Dōgen beschreibt in diesem Kapitel mit kräftigen Worten und Sätzen die buddhistische Lehre. Er grenzt sie von der altindischen Philosophie des Brahmanismus ab, die zur Zeit Buddhas von Senika vertreten und als herrschende Lehre weit verbreitet war. Es gab mehrere Streitgespräche zwischen Gautama Buddha und Senika, die die zentralen Kernpunkte der neuen buddhistischen Lehre treffend herausarbeiten und gegen die der Brahmanismus nicht bestehen konnte. Buddhas Lehre war, philosophisch, psychologisch und therapeutisch wirklich eine Revolution und erschütterte die herrschenden Brahmanen in ihren Grundfesten. Diese Grundlagen waren für Buddha sehr spekulativ und nicht tragfähig. Nach seinen tiefen Erkenntnissen waren sie Ursache für viel menschliches Leid. Buddha ist für mich ein unglaubliches Genie der Menschheit und leitete zusammen mit Laotse und Konfuzius in China eine neue Ära der Menschheit ein. In der gleicher Zeit legten die griechischen Denker Heraklit und Parmenides die Grundlagen für die westliche Philosophie.
Hier
möchte ich nach Dogen die metaphysischen Eckpunkte des Brahmanismus aufzeigen
und einige Fehlentwicklungen des Buddhismus kritisieren. Danach geht es um die
Zusammenfassung des authentischen Buddhismus im Zen.
Der Geist im altindischen Brahmanismus
Der
Brahmane Senika vertrat mit
beachtlichem rhetorischem Geschick den Glauben, es gebe einen ewigen unveränderlichen
Seelenkern, âtman, im Menschen, den er auch Geist nannte. Dieser sei vom jeweiligen
Körper völlig unabhängig und würde in den verschiedenen Wiedergeburten von
einem Körper zum anderen wandern. Dies sei die große Wahrheit, die man leicht
verstehen und erkennen könne, mehr sei nicht erforderlich. Durch diese Lehre
vom ewigen Geist würde man also ohne Mühe und ohne anstrengende Übungspraxis
sofort frei und müsse nicht mehr leiden. Nach Senika kann diese ewige
Geist-Substanz zwischen Leid und Freude, Wärme und Kälte, Schmerz und
Verwirrung unterscheiden. Sie sei vom Körper völlig unabhängig und absolut
selbstständig. Sie würde außerdem nicht durch irgendwelche Materie und einengenden Wände aufgehalten sondern könne
ohne Hinderung hindurchgehen. Sie würde also durch materielle Grenzen überhaupt
nicht eingeschränkt oder behindert.
Senika
zufolge durchdringt ein solcher ewiger
Geist sowohl die Seelen der
normalen als auch der heiligen Menschen. Wenn man erst einmal das Wesen dieses
Geistes erlangt habe, so sagt er, gebe es keine Täuschungen mehr über Körper
und Seele. Dann sei man erlöst und es gebe keine Irrwege mehr. Dann sei man
sofort und ohne Anstrengung frei und müsse nicht mehr leiden. Dadurch könne man
auch sein eigenes ursprüngliches, spirituelles Bewusstsein klar erkennen. Diese
geistige Essenz sei ewig und durchdringe alle Welten und alle Zeiten.
Demgegenüber sind die Dinge dieser Welt und des Universum vergänglich, sie
kommen und gehen und haben keine Beständigkeit. Sie seien letztlich auch
weniger wichtig oder wertvoll.
Man
könne diese Geist-Essenz nach Senika auch das spirituelle Bewusstsein oder den wahren Ich-Kern nennen. Wer diese
ursprüngliche Essenz durch das große Wissen erlangt hat, kann nach in die
Ewigkeit zurückkehren. Er ist nicht mehr gezwungen, im Kreislauf der Welt unter
Leiden erneut wiedergeboren zu werden. Wenn dann der Geist in die Ewigkeit
eingeht, ist der Leidenskreislauf von Leben und Tod also endgültig beendet.
Senika sagt: "Diese Geist-Substanz geht im unendlichen Ozean in der Essenz
auf". So lauten die Kernaussagen und der Glaube der damaligen Brahmanen.
