Samstag, 23. Juli 2022

Buddha-Augen keine Schweine-Augen

Die japanische Bezeichnung in diesem Kapitels des Shobogenzo lautet Kômyô, wobei leuchtend, strahlend und hell bedeutet und myô die Klarheit ist. Im Buddhismus wird die leuchtende Klarheit der ganzen Welt und des Universums gelehrt, die Menschen selbst erfahren können, wenn sie nach der wahren Lehre von Gautama Buddha leben und erwachen. Dann leben und existieren sie in der leuchtenden Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Sie verlieren sich nicht in idealistischen Träumereien und Verblendungen durch Gier, Hass, Machthunger, Dominanzstreben, Spaltung von Handeln und Karma, Neid, Dogmen usw.. Vasubandhu zählt in seinem genialen Lehrgedicht des Yogacara der dreißig Verse eine Vielzahl derartiger Verblendungen auf. Überhaupt gib es aus meiner Sicht viel engere buddhistische Beziehungen von Vasubandhu zum Zen als in der Literatur bisher beachtet wurde,denn dieser große indische Meister wird überwiegend dem Idealismus zugeordnet. Das halte ich nach neuer Buddhismusforschung doch für zu einseitig. Zen ist nun wirklich kein abgehobener Idealismus.

Materiell orientierte Menschen haben dagegen kein Verständnis für spirituelle oder ideale Ziele. Sie erhoffen sich von materiellen Gütern und Reichtum das Glück auf dieser Erde, weil dies das einzige Reale sei. In der buddhistischen Lehre werden die idealistischen und materialistischen Dimensionen des Lebens als zu einseitig eingestuft. Auch das rechte Handeln darf nicht vernachlässigt werden. Extreme eröffnen gerade nicht den Weg der Befreiung und Überwindung des Leidens, wie Buddha gelehrt hat. Dieser Weg ist die Kraft der Mitte und das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung.

Meister Dôgen erklärt in diesem Kapitel, dass das ganze Universum klar und leuchtend ist und dass wir durch die Buddha-Lehre und die Übungspraxis daran lebendiger Teil der Welt werden. Durch das reine Handeln und des Gleichgewichts im Hier und Jetzt öffnen wir uns für die leuchtende Klarheit und werden Teil von ihr. Der große Meister Nagarjuna sagt im berühmten Gesang des Mittleren Weges, dass die große Wahrheit des Lebens "das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung" ist (pratitya samutpada). Das ist der Türöffner zur Befreiung und Erleuchtung. Das ist das Prinzip der Zusammenarbeit im Buddhismus, nicht zuletzt bei der gemeinsamen Arbeit an den authentische Texten.

Unser Körper, Geist und unsere Gefühle erfahren dadurch nach Dôgen eine unerwartete Stärkung durch heilsame Energien, die wir vorher nicht einmal denken konnten und die sich jäh ereignen. Er zitiert einen alten Meister:

„Das ganze Universum der zehn Richtungen ist die leuchtende Klarheit des Selbst.

In der leuchtenden Klarheit dieses Selbst existiert das ganze Universum der zehn Richtungen.

Im ganzen Universum der zehn Richtungen gibt es keinen einzigen Menschen, der nicht dieses Selbst ist.“

Was will der alte Meister damit sagen? Ist das nicht viel zu optimistisch bei all den Kriegen, Unterdrückungen und Ausbeutungen, die wir erleben müssen? Vom Zen heißt es doch, dass er klar und nüchtern sei und sich nicht in spirituellen Märchen und Fantasien verliert. Mich überzeugt Dôgens Text zur leuchtenden Klarheit im Hier und jetzt, beim Meditieren und Handeln. Wie wird er die Wahrheiten des Leuchtens herausarbeiten?

