Dienstag, 30. August 2022

Das verwirklichte Leben und Universum im Zen

Was sagt nun Zen-Meister Dōgen über die Wirklichkeit und die fundamentalen Eckpunkte der buddhistischen Lehre und Praxis? Wie beschreibt er den wahren Befreiungsweg? In der Fachwelt wird das Kapitel Genjō-kōan, das dritte im Shōbōgenzō, mit seinen Kernaussagen zur Verwirklichung eines erfüllten und befreiten Lebens hoch geschätzt.[i] Ich folge dieser Ansicht und möchte es daher dem ersten Kapitel des MMK gegenüberstellen.

Die wörtliche Übersetzung des japanischen Titels Genjō-kōan lautet „das verwirklichte Gesetz der Welt oder des Universums“, was Buddha-Lehre oder Buddha-Dharma bedeutet. Durch die Verwirklichung kommt es zu einer Ganzheit von diesem Gesetz und dem wahren Leben in dieser Welt, sodass sich die ganze Wirklichkeit voll entfaltet.

Was sagt uns Dōgen, im Einklang mit Buddha  in der vollen Tiefe der Bedeutung von Genjō-kōan? Antwort: Dies ist das wahre Gesetz des Menschen,  des Lebens und der Natur! Und wie lautet dieses Gesetz? Die Natur und unser Leben werden geprägt durch das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, ohne Extreme! Wo wurde dieses Lebens-Gesetz von uns in neuer Zeit nachhaltig verletzt? Bei den Ökosysteme unsere Erde mit der Folge der Klima-Katstrophen, der Ausbeutung der Natur und der Isolation des Menschen. Wodurch kam das?  Durch das aus dem Ruder geratene Ego, durch Machtgier, Geldgier, Ruhmgier, Hass und den völlig übertriebenen Individualismus! Das musste in die soziale Isolation für viele Menschen führen. Wir hätten rechtzeitig auf Buddha hören sollen! 

Wie funktionieren Geist und Gehirn wirklich?  Mit Modularität und Plastizität, also veränderlich, lernfähig und im Gleichgewicht. Wie von Buddha und Dōgen gelehrt. Das westlicher Menschenbild war zu statisch und dogmatisch, wie Buddha wusste und die Gehirnforschung heute weiß. Wir sollten umlernen und unser Leben aus einer stabilen Mitte heraus umgestalten! Dann werden wir mit mehr innerer Sicherheit, größerem Glück und mit mehr Freude leben.

Auf dem Buddha-Weg ist es wichtig, dass wir uns sowohl der Vielfalt der Welt als auch der umfassenden Lehre des Dharma anvertrauen und nicht durch unnötigen Aktionismus versuchen, die Erleuchtung und Verwirklichung der Wahrheit mit Gewalt und zum eigenen egoistischen Vorteil zu erreichen. Dies geht auch aus Buddhas Ausführungen über die Hemmnisse des Erwachens hervor. Aber ohne stete Bemühung geht es natürlich nicht. Die Täuschungen, die im ersten Satz des folgenden Dōgen-Zitates angesprochen werden, sollten wir so klar wie möglich erkennen und sie nicht selbst weiter verstärken und fortsetzen. Dadurch würden wir uns immer weiter vom Dharma, also von dem wahren Gesetz der Welt, entfernen, denn es geht im Buddhismus um die Transformation der menschlichen Persönlichkeit.

Auch Nāgārjunas großes Anliegen ist es, solche Täuschungen und Ideologien auszuschalten. Selbst mit äußerst geschärften Sinnen, also dem ganzen Sein von Körper und Geist, ist es unmöglich, die Wirklichkeit und Wahrheit dieser Welt vollständig zu erkennen. Eine darauf sich stützende Erfahrung offenbart immer nur eine begrenzte Sicht, ist blind für andere Seiten und führt leider oft zu Ideologien und sogar Fanatismus.

Im Folgenden möchte ich den ersten zentralen Absatz von Dōgens Kapitel genauer untersuchen. Dabei wende ich die von Nishijima Roshi entwickelte Interpretation des Inhalts an, die meines Erachtens sehr stimmig ist. Denn sonst besteht die Gefahr, sich in Widersprüche zu verstricken. Widersprüchlichkeit lehnte Dōgen selbst entschieden ab. Er sagte, dass die Lehre des Buddhismus gerade im Zen niemals unlogisch, paradox und gegen die Vernunft sei – wer das behaupte, habe den Zen-Buddhismus überhaupt nicht verstanden.

