruder, das Segel oder der Mast im Mittelpunkt, denn damit wäre eine
Trennung der Objekte von dem handelnden Subjekt behauptet. Sondern Dōgen stellt
ganz im Sinne Nāgārjunas fest, dass erst durch das gesamte wechselwirkende Tun und Handeln des Menschen mit dem Boot dieses zu
einem wirklichen Boot wird. Er
formuliert es folgendermaßen:
„Der Himmel, das Wasser und die Küste kommen zusammen
und werden der Augenblick des Bootes. Und sie unterscheiden sich von anderen
Augenblicken abseits vom Boot.“
Das
Leben ist genau das, was ich tue, und auch ich selbst bin das, was ich mache.
Ganz ähnlich formuliert der Gehirnforscher Manfred Spitzer die Funktion und das
Lernen unseres Gehirns.[ii] Das Ich besteht also laut Dōgen aus den Augenblicken
des Handelns im sinnvollen Ganzen. Es existiert nicht als dauerhafte getrennte
Entität, die quasi wie ein Ding gedacht wird und eine unveränderliche
substanzhafte „Seele“ – vergleichbar mit dem ātman der vorbuddhistischen Zeit –
besitzt.
Dōgen
zitiert einen alten Meister, der sagte: „Das
Leben ist die Offenbarung und Verwirklichung der Welt des Handelns und aller
Funktionen; der Tod ist die Offenbarung und Verwirklichung aller Handlungen und
Funktionen.“ Es geht dabei nicht um
den Beginn oder das Ende der Welt oder des eigenen Lebens, sondern es geht um
die Gegenwart, in der sich das Handeln als Bewegung in der Welt und als Selbst
offenbart und verwirklicht. Die Welt baut sich sozusagen aus verbundenen
Handlungselementen auf, die sich dynamisch verändern und je in der Wirklichkeit
existieren.
Dōgen
bittet uns, dies gründlich zu erfahren und zu erforschen und nicht einfach
gläubig hinzunehmen. Wenn wir nur im Kopf denken, dass die Erde und der Raum
eine Einheit bilden, so unterliegen wir einem Irrtum. Solche Gedanken und Worte
entspringen nur dem Gehirn, sind absolut und stellen nicht die Wirklichkeit im
Hier und Jetzt dar. Die Wirklichkeit und Dynamik des Universums bestehen
jenseits von Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten des Lebens und des Todes.
Diese wirkliche Welt als Leben und Tod existiert, „wenn zum Beispiel ein
starker Mann seinen Arm beugt und anspannt und wenn ein Mensch im Schlaf die
Hand nach hinten ausstreckt und nach seinem Kissen greift“, erläutert Dōgen.[iii]
In dieser Welt des dynamischen Handelns gibt es wunderbare Kräfte sowie große Klarheit und Schönheit. Die Welt und die Menschen entwickeln ihre ganze großartige Kraft im gegenwärtigen Augenblick.