Sonntag, 28. Dezember 2014

Empathie und Mitgefühl im Buddhismus


Empathie wird definiert: Die Fähigkeit wahrzunehmen, was in einem anderen vorgeht.

Empathie ist sicher die Voraussetzung, dass Menschen achtsam miteinander umgehen und einander unterstützen und helfen. Ohne Empathie kann Helfen, Mitfühlen und Therapie kaum erfolgreich sein, um das Leiden der Patienten zu lindern oder zu heilen.

Was kann der Buddhismus hierzu beitragen? Gautama Buddha und Meister Nâgârjuna stellen die wechselseitige Vernetzung und das Zusammen-Wirken der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Lebensphilosophie und nennen dies pratitya samutpada. Auf dieser Wirklichkeit basiert ihre ganz praktische Lehre zur Befreiung vom Leiden; oder allgemeiner wie es im Buddhismus heißt: zum Erwachen oder zur Erleuchtung. Daher ist es sinnvoll, zunächst diese Wirklichkeit genauer zu untersuchen, so wie sie ist und wie wir sie verstehen: Wir sind Teil eines wunderbaren lebenden Netzwerkes des Kosmos, das durch Entstehung, Wachsen und Wechselwirkung gekennzeichnet ist. Ohne eine solche Erfahrung der praktizierten psychischen und geistigen Vernetzung kann ein sinnvolles Leben kaum gelingen.

Weiter sagt uns die Evolutionslehre, dass die jetzige Vielfalt unserer Tiere, Pflanzen und der gesamten Ökologie aus primitiven Anfängen entstanden ist und sich immer weiter als ein Gesamtes, also in permanenter Wechselwirkung miteinander , entwickelt hat. Wenn wir diese grundlegende Fakten der Wirklichkeit, in der wir Menschen leben, vernachlässigen, gibt es unausweichlich schwere ökologische Gefahren, Fehlentwicklungen oder sogar Katastrophen, weil wir die Wirklichkeit falsch einschätzen: naiv oder durch Gier getrieben.

Ich finde es fast sensationell, dass bereits Gautama Buddha vor 2.500 Jahren und etwa 600 Jahre später Meister Nâgârjuna diese Vernetzung der Wirklichkeit erkannt und zur Grundlage ihrer Lehre gemacht haben. Wir hatten in der westlichen Welt mit unserer Philosophie diese Fakten nicht richtig erkannt oder zumindest viel zu wenig beachtet: Eine stimmige wissenschaftliche Theorie der Empathie und soziale Vernetzung, insbesondere eine soziale Systemtheorie, gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten. 

Bei den Vorsokratigern der griechischen Philosophie muss fast als Ausnahme Heraklit genannt werden, dessen Arbeiten sich auf Prozesse und Veränderungen bezogen ("Alles fließt"). Soweit bekannt hatte er aber keine Schüler und hat in der Folge auch keine philosophische Schule begründet. Demgegenüber ging der Philosoph Parmenides von dem eher statischen Sein in der Welt aus und hat die westliche Philosophie wesentlich geprägt.

In den früheren archaischen oder mythischen Kulturen wurden göttliche oder dämonische Kräfte monokausal für viele Phänomene der Welt verantwortlich gemacht und als Ursachen für Fehlentwicklungen und Katastrophen verstanden. Mythische Rituale, Zeremonien und Beschwörungen sollten die göttlichen und dämonischen Kräfte günstig beeinflussen, um das Leben erträglicher zu machen und Leiden so weit möglich zu lindern.

Ein ähnliches spirituelles Verhalten können wir bekanntlich auch für das Mittelalter feststellen: die biologischen und katastrophalen hygienischen Ursachen für todbringende Krankheiten wie Pest, Cholera, Typhus, Syphilis und dergleichen waren unbekannt, und der hygienischen Standard, der in der Antike und im Orient durchaus auf hohem Stand war, wurde vernachlässigt oder ganz vergessen. Die reale Wirkung und Vernetzung des ganz konkreten Handelns der Menschen und Lebewesen waren weitgehend unbekannt, oft mit katastrophalen Folgen. Stattdessen wurde an vermeintliche religiöse Sünden der Menschen als Verursachung der Katastrophen geglaubt: die vernetzten Zusammenhänge der Wirklichkeit waren verborgen und eindimensionaler religiöser Idealismus beherrschte den Geist der Menschen.

Mit der Aufklärung, Rationalität und Entwicklung der Naturwissenschaft und der Instrumente der Technik änderte sich die Erkenntnis unserer Welt grundlegend: es wurden natürliche Ursachen und Fehlentwicklungen für viele Phänomene, Gefahren und nicht zuletzt für die Krankheiten der Menschen im fortlaufenden Forschungsprozess erkannt und entsprechende Medikamente und technische Geräte entwickelt.

So beträgt die Lebenserwartung in den Industrieländern gegenwärtig achtzig Jahre und mehr, während sie früher etwa dreißig Jahre betrug. Dies gilt zum Beispiel auch für die Zeit Buddhas und die Zeitenwende von Jesus Christus. Aber der Ansatz des Denkens war überwiegend einseitig: von einer Ursache zur Wirkung, also unidirektional (Joanna Macy), also ohne Rückkoppelung und Wechselwirkung

Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde die Vernetzung und Wechselwirkung von Menschen und Ökosystemen grundsätzlich erkannt und analysiert: Die sich anbahnenden Katastrophen unserer Ökosysteme konnten nicht mehr verleugnet werden.

Es ist umso erstaunlicher, was der indische Meister Nâgârjuna schon vor ca. 2000 Jahren zur Realität der Vernetzung sagte.
Er verwendete den Sanskrit-Begriff pratitya samutpada für dieses großartige Netzwerk des Lebens und der Welt: wörtlich etwa wechsel-wirkendes gemeinsames Entstehen. Zentrale Momente sind dabei also die intensive Rückkoppelung, Vernetzung und die gemeinsame Entwicklung, für den Menschen also Lernen und Wachsen in der Verbindung mit anderen Menschen. Kein Mensch kann wirklich allein existieren und auch nicht wachsen!

Der Neurobiologe Geralt Hüther kennzeichnet in diesem Sinne z. B. die kindliche Entwicklung: Verbindung und Wachsen. Vor der Geburt ist diese Verbindung offensichtlich, denn es gibt nur einen gemeinsamen Kreislauf und die biologische Verbindung von Mutter und Kind durch die Nabelschnur. Wesentliche Verbindungen bestehen selbstverständlich auch psychisch zwischen dem Kind und der Mutter. Nach der Geburt bleiben diese beiden wesentlichen Aspekte Verbindung und Wachsen weiterhin bestehen, werden aber eventuell durch gravierende Störeinwirkungen gehemmt oder verzerrt.

Hüther nennt als Beispiel, dass ein Kind in eine aggressive und egoistische Familie hineingeboren wird, in der ein rücksichtsloser Egoist herrscht. Dass ein Kind sich danach richtet und genau dies lernt, weil es selbst überleben will und muss, liegt auf der Hand. Egoismus, Rücksichtslosigkeit und die Durchsetzung des Stärkeren sind also keinesfalls biologisch oder neurobiologisch vorgegebene Strukturen, sondern werden wesentlich im sozialen Umfeld beim Wachsen erlernt und „eingebrannt“. Das ist gefährliches Lernen ohne Empathie und ohne liebevolle Zuwendung, ja ohne Liebe.

Was kann der Buddhismus zum sinnvollen Zusammenleben beitragen? Gautama Buddha lehrte, dass es anschaulich ist, den Menschen in fünf Komponenten einzuteilen, für die sich auch im Westen der Sanskrit-Begriff Skandha durchgesetzt hat. Diese fünf Skandhas sind: Form und Körper, Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte und Handeln, sowie Bewusstsein. Ähnliche Einteilungen existieren auch im westlichen Kulturkreis. Sie ergeben sich gewissermaßen aus der Natur des Menschen selbst. Gautama Buddha betont jedoch, dass wir uns diese Skandhas nicht als getrennte und getrennte existentielle Einheiten oder Entitäten vorstellen dürfen.

Es sind eher, um einen modernen Begriff zu verwenden, Teilsysteme des Menschen, die nur in der wechselseitigen Vernetzung existieren können. Das ist direkt einleuchtend: Die Wahrnehmung funktioniert z. B. nicht ohne den Körper und geht immer einher mit Gefühlen. Im Leben spielt das Handeln neben oder zusammen mit dem Bewusstsein, eine zentrale Rolle: kein Leben ohne Handeln in Wechselwirkung mit den anderen Skandhas.
Wie kann man diese Zusammenhänge vereinfacht grafisch darstellen?