„(1) Wenn alle Dharmas (also Dinge und Phänomene, nur) als Buddha-Lehre (Idealismus) verstanden werden, dann gibt es Täuschung und Verwirklichung, gibt es Praxis, gibt es Leben und Tod und gibt es Buddhas und gewöhnliche Wesen.

(2) Wenn die unzähligen Dharmas nicht vom Selbst (Materialismus, ohne denkendes Subjekt) sind, gibt es keine Täuschung und keine Verwirklichung, keine Buddhas, keine (gewöhnlichen) Wesen und kein Leben und keinen Tod (Materie gibt es jedoch immer).

(3) Die Wahrheit des Buddhas übersteigt aber ursprünglich Überfluss und Knappheit (Bewertungen), und daher gibt es (wirklich) Leben und Tod, gibt es Täuschung und Verwirklichung, und daher gibt es (gewöhnliche) Wesen und Buddhas.

(4) Und obgleich dies so ist, fallen nur die Blüten, während sie geliebt werden, und gedeiht das Unkraut, während es ungeliebt ist (und bekämpft wird).“

Aber der Erwachte lebt sein Leben im Gleichgewicht hier und jetzt, er hat das Leiden überwunden und erfährt tiefes Glück.

Zweifellos gehören diese Sätze zum Kern der zenbuddhistischen Lehre, werden aber nicht selten missverstanden oder als unverständlich beiseitegeschoben. Beim genauen Lesen können wir erkennen, dass in diesem Abschnitt verschiedene Sichtweisen oder besser gesagt Lebensphilosophien dargestellt werden.

Im ersten Satz wird ausgedrückt, dass zwischen Täuschung und Verwirklichung, zwischen Praxis und Handeln, zwischen Leben und Tod und zwischen Buddhas und gewöhnlichen Menschen unterschieden wird, wenn die Welt und das Leben auf der Grundlage einer vorgestellten idealistischen Methode des Denkens verstanden werden. Zu diesem Denken und diesen Ideen gehören auch die Theorie und Lehre des Buddha-Dharma. Dem liegt meistens die Vorstellung eines isolierten, denkenden Ich zugrunde. Ich möchte hier an den ersten und dritten Vers des MMK erinnern, in denen ein isoliertes unveränderliches Ich klar falsifiziert wird.

Im zweiten Satz wird dagegen eine ganz andere Grundlage und Methode des Denkens gewählt. Es handelt sich hier um den materialistischen Standpunkt, der durch die Formulierung „wenn die unzähligen Dharmas alle nicht vom Selbst sind“ gekennzeichnet ist. Das heißt, dass kein subjektives Denken besteht und scheinbar die objektive Welt erkannt wird. Dann gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Täuschung und Verwirklichung, Buddhas und gewöhnlichen Menschen oder Leben und Tod. Mit anderen Worten: Die Bedeutungen dieser Begriffe und Gedanken können dann gar nicht erkannt und verstanden werden, denn aus materialistischer Sicht kann man zum Beispiel nicht von Täuschung oder Verwirklichung und von Buddhas oder gewöhnlichen Menschen sprechen. Die materielle Sicht erkennt nur das wahrgenommene Äußere an und kennt keine spirituellen oder geistigen Inhalte.

Die materielle Sichtweise entspricht weitgehend dem Verständnis der westlichen Naturwissenschaft und Technik. Allerdings ist bekannt, dass Albert Einstein, der wohl größte Physiker des vergangenen Jahrhunderts, ein religiöser Mensch war und die Grenzen eines materiellen Verständnisses der Welt klar erkannt, formuliert und überwunden hat. Für die ebenfalls überragenden Physiker, Max Planck und Werner Heisenberg, gilt Ähnliches. Wir können daher feststellen, dass ein rein materialistisches Weltbild auch in der modernen Naturwissenschaft seit mehr als einem Jahrhundert überholt ist. Naturwissenschaft kann immer nur eine Teilwirklichkeit erforschen. Auch der Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann erklärte, dass die Welt von unendlicher Komplexität sei und mahnt uns damit zur geistigen Bescheidenheit. Ein rein materielles Weltbild muss daher in der Tat als naiv und oberflächlich bezeichnet werden. Ein glückliches Leben ist im Materialismus nicht zu erreichen.