Was
sagt nun Meister Dōgen dazu, und wie kennzeichnet er dem gegenüber die wahre
Lehre des Buddha-Dharma? Wäre es nicht wunderbar, wenn der Brahmane Senika mit
seiner Lehre Recht hätte und wir nur durch die einfache Erkenntnis unseres
„Geistes“ dem Leiden und schmerzlichen Lauf des Lebens entkommen könnten?
Träumen nicht viele Menschen von einem großartigen Ich-Geist, der von Natur aus
schon immer strahlend und rein ist. Er werde dann durch das bloße Wissen seiner
ursprünglich reinen Natur gereinigt und verwirklicht.
Falsche Lehren im alten China
Im
achten Jahrhundert n. Chr. hatte der Buddhismus in China seine Blütezeit
erreicht, die in der Zeit nach Bodhidharmas Ankunft wesentlich auf den großen
Meister Daikan Enō zurückzuführen ist. Er war sein sechster Nachfolger in
China. Die Kultur und der Buddhismus hatten im nördlichen China einen besonders
hohen Stand erreicht und unterschieden sich damit von dem weniger entwickelten
Süden, der damals auch Teile von Kambodscha
und Vietnam umfasste. Dōgen berichtet, dass der Buddhismus im Süden weniger
klar gewesen sei als im Norden, um es wohlwollend zu formulieren. Die
Lehrmeinungen der dortigen sogenannten Meister kämen oft der Lehre des
Brahmanen Senika insofern bedenklich nahe kämen, als der normale Geist oder die
normale geistige Essenz einfach mit Buddha gleichgesetzt wurde. Damit wird aber
der wichtige Unterschied des Brahmanismus und Buddhismus verwischt.
Dōgen
lehnt diese Lehre des Südens mit Nachdruck ab und erläutert dies anhand des berühmten
Satzes: „Geist Hier und Jetzt ist Buddha“.
Dabei sind die Begriffe "hier und jetzt" von größter Bedeutung, denn
damit wird die scheinbare Unveränderlichkeit, Ewigkeit und Abstraktheit
falsifiziert. Es geht ihm dabei nicht um idealistischen Glauben, irreale
Wünsche und abstrakte Vorstellungen, sondern um die konkrete Wirklichkeit, also
genau hier und jetzt. Denn die Wirklichkeit schlägt zurück, wenn wir sie
vernachlässigen oder ganz negieren. Sie trifft uns dann umso härter. Die gilt
ob wir die Realität nun mögen oder nicht. Denn eine Flucht aus der Wirklichkeit
in schöne Wunschträume ist vor allem eine Haupt-Ursache für das Leiden der Menschen.
Dies betont nicht zuletzt auch der Psychologe Sigmund Freud.
In
der Aufzeichnung eines Gesprächs des Nachfolgers von Meister Daikan Enō, wird die falsche oder
ungenaue Lehre des Buddha-Dharma aus dem Süden Chinas durch der Aussagen eines
reisenden Buddhisten von dort recht genau beschrieben. Dieser Meister hatte den
Ehrennamen großer Landesmeister Daishō
und Dōgen schätzte ihn außerordentlich. Der Reisende erläuterte dem großen
Landesmeister, die Dharma-Lehrer im Süden würden sagen, dass der Satz „Geist Hier und Jetzt ist Buddha“ nur das
Bewusstsein aber nicht den Körper kennzeichnet. Geist und Bewusstsein werden
also gleichgesetzt und so gedacht, dass sie vom Körper getrennt sind. Der Geist
wird also als unveränderlich und isoliert vom Körper geglaubt.
Ein
solches Bewusstsein habe nach dieser Lehre sei die Essenz des Sehens, Hörens,
Wahrnehmens und des Wissens. Diese Essenz würde alle Handlungen und auch das
gesamtes Denken des Menschen steuern. Sie würde daher das „wahre, allumfassende
Wissen“ genannt. Dieses umfassende Wissen sei der große Buddha, und außer
diesem wunderbaren Wissen gebe es nichts anderes. Das Wissen sei also nach
dieser Lehre das Höchste und zugleich die Essenz des Universums. Alles andere
wie die Materie, die Gefühle und der Körper seien dem untergeordnet, weniger
wichtig und vergänglich. Der Geist und dieses Wissen sei aber unvergänglich und
der heilige nicht erkennbare Kern des Menschen.Der Geist verlasse den Körper
nach dem Tod. Dies gleiche einem Menschen, der einfach aus seinem brennenden,
unbrauchbaren Haus fortgeht und die Ruine zurück lässt. In gleicher Weise
häutet einer Schlange, und die lässt alte Haut zurück.
