Sonntag, 26. September 2021

Buddhas Wirklichkeit: Deine Stimmen des Tales und die Form der Berge (Keisei sanshiki)

 

In diesem großartigen Kapitel beschreibt Meister Dōgen die zentrale Bedeutung und Wirklichkeit der lebendigern Einheit von Natur und Mensch. Man könnte die unbelebte Natur auch nur aus der materiellen Sicht der äußeren Form und Struktur, also in der Dimension des Materialismus, beschreiben, aber dies wäre einseitig und wirklich beschränkt. Dōgen macht deutlich, dass eine solche äußere Sicht der Form oder der materiellen Elemente, wie zum Beispiel Wasser, Erde, Feuer und Luft, nicht zum Kern der buddhistischen Lehre vordringen kann und nur eine Teilwahrheit ist.

Dies umso mehr, wenn der Materialismus zum Dogma wird. Das wäre nach Nagarjuna der ideologische Glaube an eine Pseudo-Substanz, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Dagegen eröffnen sich in der höchsten Lebensphilosophie des Erwachens also, im Buddha-Dharma, ganz neue Dimensionen und eine ungeahnte Tiefenschärfe für das Verständnis und Erleben der Schönheit und Kraft der Natur. Dies geschieht in direkter Wechselwirkung mit dem Menschen und ist nicht von ihm getrennt.

Die in den Tälern fließenden Bäche und Flüsse werden von Dōgen als die Zungen Buddhas bezeichnet, die unaufhaltsam den wahren Dharma lehren. Denn in der Tat stehen die Flüsse und Bäche niemals still. Sie sind nicht verzerrt und unwahr und sie sind nicht von den Drei Giften Gier, Hass und Verblendung vergiftet. Sie sind leer von solchen Giften, wie Nagarjuna sagt und das ist die wahre Bedeutung der Leerheit. Die Form der Berge gleicht dem Körper Buddhas, der vor allem durch Wirklichkeit, Reinheit und Ethik gekennzeichnet ist. Die so verstandene wahre Natur geht weit über ihre stoffliche und materielle Teil-Wirklichkeit hinaus. Sie ist eine wunderbare lebende Gesamt-Komposition der Wirklichkeit und kann den Menschen durch die Verbundenheit in seinem tiefsten Innern anrühren und beglücken.

In China und Japan war die Verbundenheit oder, besser gesagt, die lebende Einheit und Wechselwirkung mit der Natur zentral für das menschliche Leben. Das Leben war unauflösbar mit den empfindenden Wesen, also den Tieren, und den nicht empfindenden Lebewesen, wie Kiefern, Bambus, Chrysanthemen, also Pflanzen und Blumen und Bäumen verschmolzen. Dies alles wird im Buddha-Dharma als Harmonie und natürliches Gesetz des Universums erlebt, erfahren und verstanden. Wir sind in der Industrie- und Konsum-Gesellschaft in Gefahr die Belastbarkeit der vernetzten Natur zu überschreiten. Es wundert mich nicht, dass gerade die jüngeren Menschen mit Sorge für die Zukunft unserer Natur sehen. Wir brauchen die lebende Einheit mit der Natur zum heilsamen Leben. Dann entwickelt sich wieder unser Gleichgewicht und mit der Natur wächst neue Lebensfreude.

Dōgen berichtet von einem großen chinesischen Dichter, der nachts in einem Tal in den Bergen dem Fluss lauschte und zur großen Buddha-Wahrheit erwachte. Er verfasste folgendes Gedicht:

„Die Stimmen des Tales ist (Buddhas) weite und lange Zunge.

Die Form des Berges nichts anderes als sein reiner Körper.

Vierundachtzigtausend Verse klingen in der Nacht,

Wie kann ich es den Menschen am nächsten Tag sagen?“

Der Dichter legte diese Verse einem großen buddhistischen Meister vor, und dieser bestätigte sein Erwachen. Was war geschehen, als sich ihm plötzlich eine neue, umfassende Lebens-Fülle und Lebens-Freude eröffnete? Er hatte doch vorher als Dichter großartige und in China weithin berühmte Verse verfasst. Aber dadurch hatte er die Praxis und Lehre des Buddhismus nicht umfassend selbst erfahren. Er hatte nach Dôgen zuvor den Gang der Jahreszeiten – Blumen im Frühling, die frischen Triebe der Kiefern im Sommer und wunderbare Chrysanthemen im Herbst – nicht wirklich tief und freudig erkannt und erfahren, bis ihm dieses tiefe Erlebnis der Stimmen des Tals erfüllte. Es wird berichtet, dass er vorher von einem Zen-Meister die Lehre der „nicht empfindenden Wesen" gehört hatte, also der Bäume, Blumen und Pflanzen. Aber diese umfassende Lehre war nicht wirklich in seinen Geist und in sein Herz eingegangen. Vermutlich gab es zwar in jener Nacht Spuren und Nachwirkungen dieser Worte des Meisters. Aber dann hatte er seine eigene tiefe Erfahrung des Buddha-Dharma und dessen Wirklichkeit der Natur. Vorher war er noch nicht offen und reif gewesen für den umfassenden Sinn der buddhistischen Lehre. Er konnte sie nicht wirklich aufnehmen und nicht so leben. Aber plötzlich kam das große Erwachen, mit dem fast mystischen Erlebnis der Stimme des Flusses nachts im Tal.

Der Mensch als Subjekt und die Natur als Objekt waren mit einem Male zu einer lebenden Einheit verschmolzen – natürlich waren sie in Wahrheit nie getrennt. Diese lebendige Wechselwirkung hatte der Dichter bis dahin nicht erfahren und auch nicht erfahren können. Dōgen fragt in der für ihn typischen Weise, ob letztlich der Dichter zur Wahrheit erwachte oder ob es die Berge und Flüsse waren, die zur Wahrheit erwachten. Kann man das überhaupt trennen? Nein, das wäre eine ideologische Isolation, wie Nagarjuna für den Mittleren Weg sagt. Der Mensch ist in der Wirklichkeit niemals von der Natur getrennt. Das ist das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, die zentrale Lehre der Wirklichkeit Buddhas und Nagarjunas

Eine andere berühmte Geschichte berichtet davon, dass ein später großer Meister trotz intensiver Übung mit seinem Lehrer im Buddhismus nicht weiterkam. Der Meister stellte ihm die Frage: "Wie war der Zustand deiner Eltern vor der Geburt?" Er solle nicht aus den buddhistischern Schriften zitieren, sondern nur aus seinem eigenen wirklichen Erleben. Aber der Schüler wusste auf die Frage nichts zu sagen und blieb stumm. Die buddhistischen Schriften hatte er genau studiert und hätte das Erinnerte locker hersagen können.. Er war dann so entmutigt und deprimiert, dass er sich entschloss, nur einfache Arbeiten im Kloster zu übernehmen. Er beschloss außerdem, alle seine theoretischen Schriften zu verbrennen, die er so intensiv bearbeitet hatte. Seine Erkenntnis war:

