Nach der Überlieferung lehrte Gautama
Buddha kurz vor seinem Tod die acht Wahrheiten eines wirklich großen
Menschen, also eines Buddhas oder eines Bodhisattva. Sie sind eine Zusammenfassung der Weisheit des Mittleren Weges. Im letzten Kapitel des Shōbōgenzō, das Dōgen niederschrieb, als er schon schwerkrank und
vom Tode gezeichnet war, sind die acht Wahrheiten ebenfalls das Thema.
Diese letzte Lehrrede („Hachi-dainingaku“) fasst die wichtigsten Regeln für
ein wahres buddhistisches Leben recht einfach und praxisorientiert zusammen.[i] Die
Regeln sind keine Dogmen, sondern ähnlich wie die Bodhisattva-Gelöbnisse als
Hilfe für unser tägliches Leben zu verstehen. Sie zeugen vom Realitätssinn des
Mittleren Weges und von der konsequenten Vermeidung von idealisierten und
dogmatisierten Übertreibungen und Extremen im Zen. Sie beinhalten keine
Extrem-Aussagen und moralisch überzogenen Forderungen, die auch manchen
Traditionen des Buddhismus leider nicht fremd sind, aber bei Buddha nicht
vorkommen. Mit solchen Doktrinen kann man das Leiden nicht überwinden und keine
Erleuchtung erlangen, sondern hemmt durch Angst und Negativität die eigene
Entwicklung und Emanzipation.
Dōgen schreibt am Anfang seines Kapitels, dass man den ruhigen und ausgeglichenen Lebenszustand erreicht,
wenn man diese acht Wahrheiten verwirklicht. Dabei verwendet er wie Nāgārjuna
den Ausdruck „zur Ruhe kommen“. Er spricht davon, dass man in das Nirvāna
eingeht und meint damit vor allem den Zustand des Gleichgewichts und der
Befreiung im Hier und Jetzt. Im Folgenden werden die acht Wahrheiten
dargestellt und kurz erläutert.
Geringe
Begierde haben: Diese
Regel beinhaltet, dass wir nicht Dingen nachjagen sollen, die wir noch nicht
besitzen, aber unbedingt haben wollen. Dazu gehören vor allem die Objekte der
Begierden, die durch die Wahrnehmung mit den fünf Sinnesorganen – den Augen,
Ohren, der Nase, Zunge und Haut – hervorgerufen und angestachelt werden. Dōgen
zitiert hierzu Buddha, der warnte, dass das Leiden grenzenlos ist, wenn wir
diesen Begierden hemmungslos, extrem und unkontrolliert nachgeben. Hat man sie
jedoch „im Griff“, kann sie steuern und hält sie klein, befreit man sich von
ihrer Dominanz und damit auch vom Leiden. Solche Menschen schmeicheln auch
nicht um des eigenen Vorteils willen und kriechen nicht vor denjenigen, von
denen sie die Objekte der Begierden erhalten möchten. Nur auf diese Weise seien
wir ohne Sorgen und Furcht, haben umfassende Freiheit und großen Spielraum im
eigenen Leben und sind zufrieden. Allerdings sagt Dōgen nicht, dass wir alles
Wollen und Wünschen asketisch unterdrücken sollen, denn das würde dem Mittleren
Weg widersprechen und nicht zur Erleuchtung führen, wie Buddha selbst erfahren
hatte.