Nach
diesen Erläuterungen des Mannes aus dem Süden sah der große Landesmeister
Daishō seine schlimmen Vermutungen bestätigt, dass dort ganz irrige Lehren des
Buddhas verbreitet wurden. Er bedauerte tief und aufrichtig, dass die Schüler
der jeweiligen sogenannten Meister in unklarer Weise unterrichtet würden. Sie
wurden in eine falsche Richtung des Buddha-Weges getrieben. Damit sei der wahre
authentische Buddha-Dharma im Süden verloren gegangen. Denn die wahre Lehre ist
viel umfassender als das intellektuelle Wissen, das Bewusstsein und die äußeren
sinnlichen Wahrnehmungen des Sehens, Hörens, Fühlens usw.. Allein mit dem
dualen Verstand oder mit unseren ungeschulten Sinnesorganen können wir die viel
zu engen Grenzen des dualen Denkens nicht überwinden. Wir haben dann keinen Zugang
zum wahren authentischen Buddha-Dharma. Die Lehre des Südens sei also das
verengte zweifelhafte Wunschdenken und der einseitige subjektive Glaube der
dortigen Meister. Diese können die große unfassbare Wahrheit nicht annähernd
ausloten, die von Gautama Buddha und den großen Vorfahren im Dharma gelehrt und
übermittelt wurden. Die Lehrer seien also dem Dualismus verfallen. Sie glauben
an eine Pseudo-Substanz im Menschen, wie Meister
Nagarjuna lehrt.
Mein
Lehrer Nishijima Roshi bezeichnet in gleichem Sinn das duale abstrakte Denken
und die einseitige Ideen als Idealismus. Den einseitigen Bereich der Wahrnehmung
und der Sinnesreize bezeichnet er als Materialismus. Beide Lebens-Philosophien
sind isoliert zwar nicht ganz falsch, aber sie sind einseitig und
eindimensional. Sie können der Vielfalt des wunderbaren vernetzten Lebens im
Universum nicht gerecht werden. Außerdem kann man ideologische Übertreibungen
des Idealismus und Materialismus beobachten, die großen Schaden in der
Menschheit anrichten und auswegloses Leiden erzeugen. Dadurch wird viel Leiden
erzeugt und es entstehen schwere Katastrophen und Dramen für die betroffenen Menschen.
Wer also in seinem Leben bedingungslos und meist unbewusst an diese einseitigen
und extremen Lebens-Philosophien glaubt, richtet sich und andere zu Grunde.
Er
kann nicht dem dauernden Kreislauf des Leidens und den oberflächlichen Schein-Freuden
nicht entkommen. Er kennt nicht den Frühling Buddhas, wie es in dem Gedicht der
Pflaumenblüten bei Dogen heißt. Ein solcher Mensch klammert sich an einen
unsicheren Strohhalm, der überhaupt nicht tragen kann. Daher muss nach
Nishijima Roshi unbedingt die dritte Lebensphilosophie des Handelns im Hier und
Jetzt hinzukommen. Das ist zugleich der gegenwärtige Augenblick der
Wirklichkeit. Die vierte, höchste buddhistische Lebens-Philosophie und Praxis
umfasst also sowohl die drei bereits genannten, geht aber darüber hinaus. Das
nennen wir Erwachen, Erleuchtung. Es ist die Leerheit von Täuschungen und
extremen Ideologien als als Leerrheit von den Giften Gier, Hass und
Verblendungen. Auf dieser höchsten möglichen Stufe gibt es die lebendige
Einheit und Harmonie mit der Ethik und den Gesetzen des Universums.