„Das Bild eines Reiskuchens kann den Hunger nicht stillen.“

Das Bild des Reiskuchens entspricht dabei den Schriften und Dharma-Lehren seines Meisters. Die Lehren bleiben theoretisch und blass, wenn sie nicht mit eigenen Erfahrungen und der Praxis des eigenen Lebens einhergehen. Schließlich bat der Schüler seinen Meister dringend, ihm doch noch eine Hilfestellung zu geben, damit er auf dem Dharma-Weg weiterkommen könne. Der Meister erkannte die große Begabung seines Schülers und lehnte es daher ab, dessen Bitte zu entsprechen. Er war sich sicher, dass dieser selbst die tiefen Erfahrungen auf dem Buddha-Weg machen würde. Eine verbale Belehrung erschöpft sich meist in Worten und Gedanken und kann die wahre Praxis nicht ersetzen. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Begriffe sich immer mehr verfestigen und die Wirklichkeit versperren und gerade nicht öffnen. Solche negativen Phänomene gibt es in manchen religiösen Gruppen und Sekten. Das entspricht dem Bild des Reiskuchens, den man nicht essen kann und der den Hunger nicht stillt.

Wie glaubhaft überliefert, zog sich der Mönch in die Einsamkeit der Berge zurück, und zwar an einen Ort, an dem ein früherer berühmter Meister jahrelang praktiziert hatte. Er hatte es aufgegeben, nach Erwachen und Erleuchtung zu streben. Er lebte mit der Natur harmonisch im Gang der Jahreszeiten und praktizierte ausdauernd und intensiv. So vergingen die Jahre. Er pflanzte einen Bambus, den er hegte und pflegte. Als er an einem Tag den Weg zu seiner Hütte fegte, flog ein Ziegelstück an das Rohr des Bambus. Es heißt, dass er bei diesem Klang, "Bong!", das große Erwachen verwirklichte. Er dankte seinem Lehrer tief ergriffen und machte eine Niederwerfung in Richtung seine Richtung. Er dankte ihm aus tiefem Herzen, weil dieser ihm nicht voreilig erklärt hatte, was auf ihn wartete, sondern es vertrauensvoll der kommenden Erfahrung seines Schülers in dessen eigenem Leben überlassen hatte. Dadurch war es ihm selbst möglich geworden, selbst zur großen Wahrheit zu erwachen. Voller Dankbarkeit verfasste ein Gedicht, das wie folgt beginnt:

„Vergessen ist mit einem Schlag mein nur erlerntes Wissen.

Nicht länger muss ich mich mit Selbstkontrolle künstlich zügeln.

Mein Handeln offenbart jetzt den großen Weg der alten Meister.

Niemals werde ich mehr in Trübsal und Traurigkeit fallen“

Sein Meister bestätigte darauf seine tiefe Erleuchtung und sagte, dass dieser Schüler vollendet sei.

Eine andere bekannte Geschichte berichtet von dem buddhistischen Weg eines alten Meisters. Er hatte bereits über dreißig Jahre seines Lebens praktiziert, als er bei einer Wanderung in den Bergen von einer Anhöhe herab in ein anmutiges Tal blickte, in dem die Pfirsichbäume im Frühling voll erblüht waren. Er verwirklichte brei diesem Anblick plötzlich die große Wahrheit Buddhas und verfasste folgendes Gedicht:

„Dreißig Jahre lang ein Wanderer auf der Suche nach dem Schwert (der Wahrheit).

Wie viele Male fielen die Blätter und wuchsen die Knospen?

Mit einem Mal, als ich die Pfirsichblüten sah,

Bin ich angekommen im Jetzt und habe keine Zweifel mehr.“

Das Schwert ist ein Symbol für die angestrebte Klarheit von Körper-und-Geist, wie es in den buddhistischen Schriften heißt. Es durchschlägt die Verwirrungen, Verblendungen und Knoten des Lebens. Dann eröffnet sich die wunderbare strahlende Wirklichkeit. Das Schwert hat eine ähnliche symbolische Bedeutung wie der Diamant, der ebenfalls durch seine Schärfe das Dickicht von vorgefassten Meinungen, Bewertungen und verhärteten Gedanken zerschneiden kann.

Im alten China gab es viele Kōan-Geschichten, in denen ein Schüler in oft klugen und intelligent formulierten Worten eine Frage an den Meister richtete, die dieser jedoch überhaupt nicht beantwortete. Warum?  Weil die Frage zu theoretisch und zu ausgedacht war, aber keine wahre Suche nach der Wahrheit erkennen ließ. Manchmal wiederholte der Meister einfach die Frage mit genau denselben Worten. Damit wollte er den Schüler von seinen festgefahrenen Gedanken und Worthülsen befreien und zum unmittelbaren Erleben und Handeln und damit zur Wirklichkeit bringen. Beispiele hierfür sind die folgenden theoretischen Fragen des dualistischen Denkens an die Meister, die von ihm nicht durch Worte, sondern durch Handeln beantwortet werden:

„Wie können wir bewirken, dass die Berge, Flüsse und die Erde zu uns gehören?“ Der Meister antwortete: "Wie können die Berge, Flüsse und die Erde bewirken, dass sie zu uns gehören?“

Damit durchbricht der Meister den fruchtlosen Dualismus des Ego und erweitert die Frage des Schülers durch die Wechselwirkung und Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt.

Oder die Frage eines gelehrten Philosophen:

„Wie lässt reine Wesentlichkeit plötzlich Berge, Flüsse und die Erde entstehen?“

Dōgen umkreist im Folgenden die zentralen Inhalte und Eckpunkte der buddhistischen Lehre: Ausdauer, der feste Wille zur Wahrheit und die Erweckung des Bodhi-Geistes sind wichtige Voraussetzungen, um den Buddha-Weg zu gehen. Die Sucht nach Ruhm, Profit und Ich-Stolz muss überwunden werden, sonst blockiert man sich selbst auf dem Weg der Befreiung. Dōgen kritisiert mit klaren Worten, dass in der damaligen Zeit viele tatsächlich Mönche wurden, ohne wirklich an der buddhistischen Wahrheit zu arbeiten und mit Ausdauer zu praktizieren. Er sagt damit, dass die große Periode des Chan-Buddhismus in China bereits im Niedergang begriffen war.

Viele Mönche und sogar Äbte waren zwar formal Buddhisten, aber die Kraft des Buddha-Dharma war bereits zum Teil in China erloschen. Ähnliches muss von einer späteren Phase des Buddhismus in Indien gesagt werden. Das Streben nach äußerer Anerkennung und finanziellem Gewinn überwog häufig. Oft ging es auch um Macht und Einfluss bei Hofe. Die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddha-Dharma verloren dabei leider ihre Kraft und Bedeutung. Sie verblassten zu Abbildern und Schatten.

