Der große Meister Awa in Japan: ES schießt und befreit !
In diesem Kapitel behandelt Meister Dōgen das „ES“ im Buddhismus, das die Wahrheit und Wirklichkeit selbst darstellt, die nach der buddhistischen Lehre eigentlich etwas ganz Selbstverständliches und Natürliches sind. Das Wort Inmo kann wörtlich mit „Etwas“ oder „Es“ übersetzt werden, ist also etwas Alltägliches, über das man eigentlich gar nicht nachdenkt, weil es so selbstverständlich ist. Ich bevorzuge die Übersetzung "ES", da ein "ETWAS" fälschlich als eine konkrete Sache verstanden werden könnte. Übrigens haben wir auch im Deutsch Formulierungen wie "Es regnet" oder "Es hat sich ereignet" die dem "ES" Dogens im Zen verwandt sind. Die damit ausgedrückte Gesamt-Wirklichkeit übersteigt das unterscheidende Denken und die Wahrnehmung durch unsere Sinnesorgane, von Meister Nishijima jeweils als die Philosophien des Idealismus und Materialismus bezeichnet.
Wir
müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Begriffe „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“
ihrerseits die Gefahr einer unzulässigen Verkürzung, Verdinglichung und des
Substantialismus in sich tragen, und dadurch ihre wirkliche Bedeutung
verlorengehen kann. Dies ist typisch für die westliche vorherrschende
Weltanschauung und Philosophie des Dualismus der Trennung von Subjekt und
Objekt und des Individualismus, die im Buddhismus und vor allem im Zen
überschritten werden. Alle Worte verleiten tendenziell dazu, dass man sie
mit ihrem Inhalt, mit dem, was sie aussagen, verwechselt und dadurch ihre Bedeutung
unzulässig einengt, subjektiv verfärbt oder sogar ins Gegenteil verkehrt.
Dieser Zusammenhang wurde auch wissenschaftlich in der Semiotik untersucht, die
Umberto Eco umfassend dargestellt hat.
So
ist der Streit um Weltanschauungen und Religionen häufig nur ein Disput um
unterschiedliche Bedeutungen der Begriffe, die sich subjektiv und bewertend bei
den verschiedenen Menschen herausgebildet und festgesetzt haben. Es wäre daher
in vielen Fällen sinnvoller, zunächst die Bedeutungen abzuklären, bevor die
heftigen Diskussionen beginnen. Die Bedeutungen sind aber besonders von
Menschen und deren Prägungen gefärbt und oft sogar durch Ideologien verhärtet.
Oft dominiert sogar der Kampf-Modus: Jeder
möchte nur sein eingeübtes Ego in den Kampf führen, um sich selbst zu
bestätigen und den anderen zu besiegen. Dabei will das Ego dann „den Helden
spielen“ und damit seine eigene fadenscheinige Existenz unter Beweis stellen.
Ein solches Ego gibt es jedoch gemäß dem Buddha-Dharma in Wirklichkeit überhaupt
nicht. Daher ist ein solcher Kampf völlig sinnlos. Aus den Neuro-Wissenschaften
wissen wir, dass in einem Emotions-gesteuerter
Kampf-Modus das Vorderhirn weitgehend abgeschaltet wird also offline
ist. In diesen Modulen sind Vernunft, Logik und Ethik sowie soziale Kompetenzen
aktiv. Der Kampf-Modus ist also nicht viel mehr als ein unbewusster Tier-Modus.
Aber
Worte und Sprache sind erforderlich, um zum Beispiel die buddhistische Lehre an
andere zu übermitteln und Lern- und Klärungsprozesse einzuleiten oder zu
fördern. Daher ist es auf der einen Seite notwendig, sich der Begrenztheit von
Worten und Sätzen bewusst zu sein, auf der anderen Seite muss versucht werden,
sie im sozialen Kommunikationsprozess bestmöglich einzusetzen, weil die
menschliche Kultur ohne die Sprache überhaupt nicht lebensfähig wäre. Buddhas
Grundprinzip des menschlichen Lebens ist das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung, in Sanskrit pratitya
samutpada, also Veränderung, Vernetzung und Lernen.