Wenn
man den verengten dualistischen Geist nur im Sinne des Idealismus versteht,
also als Idee und daher in einer sehr begrenzten Dimension, kann auch der Satz:
Geist Hier und Jetzt ist Buddha“ nicht
mehr umfassend verstanden werden. Das Hier
bedeutet räumlich genau an diesem Ort, und Jetzt
bedeutet genau in diesem Augenblick. Geist und Buddha sind nicht unabhängig von
Raum und Zeit. Das widerspricht der Philosophie des Idealismus weitgehend.
Authentischer Buddhismus: Der erwachte
umfassende Geist überwindet Dualismus, Spekulationen und Verblendungen
Dogen
versteht den Geist als wirkliches Handeln im Augenblick und als einzige wahre
Realität. Der Geist ist die lebende ganzheitliche Wechselwirkung von
Wahrnehmen, Handeln, Wollen, Fühlen, Wissen usw.. Wir dürfen den Geist nicht
von der äußeren Wirklichkeit und dem Wahrnehmen abtrennen, er ist vielmehr
deren lebende Einheit und Gesamtheit. Vor Allem darf der Geist nicht vom Körper
dualistisch isoliert werden. Diese Wirklichkeit gibt es genau im gegenwärtigen
Augenblick und sie ist beim Menschen in Wechselwirkung mit den gespeicherten
Informationen der Vergangenheit und Zukunft. Der große Meister Vasubandhu nennt
das Speicherwissen. Vergangenheit und Zukunft sind für sich nicht die
Wirklichkeit, denn sie sind als Informationen in unserem Gehirn und im
neuronalem Netz gespeichert. Es handelt sich dabei durch die Aktivitäten des
neuronalen Netzes um lebendes Wissen. Denn die gespeicherten Informationen gibt
es nicht mehr, wenn der Mensch gestorben ist.
Dōgen
unterstreicht, dass sich unsere dreifache wirkliche Welt wie folgt gliedern
lässt: Erstens in Form und Materie, zweitens in Ideen, die keine solche Form
haben, und drittens in Wollen. Diese Welten sind nicht voneinander isoliert,
sondern bilden eine wechsewirkende Einheit. Er sagt fast paradox zum wirklichen
Geist:
„Der Geist existiert als Zäune und
Mauern, er wird niemals schlammig oder nass und ist niemals künstlich erzeugt.“
Was
will er damit sagen? Den Geist gibt es wirklich und er ist nicht verschmutzt,
nicht künstlich und nicht dualistisch fabriziert. Es gibt in der umfassenden
lebendigen Wirklichkeit keine absolute Trennung von außen und innen und keinen
Dualismus von Subjekt und Objekt. Verschmutzung und andere künstliche
Fabrikationen sind Extreme, die es in der Wirklichkeit so nicht gibt. Diese
Wirklichkeit ist nach Buddha und Nagarjuna "das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung", also ein Prozess und eine lebendige Vernetzung. Dies
stimmt weitgehend mit der gesicherten Forschung der Ökologie und den
Neuro-Wissenschaftern überein. Die Gegenwart ist durch das in Wechselwirkung
Entstandene gekennzeichnet, also hier und jetzt.
Diese
umfassende Bedeutung des Geistes vertieft Dōgen im Shōbōgenzō besonders im Kapitel über die drei zusammen wirkenden
Welten.[i]
Daher lehnt er die Trennung von Körper und Geist vehement ab, da ein solcher
Dualismus nicht der Wirklichkeit entspricht. Oder etwas wissenschaftlicher
gesagt: Das ist ein falsches oder zumindest schlechtes Modell der Wirklichkeit
und viel zu statisch. Dogen sagt in aller Klarheit:
„Wir
verwirklichen in der Praxis, dass Geist
hier und jetzt Buddha ist.“ Und diese Einheit von Geist und Buddha bedeutet
weiter: „Geist-und-Buddha hier und jetzt
sind richtig, und sie verwirklichen in der Praxis, dass dieser Buddha-Geist das
Hier und Jetzt ist.“
Das
klingt ungewöhnlich und widerspricht sicher dem Denken vieler normaler
Menschen. Aber ist es paradox, wie manchmal vom Zen behauptet wird? Sicher
nicht! Der Satz bedeutet, dass es in der wahren Zeit die wirkliche Praxis nur
im gegenwärtigen Augenblick[ii]
geben kann. Und dadurch verwirklichen wir den lebenden Buddha-Geist. Die
Informationen der Vergangenheit sind nur Erinnerungen in unserem Gehirn und der
Zukunft nur Erwartungen, Hoffnungen oder Ängste. Dieses gespeicherte Wissen ist
nicht unwichtig, im Gegenteil, es ist für uns lebensnotwendig. Aber dieses
Wissen entfaltet seine Bedeutung erst mit der Gegenwart. Darauf hat schon der
große Meister Vasubandhu hingewiesen.