Dieser Niedergang wird auch in einem berühmten Gleichnis beschrieben, in dem ein wirklicher Drache zu einem Haus kommt, das von einem Liebhaber der Drechen-Bilder und Drachen-Skulpturen bewohnt wird. Dieser angebliche Liebhaber flieht aber erschrocken, als er den wirklichen Drachen vor sich sieht. Denn er liebt nur die „schönen, ungefährlichen“ Bilder und nicht die Wirklichkeit selbst. Dōgen drückt dies wie folgt aus:

„Ihr Körper, ihr Geist, ihre Knochen und ihr Fleisch haben niemals nach dem Dharma gelebt. Daher sind sie nicht eins mit dem Dharma. Sie empfangen und nutzen den wahren Dharma nicht.“

In solchen Zeiten des Niedergangs gibt es nach Dōgen viele falsche Lehrer und selbst ernannte Meister. Sie sind nicht in der Lage, die Schüler wirklich auf den Buddha-Weg zur Befreiung zu führen. Dōgen empfiehlt daher, dass wir unsere Lehrer und Meister sehr genau prüfen. Er weist auf den unwiederbringlichen Schaden hin, wenn die Lehre nicht wahrheitsgemäß übermittelt wird. Dies sei nicht nur Zeitverschwendung, sondern richte gewaltigen Schaden an. Es sei in solchen Fällen besser, den Buddha-Dharma überhaupt nicht theoretisch zu studieren sondern einfach zu praktizieren! Wer kein eigenes wirkliches Erleben habe, sei weitgehend von anderen abhängig. Er benötige die seichten Bestätigungen anderer und würde diese zwangsläufig mit der großartigen Wirklichkeit verwechseln. Aber dieser Irrtum sei nicht einfach zu erkennen und zu durchschauen.

Dōgen schlägt daher vor, sich sehr gründlich die wahren Lehren der alten Meister zu analysieren und sie als Vorbild zu nehmen. Dies sei viel wichtiger, als enge Kontakte zu Königen, Fürsten, wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, den Reichen und Schönen des Landes usw. zu pflegen. Man solle sich nicht auf sie einlassen. Dadurch mache man sich zwangsläufig von ihnen abhängig, sei auf Lob und Tadel dieser Menschen fixiert und erhoffe sich Vorteile. Dann würden die drei Gifte Gier, Hass und Neid, sowie Verblendung immer größer werden.

In einer solchen Umgebung, ja selbst in den Klöstern, gab und gibt es Neid und Eifersucht. Dies wird bereits aus der Zeit von Gautama Buddha selbst berichtet. Es gibt zudem falsche Meister und Lehrer, die einen unmoralischen Verdrängungs-Wettbewerb im Kloster sogar fördern. Wer im Geist beschränkt ist, erkennt leider nicht den wirklich weisen Menschen und entwickelt sogar Feindschaft gegenüber den Heiligen. Auch im Buddhismus gibt es nach Dōgen schlimme Beispiele, in denen große Meister von Feinden gefoltert und getötet wurden. Diese Menschen hätten nicht erkannt, wen sie wirklich vor sich hatten. Dōgen rät aber eindringlich dazu, in solchen Fällen niemals Hass zu entwickeln, sondern vielmehr mit Liebe und Mitgefühl den Dharma zu lehren. Es sei vielleicht möglich, diese Menschen zur Umkehr zu bewegen und auf den richtigen Weg zu führen.

Die Anfänger auf dem Weg des Buddha-Dharma sind zunächst überwiegend von Gefühlen und positiven Idealen durchdrungen, die aber noch nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wichtig ist es daher, dass die Kraft dieser ersten Zeit des Lernens nicht nachlässt und erlahmt, sondern sich in pragmatische Ausdauer umwandelt. Eine solche Ausdauer und Stetigkeit sind wichtig und sogar notwendig, um den Buddha-Weg zu gehen und die Übungspraxis fortzuführen. Nishijima Roshi empfiehlt in diesem Sinne, jeden Tag zweimal Zazen zu praktizieren, selbst wenn dies nach enthusiastischen Anfängen nicht immer leicht fällt und vielleicht sogar langweilig wird. Ganz wichtig ist es, einen wahren Lehrer zu finden. Auf diesem Weg muss man „Berge ersteigen und Ozeane überqueren“, wie Dōgen sagt und fährt fort.

„Wenn ihr wirklich einen Meister und Lehrer sucht und ihn finden wollt, steigt er vom Himmel herab oder kommt aus der Erde hervor.“

Er spricht damit aus seiner eigenen Erfahrung, als er selbst einen Lehrer suchte und nach China ging. Je näher man nach Dōgen einen wirklichen Meister kennenlernt, desto großartiger erscheint er als Mensch, und umso mehr kann man von ihm lernen. Bei einem falschen Meister ist es genau umgekehrt! Je näher man ihn kennt, desto weniger bleibt von der einstigen Größe übrig. Manchen Pseudo-Meistern gelingt es zwar zunächst, hohe Erwartungen zu erwecken, aber diese werden im Laufe der Zeit immer mehr enttäuscht.

Dōgen zeigt recht genau, wie man sich auf dem Buddha-Weg verhalten soll, wenn man beispielsweise in seinem Alltag müde und träge geworden ist und dies an sich selbst erkennen muss. Er rät dazu, sich diesem Problem nüchtern und in aller Offenheit zu stellen und sich selbst nichts vorzumachen. Man sollte also seine Nachlässigkeit und Trägheit aufrichtig vor dem Buddha bekennen. Daraus erwächst dann die neue lebendige Kraft, die uns erlöst, reinigt und wieder voran bringt. Dann sind die seichten, unausgefüllten und oft langweiligen Tage der Vergangenheit zu Ende, und es sind Umkehr und ein neuer Start möglich. Das alte Karma kann so aufgelöst werden, und die Hindernisse auf dem Weg des Lernens werden weggeräumt. Dazu wird ein alter Meister zitiert:

„Wenn ihr in den vergangenen Leben noch nicht vollkommen gewesen seid, könnt ihr es jetzt werden.“ Und weiter: „Nachdem die Menschen die Wahrheit verwirklicht haben, werden sie heute klare Buddhas sein.“

Auf diesem Weg kommt man jedoch mit Theorie und Gedanken allein nicht weiter, so wichtig diese sein mögen, sondern man muss im Hier und Jetzt praktizieren und handeln. Dabei hat die fortlaufende Meditation des Zazen eine besonders gute Wirkung. Es kommt darauf an, "dran zu bleiben". Wir brauchen dafür wahres Vertrauen in unseren Körper und Geist. Und im Laufe der Praxist wächst dieses Vertrauen zu sich selbst immer mehr.

„Wenn wir so praktizieren, werden uns die Stimme und die Form des Tales und die Form und die Stimme der Berge keiner der vierundachtzigtausend Verse vorenthalten“

Dann wird uns klar, dass „die Täler und Berge (wirkliche) Täler und Berge sind“.