Dōgens
Werk Shōbōgenzō ist dafür selbst ein
großartiges Vorbild: Er verwendete alle Möglichkeiten der Sprache, insbesondere
auch die poetische Kraft der Worte, um die buddhistische Lehre an andere zu
übermitteln. Es ist bekannt, dass er viele eigene Wortschöpfungen entwickelte,
um das Neue und Anders-Artige der buddhistischen Lehre auszudrücken. So hat er
die Sprache über ihre übliche Grenze hinausgetragen und sie selbst mit der
Lebendigkeit der Wirklichkeit befruchtet. Er warnte jedoch immer wieder davor,
dass sich die Sprache, die Vorstellungen und die Ideen verselbstständigen und
damit gewollt oder nicht verengen und ihre Lebendigkeit verlieren. Wenn wir
nicht darauf achten, finden wir uns in der Sackgasse des eindimensionalen Idealismus
und in Ideologien wieder.
Neben
der Lehre und den Bildern des Buddhismus muss vor allem das praktische Tun des
Zazen und ein besonderes Handeln im Alltag entwickelt werden, damit für die
Menschen ein unmittelbarer Eindruck und die direkte Erfahrung des gegenwärtigen
Zustandes der Wirklichkeit und Wahrheit ermöglicht werden. Dann kann sich das
„ES“ verwirklichen. Wie Nishijima Roshi betont, kommt es im Zazen zu einem
Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems, so dass die aktiven Kräfte des
Handelns und die passiven des Geschehenlassens ausgeglichen sind. Eine solche
Erfahrung und ein solches Erleben in der Zazen-Praxis sind in der Tat mit
Worten nur sehr begrenzt beschreibbar. Dōgen benutzt die Sprache in seiner
Anleitung zum Zazen (Fukan Zazengi)
vor allem, um die körperliche Haltung genau zu beschreiben. Der im Zazen
erfahrene Zustand wird mit Begriffen wie „Körper und Geist fallen lassen“, „das
Denken aus dem Nicht-Denken“ oder „Zazen ist das Tor des Friedens und der
Freude im Buddha-Dharma“ beschrieben.
Ich
möchten die Bedeutung von Inmo, also
des ES, anhand des bekannten Buches Zen
in der Kunst des Bogenschießens von Eugen Herrigel erläutern. Er kam als
deutscher Philosoph in den zwanziger Jahren nach Japan, um dort europäische
Philosophie zu lehren und den Buddhismus, insbesondere Zen-Buddhismus, zu studieren.
Seine dortigen Freunde überzeugten ihn, dass er eine praktische Zen-Disziplin
erlernen müsse, um den Buddhismus zu „verstehen“, und er wählte die Kunst des
Bogenschießens. Er berichtet in seinem Buch, wie er sich unter der Leitung
eines erfahrenen Meisters Schritt für Schritt in die körperlichen und geistigen
Bereiche des Bogenschießens einarbeitete und dabei so manche schwerwiegende,
grundsätzliche Fehler beging, die nicht zuletzt durch seine europäische kulturelle
Herkunft bedingt waren. Unter anderem hatte er das große Problem, dass sich der
Schuss des Pfeils in der ´höchsten Spannung´ des Körpers und Bogens wie von
selbst lösen sollte, dies ihm aber immer wieder gründlich misslang. Sein
bewusster Wille, den Schuss zu lösen und zu treffen, erbrachte nicht die erstrebte
Wirkung, dass der Schuss „wie eine reife Frucht“ abfallen sollte.
Je
angestrengter er versuchte, den Schuss nicht willentlich gesteuert auszulösen,
desto mehr verkrampfte er und desto mehr wich er von dem Weg der „reifen
Frucht“ ab, den sein Meister ihm vorgegeben hatte. Dies führte unter anderem
dazu, dass sein Meister den Unterricht abrupt beenden wollte, weil der Schüler,
wie er meinte, zu eigensinnig vorging. Durch Zureden der japanischen Freunde
konnte Herrigel dann sein Studium bei dem Meister fortsetzen, und er berichtet,
dass er dabei viel einfacher und bescheidener wurde.