Nach der indischen Lehre haben das Universum und die Welt zehn konkrete Himmelsrichtungen. Diese werden hier mit dem Selbst in strahlender Klarheit gleichgesetzt, also ein leuchtendes Selbst in allen Himmelsrichtungen. Das Selbst ist nicht das abgegrenzte Ich des Egoismus, sondern hat die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden und sich zum ganzen Universum hin geöffnet und verbunden. Das ist die große heilende Wechselwirkung! Es bildet eine großartige lebende Einheit. Bei dieser Öffnung entsteht nach dem obigen Zitat die leuchtende Klarheit, bei Abtrennung und Isolation entsteht sie überhaupt nicht. Dieses so erlebbares Selbst ist in allen Menschen ausnahmslos vorhanden und möglich. Aber ganz von allein, ereignet sich natürlich  nichts oder nicht viel. Es ist sinnvoll und wirksam, diese Buddha-Wahrheit in der Praxis und mit Ausdauer zu erlernen. Man muss dran bleiben, ohne Übertreibungen und kleinkariertem Jammer-Pessimismus. Wenn man so ausdauernd handelt, entfernt man sich nicht mehr von dieser Wahrheit. Dôgen sagt hierzu sogar:

„Es gab nur wenige alte Meister, die die leuchtende Klarheit auf der Grundlage solcher Anstrengungen studiert und verwirklicht haben.“

Der Buddhismus wurde früh im ersten und zweiten Jahrhundert nach China gebracht, allerdings ohne die Praxis des Zazen und des Handelns im Alltag. Dort kam es zu einigem tief greifenden Wechselwirkungen mit dem bis dahin vorherrschenden Daoismus. Als Meister Bodhidharma dann Anfang des sechsten Jahrhunderts als authentischer Dharma-Nachfolger in der direkten Linie von Gautama Buddha nach China kam und den Dharma an seinen eigenen Schüler Taiso Eka weitergab, war dies laut Dôgen ein

„historisches Ereignis der leuchtenden Klarheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma. Vorher hatten die Menschen (in China) die Klarheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma weder gesehen noch gehört. Wie hätten sie ihre eigene leuchtende Klarheit erkennen können?“

Mit Bodhidharma kam die buddhistische Praxis nach China, wo bis dahin theoretische und recht abstrakte Lehren vorgeherrscht hatten, denen nach Dôgen die lebendige Einheit von Theorie und Praxis fehlte. Die leuchtende Klarheit des Buddhismus ist genau diese Verschmelzung von theoretischer Lehre und der Praxis des Zazen sowie des Handelns im Alltag. Die leuchtende Klarheit ist also keine romantische Vorstellung, kein Wunschdenken und keine Flucht aus der Wirklichkeit. Dôgen erklärt, dass man sie sich nicht konkretistisch nur als rotes, weißes, blaues oder vergoldetes Licht vorstellen solle. Bilder von romantischen oder heroischen Feuern sind genausoÜbertreibungen, die bald verblassen genau so wie Idealisierungen des Wassers. Selbst der Glanz einer Perle und das Glitzern eines Diamanten bleiben häufig auf der Ebene der äußeren materiellen Wahrnehmung hängen. Sie können dann nicht die umfassende leuchtende Klarheit des Buddha-Dharma als Wirklichkeit entstehen lassen. Dôgen schildert, dass die Buddhas und großen Meister diese Klarheit praktizieren und erfahren und genau dabei „werden sie Buddha, sitzen als Buddha und erfahren Buddha.“ Es wird klar, dass Dôgen hier die Einheit der leuchtenden Klarheit, der buddhistischen Praxis und des Handelns in den Mittelpunkt stellt. Das heißt schlicht und einfach, dass man ohne ein solches Handeln die leuchtende Klarheit nicht erfahren kann.

Er geht dann auf das Lotos-Sûtra ein, in dem es heißt, dass die vielen Buddha-Länder des Ostens von der leuchtenden Klarheit erhellt werden. Diese solle man sich aber nicht nur quantitativ vorstellen. Den Osten, wo die Sonne und das Licht am Morgen aufgehen, darf man sich nicht nur materiell denken und nicht auf die äußere Wahrnehmung der Sinne beschränken. Denn der hier gemeinte Osten ist überall, wo die Buddha-Lehre aufgeht und lebendig ist. Sie existiert vor allem in uns selbst oder, wie Dôgen es ausdrückt, „im Inneren des Auges“. Erinnerst du jetzt an die leuchtenden Augen eines deiner lieben Menschen? Davon bin ich überzeugt. Vielleicht meint Dôgen genau diese leuchtenden Augen, vielleicht leuchtete dabei die Buddha-Natur genau in diesem Augenblick auf. Was sagst du?