 

Sonntag, 12. September 2021

Geist hier und jetzt ist Buddha (Soko shin ze butsu)


Dōgen beschreibt in diesem Kapitel mit kräftigen Worten und Sätzen die buddhistische Lehre. Er grenzt sie von der altindischen Philosophie des Brahmanismus ab, die zur Zeit Buddhas von Senika vertreten und als herrschende Lehre weit verbreitet war. Es gab mehrere Streitgespräche zwischen Gautama Buddha und Senika, die die zentralen Kernpunkte der neuen buddhistischen Lehre treffend herausarbeiten und gegen die der Brahmanismus nicht bestehen konnte. Buddhas Lehre war, philosophisch, psychologisch und therapeutisch wirklich eine Revolution und erschütterte die herrschenden Brahmanen in ihren Grundfesten. Diese Grundlagen waren für Buddha sehr spekulativ und nicht tragfähig. Nach seinen tiefen Erkenntnissen waren sie Ursache für viel menschliches Leid. Buddha ist für mich ein unglaubliches Genie der Menschheit und leitete zusammen mit Laotse und Konfuzius in China eine neue Ära der Menschheit ein. In der gleicher Zeit legten die griechischen Denker Heraklit und Parmenides die Grundlagen für die westliche Philosophie.

Hier möchte ich nach Dogen die metaphysischen Eckpunkte des Brahmanismus aufzeigen und einige Fehlentwicklungen des Buddhismus kritisieren. Danach geht es um die Zusammenfassung des authentischen Buddhismus im Zen.

Der Geist im altindischen Brahmanismus

Der Brahmane Senika vertrat mit beachtlichem rhetorischem Geschick den Glauben, es gebe einen ewigen unveränderlichen Seelenkern, âtman, im Menschen, den er auch Geist nannte. Dieser sei vom jeweiligen Körper völlig unabhängig und würde in den verschiedenen Wiedergeburten von einem Körper zum anderen wandern. Dies sei die große Wahrheit, die man leicht verstehen und erkennen könne, mehr sei nicht erforderlich. Durch diese Lehre vom ewigen Geist würde man also ohne Mühe und ohne anstrengende Übungspraxis sofort frei und müsse nicht mehr leiden. Nach Senika kann diese ewige Geist-Substanz zwischen Leid und Freude, Wärme und Kälte, Schmerz und Verwirrung unterscheiden. Sie sei vom Körper völlig unabhängig und absolut selbstständig. Sie würde außerdem nicht durch irgendwelche Materie und  einengenden Wände aufgehalten sondern könne ohne Hinderung hindurchgehen. Sie würde also durch materielle Grenzen überhaupt nicht eingeschränkt oder behindert.

Senika zufolge durchdringt ein solcher ewiger Geist sowohl die Seelen der normalen als auch der heiligen Menschen. Wenn man erst einmal das Wesen dieses Geistes erlangt habe, so sagt er, gebe es keine Täuschungen mehr über Körper und Seele. Dann sei man erlöst und es gebe keine Irrwege mehr. Dann sei man sofort und ohne Anstrengung frei und müsse nicht mehr leiden. Dadurch könne man auch sein eigenes ursprüngliches, spirituelles Bewusstsein klar erkennen. Diese geistige Essenz sei ewig und durchdringe alle Welten und alle Zeiten. Demgegenüber sind die Dinge dieser Welt und des Universum vergänglich, sie kommen und gehen und haben keine Beständigkeit. Sie seien letztlich auch weniger wichtig oder wertvoll.

Man könne diese Geist-Essenz nach Senika auch das spirituelle Bewusstsein oder den wahren Ich-Kern nennen. Wer diese ursprüngliche Essenz durch das große Wissen erlangt hat, kann nach in die Ewigkeit zurückkehren. Er ist nicht mehr gezwungen, im Kreislauf der Welt unter Leiden erneut wiedergeboren zu werden. Wenn dann der Geist in die Ewigkeit eingeht, ist der Leidenskreislauf von Leben und Tod also endgültig beendet. Senika sagt: "Diese Geist-Substanz geht im unendlichen Ozean in der Essenz auf". So lauten die Kernaussagen und der Glaube der damaligen Brahmanen.

Was sagt nun Meister Dōgen dazu, und wie kennzeichnet er dem gegenüber die wahre Lehre des Buddha-Dharma? Wäre es nicht wunderbar, wenn der Brahmane Senika mit seiner Lehre Recht hätte und wir nur durch die einfache Erkenntnis unseres „Geistes“ dem Leiden und schmerzlichen Lauf des Lebens entkommen könnten? Träumen nicht viele Menschen von einem großartigen Ich-Geist, der von Natur aus schon immer strahlend und rein ist. Er werde dann durch das bloße Wissen seiner ursprünglich reinen Natur gereinigt und verwirklicht.

 

Falsche Lehren im alten China

Im achten Jahrhundert n. Chr. hatte der Buddhismus in China seine Blütezeit erreicht, die in der Zeit nach Bodhidharmas Ankunft wesentlich auf den großen Meister Daikan Enō zurückzuführen ist. Er war sein sechster Nachfolger in China. Die Kultur und der Buddhismus hatten im nördlichen China einen besonders hohen Stand erreicht und unterschieden sich damit von dem weniger entwickelten Süden, der damals auch Teile von Kambodscha und Vietnam umfasste. Dōgen berichtet, dass der Buddhismus im Süden weniger klar gewesen sei als im Norden, um es wohlwollend zu formulieren. Die Lehrmeinungen der dortigen sogenannten Meister kämen oft der Lehre des Brahmanen Senika insofern bedenklich nahe kämen, als der normale Geist oder die normale geistige Essenz einfach mit Buddha gleichgesetzt wurde. Damit wird aber der wichtige Unterschied des Brahmanismus und Buddhismus verwischt.

Dōgen lehnt diese Lehre des Südens mit Nachdruck ab und erläutert dies anhand des berühmten Satzes: „Geist Hier und Jetzt ist Buddha“. Dabei sind die Begriffe "hier und jetzt" von größter Bedeutung, denn damit wird die scheinbare Unveränderlichkeit, Ewigkeit und Abstraktheit falsifiziert. Es geht ihm dabei nicht um idealistischen Glauben, irreale Wünsche und abstrakte Vorstellungen, sondern um die konkrete Wirklichkeit, also genau hier und jetzt. Denn die Wirklichkeit schlägt zurück, wenn wir sie vernachlässigen oder ganz negieren. Sie trifft uns dann umso härter. Die gilt ob wir die Realität nun mögen oder nicht. Denn eine Flucht aus der Wirklichkeit in schöne Wunschträume ist vor allem eine Haupt-Ursache für das Leiden der Menschen. Dies betont nicht zuletzt auch der Psychologe Sigmund Freud.

In der Aufzeichnung eines Gesprächs des Nachfolgers von Meister Daikan Enō, wird die falsche oder ungenaue Lehre des Buddha-Dharma aus dem Süden Chinas durch der Aussagen eines reisenden Buddhisten von dort recht genau beschrieben. Dieser Meister hatte den Ehrennamen großer Landesmeister Daishō und Dōgen schätzte ihn außerordentlich. Der Reisende erläuterte dem großen Landesmeister, die Dharma-Lehrer im Süden würden sagen, dass der Satz „Geist Hier und Jetzt ist Buddha“ nur das Bewusstsein aber nicht den Körper kennzeichnet. Geist und Bewusstsein werden also gleichgesetzt und so gedacht, dass sie vom Körper getrennt sind. Der Geist wird also als unveränderlich und isoliert vom Körper geglaubt.