Auf der Grundlage der Systemtheorie und des Buddhismus habe ich die Abbildung 1 gezeichnet. Sie ist eine Verbindung buddhistischer Weisheiten mit dem heutigen Forschungsstand der Systemtheorie. Es sind zwei „Personen“ A und B dargestellt, die miteinander in Wechselwirkung sind und deren Systemgrenzen eine doppelte Funktion haben: einerseits halten sie die jeweiligen Systeme A und B zusammen und ermöglichen deren inneres Funktionieren und Überleben, auf der anderen Seite sind sie offen und in Wechselwirkung mit einander und mit der vielfältigen Umwelt. Ganz wesentlich ist die Selbstorganisation der Menschen mit ihrer intensiven internen Vernetzung.

Die Umwelt möchte ich hier umfassend verstehen, etwa im Sinne von Niklas Luhmann in seiner allgemeinen Systemtheorie. Es geht also um die soziale, biologische, technische und materielle Umwelt, in die wir eingebettet sind oder besser, mit der wir in dauernder Wechselwirkung leben. Das ist für den biologisch körperlichen Bereich direkt einleuchtend: wir nehmen laufend Nahrung zu uns, um überhaupt lebensfähig zu sein, und scheiden Stoffe, die wir nicht verarbeiten können, wieder aus. Aber eine solche Wechselwirkung darf nicht auf den körperlich biologischen Bereich beschränkt sein, denn wir sind psychisch und sozial nicht lebensfähig, wenn wir isoliert sind und nicht in Wechselwirkung mit Partnern, in der Familie, im Beruf, in verschiedenen Gruppen und schließlich in der Nation und global in der Welt sind. Alle fünf buddhistischen Skandhas sind also jeweils und kombiniert in diese umfassende Vernetzung einbezogen.

Was sind nun zusammengefasst die wesentlichen Kennzeichen, die ich in Abbildung 1 wiedergegeben habe: zum einen gibt es eine Selbstorganisation des Menschen, also eine gewisse Unabhängigkeit von der Umwelt und anderen Menschen, die für die Fortsetzung des Lebens und das Wachsen und Lernen von essentieller Bedeutung ist (auch Autopoiese genannt, vgl. Maturana u. Varela)). Unser Gehirn ist dabei ein ganz typisches Organ, das sich permanent dynamisch selbst organisiert und dadurch erst die zum Überleben und Lernen notwendigen Prozesse ermöglicht.

So werden bei der Wahrnehmung z. B. Lichtstrahlen zunächst durch die Linse des Auges als Bild optisch auf die Netzhaut projiziert und dann in elektrische Impulse umgewandelt. Diese Impulse werden im Gehirn verarbeitet und ermöglichen, dass wir Dinge wiedererkennen, Zusammenhänge sehen und Nützlichkeiten und Gefahren erkennen. Das Gehirn organisiert sich in diesem Sinne mit Hilfe der eigenen Funktionen selbst, also der biologischen und elektrischen Informationsverarbeitung. Dies gilt im Übrigen auch für die Gehirnareale, die für Gefühle zuständig sind, sodass wir sagen können, dass es überhaupt keine Gehirnfunktion gibt, die nicht mit Gefühlen gekoppelt sind. Wie alle Hirnforscher betonen, gibt es immer intensive Wechselwirkungen der verschiedenen Teilsysteme im Gehirn und keine einseitigen Wirkungen nur in eine Richtung. Je höherwertig die geistigen Leistungen sind, desto intensiver ist diese interne Vernetzung. Besonders komplex ist das Handeln, weil die höchsten Ebenen von Werten und Ethik eingebunden ist: ohne Ethik gibt es kein Handeln und keine Interaktion, Handeln ist schwerer als Denken (vgl. auch Manfred Spitzer).

Was passiert nun bei fehlender oder insuffizienter Vernetzung, also deformierter pratitya samutpada?

Fehlende Vernetzung und Wechselwirkung lassen einen Menschen leiden, und dies kann vor allem mit der fehlenden Empathie und dem fehlenden Vertrauen zwischen den Menschen beschrieben werden. In Abbildung 2 ist dieser Zusammenhang schematisch dargestellt: Person A hat sich hermetisch abgeschlossen und isoliert, sodass ihre Systemgrenze für Interaktion und Empathie nicht mehr durchlässig ist. Dies ist durch den durchgezogenen dicken Kreis dargestellt. Entsprechend hat die Person A zwar eine intensive Selbstorganisation, lebt also nur ich-zentriert, fast ohne Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Lediglich „primitive“ Funktionen sind weiterhin aktiv: zum Beispiel die Nahrungsaufnahme und die Ausscheidungen.

Eine Kommunikation, Wechselwirkung und ein gemeinsames Lernen mit der Person B ist daher nicht möglich oder sehr stark eingeschränkt. Das heißt es gibt keine Wechselwirkungen von Form, Gefühl, Wahrnehmung, Handeln und Bewusstsein um die fünf Skandhas (Komponenten) nach Buddha zu nennen. Es handelt sich um einen pathologischen Zustand der Isolation und des Autismus der Person A, die damit erhebliche Probleme und großes Leiden auf sich nehmen muss.

Es gibt auch eine andere Form von fehlerhafter Empathie und Vernetzung:


Diese habe ich schematisch in der Abbildung 3 wiedergegeben. Hier geht es um die rücksichtslose Dominanz der Person A über die Person B, das heißt also, dass B einseitig beherrscht wird und keine Freiheit und Selbständigkeit mehr hat, sie ist der Willkür von A schutzlos ausgeliefert. Das heißt auch, die Ratio und das Bewusstsein von B sind soweit reduziert, dass eigenständige Überlegungen und Entscheidungen nicht mehr möglich sind. Zwischen A und B gibt es keine Empathie und nur eine deformierte Wirkung, die einseitig ist und B in lebensbedrohliche Abhängigkeit bringt: Sei es körperlich, gefühlsmäßig, handlungsmäßig. Auch die Wahrnehmung ist dann weitgehend fremd gesteuert durch die Person A. Leider ist eine solche Situation nicht zuletzt auch in Sekten und bei unfähigen oder unlauteren Gurus zu beobachten!

In dieser Situation dominieren leider die negativen menschlichen und sozialen Energien: Gier, Hass und Verblendung, also die sog. Gifte des Buddhismus. Rücksichtslose Gier erzeugt die nicht mehr steuerbaren Kräfte bei der Person A und beutet die Person B rücksichtslos aus. Ähnliches entsteht durch emotionale Überflutung mit hemmungslosem Hass.

In einem solchen Zustand sind
Empathie, Gelassenheit und spirituelles Gleichgewicht verschwunden.

Das Besondere der buddhistischen Lehre ist nun, dass nicht nur die Person B durch die Beherrschung und Ausbeutung leidet, sondern dass auch A keinesfalls ein zufriedenes, gelungenes und glückliches Leben führen kann: ganz im Gegenteil. A ist getrieben durch die eigene Gier, den eigenen Hass und die Verblendung der eigenen Vernunft, und es kommt nicht zum Wachsen in Wechselwirkung der beiden Menschen. Obgleich dies A vielleicht gar nicht bewusst ist: so lange Gier und Hass vorherrschend sind, entstehen nach Buddha nicht steuerbare Leidens-Energien, die ein zufriedenes Leben unmöglich machen und die Erwachen und Erleuchtung im buddhistischen Sinne total ausschließen. Keine Erleuchtung ohne Ethik.

Nach den Vier Edlen Wahrheiten Buddhas ist es von maßgeblicher Bedeutung, dass diese Verursachung des Leidens zumindest im Wesentlichen erkannt wird und dass die Menschen eindeutig entscheiden, ihr eigenes Leben grundsätzlich zu ändern. Dieses wird im Achtfachen Pfad beschrieben, der sich nicht auf ganz alltägliche Funktionen bezieht, wie Reden, Denken, Handeln, Arbeiten, Ausdauer, Willensfunktionen und vor allem die gründliche Selbstanalyse und Meditation. Buddhas Lehre besagt kurz gefasst: ohne gründliche und offene Selbstbeobachtung und ohne meditatives ethisches Handeln ist eine Befreiung zum glücklichen Leben und zur Überwindung des Leidens unmöglich.

Hier liegt der wesentliche Unterschied zu den Hauptströmungen der westlichen Philosophie, die dem Denken, Reden und Reflektieren allein eine zentrale Bedeutung für ein gutes und gelungenes Leben geben. Dass Reflektion, Denken und rationale Kräfte für ein befreites Leben notwendig sind, wird sicher niemand bezweifeln, diese sind notwendig, aber nicht hinreichend, um es wissenschaftlicher auszudrücken.

Wie kann schematisch nun die geistige und spirituelle Einheit zweier Menschen dargestellt werden?

Im Buddhismus gibt es das Leitbild, dass zwei Menschen nicht mehr getrennt sind, sondern eine Einheit bilden. Dies ist sicher eher spirituell, psychisch und geistig zu verstehen, denn eine totale körperliche Einheit kann es ja nur vor der Geburt und nicht danach geben. Trotzdem kommt diesem Leitbild eine große Bedeutung zu. Ich habe versucht, diese Leitbild als vereinfachte Schema in Abbildung 4 wiederzugeben. Es geht um einen berühmten Ausspruch des buddhistischen Zen-Kôans vom wilden Fuchs und dem Dialog zweier großer Meister (Hyakujo und Obaku, in der japanischen Aussprache, vgl. Shobogenzo, Kap. 76):

Es gibt „einen, nicht zwei“ (Menschen).