Dazu
ein Beispiel aus der angewandten Psychologie: Bei der wissenschaftliche Analyse
der Gehirnwäsche im kommunistischen Russland und China ergab sich, dass der
Verlust der Wirklichkeit durch weitgehende Ausschaltung der Wahrnehmung erzielt
wurde. Dadurch wurden auch die gespeicherten Informationen der Opfer gelöscht
oder unwirksam gemacht. Danach wurden die irrealen Welten eingebracht, sodass
die gewollte Ideologie zur Pseudo-Wirklichkeit wurde. Die Gehirnwäsche
funktionierte vor Allem wie gewünscht, wenn den Opfern ihre Umprogrammierung
nicht bewusst wurde. Auf diese Weise wurden die Opfer total abhängig von den
manipulierten falschen Informationen und verloren die lebendige Wechselwirkung
mit der Realität. Sie veränderten auch ihre gesamte Persönlichkeit! Die
wirkliche Interaktion mit der Umgebung und Geist sind also von einander
abhängig. Ein isolierter Geist ist in Wirklichkeit ein Pseudo-Geist, den es gar
nicht gibt.
Es
ist sinnvoll, dass wir in unserer Kommunikation bestimmte Begriffe wie „Geist“,
„Praxis“, „Wirklichkeit“ und „Zeit“ verwenden, weil sonst überhaupt keine
Interaktion und auch keine buddhistische Lehre möglich wären. Aber wir dürfen
diese Begriffe nicht mit der vernetztenlebenden Wirklichkeit verwechseln: Die
einseitige oder gar absolute idealistische und materialistische Welt-Sicht kann
dieses großartige Zusammen-Wirken von lebendigem Geist und lebendiger Welt
nicht erfassen.
Die
tiefgründigen Ausführungen Dōgens stehen damit im klaren Gegensatz zur Lehre
des Brahmanen Senikas, der die Trennung von Körper und eine erfundenen
„spirituellen Essenz“ behauptet. Das Gleiche gilt für täuschende buddhistische
Strömungen im damaligen Süden von China, die zwar die Begriffe der
buddhistischen Lehre verwenden, aber die Bedeutungen der authentische Lehre
verwässert oder sogar in ihr Gegenteil verkehret haben.
Dōgen
sagt zur Verwirklichung in der Praxis: „Geist
hier und jetzt ist Buddha“. Und weiter:„Die
Verwirklichung in der Praxis wie diese ist genau, der Geist hier und jetzt des
Buddha‘. Diese Verwirklichung erwirbt sich selbst und überträgt sich auf ‚Geist
hier und jetzt ist Buddha‘.“
Da diese
große buddhistische Wahrheit authentisch von einem Meister zum anderen
übertragen worden ist, sei sie immer lebendig geblieben. Nishijima Roshi sagt dazu:
„Die
buddhistische Lehre ist für uns nicht leicht zu verstehen, aber sie wurde
authentisch und verlässlich über 2.500 Jahre weitergegeben. Durch diese
Weitergabe von einem Meister zum anderen wurden die vielfältigen möglichen
Missverständnisse vermieden. Es ist daher unsere äußerst wichtige Pflicht, den
wahren Buddhismus authentisch zu erhalten und die vielen möglichen Fehler für
alle Zeiten zu vermeiden.“
Dōgen
will durch seine Formulierung unbedingt den Eindruck vermeiden, dass ein
solcher Geist so etwas wie ein Ding, ein Subjekt, ein Objekt oder eine
isolierte Substanz ist. Das wäre ein substanzhafter getrennter ´Gegenstand´,
der von einem Menschen zum anderen weitergegeben wird. Die Welt ist leer von
einem solchen fiktiven unrealistischen Gegenstand. Der natürliche Zustand des
Menschen verwirklicht sich im Augenblick des Handelns und der klaren
Wahrnehmung. Es gibt keine Trennung von Subjekt und Objekt und der Dualismus
muss überwunden werden. Der Körper-und-Geist kann nicht wie eine Substanz-Idee oder ein Objekt
von einem Subjekt weitergereicht werden. Ein solches Übertragungsmodell wäre
für die natürliche Wechselwirkung im Augenblick völlig ungeeignet, denn es
bliebe in der Lebensphilosophie des Idealismus verhaftet. Wenn der Geist wie
ein quasi materielles Objekt betrachtet würde, wäre damit also eine völlig
unbrauchbare Lebensphilosophie beschrieben. Durch die verführerische Trennung
von Subjekt und Objekt, die der Brahmane Senika vornimmt, ist es demnach
unmöglich, die Wirklichkeit selbst zu erfahren. Senika verhindert also gerade
das Erkennen der Wirklichkeit, das er als Ziel hat!