Ein solches Bewusstsein habe nach dieser Lehre sei die Essenz des Sehens, Hörens, Wahrnehmens und des Wissens. Diese Essenz würde alle Handlungen und auch das gesamtes Denken des Menschen steuern. Sie würde daher das „wahre, allumfassende Wissen“ genannt. Dieses umfassende Wissen sei der große Buddha, und außer diesem wunderbaren Wissen gebe es nichts anderes. Das Wissen sei also nach dieser Lehre das Höchste und zugleich die Essenz des Universums. Alles andere wie die Materie, die Gefühle und der Körper seien dem untergeordnet, weniger wichtig und vergänglich. Der Geist und dieses Wissen sei aber unvergänglich und der heilige nicht erkennbare Kern des Menschen.Der Geist verlasse den Körper nach dem Tod. Dies gleiche einem Menschen, der einfach aus seinem brennenden, unbrauchbaren Haus fortgeht und die Ruine zurück lässt. In gleicher Weise häutet einer Schlange, und die lässt alte Haut zurück.

Nach diesen Erläuterungen des Mannes aus dem Süden sah der große Landesmeister Daishō seine schlimmen Vermutungen bestätigt, dass dort ganz irrige Lehren des Buddhas verbreitet wurden. Er bedauerte tief und aufrichtig, dass die Schüler der jeweiligen sogenannten Meister in unklarer Weise unterrichtet würden. Sie wurden in eine falsche Richtung des Buddha-Weges getrieben. Damit sei der wahre authentische Buddha-Dharma im Süden verloren gegangen. Denn die wahre Lehre ist viel umfassender als das intellektuelle Wissen, das Bewusstsein und die äußeren sinnlichen Wahrnehmungen des Sehens, Hörens, Fühlens usw.. Allein mit dem dualen Verstand oder mit unseren ungeschulten Sinnesorganen können wir die viel zu engen Grenzen des dualen Denkens nicht überwinden. Wir haben dann keinen Zugang zum wahren authentischen Buddha-Dharma. Die Lehre des Südens sei also das verengte zweifelhafte Wunschdenken und der einseitige subjektive Glaube der dortigen Meister. Diese können die große unfassbare Wahrheit nicht annähernd ausloten, die von Gautama Buddha und den großen Vorfahren im Dharma gelehrt und übermittelt wurden. Die Lehrer seien also dem Dualismus verfallen. Sie glauben an eine Pseudo-Substanz im Menschen, wie Meister Nagarjuna lehrt.

Mein Lehrer Nishijima Roshi bezeichnet in gleichem Sinn das duale abstrakte Denken und die einseitige Ideen als Idealismus. Den einseitigen Bereich der Wahrnehmung und der Sinnesreize bezeichnet er als Materialismus. Beide Lebens-Philosophien sind isoliert zwar nicht ganz falsch, aber sie sind einseitig und eindimensional. Sie können der Vielfalt des wunderbaren vernetzten Lebens im Universum nicht gerecht werden. Außerdem kann man ideologische Übertreibungen des Idealismus und Materialismus beobachten, die großen Schaden in der Menschheit anrichten und auswegloses Leiden erzeugen. Dadurch wird viel Leiden erzeugt und es entstehen schwere Katastrophen und Dramen für die betroffenen Menschen. Wer also in seinem Leben bedingungslos und meist unbewusst an diese einseitigen und extremen Lebens-Philosophien glaubt, richtet sich und andere zu Grunde.

Er kann nicht dem dauernden Kreislauf des Leidens und den oberflächlichen Schein-Freuden nicht entkommen. Er kennt nicht den Frühling Buddhas, wie es in dem Gedicht der Pflaumenblüten bei Dogen heißt. Ein solcher Mensch klammert sich an einen unsicheren Strohhalm, der überhaupt nicht tragen kann. Daher muss nach Nishijima Roshi unbedingt die dritte Lebensphilosophie des Handelns im Hier und Jetzt hinzukommen. Das ist zugleich der gegenwärtige Augenblick der Wirklichkeit. Die vierte, höchste buddhistische Lebens-Philosophie und Praxis umfasst also sowohl die drei bereits genannten, geht aber darüber hinaus. Das nennen wir Erwachen, Erleuchtung. Es ist die Leerheit von Täuschungen und extremen Ideologien als als Leerrheit von den Giften Gier, Hass und Verblendungen. Auf dieser höchsten möglichen Stufe gibt es die lebendige Einheit und Harmonie mit der Ethik und den Gesetzen des Universums.

Wenn man den verengten dualistischen Geist nur im Sinne des Idealismus versteht, also als Idee und daher in einer sehr begrenzten Dimension, kann auch der Satz: Geist Hier und Jetzt ist Buddha“ nicht mehr umfassend verstanden werden. Das Hier bedeutet räumlich genau an diesem Ort, und Jetzt bedeutet genau in diesem Augenblick. Geist und Buddha sind nicht unabhängig von Raum und Zeit. Das widerspricht der Philosophie des Idealismus weitgehend.

 

Authentischer Buddhismus: Der erwachte umfassende Geist überwindet Dualismus, Spekulationen und Verblendungen

Dogen versteht den Geist als wirkliches Handeln im Augenblick und als einzige wahre Realität. Der Geist ist die lebende ganzheitliche Wechselwirkung von Wahrnehmen, Handeln, Wollen, Fühlen, Wissen usw.. Wir dürfen den Geist nicht von der äußeren Wirklichkeit und dem Wahrnehmen abtrennen, er ist vielmehr deren lebende Einheit und Gesamtheit. Vor Allem darf der Geist nicht vom Körper dualistisch isoliert werden. Diese Wirklichkeit gibt es genau im gegenwärtigen Augenblick und sie ist beim Menschen in Wechselwirkung mit den gespeicherten Informationen der Vergangenheit und Zukunft. Der große Meister Vasubandhu nennt das Speicherwissen. Vergangenheit und Zukunft sind für sich nicht die Wirklichkeit, denn sie sind als Informationen in unserem Gehirn und im neuronalem Netz gespeichert. Es handelt sich dabei durch die Aktivitäten des neuronalen Netzes um lebendes Wissen. Denn die gespeicherten Informationen gibt es nicht mehr, wenn der Mensch gestorben ist.