Meister Dôgen bezeichnet diesen Ausspruch als die große buddhistische Praxis, bei der Lehrer und Schüler jäh im Augenblick eine Einheit bilden. Der Schüler erlebt das große Erwachen spontan im selben Moment zusammen mit seinem Meister und verwirklicht damit die neue Generation von Zen-Meistern. Dôgen hat die Zen-Geschichte, die auch in zwei anderen Kôan-Sammlungen enthalten ist, in seinem tiefgründigen Verständnis des Buddhismus auf eine ganz neue Ebene gehoben und die transformierende Kraft des Handelns im Augenblick zweier Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Er nennt das die große Praxis.

Nishijima Roshi hält diese Kapital im Shôbôgenzô für zentral. Hier wird also die Empathie zur großen gemeinsamen Kraft, und die „Systemgrenzen“ der beiden Menschen werden praktisch aufgehoben. Mit diesem Schema kann man das in allen spirituellen Linien genannte große Erleben der Einheit kennzeichnen. Die Systemgrenzen zu anderen Menschen und zur Umwelt sind radikal durchlässig und haben ihre abgrenzende isolierende Wirkung verloren.

Résumé: Durch die Verbindung der großen buddhistischen Weisheiten zum Leben und zur Überwindung des Leidens mit den heutigen Erkenntnissen der Empathie und Systemtheorie ergeben sich spannende Übereinstimmungen, die sicher noch vertieft untersucht werden sollten.

Es ist erstaunlich, wie weit die intuitive Weisheit des Buddhismus mit heutigen Forschungsergebnissen übereinstimmt. Ich sehe es nämlich als Fehlentwicklung, wenn Buddhisten sich im Streben nach Erleuchtung und Freiheit nur mit sich selbst beschäftigen und glauben, dass sie sich auf diese Weise von Leiden und Problemen befreien können. Dies ist nur in der spirituellen Verbindung mit anderen Menschen und in der empathischen Wechselwirkung mit ihnen möglich, nur so kann unser Wachsen und Lernen gelingen. Es ist eine fatale Illusion, dass irgend ein Mensch überhaupt isoliert von anderen Menschen und seiner Umwelt existieren kann.

Das gilt gerade für die sogenannten Starken, die eine besondere Verantwortung für die soziale und kulturelle Umgebung haben. Wie ich es an anderer Stelle formuliert habe: „Der Starke ist am schwächsten allein“. Nur das gemeinsame Wir mit lebensfähiger Empathie kann uns weiterbringen, auch und gerade wenn wir noch nicht erleuchtet sind. Und Empathie ist eng verwandt mit Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut: die Himmlischen Verweilungen des Buddhismus.


Montag, 17. November 2014

Was trennt sie wirklich: die Zen-Linien Sôtô und Rinzai?

(Yudo J. Seggelke)

Sicher hätten sich die großen Meister Rinzai (in Chinesisch Lin-chi) und Dôgen gewundert, dass spätere Generationen viele Jahrhunderte lang die trennenden Unterschiede beider Zen-Linien z. T. dogmatisch vertreten würden, anstatt sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren und sich zu ergänzen. Schließlich geht der Zen-Buddhismus gemeinsam auf Gautama Buddha, Nâgârjuna, Bodhidharma und Hui neng (Daikan Enô) zurück. Bestenfalls könnte man eigentlich zugestehen, dass es verschiedene Wege gibt, wie sich der wahre Buddhismus in China, Japan, Korea und heute im Westen entwickelt hat und für welche Menschen welche Linie auf dem Buddha-Weg am besten geeignet ist. Warum also die immer wieder zu beobachtende Abgrenzung? Gerade Dôgen lehnte die Trennung verschiedener buddhistischer Schulen radikal ab (vgl. Kap. 49 des Shôbôgenzô).

Um in dieser zentralen Frage weiterzukommen, müssen wir die Grundlagen heranziehen. Was sind also die wesentlichen Basistexte des Zen-Buddhismus? Zweifellos sind die folgenden chinesischen Kôan-Sammlungen einschließlich ihrer Kommentare und Interpretationen zu nennen:
Mumonkan, Die torlose Schranke,
Bi-Yan-Lu, Aufzeichnungen vor smaragdener Felswand und
Cong-Rong-Lu, Aufzeichnungen aus der Klause der Gelassenheit
Sie umfassen jeweils bis zu einhundert Kôans.

Erst kürzlich wurde dabei die wichtige Kôan-Sammlung Cong-Rong-Lu kompetent ins Deutsche übersetzt und kommentiert. Diese drei Texte werden im allgemeinen wesentlich der Rinzai-Linie zugeordnet. Sie wurden im 12.ten und 13.ten Jahrhundert zusammengestellt und beziehen sich auf die Lehre der sogenannten Alten des wahren Buddhismus der Tang-Zeit, an die in China später in der Song-Zeit wieder angeknüpft wurde, nachdem es Verfolgungen des Buddhismus gegeben hatte. Besonders bedauerlich ist es zudem, dass die Aufzeichnungen vor smaragdener Felswand, Bi-Yan-Lu, von 1128 schon bald nach dem Druck radikal verfolgt und vernichtet wurden, sodass auch der hölzerne Druckstock verloren ging.

Über die Motive der Verbrennungen dieser äußerst wertvollen Basistextes kann heute nur spekuliert werden. Vermutlich wollte ein namhafter Meister verhindern, dass die Schüler die Kôan-Interpretationen auswendig lernten, anstatt sie selbst existentiell durch eigene Erfahrungen und eigene Praxis zu klären und für sich zu erarbeiten. Denn nur mit einer solchen eigenen Arbeit haben sie wirkliche Kraft und sind wertvolle Hilfen für den eigenen Weg zur Befreiung.

Etwa 200 Jahre später wurde aus einer geretteten Version die neue Publikation des Bi-Yan-Lu in China erarbeitet und fand in der folgenden Zeit weite Verbreitung in vielen Zen-Klöstern in China. Auf diese Version gehen in China und Japan spätere Kopien und Kommentare zurück; sie sind seitdem die maßgebliche Textquelle für die Rinzai-Linie und den sog. Kôan-Zen.

Neue Quellen-Forschungen haben nach D. Roloff das erstaunliche fast sensationelle Ergebnis ergeben, dass Meister Dôgen im 13. Jahrhundert die Abschrift von einem geretteten und noch verfügbaren Exemplar des Bi-Yan-Lu auf seiner China Reise (1223 - 1227) aufspürte, kopierte und mit nach Japan brachte. Sie gilt gemäß heutiger philologischer Forschung sogar als authentischer als die in China später verwendete Fassung. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil sie älter und damit näher am Urtext ist. Dôgen nahm diese Kôan-Sammlung also mit nach Japan; sie wurde im Zentraltempel der Sôtô-Linie, Eiheiji, aufbewahrt, erst in neuerer Zeit wieder entdeckt und in die buddhistische Forschung eingebracht. Die Bezeichnung dieser Fassung: „Kopie einer Nacht“ deutet darauf hin, dass Dôgen dieses umfassende Werk in großer Eile vor seiner Abreise nach Japan abgeschrieben hat, wobei es wohl utopisch ist, dass dies in einer Nacht durchführbar war. Dôgen muss also den hohen Wert dieser geretteten Version des Bi-Yan-Lu erkannt haben, denn er hat damals sicher gründlich nach verlässlichen Quellen in China recherchiert.

Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?
Aus meiner Sicht ergibt sich dadurch eindeutig, dass Dôgen die Texte des Bi-Yan-Lu als wesentliche Grundlage für seine eigene Arbeit verwendet hat, und dass diese Fassung also Grundlage seines großen Werkes Shôbôgenzô, die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges gewesen ist. Das Shôbôgenzô ist aber wie bekannt die wesentliche Grundlage der Sôtô-Linie in Japan, die inzwischen auch im Westen weite Verbreitung gefunden hat. Es ist also unsinnig zu sagen, dass Dôgen die chinesischen Kôans nicht kannte und nicht benutzte, das Gegenteil ist richtig.

Wir wissen im Übrigen aus seiner persönlichen Lebensgeschichte, dass er mehrere Jahre mit Kôans unter dem ersten Zen-Meister in Japan, Eisai, gearbeitet hat und sie deshalb nicht nur als Text kannte, sondern mit ihnen intensiv gearbeitet und gerungen hat. So verwundert es auch nicht, dass er selbst eine Zusammenstellung von 301 Kôans herausgegeben hat, die heute die Bezeichnung Shinji Shôbôgenzô (oder Samyakuzoku), tragen. Nishijima Roshi hat sie im Übrigen sehr prägnant übersetzt und interpretiert; sie liegen in englischer und deutscher Sprache (mit Doko Waskönig) vor.