Eines
Tages löste sich dann ein Schuss genau im Augenblick der höchsten Spannung des
Körpers und Bogens wie von selbst. Das war es! "ES schießt" und
"ES hat geschossen". Das war das lange gesuchte „ES“! In der klaren gespannten
und zugleich gelockerten Haltung von Körper, Geist, Bogen, Pfeil und Ziel und
gleichzeitig in der ´höchsten Spannung´ des Bogenschützens musste sich der
Schuss von selbst lösen. Zur größten Überraschung von Herrigel verneigte sich
dann sein Meister nach diesem Schuss vor ihm und dem Bogen und sagte: „ES hat
geschossen“. Der Meister erläuterte anschließend, dass die Ehrung durch die
Verbeugung nicht ihm als Person gegolten habe, sondern dass sich das „ES“
verwirklicht habe. Er wollte damit ausdrücken, dass dieses ES genau die
buddhistische Wahrheit ist, die beim Handeln über das Denken, die Wahrnehmung
und alles Persönliche des Ich hinausgeht. Es ist Spannung, Klarheit und
entspanntes Gleichgewicht zugleich. Kurt Österel verwendet für sein Buch über
den Bogenweg das Koan: “Wenn der Bogen zerbrochen ist – dann schieß!“ Damit
will er sagen, dass ein materielles, physikalisches Verständnis des Bogens
nicht weit genug schießt.
Mit
den Beschreibungen bei Herrigel, „ES schießt" und "ES hat geschossen“,
können wir vielleicht besser nachvollziehen, wie sich das „ES“ bei der
Zazen-Praxis ereignet, das über Worte und Denken hinausgeht. Dieses ES wird vielleicht
intellektuell als vage und nicht konkret fassbar empfunden. Aber es ist genau
die erfahrbare Wahrheit der buddhistischen Lehre, denn das ES ist wirklich.
Wenn man es erlebt, ist man locker und frei, ohne lasch oder träge zu sein, und
erlebt einen Zustand des Friedens und sogar der der ganz neuen Freude, wie
Dōgen dies für die Zazen-Praxis formuliert. Dann folgen einige Glück-Wellen,
deren Wirkung zur tiefgründigen Umwandlung der gesamten Persönlichkeit führen
kann. Dieses ES oder die Wahrheit des Augenblicks jenseits von Denken und
Wahrnehmen oder von Worten und Sätzen geschieht je im gegenwärtigen Augenblick,
hebt die Trennung von Subjekt und Objekt auf und löst damit auch die Grenzen
des Ich auf, so dass sich die umfassende Einheit mit dem Universum
verwirklichen kann und auch tatsächlich verwirklicht. Mit den Begriffen
„Spannung“ und „Entspannung“ kommt man da nach meiner Einschätzung übrigens nicht
recht weiter. Den es ist einer klare Erfahrung der Wirklichkeit selbst. Ich
halte besonders die Formulierung der "höchsten Spannung" für nicht
ganz authentisch, denn nach Buddha sind Extreme niemals wahr sondern keine
Wirklichkeit. Die Sprache übertreibt dann also und der Schüler überzieht das
vom Lehrer Gemeinte.
Es
soll noch angemerkt werden, dass wir auch in den westlichen Sprachen bestimmte
Formulierungen haben, die für Situationen verwendet werden, in denen man nicht
einfach ein Subjekt oder Objekt bezeichnen kann. Beispiele hierfür sind es regnet, es schneit, es stürmt, es
ereignet sich usw. Grammatikalisch gesehen gehören diese Formulierungen weder
zum Aktiv, bei dem jemand etwas tut, noch zum Passiv, bei dem jemand etwas
erleidet, sondern sie liegen in der Mitte.
Nun
wollen wir uns diesem Kapitel Dōgens zuwenden, um eine Ahnung von diesem ES,
das die Wahrheit ist, erlangen zu können. Dōgen zitiert einen alten Meister mit
folgenden Worten:
„Wenn ihr das ES erlangen wollt, müsst ihr ein Mensch sein,
der das ES ist. Da ihr bereits ein Mensch seid, der das ES ist: Warum macht ihr
euch Sorgen, was das ES ist?“.
Das
Erwachen oder die höchste Wahrheit des Menschen werden hier mit dem Begriff „ES“
bezeichnet, das einerseits eine Ungewissheit benennt, aber andererseits von
Dōgen als etwas Wirkliches und Wahres beschrieben wird.