Der erste und zweite Satz im obigen Zitat geben demnach die Weltanschauungen und Sichtweisen des subjektbezogenen Idealismus und des objektbezogenen Materialismus wieder. Beide fallen in die Gruppe intellektueller, verstandesmäßiger Philosophien der Teilwahrheiten und werden auch von Nāgārjuna eindeutig abgelehnt. Sie sind etwas grundsätzlich anderes als die praktischen, unmittelbaren und daher wahren Dimensionen der Wirklichkeit, die Gegenstand des dritten und vierten Satzes sind.

Im dritten Satz wird die umfassende Buddha-Wahrheit beschrieben und die Lebenspraxis dargestellt, die über Theorie, intellektuelles Denken und Bewertungen hinausgeht. Sie ist die wahre Wirklichkeit, die uns Befreiung geben kann.

Im vierten Satz sagt Dōgen, dass wir nicht in einer idealen Welt wie in einem Paradies oder im Nirvāna leben, sondern dass wir es mit fallenden Blüten und wucherndem Unkraut zu tun haben, aber dass wir uns davon nicht entmutigen lassen sollen, da wir im Besitz der Buddha-Wahrheit und der Übungspraxis sind. An den Blüten können wir uns erfreuen, solange sie blühen: im Hier und Jetzt. Und Unkraut müssen wir bekämpfen, um nicht Hunger zu leiden.

Mit diesen Formulierungen werden keine starren Ding-Einheiten oder Entitäten, sondern Abläufe, Vorgänge und Prozesse beschrieben, so wie sie in der Wirklichkeit geschehen. Dōgen betont an anderer Stelle, dass insbesondere unsere Vorstellungen und vor allem unsere Bewertungen oft statisch und dauerhaft sind und dass wir diese häufig mit der Wirklichkeit verwechseln. Wenn wir das erkennen und im Leben verwirklichen, erwachen wir im Sinne von Gautama Buddha.

Dann geht Dōgen auf das für ihn so wichtige Handeln des Menschen ein und erklärt, dass wir uns bei Zielen, die dem Eigennutz dienen, selbst in Täuschungen und Illusionen verfangen. Wenn dagegen die zehntausend Dharmas dieser Welt uns aktiv und in Wechselwirkung zum Tun und Handeln bringen, wir also ohne Gier nach Ruhm oder Profit und ohne Neid so handeln, wie es die Situation erfordert, ist dies Erwachen. Dies sind auch Kernaussagen zur richtigen Zazen-Praxis, die nicht mit der Gier nach Erleuchtung, also fragwürdigen Konzepten und Ideologien, belastet und verzerrt werden darf. Anschließend erläutert Dōgen den Weg der Wahrheit wie folgt:

„Buddhas Wahrheit zu erlernen bedeutet, uns selbst zu erlernen. Uns selbst zu erlernen bedeutet, uns zu vergessen. Uns zu vergessen bedeutet, von den vielen, vielen Dharmas der Wahrheit erfahren zu werden. Von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden bedeutet, unseren eigenen Körper und (denkenden) Geist und den Körper und Geist der äußeren Welt fallen zu lassen.“

Wir müssen uns also auf dem Buddha-Weg von vorgefassten, eingefahrenen und erstarrten Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen befreien, um offen für eine neue Entwicklung und Wahrheit zu sein. Dabei ist es notwendig, sich für die Vielfalt der Welt zu öffnen und sie zu erfahren. Weiterhin ist es wesentlich, sich von der Fixierung auf den subjektiven Körper und den subjektiv denkenden Geist, also dem vorgestellten Ich, zu befreien und, wie Dōgen sagt, „Körper und (denkenden) Geist fallen zu lassen“. Wir können uns also nur dann wirklich selbst erkennen, wenn wir unser altes Ich vergessen: „Zen-Geist ist Anfänger-Geist“, nannte das Meister Shunryu Suzuki.

Wir müssen auch die sogenannte objektive Welt des Äußeren und des Körpers sowie den eigenen ruhelosen Geist „fallen lassen“. Im Sinne von Nishijima Roshi bedeutet dies nichts anderes, als sich von den Lebensphilosophien und Lebensdimensionen des einseitigen Idealismus oder Materialismus zu trennen und sich von den damit verbundenen beengten Vorstellungen und erstarrten Gedankenkonstrukten zu befreien. Solche Erstarrungen der buddhistischen Lehre möchte auch Nāgārjuna im MMK identifizieren und falsifizieren.