Dōgen unterstreicht, dass sich unsere dreifache wirkliche Welt wie folgt gliedern lässt: Erstens in Form und Materie, zweitens in Ideen, die keine solche Form haben, und drittens in Wollen. Diese Welten sind nicht voneinander isoliert, sondern bilden eine wechsewirkende Einheit. Er sagt fast paradox zum wirklichen Geist:

„Der Geist existiert als Zäune und Mauern, er wird niemals schlammig oder nass und ist niemals künstlich erzeugt.“

Was will er damit sagen? Den Geist gibt es wirklich und er ist nicht verschmutzt, nicht künstlich und nicht dualistisch fabriziert. Es gibt in der umfassenden lebendigen Wirklichkeit keine absolute Trennung von außen und innen und keinen Dualismus von Subjekt und Objekt. Verschmutzung und andere künstliche Fabrikationen sind Extreme, die es in der Wirklichkeit so nicht gibt. Diese Wirklichkeit ist nach Buddha und Nagarjuna "das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung", also ein Prozess und eine lebendige Vernetzung. Dies stimmt weitgehend mit der gesicherten Forschung der Ökologie und den Neuro-Wissenschaftern überein. Die Gegenwart ist durch das in Wechselwirkung Entstandene gekennzeichnet, also hier und jetzt.

Diese umfassende Bedeutung des Geistes vertieft Dōgen im Shōbōgenzō besonders im Kapitel über die drei zusammen wirkenden Welten.[i] Daher lehnt er die Trennung von Körper und Geist vehement ab, da ein solcher Dualismus nicht der Wirklichkeit entspricht. Oder etwas wissenschaftlicher gesagt: Das ist ein falsches oder zumindest schlechtes Modell der Wirklichkeit und viel zu statisch. Dogen sagt in aller Klarheit:

„Wir verwirklichen in der Praxis, dass Geist hier und jetzt Buddha ist.“ Und diese Einheit von Geist und Buddha bedeutet weiter: „Geist-und-Buddha hier und jetzt sind richtig, und sie verwirklichen in der Praxis, dass dieser Buddha-Geist das Hier und Jetzt ist.“

Das klingt ungewöhnlich und widerspricht sicher dem Denken vieler normaler Menschen. Aber ist es paradox, wie manchmal vom Zen behauptet wird? Sicher nicht! Der Satz bedeutet, dass es in der wahren Zeit die wirkliche Praxis nur im gegenwärtigen Augenblick[ii] geben kann. Und dadurch verwirklichen wir den lebenden Buddha-Geist. Die Informationen der Vergangenheit sind nur Erinnerungen in unserem Gehirn und der Zukunft nur Erwartungen, Hoffnungen oder Ängste. Dieses gespeicherte Wissen ist nicht unwichtig, im Gegenteil, es ist für uns lebensnotwendig. Aber dieses Wissen entfaltet seine Bedeutung erst mit der Gegenwart. Darauf hat schon der große Meister Vasubandhu hingewiesen.

Dazu ein Beispiel aus der angewandten Psychologie: Bei der wissenschaftliche Analyse der Gehirnwäsche im kommunistischen Russland und China ergab sich, dass der Verlust der Wirklichkeit durch weitgehende Ausschaltung der Wahrnehmung erzielt wurde. Dadurch wurden auch die gespeicherten Informationen der Opfer gelöscht oder unwirksam gemacht. Danach wurden die irrealen Welten eingebracht, sodass die gewollte Ideologie zur Pseudo-Wirklichkeit wurde. Die Gehirnwäsche funktionierte vor Allem wie gewünscht, wenn den Opfern ihre Umprogrammierung nicht bewusst wurde. Auf diese Weise wurden die Opfer total abhängig von den manipulierten falschen Informationen und verloren die lebendige Wechselwirkung mit der Realität. Sie veränderten auch ihre gesamte Persönlichkeit! Die wirkliche Interaktion mit der Umgebung und Geist sind also von einander abhängig. Ein isolierter Geist ist in Wirklichkeit ein Pseudo-Geist, den es gar nicht gibt.

Es ist sinnvoll, dass wir in unserer Kommunikation bestimmte Begriffe wie „Geist“, „Praxis“, „Wirklichkeit“ und „Zeit“ verwenden, weil sonst überhaupt keine Interaktion und auch keine buddhistische Lehre möglich wären. Aber wir dürfen diese Begriffe nicht mit der vernetztenlebenden Wirklichkeit verwechseln: Die einseitige oder gar absolute idealistische und materialistische Welt-Sicht kann dieses großartige Zusammen-Wirken von lebendigem Geist und lebendiger Welt nicht erfassen.

Die tiefgründigen Ausführungen Dōgens stehen damit im klaren Gegensatz zur Lehre des Brahmanen Senikas, der die Trennung von Körper und eine erfundenen „spirituellen Essenz“ behauptet. Das Gleiche gilt für täuschende buddhistische Strömungen im damaligen Süden von China, die zwar die Begriffe der buddhistischen Lehre verwenden, aber die Bedeutungen der authentische Lehre verwässert oder sogar in ihr Gegenteil verkehret haben.

Dōgen sagt zur Verwirklichung in der Praxis: „Geist hier und jetzt ist Buddha“. Und weiter:„Die Verwirklichung in der Praxis wie diese ist genau, der Geist hier und jetzt des Buddha‘. Diese Verwirklichung erwirbt sich selbst und überträgt sich auf ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“

Da diese große buddhistische Wahrheit authentisch von einem Meister zum anderen übertragen worden ist, sei sie immer lebendig geblieben. Nishijima Roshi sagt dazu:

„Die buddhistische Lehre ist für uns nicht leicht zu verstehen, aber sie wurde authentisch und verlässlich über 2.500 Jahre weitergegeben. Durch diese Weitergabe von einem Meister zum anderen wurden die vielfältigen möglichen Missverständnisse vermieden. Es ist daher unsere äußerst wichtige Pflicht, den wahren Buddhismus authentisch zu erhalten und die vielen möglichen Fehler für alle Zeiten zu vermeiden.“

Dōgen will durch seine Formulierung unbedingt den Eindruck vermeiden, dass ein solcher Geist so etwas wie ein Ding, ein Subjekt, ein Objekt oder eine isolierte Substanz ist. Das wäre ein substanzhafter getrennter ´Gegenstand´, der von einem Menschen zum anderen weitergegeben wird. Die Welt ist leer von einem solchen fiktiven unrealistischen Gegenstand. Der natürliche Zustand des Menschen verwirklicht sich im Augenblick des Handelns und der klaren Wahrnehmung. Es gibt keine Trennung von Subjekt und Objekt und der Dualismus muss überwunden werden. Der Körper-und-Geist kann  nicht wie eine Substanz-Idee oder ein Objekt von einem Subjekt weitergereicht werden. Ein solches Übertragungsmodell wäre für die natürliche Wechselwirkung im Augenblick völlig ungeeignet, denn es bliebe in der Lebensphilosophie des Idealismus verhaftet. Wenn der Geist wie ein quasi materielles Objekt betrachtet würde, wäre damit also eine völlig unbrauchbare Lebensphilosophie beschrieben. Durch die verführerische Trennung von Subjekt und Objekt, die der Brahmane Senika vornimmt, ist es demnach unmöglich, die Wirklichkeit selbst zu erfahren. Senika verhindert also gerade das Erkennen der Wirklichkeit, das er als Ziel hat!