Die
Bezeichnung „ES“ mag uns Menschen des Westens verwundern, aber der Begriff
selbst soll darauf hinweisen, dass die dahinter stehende Wirklichkeit nicht im
logischen Sinne eindeutig erfasst werden kann. Um für dieses ES offen zu sein,
ist es notwendig, die eigenen rotierenden und oft hektischen Gedanken sowie
überschießenden Emotionen loszuwerden, damit es sich überhaupt zeigen und entwickeln
kann. Als sich bei Herrigel zum ersten Mal beim Bogen ein
richtiger Schuss löste, verneigte sich der Meister vor diesem Etwas, indem er
sagte: "Es hat geschossen".
Dieses
höchste dem Menschen mögliche Erwachen übersteigt nach Dōgen die übliche Welt, besonders wenn man es nur materiell versteht oder nur als isolierte Idee in
sich trägt. Mit dem intellektuellen Verstand können wir dieses ES nicht
beweisen. Trotzdem sind wir sicher, dass es vorhanden ist, wenn wir es erleben
und erfahren und vor allem im Handeln und im Augenblick verwirklichen. Dieses
ES, das wir auch selbst sind, ist mehr als Körper, Geist und Gefühle. Wir
merken tagtäglich, wie sich unser Körper verändert und die Vergangenheit nicht
wieder zurückkehrt und verschwunden ist. Auch der Geist lebt im Augenblick und
steht nie still, ist also niemals statisch, unveränderlich und konstant. Das wäre nur der vor-buddhistische Dualismus des atman
Die
höchste Wirklichkeit und Wahrheit können nach buddhistischer Lehre nicht ohne
ethische Reinheit bestehen und gehen über ein persönliches Ich hinaus. Wie ist
es sonst zu erklären, dass plötzlich der Bodhi-Geist
erweckt wird und wir wirklich nicht sagen können, dass er durch unser Ich
erzeugt wurde? Unser eigener Wille kann das ES vielleicht „anschieben“ aber
nicht direkt hervorrufen, wenngleich der Wille zur Wahrheit nach Dōgen
grundsätzlich notwendig ist, um den Weg des Buddha-Dharma zu beschreiten und
mit der Praxis zu beginnen. Da jeder Mensch bereits Teil dieses ES ist, führt
es auch zu nichts, sich zu sorgen, ob und wie man dieses ES erlangen könnte.
Dōgen sagt:
„Deshalb mag das ES die Soheit der Klänge und Formen sein.
Die Soheit von Körper-und-Geist mag des ES sein. Und die Soheit der Buddhas mag
das ES sein.“Das ES kann man daher auch als die eigentliche Wirklichkeit und Wahrheit
bezeichnen.
Nun
wird eine Aussage wiedergegeben, die zunächst selbstverständlich und einfach
erscheint, die aber durch Dōgens Untersuchungen eine neue Tiefenschärfe gewinnt:
„Wenn wir auf den Boden fallen, stehen wir auch wieder von
dem Boden auf. Wenn wir versuchen, abseits vom Boden aufzustehen, ist dies
letztlich unmöglich.“
Was
soll damit gesagt werden? Es ist sicherlich klar, dass man vom Boden aufsteht,
wenn man hingefallen ist. Man steht genau dort wieder auf, wo man zu Fall
gekommen ist. Es ist wenig sinnvoll, auf andere Weise wieder hochzukommen,
abseits von der Stelle, wo man gefallen ist, denn räumlich sind die Stellen des
Hinfallens und des Aufstehens natürlich dieselben.
Doch
dieses Beispiel kann viel umfassender verstanden werden, und Dōgen sieht es
sogar als „Sprungbrett“ für das große Erwachen. Es geht um das Handeln im Hier
und Jetzt, also um aktives Tun und das Geschehenlassen. Es wird ein zeitlicher
Fluss geschildert, der aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, also
die wirkliche Zeit umfasst, die auch für den Zusammenhang von Ursache und
Wirkung maßgeblich ist. Aber es geht vor allem um den gegenwärtigen Augenblick,
bei dem die lineare Zeit verschwindet, indem sich die Erinnerungen an das
Vergangene und die Erwartungen an das Zukünftige wechselwirkend mit dem Geist
verbinden und nicht deterministisch oder eindimensional wirksam sind. Die obige
Geschichte berichtet von einem sehr konkreten Ablauf und Erlebnis für den, der
hingefallen ist und wieder aufstehen muss.
