Montag, 1. August 2022

Die acht Wahrheiten eines wirklich großen Menschen

Für Zen-Meister Dōgen ist der Wille zur Wahrheit im menschlichen Leben von zentraler Bedeutung für den Weg aus dem Leiden zur Klarheit und zum Erwachen. Es geht in seinem fulminanten Werk Shōbōgenzō dabei um eine klare und ganz praktische Wahrheit im Gegensatz zu Täuschung und Dumpfheit, aber nicht um abstrakte und metaphysische Theorien der absoluten Wahrheit. Es werden auch kein extremer Idealismus und keine unerfüllbaren ethischen Forderungen beschrieben: Dōgen schöpft aus seiner umfassenden Lebenserfahrung, die er auch auf seiner Chinareise sammeln und für die Nachwelt übermitteln konnte. Dabei gibt es eine Beziehung zu den Themen der Präambel zum Mittleren Weges, MMK. Wie er diese aufgreift und weiterführt, soll im Folgenden anhand von Dōgens Kapitel „Die acht Wahrheiten eines wirklich großen Menschen“ aufgezeigt werden. Das MMK steht vor allem für Nāgārjunas unverrückbaren Willen, den authentischen Buddhismus wieder aus sektiererischen Fehlentwicklungen herauszuarbeiten. Das ist auch Dōgens zentrales Anliegen etwa eintausend Jahre später im Zen-Buddhismus Japans. Es geht vor allem darum, übertriebenen und sogar extremen Idealismus zu überwinden, weil er von den Leiden und der Befreiung der Wirklichkeit hier und jetzt wegführt und in philosophische Höhen abgleitet. Diese Höhen sind dann nur noch von Spezialisten zu verstehen.

Nach der Überlieferung lehrte Gautama Buddha kurz vor seinem Tod die acht Wahrheiten eines wirklich großen Menschen, also eines Buddhas oder eines Bodhisattva. Sie sind eine Zusammenfassung der Weisheit des Mittleren Weges. Im letzten Kapitel des Shōbōgenzō, das Dōgen niederschrieb, als er schon schwerkrank und vom Tode gezeichnet war, sind die acht Wahrheiten ebenfalls das Thema.

Diese letzte Lehrrede („Hachi-dainingaku“) fasst die wichtigsten Regeln für ein wahres buddhistisches Leben recht einfach und praxisorientiert zusammen.[i] Die Regeln sind keine Dogmen, sondern ähnlich wie die Bodhisattva-Gelöbnisse als Hilfe für unser tägliches Leben zu verstehen. Sie zeugen vom Realitätssinn des Mittleren Weges und von der konsequenten Vermeidung von idealisierten und dogmatisierten Übertreibungen und Extremen im Zen. Sie beinhalten keine Extrem-Aussagen und moralisch überzogenen Forderungen, die auch manchen Traditionen des Buddhismus leider nicht fremd sind, aber bei Buddha nicht vorkommen. Mit solchen Doktrinen kann man das Leiden nicht überwinden und keine Erleuchtung erlangen, sondern hemmt durch Angst und Negativität die eigene Entwicklung und Emanzipation.

Dōgen schreibt am Anfang seines Kapitels, dass man den ruhigen und ausgeglichenen Lebenszustand erreicht, wenn man diese acht Wahrheiten verwirklicht. Dabei verwendet er wie Nāgārjuna den Ausdruck „zur Ruhe kommen“. Er spricht davon, dass man in das Nirvāna eingeht und meint damit vor allem den Zustand des Gleichgewichts und der Befreiung im Hier und Jetzt. Im Folgenden werden die acht Wahrheiten dargestellt und kurz erläutert.

Geringe Begierde haben: Diese Regel beinhaltet, dass wir nicht Dingen nachjagen sollen, die wir noch nicht besitzen, aber unbedingt haben wollen. Dazu gehören vor allem die Objekte der Begierden, die durch die Wahrnehmung mit den fünf Sinnesorganen – den Augen, Ohren, der Nase, Zunge und Haut – hervorgerufen und angestachelt werden. Dōgen zitiert hierzu Buddha, der warnte, dass das Leiden grenzenlos ist, wenn wir diesen Begierden hemmungslos, extrem und unkontrolliert nachgeben. Hat man sie jedoch „im Griff“, kann sie steuern und hält sie klein, befreit man sich von ihrer Dominanz und damit auch vom Leiden. Solche Menschen schmeicheln auch nicht um des eigenen Vorteils willen und kriechen nicht vor denjenigen, von denen sie die Objekte der Begierden erhalten möchten. Nur auf diese Weise seien wir ohne Sorgen und Furcht, haben umfassende Freiheit und großen Spielraum im eigenen Leben und sind zufrieden. Allerdings sagt Dōgen nicht, dass wir alles Wollen und Wünschen asketisch unterdrücken sollen, denn das würde dem Mittleren Weg widersprechen und nicht zur Erleuchtung führen, wie Buddha selbst erfahren hatte.