Die meisten Menschen haben eine mehr oder minder feste Vorstellung von einem unveränderlichen eigenen Ich oder Selbst, das sich zwar im Lauf des Lebens in gewissem Umfang äußerlich verändert und vielleicht auch weiterentwickelt, das aber doch einen konstanten Ich-Kern besitzt. Gautama Buddha hat in aller Klarheit darauf hingewiesen, dass dies ein Irrtum und eine uns vielleicht lieb gewordene Illusion ist und unsere Weiterentwicklung und Befreiung verhindert.

Dōgen erläutert diesen Zusammenhang durch ein Gleichnis: Wenn man in einem Boot sitzt, auf dem Meer fährt und dabei nur das ferne Ufer und Land beobachtet, denkt man, dass man selbst unverändert an einer Stelle auf dem Meer sitzt und sich das Land, also die Außenwelt, bewegt. In diesem Sinne glauben wir an ein feststehendes und dauerhaftes Ich. Wenn wir im Boot jedoch nach unten schauen, also die Bootskante und direkt das durchfahrene Wasser ansehen, stellen wir fest, dass wir uns selbst bewegen und das Land und die Küste ruhig daliegen. In ähnlicher Weise ist es Meister Dōgen zufolge ein grundsätzliches Missverständnis, dass der Körper und denkende Geist, also das Ich, dauerhaft und unvergänglich sind und sich nur die Umgebung verändert oder – zum Beispiel aus ideologischer Perspektive – verändern muss. Wenn wir dagegen die Illusion eines statischen und „dinghaften“ Ich aufgeben und das Handeln im Augenblick in den Mittelpunkt unseres Lebens stellen, können wir unmittelbar in der Wirklichkeit und Wahrheit leben. Darin sind sich Buddha, Nāgārjuna und Dōgen einig.

In einem weiteren Gleichnis bittet uns Dōgen, unter Berücksichtigung der Wechselwirkung die verschiedenen Dinge, Phänomene und Zustände in dieser Welt ganz genau und im Detail zu beobachten: Wenn das Feuerholz zu Asche verbrannt ist, sind Feuerholz und Asche zwei verschiedene Zustände, die im Hier und Jetzt jeweils unabhängig voneinander da sind, obgleich wir sie durch unser Denkvermögen meistens unbemerkt und automatisch verbinden. Diese Verbindung darf unseren Geist aber nicht blind für die Gegenwart machen, denn sie ist in der jetzigen Wirklichkeit nicht zu beobachten, sondern nur in der Vorstellung vorhanden. Dies ergibt wiederum die Anfälligkeit für Ideologien und Scheinursachen. In der Wirklichkeit kann sich die Asche niemals wieder zurück in das Feuerholz verwandeln. Das Feuerholz und die Asche haben damit je ihren eigenen Platz in der Welt und im Dharma. Sie sind nicht total gleich und nicht total verschieden.

Ähnlich ist es beim Menschen: Das Leben und der Tod sind jeweils eigenständig, und nach dem Tod kann sich das Leben nicht wieder in sich zurückverwandeln. In der wahren Sichtweise des kurzen Augenblicks bei Prozessen der Gegenwart gibt es damit eigentlich kein Entstehen und Vergehen, aber es gibt den so wichtigen Impuls zu Veränderungen, zur Suche nach der Wahrheit und zur Freiheit. Die Umstände existieren je für sich und offenbaren dann den wahren Dharma und die Wahrheit. Für einen solchen Zustand der Wahrheit oder Erleuchtung verwendet Dōgen das im Buddhismus häufige Bild des Mondes:

„Ein Mensch, der Verwirklichung erlangt, ist wie der Mond, der sich im Wasser spiegelt und verweilt: Der Mond wird nicht nass, und das Wasser wird nicht zerteilt. Obgleich das Licht (des Mondes) weit und groß ist, verweilt es in einer (kleinen) Fläche von einem Fuß oder einigen Zentimetern (der Breite und Länge). Der ganze Mond und der ganze Himmel verweilen sich in einem Tautropfen auf einem Grashalm und in einem einzigen Wassertropfen.“

Dieses poetische Bild des sich spiegelnden und verweilenden Mondes macht deutlich, dass es in der Wirklichkeit keine gegenseitigen Behinderungen, Einengungen oder Verkrampfungen gibt, sondern wahre Wechselwirkungen.