Gedankliche
Täuschungen und fantasievolle Selbstbespiegelungen werden sofort verschwinden,
wenn man hinfällt und Schmerzen hat. Dann erlebt man die Wirklichkeit
unmittelbar, sie ist nicht durch einen Schleier oder ein künstliches Raster von
Ideen und Vorstellungen teilweise oder ganz verdeckt. Es ist wie ein Schlag.
Und manchmal öffnet sich genau dabei der Geist des Menschen und die Dualität
ist nicht mehr da. Das kraftvolle Handeln vollzieht sich genau im Augenblick,
nur dann kommt man wieder auf die Beine. Wenn man in der gedanklichen
Vorstellung der linearen Zeit über eine mögliche Zukunft hängen bleibt, kann
man gar nicht handeln und wird auch nicht direkt aufstehen können. Das
wirkliche Leben gibt es nach buddhistischer Vorstellung in der Mitte des
Gleichgewichts oder, wie es häufig formuliert wird, in der Leerheit, also leer
von Ideologien und Täuschungen. Das gilt natürlich auch für den so einfach
erscheinenden Vorgang des Aufstehens. Das Handeln im Augenblick vollzieht sich
in der Sein-Zeit des Hier und Jetzt und ist insofern nicht an Vergangenheit und
Zukunft gekoppelt, denn beide sind nur Vorstellungen und Erinnerungen in
unserem Gehirn für Vergangenheit und Zukunft. Daher kann man sagen, dass man
beim Aufstehen sich sowohl auf den konkreten Boden stützt als auch im
Gleichgewicht oder in der Leerheit ist.
In
einem anderen Gespräch eines großen indischen Meisters mit seinem Nachfolger
wird nach dem Klang der Windglocke gefragt, die durch den Wind angeregt wird
und zu läuten beginnt. Handelt es sich dabei um das Läuten des Windes oder der
Glocke oder verwirklicht sich das ES? Der alte Meister sagt dazu:
„Es ist jenseits des Läutens des Windes und jenseits des Läutens
der Glocken. Es ist das Läuten meines Geistes.“
Mit
dem Geist ist aber nicht der subjektive, individuelle Verstand gemeint, sondern
etwas Umfassendes und Grundsätzliches, das nicht konkret dem Wind oder der
Glocke zugeordnet werden kann, nämlich das ES. Natürlich sind die beiden
Meister in dieser Situation selbst Teil des gesamten Geschehens, und es wäre
nicht sinnvoll, wenn sie die Glocke und den Wind als Objekte außerhalb von sich
selbst empfinden und beschreiben würden. Dieser Geist wird als ruhig beschrieben,
und er ist im Gleichgewicht. Damit ist gemeint, dass auch beim Läuten der
Windglocken die buddhistische Ruhe der Mitte wirksam ist. Es wird deutlich,
dass es sich nicht um einen subjektiven, personenbezogenen „Geist“ handelt,
sondern dass das „ES“ jenseits davon vorhanden ist: Das „ES“ hat geläutet. Das
ES existiert so, wie es ist, es übersteigt unsere subjektiven Ängste, Sorgen,
Hoffnungen und Erinnerungen, aber es umfasst auch die ganz konkrete Wirklichkeit
des Läutens und des Windes.
In
einer anderen berühmten Zen-Geschichte führten zwei Mönche eine erhitzte
Diskussion, ob sich die Flagge oben an dem Mast bewegt oder ob der Wind sich bewegt.
Die Diskussion der Mönche wurde ohne Ende mit großem Einsatz und in aufgeregter
Atmosphäre geführt. Der große Meister Hui Neng kam hinzu. Es wird berichtet,
dass er damals noch nicht ordiniert, also noch Arbeiter und kein Mönch war, als
er sagte:
„Es ist jenseits des sich bewegenden Windes und der sich
bewegenden Flagge, ihr selbst seid der sich bewegende unruhige Geist.“
Dadurch
wurde das Streitgespräch sofort beendet. Beide Mönche hatten eine neue Sicht der
Wirklichkeit des Geistes erlebt und ein neues Verständnis verwirklich. Ihr
Geist war durch Hui Neng ins Gleichgewicht gekommen und nicht mehr in Unruhe.
