(Yudo J. Seggelke)
Sicher hätten sich die großen Meister Rinzai (in Chinesisch Lin-chi) und Dôgen gewundert, dass spätere Generationen viele Jahrhunderte lang die trennenden Unterschiede beider Zen-Linien z. T. dogmatisch vertreten würden, anstatt sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren und sich zu ergänzen. Schließlich geht der Zen-Buddhismus gemeinsam auf Gautama Buddha, Nâgârjuna, Bodhidharma und Hui neng (Daikan Enô) zurück. Bestenfalls könnte man eigentlich zugestehen, dass es verschiedene Wege gibt, wie sich der wahre Buddhismus in China, Japan, Korea und heute im Westen entwickelt hat und für welche Menschen welche Linie auf dem Buddha-Weg am besten geeignet ist. Warum also die immer wieder zu beobachtende Abgrenzung? Gerade Dôgen lehnte die Trennung verschiedener buddhistischer Schulen radikal ab (vgl. Kap. 49 des Shôbôgenzô).
Sicher hätten sich die großen Meister Rinzai (in Chinesisch Lin-chi) und Dôgen gewundert, dass spätere Generationen viele Jahrhunderte lang die trennenden Unterschiede beider Zen-Linien z. T. dogmatisch vertreten würden, anstatt sich auf das Gemeinsame zu konzentrieren und sich zu ergänzen. Schließlich geht der Zen-Buddhismus gemeinsam auf Gautama Buddha, Nâgârjuna, Bodhidharma und Hui neng (Daikan Enô) zurück. Bestenfalls könnte man eigentlich zugestehen, dass es verschiedene Wege gibt, wie sich der wahre Buddhismus in China, Japan, Korea und heute im Westen entwickelt hat und für welche Menschen welche Linie auf dem Buddha-Weg am besten geeignet ist. Warum also die immer wieder zu beobachtende Abgrenzung? Gerade Dôgen lehnte die Trennung verschiedener buddhistischer Schulen radikal ab (vgl. Kap. 49 des Shôbôgenzô).
Um
in dieser zentralen Frage weiterzukommen, müssen wir die Grundlagen
heranziehen. Was sind also die wesentlichen Basistexte des Zen-Buddhismus?
Zweifellos sind die folgenden chinesischen Kôan-Sammlungen einschließlich ihrer
Kommentare und Interpretationen zu nennen:
Mumonkan, Die torlose
Schranke,
Bi-Yan-Lu, Aufzeichnungen
vor smaragdener Felswand und
Cong-Rong-Lu,
Aufzeichnungen aus der Klause der Gelassenheit
Sie
umfassen jeweils bis zu einhundert Kôans.
Erst
kürzlich wurde dabei die wichtige Kôan-Sammlung Cong-Rong-Lu kompetent ins
Deutsche übersetzt und kommentiert. Diese drei Texte werden im allgemeinen wesentlich
der Rinzai-Linie zugeordnet. Sie wurden im 12.ten und 13.ten Jahrhundert
zusammengestellt und beziehen sich auf die Lehre der sogenannten Alten des
wahren Buddhismus der Tang-Zeit, an die in China später in der Song-Zeit wieder
angeknüpft wurde, nachdem es Verfolgungen des Buddhismus gegeben hatte.
Besonders bedauerlich ist es zudem, dass die Aufzeichnungen vor smaragdener
Felswand, Bi-Yan-Lu, von 1128 schon bald
nach dem Druck radikal verfolgt und vernichtet wurden, sodass auch der hölzerne
Druckstock verloren ging.
Über
die Motive der Verbrennungen dieser äußerst wertvollen Basistextes kann heute
nur spekuliert werden. Vermutlich wollte ein namhafter Meister verhindern, dass
die Schüler die Kôan-Interpretationen auswendig lernten, anstatt sie selbst
existentiell durch eigene Erfahrungen und eigene Praxis zu klären und für sich zu
erarbeiten. Denn nur mit einer solchen eigenen Arbeit haben sie wirkliche Kraft
und sind wertvolle Hilfen für den eigenen Weg zur Befreiung.
Etwa
200 Jahre später wurde aus einer geretteten Version die neue Publikation des
Bi-Yan-Lu in China erarbeitet und fand in der folgenden Zeit weite Verbreitung
in vielen Zen-Klöstern in China. Auf diese Version gehen in China und Japan spätere
Kopien und Kommentare zurück; sie sind seitdem die maßgebliche Textquelle für
die Rinzai-Linie und den sog. Kôan-Zen.