Das Shôbôgenzô enthält in den 95 Kapiteln insgesamt 74 Kôans; es gibt eine beachtlich und unübersehbare Überschneidung mit den Kôans der oben genannten Basistexte. Zum Beispiel behandelt und analysiert Dôgen das Kôan des wilden Fuchses von Meister Hyakujô, das im Mumonkan als Zweites direkt nach dem Kôan Mu und im Cong-Rong-Lu als achtes aufgeführt ist. Er untersucht es detailliert in zwei ganz wichtigen Kapiteln: Kap. 76, "Die große Praxis" und Kap. 89 "Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung"; es ist auch in Shinji Shôbôgenzô enthalten.

Nishijima Roshi hält das Kapitel "Die große Praxis" mit diesem Kôan für zentral im gesamten Shôbôgenzô, da es eine fulminante Verbindung mit allen wichtigen Kapiteln des Shôbôgenzô herstellt. Zum Beispiel mit den Themen: Streben nach der Wahrheit, Zazen-Meditation, die wesentlichen Dimensionen der Wirklichkeit, Geist ist Buddha hier und jetzt, Sein-Zeit des Augenblicks, buddhistische Ethik, Handeln in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt, Erwachen und Erleuchtung und nicht zuletzt Buddha-Natur, die für Dôgen persönlich von existentieller Wichtigkeit war.

Er behandelt in diesem Kapitel nicht zuletzt das wichtige buddhistische Gesetz von Ursache und Wirkung, ohne allerdings explizit auf die Wiedergeburt einzugehen. Aber es gibt Verbindungen zu den Kapiteln: „Tiefer Glaube an das Gesetz von Ursache undWirkung“ und „Karma in den drei Zeiten“ in denen er nachweist, dass die von den Ursachen ausgehenden Wirkungen auch sehr viel später präzise auftreten können. Ich folge dabei dem Sinologen Dietrich Roloff, der betont, dass die Frage der Wiedergeburt im Zen keine primäre Bedeutung hat, anders als in einigen Übertragungslinien des indischen und tibetischen Buddhismus, vor allem aber in der Religion der Upanishaden und im Brahmamismus, also vor dem Wirken Gautama Buddhas. Eine solche Einschätzung ist einleuchtend, da im Zen-Buddhismus die Wirklichkeit des konkreten Hier und Jetzt also die Bedeutung der existentiellen Zeit des Augenblicks im Mittelpunkt steht und nicht eine oft spekulative Zukunft. Schon Buddha hatte gewarnt, sich mit den Vorstellungen, Hoffnungen und Ängsten der Fragen "Was war ich früher" und "Was werde ich sein" zu verzetteln.

Es ist ein Grundpfeiler des Zen-Buddhismus, dass die umfassende Wahrheit und Wirklichkeit im nicht-dualistischen Augenblick erfahren werden kann und dass die Erinnerungen der Vergangenheit eben nur eine gewisse Ähnlichkeit mit der damaligen Wirklichkeit haben. Dasselbe gilt für Erwartungen in der Zukunft, die ebenfalls nicht den Charakter der Wirklichkeit haben. Gerade für die Zukunft sind psychische Faktoren wie Angst, Verzweiflung oder auch Optimismus, Leichtsinn und vorwärts drängende Absichten charakteristisch. Aber beides kann niemals die Wirklichkeit sein, denn alles spielt sich nur im Gehirn des Menschen ab und hat keine direkte Verbindung zur konkreten Wirklichkeit.

Die Kôans haben im Shôbôgenzô zentrale Bedeutung: Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass deren Übersetzung und Verständnis in jedem Kapitel zu den schwierigsten Aufgaben gehört. Dies weiß ich aus eigener Arbeit, weil ich bei der Übersetzung des Shôbôgenzô durch Nishijima Roshi und Gabriele Linnebach viele Jahre intensiv mitgearbeitet habe. Es ist also nicht zu weit hergeholt, wenn man sagt, dass das ganze Werk des Shôbôgenzô wesentlich auf den tiefgründigen Wahrheiten der Kôans aus China basiert. Bei deren Behandlung und Interpretation vermeidet Dôgen jede Seichtigkeit und esoterische Sentimentalität.

Außerdem muss erwähnt werden, dass das Shôbôgenzô dichterisch von hohem Rang ist und damit den authentischen oben genannten Texten ebenbürtig ist. Es geht den Autoren darum, dass die Sprache soweit wie möglich in den spirituellen Raum des Nicht-Sagbaren hineinreicht, ohne dabei die Aussagekraft der Sprache zu überschätzen und mit der Wirklichkeit zu verwechseln

 Man darf niemals Worte und Sprache mit der bezeichneten Wahrheit und Wirklichkeit verwechseln. Durch eine solche sprachliche Kraft gelingt es nämlich, den einfachen linearen Verstand zu überschreiten und durch poetische Formulierungen nicht nur den Verstand, sondern den ganzen Menschen zu erreichen, um neue Energien zur eigenen Veränderung und Befreiung freizusetzen und zu erzeugen.

Es ist also nicht übertrieben zu sagen, dass das gesamte Shôbôgenzô auch eine fulminante Sammlung zentraler Kôans und deren Interpretationen ist.

Dôgen ist ein hochkarätiger Zen-Meister, dem alles Schwafeln, Romantisieren und Fantasieren fern liegt und der die alten Kôans nicht zuletzt auf ihre Glaubwürdigkeit und Form abklopft. Er macht sich geradezu lustig über die Kôan-Geschichte des alten Fuchses von Hyakujô, indem er fragt, wie denn überhaupt die Umwandlung des alten Meisters in einen wilden Fuchs vor sich gehen könne, nachdem der alte Meister angeblich einen schweren Fehler bei der Lehre begangen hat.

Er fragt zum Beispiel, ob der wilde Fuchs sich hinter einem Busch oder hinter einem Stein schon versteckt hatte und darauf lauerte, dass der alte Meister durch seinen Fehler in ihn hinein fährt. Außerdem wird in der Kôan-Geschichte berichtet, dass der wilde Fuchs sich regelmäßig wieder in einen alten Mann verwandelt, der dann dem Dharma-Vortrag des Meisters im Kloster zuhört und danach im allgemeinen verschwindet. Damit wird klar, dass wir das Kôan nicht materiell-körperlich verstehen können; das wäre eine Falle und macht überhaupt keinen Sinn. Um so klarer unterstreicht Dôgen die Bedeutung der Zen-Praxis im Augenblick für die Entwicklung auf dem buddhistischen Weg.

Besonders feinsinnig sind Dôgens Überlegungen, woher der wilde Fuchs überhaupt wisse, dass er 500 mal wiedergeboren wurde, also 500 mal das Leben eines Fuchses zu durchleben hatte und sogar wusste, dass er in einem vorherigen Zeitalter vor langer Zeit ein Meister war, der bei der Interpretation des Gesetzes von Ursache und Wirkung Fehlerhaftes gelehrt hatte. Dies würde nämlich bedeuten, dass der Fuchs sich an seine früheren Leben erinnert. So etwas sei doch nur den voll erwachten Buddhas möglich. Die verblüffende Schlussfolgerung wäre also, dass der Fuchs voll erleuchtet gewesen sein müsse und dass dies wohl keine Bestrafung sein könne, die der alte Meister wegen seines Fehlers zu erdulden hätte: Die volle Erleuchtung als Fuchs kann nun wirklich keine Strafmaßnahme sein. Das wäre im übrigen eine ideelle Erklärung, die auf die buddhistische Theorie und Tradition fixiert ist, und auch das ist eine Falle und macht keinen Sinn.

Dôgen geht also nicht nur den Kern der Kôans mit großer spiritueller Kraft an, sondern er ermutigt uns auch immer, selbst zu überlegen und nichts einfach hinzunehmen, also keiner eindimensionale Wortgläubigkeit zu verfallen. Es geht genau um die große Praxis des Augenblicks: zwei "Menschen": Einer nicht zwei !

Bei genauerer Analyse muss daher festgestellt werden, dass es eine fundamentale Unterscheidung der Zen-Linien von Rinzai und Soto nicht gibt: sie basieren auf den selben Kôans. Dies hat auch Willigis Jäger immer wieder betont, und ich stimme ihm voll zu.

Die authentischen Basistexte der chinesischen Überlieferung, vor allem das Mumonkan und Bi-Yan-Lu, bilden also mit dem Shôbôgenzô eine Einheit, und es sind Texte der Weltliteratur von höchstem Rang. Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir heute verlässliche Übersetzungen sowohl in Englisch als auch in Deutsch besitzen und auf dieser Grundlage den jeweils eigenen Buddha-Weg der existentiellen Erfahrung und Veränderung gehen können.

Allerdings muss auch angemerkt werden, dass verlässliche Übersetzungen des Shobôgenzô erst seit kürzerer Zeit vorliegen: eine ältere Version wird in der Fachwelt eher kritisch gesehen, während die erste vollständige Fassung von Nishijima/Cross in Englisch 1999 vorgelegt wurde. Die entsprechende deutsche Fassung von Linnebach/Nishijima folgte dann mit dem vierten Band im Jahre 2008. Außerdem ist eine verlässliche englische Version unter der Leitung von Kazuaki Tanahashi im Jahre 2010 fertiggestellt worden. Diese Versionen werden in der Fachwelt allgemein anerkannt und sind ein großer Fortschritt bei der Quellenarbeit.