Erkennen
der Zufriedenheit mit dem, was man hat :Hier wird vor allem die Fähigkeit angesprochen, mit den Dingen, die wir
besitzen, und unseren Lebensumständen zufrieden zu sein
und nicht immer Extremen nachzujagen. Wenn wir eine solche Zufriedenheit
klar erkennen, dann überwinden wir die verschiedenartigen Leiden in unserem Leben
und erleben einen Ort des Reichtums, der Freude und des Friedens. Kennen wir
eine solche Zufriedenheit jedoch nicht, könnten wir sogar an einem himmlischen
Ort leben und wären trotzdem ständig unzufrieden, frustriert und wollten immer
noch mehr. Neid und Missgunst sind die Feinde der Zufriedenheit und schaden uns
selbst am meisten. Dōgen zitiert dazu Buddha: „Jene Menschen, die die
Zufriedenheit nicht kennen, sind arm, selbst wenn sie reich sind, und jene, die
die Zufriedenheit kennen, sind reich, selbst wenn sie arm sind. Jene, die die
Zufriedenheit nicht kennen, werden ununterbrochen von den fünf Begierden
gesteuert.“
Freude
an der Stille haben: Wir
sollten uns von lärmenden, unruhigen Gruppen und Veranstaltungen fernhalten und
einen ruhigen Ort suchen. Das ist in der heutigen hektischen Zeit – auch
angesichts des extremen Unterhaltungsangebots der Massenmedien – besonders
wichtig. Viele empfinden in der Abgeschiedenheit große Langeweile, aber der
dauernde exaltierte Trubel ist sicher der falsche Weg für ein Leben im
Gleichgewicht. Buddha vergleicht diese Situation mit einem Schwarm von Vögeln,
die auf einem Baum sitzen und ständig in großen Sorgen und Ängsten sind, dass
dieser zusammenbricht und umfällt, obgleich er leicht die auf ihm sitzenden
Vögel tragen kann. Außerdem sagt er: „(Jene), die an die Welt gefesselt sind
und ihr anhaften, versinken in verschiedenartiges Leiden, wie ein alter
Elefant, der im Sumpf versinkt und selbst nicht in der Lage ist, wieder
herauszukommen. Dies wird genannt ‚sich fernzuhalten’.“
Mit
Fleiß und Ausdauer praktizieren: Dabei kommt es darauf an, ausdauernd zu praktizieren und nicht in seinen
Bemühungen zu erlahmen. Laut Buddha
wird dann überhaupt nichts schwierig und unüberwindbar sein: Wir sollten Fleiß
und Ausdauer praktizieren wie „ein steter Tropfen Wasser, der andauernd
niederfällt und wirklich in der Lage ist, einen Felsen zu durchbohren“, erklärt
er.
Das Gegenteil davon sei ein hektischer oder träger Mensch ohne Ausdauer,
der Feuer durch schnelles Reiben zweier Hölzer aneinander erzeugen will, aber
leider aufhört, kurz bevor die Hölzer heiß genug sind und das Feuer sich
tatsächlich entzündet. Extreme sowie hektisch und ohne Ausdauer verfolgte Ziele
führen häufig zu schweren Rückschlägen und unterminieren die Kraft, etwas
Sinnvolles zu tun. Das ist das Gegenteil von Selbstwirksamkeit.
Nicht
die rechte Achtsamkeit verlieren: Hier geht es vor allem um die wahre Achtsamkeit für andere und nicht um
den sentimentalen Selbstbezug und das Selbstmitleid, die heute häufig festzustellen
sind. Der Begriff der Achtsamkeit ist also nach Dōgen umfassend zu verstehen.
Wenn man dauernd um sich selbst kreist, sich krampfhaft beobachtet und
interpretiert, entspricht das bestimmt nicht der sinnvollen Achtsamkeit. Dōgen
setzt dabei vor allem auf gute Lehrer, denen wir uns anvertrauen und unter
deren Anleitung wir auf dem Mittleren Weg Buddhas weiterlernen. Gestärkt durch
eine solche Achtsamkeit können uns „die Banditen der Not“ nicht erobern und wir
bleiben im Gleichgewicht. Wir sollten deshalb unsere Gedanken und Gefühle
steuern, vor Extremen bewahren und sie im richtigen Ort des Geistes halten. Wer
seine Achtsamkeit verliert, verliert seine Tugend und Lebensfreude. Durch die
Achtsamkeit seien wir im Kampf des Lebens wie durch einen Panzer geschützt.