Erkennen der Zufriedenheit mit dem, was man hat :Hier wird vor allem die Fähigkeit angesprochen, mit den Dingen, die wir besitzen, und unseren Lebensumständen zufrieden zu sein und nicht immer Extremen nachzujagen. Wenn wir eine solche Zufriedenheit klar erkennen, dann überwinden wir die verschiedenartigen Leiden in unserem Leben und erleben einen Ort des Reichtums, der Freude und des Friedens. Kennen wir eine solche Zufriedenheit jedoch nicht, könnten wir sogar an einem himmlischen Ort leben und wären trotzdem ständig unzufrieden, frustriert und wollten immer noch mehr. Neid und Missgunst sind die Feinde der Zufriedenheit und schaden uns selbst am meisten. Dōgen zitiert dazu Buddha: „Jene Menschen, die die Zufriedenheit nicht kennen, sind arm, selbst wenn sie reich sind, und jene, die die Zufriedenheit kennen, sind reich, selbst wenn sie arm sind. Jene, die die Zufriedenheit nicht kennen, werden ununterbrochen von den fünf Begierden gesteuert.“

Freude an der Stille haben: Wir sollten uns von lärmenden, unruhigen Gruppen und Veranstaltungen fernhalten und einen ruhigen Ort suchen. Das ist in der heutigen hektischen Zeit – auch angesichts des extremen Unterhaltungsangebots der Massenmedien – besonders wichtig. Viele empfinden in der Abgeschiedenheit große Langeweile, aber der dauernde exaltierte Trubel ist sicher der falsche Weg für ein Leben im Gleichgewicht. Buddha vergleicht diese Situation mit einem Schwarm von Vögeln, die auf einem Baum sitzen und ständig in großen Sorgen und Ängsten sind, dass dieser zusammenbricht und umfällt, obgleich er leicht die auf ihm sitzenden Vögel tragen kann. Außerdem sagt er: „(Jene), die an die Welt gefesselt sind und ihr anhaften, versinken in verschiedenartiges Leiden, wie ein alter Elefant, der im Sumpf versinkt und selbst nicht in der Lage ist, wieder herauszukommen. Dies wird genannt ‚sich fernzuhalten’.“

Mit Fleiß und Ausdauer praktizieren: Dabei kommt es darauf an, ausdauernd zu praktizieren und nicht in seinen Bemühungen zu erlahmen. Laut Buddha wird dann überhaupt nichts schwierig und unüberwindbar sein: Wir sollten Fleiß und Ausdauer praktizieren wie „ein steter Tropfen Wasser, der andauernd niederfällt und wirklich in der Lage ist, einen Felsen zu durchbohren“, erklärt er.

Das Gegenteil davon sei ein hektischer oder träger Mensch ohne Ausdauer, der Feuer durch schnelles Reiben zweier Hölzer aneinander erzeugen will, aber leider aufhört, kurz bevor die Hölzer heiß genug sind und das Feuer sich tatsächlich entzündet. Extreme sowie hektisch und ohne Ausdauer verfolgte Ziele führen häufig zu schweren Rückschlägen und unterminieren die Kraft, etwas Sinnvolles zu tun. Das ist das Gegenteil von Selbstwirksamkeit.

Nicht die rechte Achtsamkeit verlieren: Hier geht es vor allem um die wahre Achtsamkeit für andere und nicht um den sentimentalen Selbstbezug und das Selbstmitleid, die heute häufig festzustellen sind. Der Begriff der Achtsamkeit ist also nach Dōgen umfassend zu verstehen. Wenn man dauernd um sich selbst kreist, sich krampfhaft beobachtet und interpretiert, entspricht das bestimmt nicht der sinnvollen Achtsamkeit. Dōgen setzt dabei vor allem auf gute Lehrer, denen wir uns anvertrauen und unter deren Anleitung wir auf dem Mittleren Weg Buddhas weiterlernen. Gestärkt durch eine solche Achtsamkeit können uns „die Banditen der Not“ nicht erobern und wir bleiben im Gleichgewicht. Wir sollten deshalb unsere Gedanken und Gefühle steuern, vor Extremen bewahren und sie im richtigen Ort des Geistes halten. Wer seine Achtsamkeit verliert, verliert seine Tugend und Lebensfreude. Durch die Achtsamkeit seien wir im Kampf des Lebens wie durch einen Panzer geschützt.