Dōgen
hebt dagegen hervor, dass es um den umfassenden einheitlichen lebenden Geist
geht, der authentisch an uns übermittelt wurde: „ein Geist als alle (wahren) Dharmas und alle (wahren) Dharmas als ein
Geist“. Mit den Dharmas sind die wirklichen veränderlichen Dinge und
lebenden Phänomene dieser Welt und unseres Lebens gemeint. Es gibt also für
Dōgen keine Spaltung bei den vielfältigen konkreten Einzelheiten, der Dharmas,
und dem umfassenden Geist. Die selbe tiefe Weisheit wird von Meister Nagarjuna
im Mittleren Weg beschrieben.
Nach
dem Zitat des alten Meisters Chorei
Shutaku gibt es
„auf der Erde nicht ein bisschen getrennten
Boden, wenn sich ein Mensch des (wahren) Geistes bewusst wird.“
Was
heißt das? Tatsächlich ist ein Fleck Boden, der aus Erde besteht, in der Natur
von dem übrigen Boden nicht getrennt oder isoliert, sondern bildet eine
zusammen hängende natürliche Einheit. Wenn man sich eines solchen Geistes
bewusst wird, verschwinden die alten dualen Vorstellungen und Ideen von Himmel
und Erde. Besonders die nur materielle Sichtweise wird überschritten. Dadurch
verändert sich grundsätzlich unsere Wahrnehmung von der Form der Erde; denn sie
wird umfassender, bunter und viel reicher.
Dōgen
zitiert den alten Meister Isan Reiyu,
der zu seinen Schülern sagte:
„Was ist der feine, leuchtende und
reine Geist? Er ist Berge, Flüsse und die Erde, die Sonne, der Mond und die
Sterne.“
Der erwachte Geist macht
zwischen der Umgebung und sich selbst keine Spaltung, der Dualismus ist also
überwunden. In Wirklichkeit hat es diese Spaltung nicht gegeben, sie ist auch
für die Verständigung in sozialen Gruppen schädlich. Die wahrgenommenen
Objekte, die wir gewöhnlich als von uns getrennt glauben, bilden eine
wechselwirkende Einheit mit dem klaren erwachten Geist. Das ist der leuchtende,
feine Buddha-Geist. Dōgen bekräftigt diese Aussage und lässt keinen Zweifel
daran, dass er selbst genau diese Erfahrung gemacht hat, nachdem er seine rein
theoretische Phase beim Buddha-Dharma beendet hatte. Mit der Hilfe eines alten
Kochs und seines eigenen Meisters Tendō
Nyojō konnte er die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddhismus direkt
erlernen und erfahren.
Dogen
unterstreicht, dass Worte grundsätzlich nicht identisch sind mit den Dingen,
Bewegungen und der augenblicklichen der Wirklichkeit und des Lebens. Wenn wir
auf dem Weg des Buddha bei der Wirklichkeit vorankommen wollen, ist die verbale
Ebene der Worte ein wichtiges Werkzeug aber allein nicht ausreichend. Es gibt
viele zentrale Erlebnisse und Erfahrungen, die mit Worte nicht genügend
beschrieben werden können. Die Wirklichkeit der Dinge und Prozesse geht über
Worte und Begriffe also hinaus. Aber Gedanken und Worte können durchaus helfen,
um Sachverhalte genau zu beschreiben und Fehler herauszufinden. Nach den
notwendigen Klärungen können wir dann wieder neu anzusetzen.