Die Aufarbeitung des Shôbôgenzô ist in den USA schon im vollen Gange. Dieses Werk gilt als dasjenige, das am meisten untersucht und behandelt wird. Auch in Deutschland ist allgemein in Fachkreisen unbestritten, dass Dôgens Texte eine hohe Bedeutung haben. Sie sind allerdings nicht einfach zu erfahren und zu verstehen. Daher habe ich eine Einführung zu allen Kapiteln verfasst, um den Zugang zu erleichtern: "ZEN Schatzkammer"( Bd. 1- 3). Es muss angemerkt werden, dass das Verständnis dieser fulminanten Aussagen hier erst im Anfangsstadium ist. So wurde Dogen beispielsweise auf dem kürzlichen Kongress „Meditation und Wissenschaft“ in Berlin zwar häufig erwähnt, aber meist fehlte die vertiefte Analyse der wesentlichen Eckpunkte. Dôgens Arbeiten zum Zen-Buddhismus sind unbestritten von höchster Bedeutung, sie basieren nicht zuletzt wie in der Rinzai-Linie auf den Kôan-Sammlungen der Tang- und Song-Zeit.

Résumée: Eine Abgrenzung der Zen-Linien von Rinzai und Sôtô erscheint mir künstlich, hergeholt und gefährlich, es gibt dafür keine sachlich belastbaren Fakten. Es geht viel mehr um die wechselseitigen Ergänzungen und Befruchtungen bei diesen bedeutenden Basistexten.


Freitag, 17. Oktober 2014

Wie versteht Dogen die Leerheit des Herz-Sutra?

(Yudo J. Seggelke)

Dôgen verwendet den für das Herz-Sutra und den Mahayana-Buddhismus zentralen Begriff der Leerheit nur im zweiten Kapitel und im Laufe der weiteren 93 Kapitel des Shôbôgenzô nicht mehr. Das ist erstaunlich! Warum geht er so vor?

In diesem fulminanten Gesamtwerk spielt der Begriff der Leerheit also keine herausragende Rolle, wie man eigentlich annehmen sollte. Meine Interpretation dazu:

Dôgen setzt die höchste Weisheit, prajñā-pāramitā, die das lineare bewertende Denken überschreitet, mit der Leerheit gleich und gewinnt damit radikal an Konkretheit und Aussagenkraft für unser Leben hier und jetzt.

Denn zweifellos ist schwer zu verstehen, was im Mahayana mit dem Begriff der Leerheit bezeichnet wurde, weil die Leerheit all zu leicht mit Nihilismus und der Leugnung jeglicher Realität verwechselt wird. Und eine solche Verwirrung ist wegen der häufigen Negationen tatsächlich in verschiedenen Traditionen des Buddhismus zu beobachten. Aber derartigen nihilistischen Negationen wären dem japanischen Zen und chinesischen Chan in der Tat völlig fremd und stünden der Suche nach dem wirklichen Hier-und-Jetzt diametral entgegen.

Im originalen Sanskrit-Text des Herz-Sûtra heißt es:
Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beruhen auf der höchsten Weisheit, die das lineare Denken überschreitet, prajñā-pāramitā, und daher wird diese Weisheit als leer bezeichnet.

Das zweite Kapitel des Shôbôgenzô zum Herz-Sutra verstehe ich als zentrales Verbindungsstück zwischen dem im Mahâyâna viel verwendeten Begriff der Leerheit und dem gesamten Werk des Shôbôgenzô. Oder verkürzt ausgedrückt: Herz-Sutra und Shôbôgenzô beschreiben dieselbe höchste buddhistische Realität, sie sind semantisch identisch. In den folgenden Kapitel des Shôbôgenzô entwickelt Dôgen sein umfassendes Verständnis aufgrund der tiefen Erfahrungen des Buddhismus, die er in Japan, vor allem aber in China erlebt hatte.

Diese Kapitel sind daher insgesamt die konkreten und zugleich tiefgründigen Bereiche dessen, was im Buddhismus als Leerheit bezeichnet wird. Dôgen hat eine solche tiefe Erleuchtung erst in China durch die Verbindung mit der Zen-Meditation erlangen können: In Japanisch Shikantaza, nichts als Sitzen, Körper und Geist fallen lassen.

Dôgens Schriften sind m. E. von einzigartiger Kraft der Sprache für tiefste Erfahrungen des Menschen, die sprachlich eigentlich nicht mehr erfasst werden können. Es geht um die Wirklichkeit und Wahrheit sowie die drei Lebens-Philosophien des Idealismus, Materialismus und des Handelns, die Nishijima Roshi an anderer Stelle eingehend beschrieben hat.

Die weiteren Kapitel des Shôbôgenzô geben also ein umfassendes Bild der buddhistischen Lehre, sie sind identisch mit den verschiedenen Aspekten der Leerheit oder der höchsten Weisheit, die das vergleichende Denken und Bewerten überschreitet. Dazu werden von Dôgen zum Beispiel folgende Themen tiefgründig erläutert, um hier nur einige Beispiele zu nennen:

Die Wirklichkeit dieser Welt als strahlende Perle[1], konkrete Regeln für die Meditations-Halle[2], zentrale Aussagen zum Geist und zur Einheit von Körper-und-Geist[3], mehrere großartige Kapitel über die Natur[4] und die fundamentalen Aussagen der Sein-Zeit als Wirklichkeit im Augenblick und im Hier und Jetzt[5]. Weiterhin gibt er tiefgründige Beschreibungen und Interpretationen des Lotus-Sûtra[6], des umfassenden intuitiven Wissens, der Buddha-Natur[7] und des wahren und reinen Handelns der Buddhas[8]. Zwei wichtige Kapitel zum großen Erwachen oder der Erleuchtung[9] und die Aussagen der Bodhidsattvas des großen Mitgefühls und Helfens[10] zeugen von seiner außergewöhnlichen Erfahrung und Klarheit. Es würde an dieser Stelle zu weit gehen, alle Kapitel vollständig aufzuzählen.

Ich verstehe das Kapitel zum Herz-Sûtra als großartiges Verbindungsstück und Scharnier zwischen der Bedeutung der Leerheit im Mahâyâna-Buddhismus des Mittleren Weges, auch des indischen Meisters Nâgârjuna, und dem gesamten Werk des Shôbôgenzô.

Nun möchte ich eine kurze Interpretation des im Original erhaltenen Sanskrit-Textes des Herz-Sutra geben:

Wir können und müssen die Teil-Wirklichkeiten des Materiellen und Immateriellen, also zum Beispiel der Ideen und Gedanken im Idealismus, unterscheiden, solange wir in der Trennung von Subjekt und Objekt gefangen sind, die uns im normalen Leben geläufig ist. Da im Buddhismus dieser Dualismus in der höchsten Weisheit und in der Leerheit überschritten wird, gibt es eine solche eigentlich künstliche Trennung vom Materiellen und Immateriellen nicht. Sie bilden sozusagen auf der "höheren Ebene" der buddhistischen Weisheit von Körper-und-Geist eine Einheit, ohne dass sie jedoch als Teil-Wirklichkeiten verschwinden.

Im Mahâyâna-Buddhismus wird in aller Klarheit betont, dass wir uns die Welt und uns selbst nicht als getrennte und von einander unabhängige Entitäten wie isolierte Dinge vorstellen dürfen. Das gewaltige lebende Netzwerk dieser Welt, das in Sanskrit pratityasamutpada genannt wird und sich laufend kreativ entwickelt, ist mit der Vorstellung unveränderlicher Entitäten, die als dauerhaft und existent gedacht werden, nicht vereinbar. Daher dürfen die Komponenten des Menschen, Skandhas, die nach Buddha den Menschen ausmachen, nicht als eigenständige Entitäten verstanden werden. Die fünf Skandhas sind: Form, Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte/Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten des Menschen sind also in ihrer Wirklichkeit miteinander vernetzt und bilden ein lebendiges Wirkungsgefüge; nur in der Vernetzung sind sie lebensfähig. Sie sind daher leer von einer isolierten und fiktiven Eigen-Existenz als Entität.

In gleicher Weise macht es keinen Sinn, die Organe und Tätigkeiten der sinnlichen Wahrnehmung, also Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Denkorgan wie unabhängige Entitäten zu verstehen. Ganz falsch wäre es, sie nur materiell und körperlich, also dinghaft zu denken: Das wäre naiver Materialismus. Die Sinnesorgane sind wie die gesamte Wirklichkeit vernetzt, wirken dauernd auf einander ein, sie bilden jeweils dynamische Gleichgewichte, genau das ist Leben. Es gibt daher keine unabhängigen materiellen Entitäten. Es ist sinnlos, Bereiche und Teile eines Netzes zu verdinglichen und zu isolieren. Zudem gibt es im lebenden Netz immer die Einheit von Materiellem und Immateriellem.