Dôgen unterstützt damit nicht die bisweilen gelehrte Interpretation, dass die
Mönche von Hui Neng kritisiert wurden. Man darf diese Geschichte so begreifen,
dass sich der individuelle ganz persönliche aber getrennte „Geist“ der beiden
Mönche erregt bewegte, weil er sich vom Universum und der Wirklichkeit entfernt
hatte und die Streitsucht überwog. Sie waren beide im Kampf-Modus und wollten
den angeblichen Gegner besiegen. Die Mönche waren aber eigentlich Teil des
umfassenden Geistes also des ES, und dieser war nicht getrennt, sondern in der
Bewegung, in Wechselwirkung und im Gleichgewicht. Dieses Bewegen und
Gleichgewicht ist so, wie es ist, und es ist das ES und der Geist. Es brachte
Ruhe in das Ganze.
Von
dem großen Meister Hui Neng wird berichtet, dass er in sehr ärmlichen
Verhältnissen lebte, als er jung war, und den kärglichen Unterhalt für sich und
seine Mutter dadurch verdiente, dass er im Wald Holz sammelte und es auf dem
Markt verkaufte. Sein Vater war früh gestorben, so dass er die Verantwortung
für den Lebensunterhalt seiner Mutter übernommen hatte. Er konnte weder lesen
noch schreiben. Dann hörte er auf dem Markt einige Sätze aus dem Diamant-Sūtra und war davon sofort tief
ergriffen. Er beschloss, die Wahrheit des Buddha-Dharma zu suchen und zu
studieren. Er musste daher seine Mutter verlassen, was ihm außerordentlich
schwerfiel, und ging in das Kloster eines berühmten Meisters. Er konnte jedoch
dort nicht als Mönch aufgenommen werden, weil er arm und ungebildet war,
sondern wurde für die praktische Arbeit abgestellt und stampfte dort unter
primitiven Bedingungen im hinteren Teil des Klosters den Reis. Mit dem Verstand
ist es schwer zu erklären, warum er dann schnell und umfassend Zugang zum
Buddha-Dharma erhielt, obgleich er zunächst keine Dharma-Reden hören durfte und
auch keine Sūtras lesen konnte.
Es
wird jedoch berichtet, dass sein Meister die besondere Begabung dieses
Arbeiters erkannte und dass er ihn eines Nachts besuchte, so dass die Mönche
des Klosters dies nicht bemerken konnten. Bei diesem Besuch ereigneten sich umfassende
Übereinstimmung und umfassendes Verständnis von Meister und Schüler. Dōgen berichtet,
dass der junge Hui Neng zunächst überhaupt keine Kenntnis vom Buddha-Dharma
hatte, den er als Holzsammler auch gar nicht erlernen wollte. Er hatte also
überhaupt nicht geplant, den Buddha-Weg zu beschreiten. Aber das ES wurde
plötzlich auf dem Markt beim Hören des Diamant-Sūtra
bei ihm wirksam und führte ihn zu dem Kloster. Er wurde einer der berühmtesten
Meister in China und hatte selbst etliche herausragende Schüler, die ebenfalls
Meister wurden.
Zum
Schluss des Kapitels lässt Dōgen Meister Hui Neng noch einmal mit folgendem
Satz zu Wort kommen: „Was ist (das) ES, das so gekommen ist?“
Dadurch
wird klar, dass dieses ES oder Etwas wirklich vorhanden ist und dass es keine
Einbildung oder Illusion sein kann. Trotzdem kann es mit dem unterscheidenden
und analysierenden Verstand nur unvollkommen erfasst werden. Dōgen rät uns
dringend, dass wir uns selbst darum bemühen sollten, dieses ES zu erfahren, zu
erleben und zu erforschen. Das hat auch der ehemalige Philosoph Herrigel
erfahren als er die Kunst des Bogenschießens authentisch in Japan erlernte
Die vielen Dinge und Phänomene der vernetzten Wirklichkeit gehören auch zu diesem ES, können also nur teilweise gedacht und beschrieben werden. Sie sind letztlich etwas Unfassbares. Aber wie Meister Hui Neng sagt, ist dieses ES wirklich so gekommen, es ist also kein Nichts, wie die Nihilisten behaupten. Das ES besteht ohne jeden Zweifel und ist Teil der lebenden Wirklichkeit und Wahrheit. Gerade im Westen sollten wir von unserer Hyperaktivität einerseits und unserer Konsumsucht andererseits ablassen, damit sich das ES zeigen und ereignen kann und uns den richtigen Weg für unser Leben zeigt.