Das Gleichgewicht der Zen-Meditation verwirklichen: Dies bedeutet, dass wir ohne Störung im Gleichgewicht der Meditation und im Buddha-Dharma verweilen. Nishijima Roshi betont, dass es ohne die Meditation, zum Beispiel des Zazen, keinen Buddhismus gibt, und Gautama Buddha erklärt, dass durch die Steuerung des Geistes der Zustand der inneren und äußeren Balance eintritt. Dann zerstreut sich unser Geist nicht, sondern ist gesammelt. Buddha vergleicht ihn mit einem Leitungssystem für Trinkwasser, das kein Leck hat und dicht ist, sodass kein Wasser unnütz versickert und verloren geht.

Weisheit verwirklichen: Zu dieser Regel erläutert Buddha: „Wenn ihr Mönche Weisheit habt, dann werdet ihr ohne Gier und Anhaftung sein.“ Es sei wichtig, dass wir uns sorgfältig beobachten und darüber reflektieren, wie wir denken, fühlen und handeln, was sich also in unserem Geist und unserer Psyche ereignet und ob wir durch extreme Gefühle und Gedanken hin und her geworfen werden. Wir sollten möglichst schnell durchschauen, wenn wir von der Gier nach Ruhm und Profit oder von Übelwollen getrieben werden. Dadurch verweilen wir in der Wahrheit des Dharma und erreichen die Befreiung und Emanzipation. Ist dies nicht der Fall, dann unterscheiden wir uns grundsätzlich von den Menschen der Wahrheit, seien es Nonnen, Mönche oder Laien. Die Weisheit sei wie ein stabiles Schiff, mit dem wir den Ozean des Alterns, der Krankheit und des Todes überqueren wollen und können. Sie sei ein großartiges Licht für die Dunkelheit der Unwissenheit und eine gute Medizin für kranke Menschen. „Wenn ein Mensch das Licht der Weisheit besitzt, ist er auch mit den körperlichen Augen jemand mit klarer Sichtweise. Dies wird ‚Weisheit’ genannt“, stellt Buddha fest.

Sich nicht in müßigen Diskussionen engagieren: Indem wir uns von exaltierten Unterscheidungen, einseitigen Abwertungen anderer und fundamentalistischen Streitereien fernhalten, verwirklichen wir die reale Form und Wirklichkeit des Lebens. Aufgebrachte affektive Diskussionen mit extremen und ideologischen Haltungen verwirren dagegen laut Buddha den Geist. Wir können uns dann nicht von diesen Verwirrungen befreien, selbst wenn wir in ein Kloster eingetreten sind. In der Tat sind derartig hitzige, oft aggressiv geführte Streitgespräche wenig geeignet, um auch nur ein Stück Wahrheit zu finden und zu befördern.

Dann zitiert Dōgen noch einmal Buddha: „Ihr Mönche solltet euch dauerhaft anstrengen, mit ungeteiltem Geist die Wahrheit der Befreiung anzustreben. Alle Dharmas dieser Welt, die sich bewegen oder bewegungslos sind, vergehen ohne Ausnahme und haben keine statische Form. Ihr solltet jetzt für eine Weile innehalten und nicht mehr reden. Die Zeit muss weitergehen und ich schicke mich an, zu sterben. Dies ist meine letzte Unterweisung.“

Dōgen bedauerte, dass zu seiner Zeit viele Menschen die acht Wahrheiten des Mittleren Weges nicht kannten und auch nicht erlernen wollten. Wer jedoch Zugang zu ihnen habe, könne sich glücklich schätzen, weil er auf diese Weise gute Wurzeln für sein eigenes Leben besitze. Er bezeichnet seine eigene Zeit als heimtückisch und dekadent und mahnt uns: „Solange der wahre Dharma des Tathāgata die tausendfache (Welt) durchdringt und solange die reine Lehre noch nicht verschwunden ist, sollten wir sie ohne Verzug erlernen. Seid nicht träge oder nachlässig.

Das ist der wahre Weg der Mitte und Lebens-Energie.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 291ff.