In der Lehre des Mittleren Weges des großen indischen Meisters Nâgârjuna heißt es, dass die zentralen Begriffe der buddhistischen Lehre ebenfalls nicht dinghaft als Entitäten verstanden werden sollen: Begriffe sind wie Ideen und Gedanken keine selbständigen Entitäten. Nâgârjuna sagt, dass sie ebenfalls keine unabhängige Eigenexistenz haben, denn die Wirklichkeit existiert nur als das Netzwerk mit seinen Wechselwirkungen und dynamischen Gleichgewichten des Immateriellen und Materiellen.

Im Herz-Sûtra werden in gleicher Weise die buddhistischen Begriffe und Vorstellungen von Unwissenheit, Altern, Tod, Leiden, Ansammlung, Aufhören oder Weg aufgezählt und betont, dass man sie nicht wie Dinge, feste Entitäten oder Ideen etwa im Sinne der Idealisten verstehen darf. Diese Begriffe sind daher als solche zu negieren. Aus meiner Sicht war eine solche Richtigstellung etwa 500 Jahre nach dem Wirken Gautama Buddhas notwendig geworden, weil sich die Lehrinhalte verselbständigt und verhärtet hatten und das Wesentliche des praktischen Weges zum Erwachen und der Vernetzung von pratitya samutpada in den Hintergrund gerückt war. Es ist spannend, dass auch der Westen erst seit einigen Jahrzehnten die Wirklichkeit von vernetzten Systemen vertieft untersucht hat, wie zum Beispiel bei den nunmehr stark gefährdeten Öko-Systemen.

Mit der weiteren Aufzählung im Herz-Sutra, dass es keine Entitäten wie Weisheit, Erlangen oder Nicht-Erlangen gibt, werden Ähnlichkeiten zu den scheinbaren Paradoxien der Kôans deutlich, die etwa 700 Jahre später in China im Rahmen des Chan-Buddhismus entwickelt wurden und die auch Dôgen als Kernaussagen des Buddhismus in seinen Texten verwendet und interpretiert.

Im folgenden Teil des Originaltextes des Herz-Sutra wird zur höchsten Weisheit prajñā-pāramitā übergeleitet, die das lineare und bewertende Denken überschreitet. Die gewöhnlichen Hindernisse des Denkens und Fühlens werden in diesem Zustand außer Kraft gesetzt: verschiedene vielfältige Widerstände, Probleme und Blockaden unseres Körper-und-Geistes. Diese Befreiung wird folgerichtig als höchster Zustand des Nirwana bezeichnet. Nirwana ist nicht etwas Jenseitiges, sondern kann im jetzigen Leben verwirklicht werden. Damit ist die Grundlage und zentrale Aussage Gautama Buddhas herausgearbeitet, dass jeder von uns die Buddha-Natur verwirklichen und zur höchsten Realität erwachen kann.

Gegen Ende des von Nishijima/Cross übersetzten originalen Textes des Herz-Sutras wird der unvergleichliche Zustand des Gleichgewichts und dieses Mantras beschrieben:
„Es kann alle Leiden wegnehmen. Es ist wirklich und nicht leer“.

Hier wird der Begriff leer als Gegensatz zum falschen Verständnis des Nichts im Nihilismus verwendet und dabei auf die große Gefahr hingewiesen, dass auch der Begriff und die Vorstellung der Leerheit sich verselbständigen und verdinglichen kann. Nâgârjuna spricht sogar davon, dass die Leerheit wie eine giftige Schlange gefasst werden muss, damit sie die Menschen nicht vergiften und sogar töten kann. Er will damit sagen, dass der Begriff der Leerheit große Gefahren in sich birgt, wenn er falsch verstanden und verdinglicht wird. Dies sei gefährlicher, als wenn man Leerheit überhaupt nicht erwähnt.

Am Ende des Herz-Sûtras wird das Gleichnis der Überquerung eines Flusses angesprochen: Wenn wir den Buddha-Weg gehen, gelangen wir auf die andere Seite an das Ufer des Erwachens und der höchsten Weisheit, die das dualistische Denken überschreitet, prajñā-pāramitā. Dies ist die höchste Dimension des wahren Handelns und von Körper-und-Geist.

Das ist das Herz des Zen-Buddhismus.







[1] Vgl. Kap. 4, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 54 ff.: "Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle (Ikka no myōju)„"
[2] Vgl. Kap. 5, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 65 ff.: „Wichtige Regeln für die Zazen-Halle der schweren Wolke (Jû-undô shiki) "
[3] Vgl. Kap. 6, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 72 ff.: „Geist hier und jetzt ist Buddha (Soko shin ze butsu))"
[4] Z. B. Vgl. Kap. 9, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 50 ff.: "Die Stimmen des Tales und die Form der Berge (Keisei sanshiki)"
[5] Vgl. Kap. 11, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji))"
[6] Vgl. Kap. 17, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 152 ff.: „Lotos-Sûtra: Die Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke))"
[7] Vgl. Kap. 22, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 192 ff.: „Das Geheimnis der Buddha-Natur (Busshō)"
[8] Vgl. Kap. 23, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 202 ff.: „und reines Handeln der Buddhas (Gyōbutsu yuigi) "
[9] Vgl. Kap. 26, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 231 ff.: „Was ist das große Erwachen oder die Erleuchtung? (Daigo); Kap. 28, ZEN-Schatzkammer, Bd.
[10] Vgl. Kap. 33, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 80 ff.: „. Der Bodhisattva des großen Mitgefühls und des Helfens (Kannon) "

Sonntag, 28. September 2014

Mittlerer Weg, Gehirnforschung und Evolution der Menschheit

(Yudo J. Seggelke)

Mittlerer Weg
Nâgârjuna ist der große indische Philosoph des Mittleren Weges, er wird häufig als wichtigster Denker zur Philosophie der Leerheit angesehen. In seinem großen Werk in Form eines Lehr-Gedichtes "Weisheit des Mittleren Weges" (MMK) von 27 Kapiteln stellt er zwei tiefgründige Basis-Verse voran, die immer wieder zu Diskussionen und grundsätzlichen Fragen des Mâhâyâna-Buddhismus Anlass geben. Warum?:

Im ersten Vers werden wir aufgefordert, die fest gefahrenen Bedeutungen der im Buddhismus gebräuchlichen Begriffe und Vorstellungen beiseite zu lassen. Nâgârjuna will offensichtlich ganz neu ansetzen und in einer Zeit, in der sich der Buddhismus bereits in verschiedene z. T. eigenartige Linien und Lehr-Meinungen aufgespalten hatte, eine feste Grundlage geben. Einige Übertragungslinien bekämpften sich sogar recht drastisch untereinander. Er wollte sicher die Lehre Gautama Buddhas auf die wesentlichen Kernpunkte zurückführen und Fehlentwicklungen und Fehlinterpretationen eine radikale Absage erteilen. Dabei sollten die validen Ausdifferenzierungen durch den Mâhâyâna beibehalten werden. Dieser Grundansatz ist in der buddhistischen Forschung auch weitgehend unbestritten.

Nagarjuna negiert (!) im ersten Vers die folgenden buddhistischen Begriffs-Paare :
Vergehen und Entstehen, Abbrechen und Andauern, Einheit und Vielheit, Erscheinen und Verschwinden.

Er formuliert daher: " Nicht-Vergehen und Nicht-Entstehen " usw..
Bei oberflächlicher Betrachtung muss es verwundern, dass er diese zentralen Begriffe der buddhistischen Lehre ablehnt und die ´normalen´ Buddhisten damit vor den Kopf stoßen muss. Aber offensichtlich ist das kein Nihilismus und keine undifferenzierte Negation. Er will uns damit zweifellos auffordern, diese Grund-Begriffen neu zu durchdenken und praktisch zu realisieren: wir sollen gemeinsam mit ihm für die buddhistischen Grundlagen ganz von vorn bei Null anfangen und nicht einfache das Überkommene ohne gründliche Reflexion übernehmen. Die buddhistischen Begriffe und Vorstellungen hatten sich z. T. verselbständigt und von der Lebenswirklichkeit abgekoppelt. Sie hatten ein unwirkliches Eigenleben, eine unwirkliche Eigen-Existenz, entwickelt und waren daher inhaltsleer geworden: leere isolierte Worthülsen, die intelligent hin und her geschoben wurden; ein hoch intellektuelles Glasperlenspiel weniger Experten.