Dōgen hebt dagegen hervor, dass es um den umfassenden einheitlichen lebenden Geist geht, der authentisch an uns übermittelt wurde: „ein Geist als alle (wahren) Dharmas und alle (wahren) Dharmas als ein Geist“. Mit den Dharmas sind die wirklichen veränderlichen Dinge und lebenden Phänomene dieser Welt und unseres Lebens gemeint. Es gibt also für Dōgen keine Spaltung bei den vielfältigen konkreten Einzelheiten, der Dharmas, und dem umfassenden Geist. Die selbe tiefe Weisheit wird von Meister Nagarjuna im Mittleren Weg beschrieben.

Nach dem Zitat des alten Meisters Chorei Shutaku gibt es

auf der Erde nicht ein bisschen getrennten Boden, wenn sich ein Mensch des (wahren) Geistes bewusst wird.“

Was heißt das? Tatsächlich ist ein Fleck Boden, der aus Erde besteht, in der Natur von dem übrigen Boden nicht getrennt oder isoliert, sondern bildet eine zusammen hängende natürliche Einheit. Wenn man sich eines solchen Geistes bewusst wird, verschwinden die alten dualen Vorstellungen und Ideen von Himmel und Erde. Besonders die nur materielle Sichtweise wird überschritten. Dadurch verändert sich grundsätzlich unsere Wahrnehmung von der Form der Erde; denn sie wird umfassender, bunter und viel reicher.

Dōgen zitiert den alten Meister Isan Reiyu, der zu seinen Schülern sagte:

„Was ist der feine, leuchtende und reine Geist? Er ist Berge, Flüsse und die Erde, die Sonne, der Mond und die Sterne.“

Der erwachte Geist macht zwischen der Umgebung und sich selbst keine Spaltung, der Dualismus ist also überwunden. In Wirklichkeit hat es diese Spaltung nicht gegeben, sie ist auch für die Verständigung in sozialen Gruppen schädlich. Die wahrgenommenen Objekte, die wir gewöhnlich als von uns getrennt glauben, bilden eine wechselwirkende Einheit mit dem klaren erwachten Geist. Das ist der leuchtende, feine Buddha-Geist. Dōgen bekräftigt diese Aussage und lässt keinen Zweifel daran, dass er selbst genau diese Erfahrung gemacht hat, nachdem er seine rein theoretische Phase beim Buddha-Dharma beendet hatte. Mit der Hilfe eines alten Kochs und seines eigenen Meisters Tendō Nyojō konnte er die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddhismus direkt erlernen und erfahren.

Dogen unterstreicht, dass Worte grundsätzlich nicht identisch sind mit den Dingen, Bewegungen und der augenblicklichen der Wirklichkeit und des Lebens. Wenn wir auf dem Weg des Buddha bei der Wirklichkeit vorankommen wollen, ist die verbale Ebene der Worte ein wichtiges Werkzeug aber allein nicht ausreichend. Es gibt viele zentrale Erlebnisse und Erfahrungen, die mit Worte nicht genügend beschrieben werden können. Die Wirklichkeit der Dinge und Prozesse geht über Worte und Begriffe also hinaus. Aber Gedanken und Worte können durchaus helfen, um Sachverhalte genau zu beschreiben und Fehler herauszufinden. Nach den notwendigen Klärungen können wir dann wieder neu anzusetzen.

Restriktive, eingeschränkten und zwanghaften Aktionismus kann die tiefe Bedeutung von „Geist hier und jetzt ist Buddha“ nicht erfassen. Oft sind die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung die Triebfedern für ungesteuertes Zwangs-Handeln. Es kommt also auf das natürliche Bewegen und insofern freie Handeln an, damit der Geist mit der Wahrheit und Wirklichkeit verbunden ist. Wenn wir uns zögerlich verhalten und von der Wirklichkeit abgetrennt sind, dreht sich die heilsame Blume des Dharma ohne uns, sagt Dogen. Bestenfalls werden wir dann gedreht, sind also passiv und  Spielball der Welt und unserer Umgebung. Wir sind dann abhängig und nicht frei. Diese tiefe Weisheit arbeitet Dōgen in einem anderen Kapitel zum Lotos-Sūtra heraus.[iii] Wenn wir befreit und im Gleichgewicht sind, drehen wir selbst die Blume des Dharma in Wechselwirkung mit der Welt. Dann haben wir die heilsame und natürliche Bewegung unseres Lebens verwirklicht. Dōgen drückt das so aus:

„Der Geist als Berge, Flüsse und die Erde ist nichts anderes als die (wirklichen) Berge, die Flüsse und die Erde.“

Es ist dann alles genau so, wie es ist, es wird dabei nichts durch Illusionen und Ideologien hinzugesetzt und nichts durch Täuschung und Verblendung weggelassen. So verwirkklichen wir unseren wahren Geist mit den Bergen, Flüssen und der Erde. Das heißt:

„Es gibt (zur Wirklichkeit) keine zusätzlichen Wellen und keine (zusätzliche) Brandung (mit Gischt), keinen Wind oder Rauch.

Dōgen macht sehr deutlich, dass dieser freie und umfassende Geist die Sonne, der Mond und die Sterne ist. Etwas anderes ist nicht der Geist.

„Geist ist Leben-und-Sterben, Kommen-und-Gehen und ist nichts anderes als (wahres) Leben-und-Sterben, Kommen-und-Gehen. Es gibt keine zusätzliche Täuschung oder (nur eingebildete) Verwirklichung.“

Die scheinbar außerhalb von uns vorhandenen Objekte wie Sonne, Mond und Sterne, Berge, Flüsse und die Erde bilden eine lebendige Einheit mit dem Geist, der erwacht und im Gleichgewicht ist. Dies ist die zentrale Botschaft des Buddhismus. Es kommt nun darauf an, diese Weisheit in unserem Leben handelnd zu verwirklichen und im Hier und Jetzt zur Blüte zu bringen.

Der Geist ist nach Dogen auch die Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine; und diese sind als Wirklichkeit genau so, wie sie sind. Es gibt bei klarem offenem Geist keine künstlichen gedanklichen oder emotionalen Zusätze, und es wird auch nichts abgespalten oder weggelassen.

In diesem Zusammenhang erwähnt Dōgen die in der buddhistischen Lehre verankerten materiellen vier Elemente und fünf Komponenten des Menschen und der Welt:

„Es gibt keinen zusätzlichen Schlamm oder (zusätzliches) Wasser... Und es gibt kein zusätzliches Pferd oder (keinen zusätzlichen) Affen.“

Dasselbe gelte für einen Fliegenwedel (hossu), der für die Zeremonien im Zen benutzt wird. Diesen Holzstab, an dem ein Pferdeschweif befestigt ist, halten die Meister bei den Dharma-Reden in der Hand. Im alten China war das Pferd ein Symbol für den rastlosen Willen und der Affe ein Symbol für den törichten herum springenden Verstand. Ein rastloser Wille schießt immer über das Ziel hinaus und besitzt keine Wechselwirkung mit dem natürlichen Zustand und die natürliche Bewegung. Er kommt nicht aus der kraftvollen Mitte und kann sich nicht im Hier und Jetzt öffnen. Ein solcher Wille ist damit nicht der der Wirklichkeit verbunden. Dasselbe gilt für hektisches Denken und das törichte Arbeiten des fehl geleiteten Verstandes.