Restriktive,
eingeschränkten und zwanghaften Aktionismus kann die tiefe Bedeutung von „Geist
hier und jetzt ist Buddha“ nicht erfassen. Oft sind die drei Gifte Gier, Hass
und Verblendung die Triebfedern für ungesteuertes Zwangs-Handeln. Es kommt also
auf das natürliche Bewegen und insofern freie Handeln an, damit der Geist mit
der Wahrheit und Wirklichkeit verbunden ist. Wenn wir uns zögerlich verhalten
und von der Wirklichkeit abgetrennt sind, dreht sich die heilsame Blume des Dharma ohne uns, sagt Dogen. Bestenfalls werden wir dann gedreht,
sind also passiv und Spielball der Welt
und unserer Umgebung. Wir sind dann abhängig und nicht frei. Diese tiefe
Weisheit arbeitet Dōgen in einem anderen Kapitel zum Lotos-Sūtra heraus.[iii]
Wenn wir befreit und im Gleichgewicht sind, drehen wir selbst die Blume des
Dharma in Wechselwirkung mit der Welt. Dann haben wir die heilsame und
natürliche Bewegung unseres Lebens verwirklicht. Dōgen drückt das so aus:
„Der Geist als Berge, Flüsse und die
Erde ist nichts anderes als die (wirklichen) Berge, die Flüsse und die Erde.“
Es
ist dann alles genau so, wie es ist, es wird dabei nichts durch Illusionen und
Ideologien hinzugesetzt und nichts durch Täuschung und Verblendung weggelassen.
So verwirkklichen wir unseren wahren Geist mit den Bergen, Flüssen und der
Erde. Das heißt:
„Es gibt (zur Wirklichkeit) keine
zusätzlichen Wellen und keine (zusätzliche) Brandung (mit Gischt), keinen Wind
oder Rauch.“
Dōgen
macht sehr deutlich, dass dieser freie und umfassende Geist die Sonne, der Mond
und die Sterne ist. Etwas anderes ist nicht der Geist.
„Geist ist Leben-und-Sterben,
Kommen-und-Gehen und ist nichts anderes als (wahres) Leben-und-Sterben,
Kommen-und-Gehen. Es gibt keine zusätzliche Täuschung oder (nur eingebildete)
Verwirklichung.“
Die
scheinbar außerhalb von uns vorhandenen Objekte wie Sonne, Mond und Sterne,
Berge, Flüsse und die Erde bilden eine lebendige Einheit mit dem Geist, der
erwacht und im Gleichgewicht ist. Dies ist die zentrale Botschaft des
Buddhismus. Es kommt nun darauf an, diese Weisheit in unserem Leben handelnd zu
verwirklichen und im Hier und Jetzt zur Blüte zu bringen.
Der
Geist ist nach Dogen auch die Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine; und diese
sind als Wirklichkeit genau so, wie sie sind. Es gibt bei klarem offenem Geist
keine künstlichen gedanklichen oder emotionalen Zusätze, und es wird auch
nichts abgespalten oder weggelassen.
In
diesem Zusammenhang erwähnt Dōgen die in der buddhistischen Lehre verankerten
materiellen vier Elemente und fünf Komponenten des Menschen und der Welt:
„Es gibt keinen zusätzlichen Schlamm
oder (zusätzliches) Wasser... Und es gibt kein zusätzliches Pferd oder (keinen
zusätzlichen) Affen.“
Dasselbe
gelte für einen Fliegenwedel (hossu), der für die Zeremonien im Zen benutzt
wird. Diesen Holzstab, an dem ein Pferdeschweif befestigt ist, halten die
Meister bei den Dharma-Reden in der Hand.