Das
Gleichgewicht der Zen-Meditation verwirklichen: Dies bedeutet, dass wir ohne Störung im Gleichgewicht
der Meditation und im Buddha-Dharma verweilen. Nishijima Roshi betont, dass es
ohne die Meditation, zum Beispiel des Zazen, keinen Buddhismus gibt, und
Gautama Buddha erklärt, dass durch die Steuerung des Geistes der Zustand der
inneren und äußeren Balance eintritt. Dann zerstreut sich unser Geist nicht,
sondern ist gesammelt. Buddha vergleicht ihn mit einem Leitungssystem für
Trinkwasser, das kein Leck hat und dicht ist, sodass kein Wasser unnütz
versickert und verloren geht.
Weisheit
verwirklichen: Zu
dieser Regel erläutert Buddha: „Wenn ihr Mönche Weisheit habt, dann werdet ihr
ohne Gier und Anhaftung sein.“ Es sei wichtig, dass wir uns sorgfältig
beobachten und darüber reflektieren, wie wir denken, fühlen und handeln, was
sich also in unserem Geist und unserer Psyche ereignet und ob wir durch extreme
Gefühle und Gedanken hin und her geworfen werden. Wir sollten möglichst schnell
durchschauen, wenn wir von der Gier nach Ruhm und Profit oder von Übelwollen
getrieben werden. Dadurch verweilen wir in der Wahrheit des Dharma und
erreichen die Befreiung und Emanzipation. Ist dies nicht der Fall, dann
unterscheiden wir uns grundsätzlich von den Menschen der Wahrheit, seien es
Nonnen, Mönche oder Laien. Die Weisheit sei wie ein stabiles Schiff, mit dem
wir den Ozean des Alterns, der Krankheit und des Todes überqueren wollen und
können. Sie sei ein großartiges Licht für die Dunkelheit der Unwissenheit und
eine gute Medizin für kranke Menschen. „Wenn ein Mensch das Licht der Weisheit
besitzt, ist er auch mit den körperlichen Augen jemand mit klarer Sichtweise.
Dies wird ‚Weisheit’ genannt“, stellt Buddha fest.
Sich
nicht in müßigen Diskussionen engagieren: Indem wir uns von exaltierten Unterscheidungen, einseitigen Abwertungen
anderer und fundamentalistischen Streitereien fernhalten,
verwirklichen wir die reale Form und Wirklichkeit des Lebens. Aufgebrachte
affektive Diskussionen mit extremen und ideologischen Haltungen verwirren
dagegen laut Buddha den Geist. Wir können uns dann nicht von diesen
Verwirrungen befreien, selbst wenn wir in ein Kloster eingetreten sind. In der
Tat sind derartig hitzige, oft aggressiv geführte Streitgespräche wenig geeignet,
um auch nur ein Stück Wahrheit zu finden und zu befördern.
Dann zitiert Dōgen noch einmal Buddha: „Ihr Mönche solltet euch
dauerhaft anstrengen, mit ungeteiltem Geist die Wahrheit der Befreiung
anzustreben. Alle Dharmas dieser Welt, die sich bewegen oder bewegungslos sind,
vergehen ohne Ausnahme und haben keine statische Form. Ihr solltet jetzt für
eine Weile innehalten und nicht mehr reden. Die Zeit muss weitergehen und ich
schicke mich an, zu sterben. Dies ist meine letzte Unterweisung.“
Dōgen bedauerte, dass zu
seiner Zeit viele Menschen die acht Wahrheiten des Mittleren Weges nicht
kannten und auch nicht erlernen wollten. Wer jedoch Zugang zu ihnen habe, könne
sich glücklich schätzen, weil er auf diese Weise gute Wurzeln für sein eigenes
Leben besitze. Er bezeichnet seine eigene Zeit als heimtückisch und dekadent
und mahnt uns: „Solange der wahre Dharma des Tathāgata die tausendfache (Welt)
durchdringt und solange die reine Lehre noch nicht verschwunden ist, sollten
wir sie ohne Verzug erlernen. Seid nicht träge oder nachlässig.
Das ist der wahre Weg der Mitte und
Lebens-Energie.
[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 291ff.