Neue
Quellen-Forschungen haben nach D. Roloff das erstaunliche fast sensationelle
Ergebnis ergeben, dass Meister Dôgen im 13. Jahrhundert die Abschrift von einem
geretteten und noch verfügbaren Exemplar des Bi-Yan-Lu auf seiner China Reise (1223 - 1227) aufspürte, kopierte
und mit nach Japan brachte. Sie gilt gemäß heutiger philologischer Forschung sogar
als authentischer als die in China später verwendete Fassung. Dies ist auch nicht
verwunderlich, weil sie älter und damit näher am Urtext ist. Dôgen nahm diese
Kôan-Sammlung also mit nach Japan; sie wurde im Zentraltempel der Sôtô-Linie,
Eiheiji, aufbewahrt, erst in neuerer Zeit wieder entdeckt und in die
buddhistische Forschung eingebracht. Die Bezeichnung dieser Fassung: „Kopie
einer Nacht“ deutet darauf hin, dass Dôgen dieses umfassende Werk in großer
Eile vor seiner Abreise nach Japan abgeschrieben hat, wobei es wohl utopisch
ist, dass dies in einer Nacht durchführbar war. Dôgen muss also den hohen Wert dieser geretteten Version des
Bi-Yan-Lu erkannt haben, denn er hat
damals sicher gründlich nach verlässlichen Quellen in China recherchiert.
Welche
Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?
Aus
meiner Sicht ergibt sich dadurch eindeutig, dass Dôgen die Texte des Bi-Yan-Lu
als wesentliche Grundlage für seine
eigene Arbeit verwendet hat, und dass diese Fassung also Grundlage seines
großen Werkes Shôbôgenzô, die
Schatzkammer des wahren Dharma-Auges gewesen ist. Das Shôbôgenzô ist aber
wie bekannt die wesentliche Grundlage der Sôtô-Linie in Japan, die inzwischen
auch im Westen weite Verbreitung gefunden hat. Es ist also unsinnig zu sagen, dass Dôgen die chinesischen Kôans nicht kannte
und nicht benutzte, das Gegenteil ist richtig.
Wir
wissen im Übrigen aus seiner persönlichen Lebensgeschichte, dass er mehrere
Jahre mit Kôans unter dem ersten Zen-Meister in Japan, Eisai, gearbeitet hat
und sie deshalb nicht nur als Text kannte, sondern mit ihnen intensiv
gearbeitet und gerungen hat. So verwundert es auch nicht, dass er selbst eine
Zusammenstellung von 301 Kôans herausgegeben hat, die heute die Bezeichnung
Shinji Shôbôgenzô (oder Samyakuzoku), tragen. Nishijima Roshi hat sie im
Übrigen sehr prägnant übersetzt und interpretiert; sie liegen in englischer und
deutscher Sprache (mit Doko Waskönig) vor.
Das
Shôbôgenzô enthält in den 95 Kapiteln insgesamt 74 Kôans; es gibt eine
beachtlich und unübersehbare Überschneidung mit den Kôans der oben genannten
Basistexte. Zum Beispiel behandelt und analysiert Dôgen das Kôan des wilden
Fuchses von Meister Hyakujô, das im Mumonkan als Zweites direkt nach dem Kôan
Mu und im Cong-Rong-Lu als achtes aufgeführt ist. Er untersucht es detailliert in zwei ganz wichtigen Kapiteln:
Kap. 76, "Die große Praxis" und Kap. 89 "Tiefes Vertrauen in das
Gesetz von Ursache und Wirkung"; es ist auch in Shinji Shôbôgenzô
enthalten.
Nishijima
Roshi hält das Kapitel "Die große Praxis" mit diesem Kôan für zentral
im gesamten Shôbôgenzô, da es eine fulminante Verbindung mit allen wichtigen Kapiteln des Shôbôgenzô
herstellt. Zum Beispiel mit den Themen: Streben nach der Wahrheit,
Zazen-Meditation, die wesentlichen Dimensionen der Wirklichkeit, Geist ist
Buddha hier und jetzt, Sein-Zeit des Augenblicks, buddhistische Ethik, Handeln
in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt, Erwachen und Erleuchtung und nicht
zuletzt Buddha-Natur, die für Dôgen persönlich von existentieller Wichtigkeit
war.
Er behandelt
in diesem Kapitel nicht zuletzt das wichtige buddhistische Gesetz von Ursache
und Wirkung, ohne allerdings explizit auf die Wiedergeburt einzugehen. Aber es
gibt Verbindungen zu den Kapiteln: „Tiefer Glaube an das Gesetz von Ursache undWirkung“ und „Karma in den drei Zeiten“ in denen er nachweist, dass die von den
Ursachen ausgehenden Wirkungen auch sehr viel später präzise auftreten können.