Alle Buddhas sind unbefleckte Buddhas.“

Dōgen erklärt, dass die Buddhas genau mit diesem Geist ethisch lebendig sind. Sie erwecken den Willen zur Wahrheit, führen die praktischen Übungen durch, verwirklichen das Erwachen, und dies ist die Erfahrung des Nirvāna. Er verstärkt diese Aussage, indem er sie in umgekehrter Form wiederholt:

„Wenn wir niemals den Willen erweckt haben, (niemals) das Training durchführen, das Erwachen (verwirklicht) und das Nirvāna (erfahren haben), dann ist das nicht Geist hier und jetzt und ist Buddha.“

Das Nirvāna wird dabei nicht als ein jenseitiges Paradies verstanden, sondern als das erwachte Leben im Gleichgewicht des Hier und Jetzt. Das wird vor Allem die das Leidensüberwunden.

Dōgen unterstreicht die fundamentale Bedeutung des Augenblicks:

„Wenn wir den Geist erwecken und die Praxis-und-Erfahrung auch nur in einem ganz kurzen Augenblick (kshana) verwirklichen, ist dieser Geist hier und jetzt Buddha.“

Das bedeutet, dass die Wirklichkeit im Augenblick selbst realisiert wird und dass ein solcher kurzer Augenblick die lebendige Einheit mit dem Buddha-Geist ist. Dieser Buddha-Geist sei das ganze Leben der Praxis und des Alltags.

Dōgen erweitert diese Aussage auf ein Molekül und auf zahllose Weltzeitalter. Wichtig ist dabei, dass Praxis und Erfahrung von einander getrennt, sondern im Augenblick zusammen wirksam sind. Damit gibt es keine Trennung der Erleuchtung und der Praxis im Augenblick. Wären beide voneinander getrennt, würde die zeitliche Erfahrung der Erleuchtung später als die Praxis stattfinden. Dabei würde es sich nicht zuletz um einen späteren Denkprozess handeln, der dem Dualismus unterliegt.

Dōgen untersucht die kritisierende Behauptung, dass andauerndes Praktizieren um Buddha zu werden, gerade nicht „Geist hier und jetzt ist Buddha“ sei. Er lehnt eine solche Ansicht kategorisch ab, denn sie würde bedeuten, „niemals gesehen zu haben, niemals gewusst zu haben und niemals gelernt zu haben, dass Geist hier und jetzt Buddha ist“. Wer diese Kritik äußere, könne niemals einen wahren Lehrer gehabt haben, auch wenn dieser die selben Worte „Geist hier und jetzt ist Buddha“ im Mund führte. Inhaltsleeres Reden reicht nicht. Denn Shākyamuni Buddha sei genau „Geist hier und jetzt ist Buddha“.

„Wenn alle die Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Buddha werden, werden sie unausweichlich Shākyamuni Buddha, das ist ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“

Es geht also nicht um abstrakte Idealisierungen von Buddha, sondern um den befreiten Menschen, der praktisch lebt und lehrt. Die Wirklichkeit und das Erwachen sind die große lebende Einheit vom Geist und von der Vielfalt der Dinge und Phänomene sowie vom Handeln

Der Buddha-Dharma ist also die lebende und wechselwirkende Einheit von Theorie und Praxis und umfasst damit das Handeln und die Übungspraxis des Zazen. Diese Weisheit ist unauflösbar mit Moral und Ethik verbunden. Sie betrifft die Wirklichkeit und Wahrheit, so wie sie sind. Dabei wird nichts durch Glaubens-Fantasien, Täuschungen und spekulatives Denken addiert, aber auch nichts weggenommen, selektiert oder psychisch verdrängt. Diese Wechselwirkung wird im Buddhismus mit einem klaren Spiegel verglichen, der alles reflektiert, was vor ihm erscheint, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass die Flucht der Menschen vor der Wirklichkeit und Wahrheit die Ursache vieler geistiger und psychischer Leiden ist. Wir erleben und beobachten diese Täuschungen und Illusionen in der heutigen Zeit leider mindestens so viel wie früher. Gautama Buddhas Lehre führt auch heute aus dem Kreislauf des Leidens hinaus und öffnet uns für die ein heilsames Leben in der umfassende Wirklichkeit.

Den befreiten Buddha-Geist können wir daher nicht allein durch theoretisches Denken erfassen, vor Allem nicht durch Dualismus, Pseudo-Ich, aufgeblasenem Ego und nicht durch irreale Substanzen. Wie müssen ihn handelnd erfahren und analysieren. Dabei führt uns das Streben nach der Wahrheit wie mit einem Kompass auf den richtigen Weg. Dieser Geist ist viel mehr als das intellektuelle Denken, denn er umfasst nach Dōgen auch die Wirklichkeit des Bambus, der Berge, Flüsse, der Erde, der Sonne, des Mondes und der Sterne. Das sind gerade Dinge und Phänomene, die wir meist nur als äußere Form und aus materialistischer Sicht betrachten und verstehen. Aber das ist zu wenig. Der Zen-Buddhismus lehrt ganz klar, dass wir lernen müssen, unsere dualen Vorstellungen, Ideen und unser intellektuelles Denken von der Wirklichkeit des Geistes zu unterscheiden und beides nicht zu verwechseln. Dōgen sagt daher:

„Wenn wir den Willen (zur Wahrheit) niemals erweckt, das Praxis-Training niemals durchlaufen, den Bodhi-Geist niemals (verwirklicht) und Nirvana niemals (erfahren) haben, dann gibt es keinen Wahrheit vom ´Geist hier und jetzt ist Buddha´“.

Dieser Wille zur Wahrheit muss nach Dogen in einem einzigen Augenblick oder in einem einzigen Atom des Körpers da sein, damit er wirksam ist und sich der wahre Buddha-Geist voll verwirklicht. Dieser ist also viel umfassender als die „Geist-Essenz“ des Brahmanen Senika und die ähnlichen Lehrmeinungen der damaligen sogenannten Meister im Süden von China.

Zusammengefasst: Der wahre Geist wird durch Handeln mit dem Willen zur Wahrheit und in lebendiger Wechselwirkung mit der Welt sowie mit heilsamer Ethik verwirklicht.


[i] Kap. 47, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 185 ff.: „Die drei Welten der Ideen, der Formen und des Handelns sind der umfassende Geist (Sangai yuishin)

[ii] Kap. 11, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“; Seggelke, Yudo J.: Strahlende Zeit zum Handeln, S. 15 ff.

[iii] Kap. 17, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 152 ff.: „Die Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke)“