Nâgârjuna fragte beim Mittleren Weg dagegen: Was ist wirkliches Entstehen im Netz der Welt und der Mensch? Das übersteigt jeden Begriff und jede übernommene Vorstellung. Es war ja nicht mehr zu übersehen, dass sich vielfältige falsche Vorstellungen, Dogmen und damit verbunden nicht-buddhistische Weltanschauungen eingenistet hatten, die er richtig stellen wollte, um die Kraft und Frische der buddhistischen Lehre und Praxis neu zu beleben. Auf einer abgehobenen und illusionären Weltanschauung kann kein solider Befreiungsweg aufgebaut werden

Im zweiten Vers präzisiert er daher die buddhistische Lehre von der Wirklichkeit und Wahrheit der Welt und des Kosmos :

Alles entwickelt sich andauernd in Wechselwirkung, nichts ist isoliert und kann für sich allein nicht existieren. Das ist das kosmische gewaltige Netzwerk, in dem wir leben, lernen, uns entwickeln und in dem wir unser Leben gestalten.

Fehlentwicklungen führen zu menschlichem Leiden, das nach wie vor in der Welt und bei den Menschen da ist. Gautama Buddha hat mit seinen Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad einen sicheren Weg ausgewiesen, wie wir diesem Leiden entkommen, gewissermaßen aus ihm heraus-wachsen können. In Sanskrit wird diese vernetzte kreative Wirklichkeit des Lebens und der Welt pratitya samutpada genannt. Die großen westlichen Buddhisten Joanna Macy und Francisco Varela haben dieser lernenden Vernetzung der Welt und der Menschen ebenfalls zentrale Bedeutung gegeben; wie ich meine zu Recht. Denn diese Wirklichkeit ermöglicht nicht nur die Überwindung des Leidens, sondern eröffnet die Lebenswelt zur Freude, Befriedung und des Glücks, also zum Erwachen und zur Erleuchtung.

Nishijima Roshi und auch der Dalai Lama haben unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die buddhistische Lehre niemals im Gegensatz zu gesicherten Fakten der Wissenschaft stehen könne. Der Dalai Lama fügt sogar hinzu, dass die buddhistische Lehre entsprechend geändert und angepasst werden müsste, selbst wenn die tibetische Überlieferung etwas anderes sagt. Wir sind daher aufgefordert, die zentralen buddhistischen Aussagen Nâgârjunas auch mit fundierten Ergebnissen der Wissenschaft und Forschung anzugehen, zu begründen oder aber zu ändern oder abzulehnen. Welche Bereiche sind nun von besonderer Bedeutung für das wechsel-wirkende Netzwerk pratitya samutpada und die zentralen Aussagen Nâgârjunas, die er in den folgenden 27 Kapiteln im Einzelnen behandelt. Ich möchte dazu die Bereiche der Evolutionsforschung und Gehirnforschung ansprechen und hier kurz darstellen, soweit ich sie kenne.

Evolutionsforschung
Es gilt nunmehr als gesichert, dass die Erde etwa 6 Milliarden Jahre alt ist und etwa vor 3 Milliarden Jahren das Leben in allerersten Anfängen unter schwierigen Bedingungen entstand. Wir schätzen, dass die Dino-Saurier als hoch entwickelte Lebewesen mit den bekanntlich großen Ausmaßen etwa vor 250 Millionen Jahren auftauchten und etwa vor 65 Millionen Jahren verschwanden. In der Zeit der Dino-Saurier gab es bereits eine üppige Biosphäre, eine lebensnotwendige Atmosphäre mit Sauerstoff, sodass viele Pflanzen und Tierarten in 3 Milliarden Jahren entstanden waren. Die Tiere und Pflanzen bildeten bereits ein hoch vernetztes Biosystem, das durch dauernde Veränderungen und zugleich relativ stabile Gleichgewichtszustände gekennzeichnet war. Durch massive Natur-Katastrophen ergaben sich immer wieder tiefgreifende Erschütterungen der vernetzten Gleichgewichte, die aber danach wieder zu neuer Vielfalt und Vielfältigkeit führten. So wird heute angenommen, dass vor 65 Millionen Jahren ein großer Meteorit auf der Erde einschlug und die Biosphäre grundlegend erschütterte, sodass die Saurier in ihren hoch spezialisierten, vernetzten Lebens- und Sozialsystemen nicht mehr lebensfähig waren. Danach haben sich bekanntlich die Säugetiere aus kleinen Anfängen von der Größe etwa einer Maus bis in die heutige Zeit entwickelt.

Ein markantes Beispiel der Co-Evolution ist die Entwicklung der Farben auf der Erde vor etwa 120 Millionen Jahren. Sie wurde parallel, gekoppelt und vernetzt von den Pflanzen mit ihren Blüten und Früchten einerseits und den Tieren und deren farbfähige Augen andererseits entwickelt. Unsere Welt ist in der Tat ohne Farben heute nicht mehr vorstellbar: das Ergebnis einer vernetzten, co-evolutiven Entwicklung, des Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada.

Die ersten Menschen sind je nach dem wie man sie wissenschaftlich definiert vor etwa 500 Tausend Jahren aufgetaucht und haben in der Jung-Steinzeit von Zentralafrika aus die Erde besiedelt, wie wissenschaftlich ziemlich sicher anzunehmen ist. Der Forscher Gerald Hüther geht davon aus, dass sich unser Gehirn seit etwa Einhundert Tausend Jahren nicht wesentlich verändert hat, sondern dass die „Hardware“ unseres Gehirns im Wesentlichen gleich geblieben ist. Das heißt, dass sich die heutigen kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auf der Grundlage des neuronalen Netzes unserer Vorfahren ausgebildet und entwickelt haben und von Generation zu Generation übermittelt wurden.

Was ist das Resumée der Evolutionsforschung? Aus sehr primitiven Anfängen hat sich eine gewaltige Vielfalt von Vernetzungen der Tiere, Pflanzen, der Biosphäre, Atmosphäre und uns Menschen entwickelt. Parallel dazu haben sich hoch komplexe Moleküle, wie zum Beispiel Eiweiß entwickelt, die wesentliche Grundlage des Lebens sind. Dieses hoch komplexe Netzwerk der Erde hat sich laufend weiterentwickelt, vergrößert; es hat selbst schwere Erschütterungen nach einer gewissen Zeit ausgeglichen und zu neuer Evolutionskraft geführt.

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, das Gautama Buddha und Nâgârjuna ein intuitives Verständnis dieses evolutiven vernetzten Prozesses hatten und dass sie daraus die Grundlage der buddhistischen Philosophie, pratitya samutpada , geschaffen haben. Ich vermute weiterhin, dass diese tiefgreifende Kenntnis der hoch vernetzten Wirklichkeit in der Zeit Nâgârjunas bereits bei vielen Buddhisten nicht mehr in vollem Umfang bekannt war.

Gehirnforschung
Wir wissen heute, dass unser Gehirn aus einer sehr großen Zahl von Neuronen Zellen besteht, die miteinander vernetzt sind und dass es im Groben etwa 100 Module oder Teilsysteme gibt, die jeweils eine gewissen Spezialisierung für bestimmte Funktionen unseres Lebens haben. Der Gehirnforschen Manfred Spitzer spricht von einem modularen Aufbau unseres neuronalen Netzes, z. B. des Seh-Systems , das etwas 1/3 der Leistung des Gehirns umfasst, und des motorischen Bewegungs-Systems mit der Steuerung der Arme und Beine usw. in der gleichen Größenordnung. Hinzu kommen die weiteren anderen Gehirn-Leistungen: verbale Fähigkeiten, mathematische Fähigkeiten, ethische Steuerung und gewaltige gespeicherte Informationen. Und alle die Fähigkeiten sind eng und unauflösbar mit Emotionen gekoppelt. Das neuronale Netz umfasst etwa Einhundert Milliarden Neuronen-Zellen, mit etwa Zehntausend Vernetzungen je Zelle. Die Vernetzungs-Schnittstellen werden Synapsen genannt, sie haben biochemische und elektrische Funktionen für die Informations-Übermittelung. Dadurch ergeben sich neben unvorstellbaren Informations-Leistungen eine kaum glaubliche Lernfähigkeit: Unser neuronales Netz besitzt Modularität und Plastizität.

Dieses neuronale Netz steht selbstverständlich in permanenter lebender Wechselwirkung mit allen anderen Organen und Funktionen unseres Körpers und auch sowohl biologisch als auch sozial in dauernder Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Unsere Sprache können wir z. B. nicht allein lernen sondern nur im sozialen Kontakt mit anderen Menschen - und ohne Sprache sind wir eigentlich keine Menschen. Vereinfacht gesagt: ohne soziales Lernen sind wir keine Menschen.

Wenn wir uns fragen, wo ein Ich-Kern lokalisiert sein könnte, finden wir kein derartiges Zentrum im neuronalen Netz, das als ein solches Ich bezeichnet werden kann. Sondern wir müssen sagen: das gesamte neuronale Netz ist in Wechselwirkung mit dem Körper und der Umwelt das Ich. Etwas anders mit Nâgârjuna ausgedrückt: es gibt keine unabhängige zentrale Entität im Menschen oder im Gehirn, die als Ich bezeichnet werden kann. Das Ich ist also eine Benennung des gesamten Netzwerkes mit allen Spezifika, die bekanntlich bei den einzelnen Menschen sehr unterschiedlich sind. Es gibt Individualitäten des Menschen, deren Grundlage aber wohlgemerkt immer ein Netzwerk ist.