Ich folge dabei dem Sinologen Dietrich Roloff, der betont, dass die Frage der
Wiedergeburt im Zen keine primäre Bedeutung hat, anders als in einigen
Übertragungslinien des indischen und tibetischen Buddhismus, vor allem aber in
der Religion der Upanishaden und im Brahmamismus, also vor dem Wirken Gautama
Buddhas. Eine solche Einschätzung ist einleuchtend, da im Zen-Buddhismus die
Wirklichkeit des konkreten Hier und Jetzt also die Bedeutung der existentiellen
Zeit des Augenblicks im Mittelpunkt steht und nicht eine oft spekulative
Zukunft. Schon Buddha hatte gewarnt, sich mit den Vorstellungen, Hoffnungen und
Ängsten der Fragen "Was war ich früher" und "Was werde ich
sein" zu verzetteln.
Es
ist ein Grundpfeiler des Zen-Buddhismus, dass die umfassende Wahrheit und
Wirklichkeit im nicht-dualistischen
Augenblick erfahren werden kann und dass die Erinnerungen der Vergangenheit
eben nur eine gewisse Ähnlichkeit mit der damaligen Wirklichkeit haben.
Dasselbe gilt für Erwartungen in der Zukunft, die ebenfalls nicht den Charakter
der Wirklichkeit haben. Gerade für die Zukunft sind psychische Faktoren wie
Angst, Verzweiflung oder auch Optimismus, Leichtsinn und vorwärts drängende
Absichten charakteristisch. Aber beides kann niemals die Wirklichkeit sein,
denn alles spielt sich nur im Gehirn des Menschen ab und hat keine direkte
Verbindung zur konkreten Wirklichkeit.
Die
Kôans haben im Shôbôgenzô zentrale Bedeutung: Ich kann aus eigener Erfahrung
sagen, dass deren Übersetzung und Verständnis in jedem Kapitel zu den
schwierigsten Aufgaben gehört. Dies weiß ich aus eigener Arbeit, weil ich bei
der Übersetzung des Shôbôgenzô durch Nishijima Roshi und Gabriele Linnebach
viele Jahre intensiv mitgearbeitet habe. Es ist also nicht zu weit hergeholt,
wenn man sagt, dass das ganze Werk des Shôbôgenzô wesentlich auf den tiefgründigen Wahrheiten der Kôans aus
China basiert. Bei deren Behandlung und Interpretation vermeidet Dôgen jede
Seichtigkeit und esoterische Sentimentalität.
Außerdem
muss erwähnt werden, dass das Shôbôgenzô dichterisch von hohem Rang ist und
damit den authentischen oben genannten Texten ebenbürtig ist. Es geht den
Autoren darum, dass die Sprache soweit wie möglich in den spirituellen Raum des
Nicht-Sagbaren hineinreicht, ohne
dabei die Aussagekraft der Sprache zu überschätzen und mit der Wirklichkeit zu
verwechseln
Man darf niemals Worte und Sprache mit der
bezeichneten Wahrheit und Wirklichkeit verwechseln. Durch eine solche sprachliche
Kraft gelingt es nämlich, den einfachen linearen Verstand zu überschreiten und
durch poetische Formulierungen nicht nur den Verstand, sondern den ganzen
Menschen zu erreichen, um neue Energien zur eigenen Veränderung und Befreiung freizusetzen
und zu erzeugen.
Es
ist also nicht übertrieben zu sagen, dass das gesamte Shôbôgenzô auch eine
fulminante Sammlung zentraler Kôans und deren Interpretationen ist.
Dôgen
ist ein hochkarätiger Zen-Meister, dem alles Schwafeln, Romantisieren und Fantasieren
fern liegt und der die alten Kôans nicht zuletzt auf ihre Glaubwürdigkeit und Form
abklopft. Er macht sich geradezu lustig über die Kôan-Geschichte des alten
Fuchses von Hyakujô, indem er fragt, wie denn überhaupt die Umwandlung des
alten Meisters in einen wilden Fuchs vor sich gehen könne, nachdem der alte
Meister angeblich einen schweren Fehler bei der Lehre begangen hat.
Er
fragt zum Beispiel, ob der wilde Fuchs sich hinter einem Busch oder hinter
einem Stein schon versteckt hatte und darauf lauerte, dass der alte Meister
durch seinen Fehler in ihn hinein fährt. Außerdem wird in der Kôan-Geschichte
berichtet, dass der wilde Fuchs sich regelmäßig wieder in einen alten Mann
verwandelt, der dann dem Dharma-Vortrag des Meisters im Kloster zuhört und
danach im allgemeinen verschwindet. Damit wird klar, dass wir das Kôan nicht materiell-körperlich verstehen können; das wäre eine Falle und macht überhaupt keinen Sinn. Um so klarer unterstreicht Dôgen die Bedeutung
der Zen-Praxis im Augenblick für die Entwicklung auf dem buddhistischen Weg.