Dôgen erzählt die Geschichte eines chinesischen Kaisers der Tang-Dynastie, dem Reliquien von Gautama Buddha in seinen Palast gebracht wurden. Diese leuchteten in der Dunkelheit der Nacht und strahlten deutlich mit ihrem Licht. Das veranlasste viele Untergebene, Höflinge und Karrieristen bei Hofe zu übertriebenen Lobeshymnen und Gedichten auf den Kaiser. Sie sagten, dass diese strahlende Klarheit des Gautama die grenzenlose Tugend des Kaisers bedeuten würde. Es gab jedoch einen klar denkenden, nicht unterwürfigen Dichter und Zen-Meister, der sich solchen Schmeicheleien und Wunderglauben nicht anschließen wollte. Er verstand das große Leuchten tiefer und hatte vermutlich eigene Licht-Erfahrungen, weil er mit großer Gründlichkeit die Buddha-Lehre studiert und regelmäßig praktiziert hatte. Er wurde dann zum Kaiser zitiert, der sehr irritiert war, dass er die leuchtende Klarheit der Reliquien nicht in detr großartigen Dichter-Sprache besingen würde. Diese Wunder werde doch im ganzen Land gerühmt und besungen. Der Dichter antwortete ihm:

„Buddhas leuchtende Klarheit ist nicht einfach eine Farbe wie blau, gelb, rot oder weiß. Dieses hier ist nicht Buddhas leuchtende Klarheit sondern nur das Licht, das irgendein Drachengott hütet.“

Der Kaiser war über diese Aussage wenig erfreut und fragte bohrend und sogar drohend: „Was ist Buddhas Klarheit?“ Der Schriftsteller erkannte sofort, dass der Kaiser unfähig war, selbst zu erfahren, was diese große Klarheit Buddhas bedeutet. Er entschied sich trotz der Gefahren für sich und sein Leben und nicht zu antwortete. Konnte er vielleicht dem mächtige Kaiser daraus für dessen Leben einen neuen Impuls geben? Leider nicht. Dieses "Schweigen voller Leuchten" wurde ihm als Aufsässigkeit und Unverschämtheit ausgelegt, sodass er vom Hofe verbannt wurde und seine Karriere dort beendet war.

Dôgen lobt die Standhaftigkeit und Aufrichtigkeit dieses Menschen, weil er die Unzulänglichkeit von Worten für die wirklich umformenden Kräfte erkannt hatte. Eine positive Wechselwirkung kann nur bei Resonanz und Willen zur gemeinsamen Weiterentwicklung gelingen, auch wenn es die mächtige Sprache eines Dichters ist. Der Zen-Meister konnte die leuchtende Klarheit nicht einem Menschen erklären, der an seichte Wundergeschichten glaubte, die dem Mächtigen von Abhängigen und Untergebenen wohlfeil verabreicht wird.

Nishijima Roshi erklärt diese Leuchten übrigens der Reliquien einfach mit dem Vorgang der Phosphoreszenz. So kann das beschriebene Phänomen heute physikalisch einfach und natürlich erklärt werden. Die Helligkeit der Knochen durch die Phosphor-Strahlung kann man keineswegs mit der leuchtenden Klarheit gleichsetzen. Diese könne man nur erfahren und durchdringen, wenn man keine Ängste, Vorurteile und keine Eigeninteressen haben. Solche materiellen und politischen Tatsachen bleiben so dürr wie sie sind, selbst wenn man wunderbar reden kann und die Sûtras des Buddhismus beflissen und beredt auslegt, als wenn

„Blumen vom Himmel regnen“. Dôgen sagt weiter:

„Die wirkliche leuchtende Klarheit ist dasselbe wie das Wahre (dieser Welt), also die Wurzeln, Stämme, Zweige, Blätter, Blumen, Früchte und deren Licht und deren Farbe.“ Aber nur wer selbst die leuchtenden Augen hat, kann das sehen und erkennen. Wer Schweine-Augen hat, sieht überall nur Schweine.