Das neuronale Netz ist dauernd aktiv, und es ist lebendig, leistungsfähig und lernt genau so, wie es benutzt wird, und wie es handelt, am besten in der Einheit von Körper und Geist. Neuere Forschungen haben ergeben, dass sich bei intensiven körperlichen Aktivitäten sogar neue Gehirnzellen bilden können und dass sich beim Lernen grundsätzlich neue Vernetzungen im neuronalen Verbund bilden. Bei der Übung vorhandener Fähigkeiten werden bereits vorhandene Leitungs-Verbindungen des Netzes aktiviert und verbessert. Was beim Menschen nicht benutzt wird, verliert seine Funktionsfähigkeit, sodass man sagen kann, das Gehirn ist genau das, was es macht. Das Netzwerk hat also "keine feste Verdrahtung", die wir aus der Elektronik kennen, sondern ist ein biologisch lebendes Netzwerk, das bei Benutzung funktionsfähig ist und bleibt. Es kann sich ein ganzes Leben lang verbessern und erweitern, wenn entsprechende Lernprozesse und Um-Lernprozesse stattfinden.

Wenn wir also in unserem Leben eine radikale Neuausrichtung angehen, um unnötiges Leiden zu vermeiden und neue Lebensfreude und Lebenssicherheit zu gewinnen, ist es notwendig alte eingefahrene negative Verbindungen im neuronalen Netz auslaufen zu lassen und neue bessere aufzubauen.

Der große Zen-Meister Dôgen sagt in diesem Sinne im dritten Kapitel des Shôbôgenzô zur Verwirklichung des Lebens und Universums beim Dharma-Weg:

„Buddhas Wahrheit zu erlernen bedeutet, uns selbst zu erlernen. Uns selbst zu erlernen bedeutet, uns zu vergessen. Uns zu vergessen bedeutet, von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden. Von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden bedeutet, unseren eigenen Körper und (denkenden) Geist und den Körper und Geist der äußeren Welt fallen zu lassen.“

Wenn wir von den vielen "Dharmas erfahren werden", bedeutet das nichts anderes, als dass wir uns für die unverstellte Wirklichkeit der Welt öffnen und die eigenen Fixierungen und Verengungen aufgeben, die uns bisher blockiert haben.

Es gibt in unserem Gehirn und in unserem gesamten Körper keinen unveränderlichen dauerhaften zentralen Ich-Kern, der von der Geburt bis zum Tod konstant bleibt, sich nicht verändert und unsere Individualität dauerhaft ausmacht. Für die Lehre der Reinkarnation der Upanishaden im alten Indien vor Gautama Buddha galt das Gegenteil: es gebe einen Ich-Kern, den die Inder Atman nannten, der als konstante Entität im Leben unverändert bleibt und durch verschiedene Wiedergeburten wandert. Im Lichte der modernen Gehirnforschung ist die Annahme eines solchen Ich-Kerns ausgeschlossen. Unsere wahre Existenz ist also kein dauerhafter unveränderlicher Ich-Kern, sondern ein lebendes vernetztes Ganzes, das sich dauernd verändert und entwickelt, erstaunlich lernfähig ist und durch Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt gekennzeichnet ist. Das ist so, obgleich wir vielleicht an ein unveränderliches Ich glauben. Aber dieser Glaube entspricht nicht der Wirklichkeit.

Entstehung in Wechselwirkung
Die Lebensphilosophie der lernenden Vernetzung, also des Entstehens in Wechselwirkung, wird damit durch die Evolutionsforschung und Gehirnforschung voll bestätigt: pratitya samutpada ist die Wirklichkeit selbst, genau so wie es Nâgârjuna sagt. Sie besteht nicht aus menschlichen Ich-Kernen, Atman, die unabhängig voneinander konstant und dauerhaft von Leben zu Leben wandern, sondern die Menschen sind Teil eines großen Netzwerkes, im Innen- und im Außenverhältnis.

Es geht für uns Menschen darum, innerhalb dieses Netzwerkes ein sinnvolles Leben zu führen und einen guten Lebensweg zu finden. Aus meiner Sicht ist das die Essenz der buddhistischen Lehre und Praxis, die von Gautama Buddha vor etwa 2500 Jahren selbst erfahren, erkannt, erprobt und entwickelt wurde.

Aus meiner Sicht ist der Buddhismus eine ausgesprochen optimistische und positive Weltanschauung und wenn man so will einer Religion. Es geht um Entwickeln, Lernen, Weiterentwickeln und Entstehen: in Kooperation und Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Einseitige Abhängigkeiten reduzieren die Lebenschancen und die Lebensfreude ganz erheblich und führen zu Leiden, sei es Abhängigkeiten von uns selbst, wie Gier, Hass, Neid, Angst usw. oder sei es von anderen Menschen oder Umständen. Dann kann nicht viel Neues entstehen, es gibt keinen Lebensoptimismus, sondern das Leben wird immer mehr verengt und gerät in immer größere Abhängigkeit, zum Beispiel von den obigen buddhistischen Giften, aber auch von falschen Gurus, Politikern und charismatischen machtgierigen und verführerischen Menschen:  moderne psychische Wölfe in Schafspelzen. Und es gibt auch spirituelle Wölfe in Schafspelzen!

Dann reduziert sich die Wechselwirkung des Netzwerkes auf eine unidirektionale lineare Abhängigkeit: das ist das abhängige Entstehen oder bedingte Entstehen, das aus meiner Sicht recht ungenau als zentrale Aussage des Buddhismus aufgefasst wird. Nicht das Vergehen, Absterben und die Abhängigkeit sind zentrale Aussage des Buddhismus, sondern das Entstehen, die Wechselwirkung, das Lernen und die Evolution zu größerer Vielfalt und auch Schönheit. Das ist gerade der Befreiungs-Weg zum Erwachen und zur Erleuchtung. Das Lotus-Sûtra spricht in diesem Sinne davon, dass wir unsere Buddha-Welt mit Schönheit schmücken sollen, um ein gutes und glückliches Leben zu führen. Das ist eine wichtige Aussage, die mich überzeugt. Das positive Entstehen, die Weiterentwicklung und vielfältige Lernprozesse sind die zentrale Essenz des Sanskrit-Begriffes pratitya samutpada.

Zusammenfassung
Wir können die beiden ersten Verse von Nâgârjunas Mittleren Weg (MMK) wie folgt zusammenfassen: vergesst eure bisherigen eingefahrenen Vorstellungen und Begriffe, die auf der falschen Weltanschauung eines unveränderlichen Ich-Kerns und isolierter Dinge und Entitäten basieren. Die wahre Existenz des Menschen ist ein offenes, vernetztes Selbst, das dauernd in Entwicklung ist und in dem dauernd etwas Neues entsteht. Jedes Fortschreiten von einem Augenblick zum nächsten ergibt Neuerungen und Entstehungsprozesse. Diese Veränderungen im kreativen evolutiven Netz sind unsere wahre Existenz, nicht irgendetwas Unveränderliches, Dauerhaftes, Festgelegtes und Dogmatisches, auch nicht nach einem buddhistischen Dogma.

Bei einem unveränderlichen Ich-Kern gibt es kein Entstehen sondern nur bei einem offenen lernenden Selbst, dass sich nicht isoliert, sondern im sozialen Netz und in der sozialen Verantwortung tätig ist und handelt. Verkürzt könnte man sagen: das verantwortungsvolle Handeln in der Vernetzung mit Anderen und der Umwelt ist unsere wahre Existenz. Aus meiner Sicht ist dies genau die Lebensphilosophie des Bodhisattva, die im Mahâyâna-Buddhismus zu hoher Blüte gebracht wurde und nicht zuletzt im Zen-Buddhismus bis heute existiert.

Einen unveränderlichen isolierten Ich-Kern gibt es weder geistig noch biologisch und auch nicht materiell.: Der Starke ist am schwächsten allein, er ist allerdings nicht einmal lebensfähig. Maßgeblich ist es, wie wir handeln: Wir sind, was wir machen und wir sind nicht, was wir nicht machen.
Im Zen-Buddhismus heißt es bei Dôgen:

„Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen“ und
„in der Zen-Meditation empfängt das Selbst das (wahre) Selbst“.

Dôgen hat diese zentrale Lehre und Praxis vor allem in den fulminanten Kapiteln zur Verwirklichung im Leben und Universum, zum Herz-Sûtra, zum Lotus-Sûtra und zur Buddha-Natur behandelt. Sie stimmen genau mit Buddhas und Nâgârjunas zentraler Aussage pratitya samtupada überein.

Und Buddhismus ist eine umfassende im Grundsatz positive Religion. Sie kann nicht durch den Satz „Alles ist Leiden" gekennzeichnet werden. Es gibt zweifellos die Wirklichkeit des Leidens, das wir mit dem Achtfachen Pfad überwinden können; oder anders formuliert:

Alles Leiden ist zwar Leiden", aber es kann überwunden und verlernt werden.