Besonders
feinsinnig sind Dôgens Überlegungen, woher der wilde Fuchs überhaupt wisse,
dass er 500 mal wiedergeboren wurde, also 500 mal das Leben eines Fuchses zu
durchleben hatte und sogar wusste, dass er in einem vorherigen Zeitalter vor
langer Zeit ein Meister war, der bei der Interpretation des Gesetzes von
Ursache und Wirkung Fehlerhaftes gelehrt hatte. Dies würde nämlich bedeuten,
dass der Fuchs sich an seine früheren
Leben erinnert. So etwas sei doch nur den voll erwachten Buddhas möglich.
Die verblüffende Schlussfolgerung wäre also, dass der Fuchs voll erleuchtet gewesen
sein müsse und dass dies wohl keine Bestrafung sein könne, die der alte Meister
wegen seines Fehlers zu erdulden hätte: Die volle Erleuchtung als Fuchs kann
nun wirklich keine Strafmaßnahme sein. Das wäre im übrigen eine ideelle Erklärung, die auf die buddhistische Theorie und Tradition fixiert ist, und auch das ist eine Falle und macht keinen Sinn.
Dôgen
geht also nicht nur den Kern der Kôans mit großer spiritueller Kraft an,
sondern er ermutigt uns auch immer, selbst zu überlegen und nichts einfach
hinzunehmen, also keiner eindimensionale Wortgläubigkeit zu verfallen. Es geht genau um die große Praxis des Augenblicks: zwei "Menschen": Einer nicht zwei !
Bei
genauerer Analyse muss daher festgestellt werden, dass es eine fundamentale
Unterscheidung der Zen-Linien von Rinzai und Soto nicht gibt: sie basieren auf
den selben Kôans. Dies hat auch Willigis Jäger immer wieder betont, und ich
stimme ihm voll zu.
Die
authentischen Basistexte der chinesischen Überlieferung, vor allem das Mumonkan
und Bi-Yan-Lu, bilden also mit dem
Shôbôgenzô eine Einheit, und es sind Texte der Weltliteratur von höchstem Rang.
Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir heute verlässliche Übersetzungen
sowohl in Englisch als auch in Deutsch besitzen und auf dieser Grundlage den
jeweils eigenen Buddha-Weg der existentiellen Erfahrung und Veränderung gehen
können.
Allerdings
muss auch angemerkt werden, dass verlässliche Übersetzungen des Shobôgenzô erst
seit kürzerer Zeit vorliegen: eine ältere Version wird in der Fachwelt eher
kritisch gesehen, während die erste vollständige Fassung von Nishijima/Cross in
Englisch 1999 vorgelegt wurde. Die entsprechende deutsche Fassung von
Linnebach/Nishijima folgte dann mit dem vierten Band im Jahre 2008. Außerdem ist eine verlässliche englische Version
unter der Leitung von Kazuaki Tanahashi im Jahre 2010 fertiggestellt worden.
Diese Versionen werden in der Fachwelt allgemein anerkannt und sind ein großer
Fortschritt bei der Quellenarbeit.
Die
Aufarbeitung des Shôbôgenzô ist in den USA schon im vollen Gange. Dieses Werk
gilt als dasjenige, das am meisten untersucht und behandelt wird. Auch in
Deutschland ist allgemein in Fachkreisen unbestritten, dass Dôgens Texte eine
hohe Bedeutung haben. Sie sind allerdings nicht einfach zu erfahren und zu verstehen. Daher habe ich eine Einführung zu allen Kapiteln verfasst, um den Zugang zu erleichtern: "ZEN Schatzkammer"( Bd. 1- 3). Es muss angemerkt werden, dass das Verständnis
dieser fulminanten Aussagen hier erst im Anfangsstadium ist. So wurde Dogen
beispielsweise auf dem kürzlichen Kongress „Meditation und Wissenschaft“ in
Berlin zwar häufig erwähnt, aber meist fehlte die vertiefte Analyse der
wesentlichen Eckpunkte. Dôgens Arbeiten zum Zen-Buddhismus sind unbestritten von
höchster Bedeutung, sie basieren nicht zuletzt wie in der Rinzai-Linie auf den
Kôan-Sammlungen der Tang- und Song-Zeit.
Résumée:
Eine Abgrenzung der Zen-Linien von Rinzai und Sôtô erscheint mir künstlich,
hergeholt und gefährlich, es gibt dafür keine sachlich belastbaren Fakten. Es
geht viel mehr um die wechselseitigen Ergänzungen und Befruchtungen bei diesen
bedeutenden Basistexten.