Er fordert uns auf, die Aussagen der großen Meister in allen Einzelheiten zu untersuchen, zu erfahren und in der Wirklichkeit zu praktizieren. Nur dann verwirklichen wir die leuchtende Klarheit, diese leuchtende Selbst, das über das Gewöhnliche und sogar das Heilige hinausgeht. Wenn man die Übungspraxis aber nur als anstrengendes Hilfsmittel ansieht, um die ersehnte Erleuchtung zu erlangen, trübt man genau diese leuchtende Klarheit. Dôgen behandelt diesen fatalen Fehler eingehend mit seiner profunden Erfahrung in den Kapiteln über die Zazen-Praxis. Diese hatte für ihn persönlich eine ganz große Bedeutung: Das wahre Selbst ist eins mit dem ganzen Universum. Man kann nicht zu irgendeinem anderen Ort fliehen, an dem es nach dem eigenen Wunschdenken viel schöner, paradiesischer und ohne Hemmnisse sei als hier. Warum auch? Die eigenen Probleme würden mit uns fliehen. Dôgen zitiert dann Meister Unmon, den Nachfolger von Meister Seppô, der die Mönche fragte

„Jeder Mensch existiert vollständig mit der leuchtenden Klarheit. Wenn er sie gierig sucht, ist sie unsichtbar in der tiefsten Dunkelheit. Was ist diese leuchtenden Klarheit, die in allen Menschen lebt?“

Da die vor ihm versammelten Mönche nichts antworteten und wohl auch nicht antworten konnten, sagte er selbst: „Die Mönchshalle, die Buddha-Halle, die Küche und die drei Tore." Dôgen schätzt diese Aussage des alten Meisters sehr, denn sie sei die wahre Buddha-Lehre. Sie ist keine Spekulation, sondern die Wirklichkeit selbst.

Dann beschreibt er die obigen Passagen aus der Sicht und Erfahrung der vierten erwachten Lebensphilosophie der Erleuchtung, die heute von Nishijima Roshi gelehrt wird. Dôgen stellt mehrere Fragen, die nicht einfach mit linearem Geist zu beantworten sind. Dabei verwendet er zwar auch die Dimension der Vorstellung und des Denkens, die als Idealismus bezeichnet werden, ohne darin hängen zu bleiben. Auch die Dimension der Formen und materiellen Wahrnehmung, die wir Materialismus nennen, sei viel zu eng. Wichtig sind darüber hinaus das Handeln sowie die Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt, also die Ausschaltung des Dualismus. Diese stellt Meister Vasubanhu in den Mittelpunkt seine präzisen Analysen das wahren Geistes. Im obigen Beispiel bedeutet dies, dass der Meister eine lebendige Wechselwirkung des Kloster-Lebens mit seinen Mönchen Wirklichkeit werden lässt.

Schließlich zitiert Dôgen Meister Seppô, der zu seinen versammelten Mönchen sagte: „Vor der Mönchshalle bin ich euch begegnet.“ Hierzu muss man wissen, dass die Zazen-Halle der damaligen chinesischen Klöster vor der sogenannten Mönchshalle lag, in der die buddhistischen Texte gelehrt wurden, also die Theorie und Philosophie Buddhas und der großen Meister. Seppô drückte damit aus, dass er bei der Zazen-Praxis allen Mönchen begegnet. Dies ist keine allgemeine abstrakte Aussage, sondern die Wirklichkeit des Augenblicks, genau an dem gemeinsamen Ort. Sie ist jedoch nicht nur auf das Klostergebäude beschränkt, sondern umfasst auch die weitere Umgebung, deren Schönheit im ganzen Land gerühmt wurde. Dazu gehört die Begegnung im schönen Busho-Pavillon und auf dem sanft geschwungenen Useki-Berg. Dôgen ist der Ansicht, dass es wenig Sinn macht, mit vielen Worten zu spekulieren, was denn das Schönste sei.

Es ist das Wichtigste, dass alle zusammen und jeweils mit Meister Seppô ihre jeweiligen Aufgaben handelend fortführen. Theorie macht nur mit der Praxis und Erfahrung wirklich Sinn. Dies verwirklicht sich auch in der Zazen-Halle, um dort zu praktizieren. Nach Dôgen verwirklicht sich so die leuchtende Klarheit in diesem Buddha-Land. Wenn Du dann dem anderen begegnest, leuchten seine Augen.