Am Beispiel der Fische im Wasser und der Vögel in der Luft erläutert Dōgen dann, dass jedes Lebewesen seinen eigenen Platz, seinen Lebensraum, sein Handeln, seine Verwirklichung und seine Wahrheit in der Welt hat. Wenn ein Fisch das Wasser verlässt, also falsch handelt, muss er sterben, und wenn ein Vogel vom Himmel auf die Erde herunterfällt, stirbt er ebenfalls. Wenn der Fisch und der Vogel in ihrem angestammten Element leben und handeln, haben sie ihren richtigen Platz in der Welt und im Dharma.

Schon Gautama Buddha wies darauf hin, wie vielfältig die jeweiligen Sichtweisen in der Welt sind: Der Ozean ist für die Fische ein Palast, für die Götter eine Perlenkette. Der Buddha-Weg bedeutet, dass wir aus dem Staub und Dunst des sogenannten normalen Lebens hinaustreten, sodass die üblichen räumlichen oder psychischen Grenzen und Hindernisse nicht mehr bestehen. Dōgen sagt weiter:

„So können wir das Wasser als Leben verstehen und den Himmel als Leben verstehen. Vögel sind Leben, und Fische sind Leben. Es mag wohl sein, dass Vögel und Fische Leben sind. Und jenseits dessen mag es immer noch eine Weiterentwicklung geben. Genau so ist es mit unserer Praxis-und-Erfahrung, mit (unserer) Lebenszeit und unserem Leben.“

Wenn wir so unseren Platz finden, ist dieses Handeln ohne jeden Zweifel die Welt und das Universum selbst. Weiter heißt es:

„Wenn ein Mensch in diesem Zustand Buddhas Wahrheit praktiziert und erfährt, erlangt er einen Dharma und durchdringt einen Dharma, und er begegnet dem Handeln und vollzieht das Handeln. In diesem Zustand existiert der Ort und wird der Weg gemeistert, und daher ist der zu erkennende Bereich nicht (unbedingt für den verengten Verstand) offensichtlich.“

Am Ende dieses wichtigen Kapitels gibt Dōgen eine Kōan-Geschichte wieder: Ein Meister fächelt sich zur Kühlung Luft zu, weil es heiß ist, als ein Mönch vorbeikommt und offensichtlich eine intelligente Bemerkung anbringen will: Er sagt, die Luft habe die allgemeine Eigenschaft, überall anwesend zu sein. Das ist philosophisch betrachtet eine ontologische Aussage. Aber welche Relevanz hat sie in dieser konkreten Situation? Dem Meister ist sofort klar, dass der Mönch abstrakten allgemeinen Gedankengängen verhaftet und nicht offen für das praktische und konkrete Hier und Jetzt ist. Er ist sicher tief von seiner eigenen großartigen Intelligenz und seinem Wissen über die Buddha-Lehre überzeugt und glaubt, dass sein Denken und Reden ihn schon nahe an die wunderbaren Früchte der Erleuchtung herangeführt hätten, die Früchte, die er schon fast greifen könnte. Dazu sucht er die Bestätigung durch den Meister. Aber er unterliegt einem großen Irrtum. Auf die folgende Frage dieses Mönchs, warum sich der Meister denn die Luft zufächle, antwortet dieser daher einfach, es gebe in der Tat keinen Ort in der Welt, an dem keine Luft vorhanden sei – inhaltlich also genau die gleiche ontologische Aussage, die der Mönch vorher verkündet hatte. Durch diese eigentlich logisch überflüssige Wiederholung wird dem Mönch jedoch schlagartig klar, dass allgemeine theoretische Kenntnisse auch der Buddha-Lehre und angelernte sogenannte Weisheiten etwas ganz anderes als die Wirklichkeit selbst sind, die man unmittelbar erlebt und erfährt. Wenn einem zu heiß ist, kann man sich durch den Fächer direkt Kühlung verschaffen und erfährt direkt die kühlende Luft, und das genau ist die Wirklichkeit. Daher setzt der Meister die Unterhaltung mit dem Mönch nicht fort, sondern fächelt sich einfach weiter die kühlende Luft zu. Durch dieses Handeln des Meisters gelangt der Mönch von allgemeinen und abstrakten Ideen und seinem angelernten Wissen unmittelbar zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt, es fällt ihm wie Schuppen von den Augen und vom Geist: Sein Körper-und-Geist erfahren eine ganz neue, frische Kraft. Dies ist das verwirklichte Leben und Universum – über Ideen, Ideologien und materielle Dinge hinaus.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 57ff.