Im alten China war das Pferd ein Symbol für den rastlosen Willen und der
Affe ein Symbol für den törichten herum springenden Verstand. Ein rastloser
Wille schießt immer über das Ziel hinaus und besitzt keine Wechselwirkung mit
dem natürlichen Zustand und die natürliche Bewegung. Er kommt nicht aus der
kraftvollen Mitte und kann sich nicht im Hier und Jetzt öffnen. Ein solcher
Wille ist damit nicht der der Wirklichkeit verbunden. Dasselbe gilt für
hektisches Denken und das törichte Arbeiten des fehl geleiteten Verstandes.
„Alle Buddhas sind unbefleckte Buddhas.“
Dōgen
erklärt, dass die Buddhas genau mit diesem Geist ethisch lebendig sind. Sie
erwecken den Willen zur Wahrheit, führen die praktischen Übungen durch,
verwirklichen das Erwachen, und dies ist die Erfahrung des Nirvāna. Er
verstärkt diese Aussage, indem er sie in umgekehrter Form wiederholt:
„Wenn wir niemals den Willen erweckt haben, (niemals)
das Training durchführen, das Erwachen (verwirklicht) und das Nirvāna (erfahren
haben), dann ist das nicht Geist hier und jetzt und ist Buddha.“
Das Nirvāna
wird dabei nicht als ein jenseitiges Paradies verstanden, sondern als das
erwachte Leben im Gleichgewicht des Hier und Jetzt. Das wird vor Allem die das
Leidensüberwunden.
Dōgen
unterstreicht die fundamentale Bedeutung des Augenblicks:
„Wenn wir den Geist erwecken und die
Praxis-und-Erfahrung auch nur in einem ganz kurzen Augenblick (kshana)
verwirklichen, ist dieser Geist hier und jetzt Buddha.“
Das bedeutet,
dass die Wirklichkeit im Augenblick selbst realisiert wird und dass ein solcher
kurzer Augenblick die lebendige Einheit mit dem Buddha-Geist ist. Dieser
Buddha-Geist sei das ganze Leben der Praxis und des Alltags.
Dōgen
erweitert diese Aussage auf ein Molekül und auf zahllose Weltzeitalter. Wichtig
ist dabei, dass Praxis und Erfahrung von einander getrennt, sondern im
Augenblick zusammen wirksam sind. Damit gibt es keine Trennung der Erleuchtung
und der Praxis im Augenblick. Wären beide voneinander getrennt, würde die
zeitliche Erfahrung der Erleuchtung später als die Praxis stattfinden. Dabei
würde es sich nicht zuletz um einen späteren Denkprozess handeln, der dem
Dualismus unterliegt.
Dōgen
untersucht die kritisierende Behauptung, dass andauerndes Praktizieren um
Buddha zu werden, gerade nicht „Geist hier und jetzt ist Buddha“ sei. Er lehnt
eine solche Ansicht kategorisch ab, denn sie würde bedeuten, „niemals gesehen
zu haben, niemals gewusst zu haben und niemals gelernt zu haben, dass Geist
hier und jetzt Buddha ist“. Wer diese Kritik äußere, könne niemals einen wahren
Lehrer gehabt haben, auch wenn dieser die selben Worte „Geist hier und jetzt
ist Buddha“ im Mund führte. Inhaltsleeres Reden reicht nicht. Denn Shākyamuni
Buddha sei genau „Geist hier und jetzt ist Buddha“.
„Wenn alle die Buddhas der
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Buddha werden, werden sie unausweichlich
Shākyamuni Buddha, das ist ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“
Es
geht also nicht um abstrakte Idealisierungen von Buddha, sondern um den
befreiten Menschen, der praktisch lebt und lehrt. Die Wirklichkeit und das
Erwachen sind die große lebende Einheit vom Geist und von der Vielfalt der
Dinge und Phänomene sowie vom Handeln
Der
Buddha-Dharma ist also die lebende und wechselwirkende Einheit von Theorie und
Praxis und umfasst damit das Handeln und die Übungspraxis des Zazen. Diese
Weisheit ist unauflösbar mit Moral und Ethik verbunden. Sie betrifft die
Wirklichkeit und Wahrheit, so wie sie sind. Dabei wird nichts durch
Glaubens-Fantasien, Täuschungen und spekulatives Denken addiert, aber auch
nichts weggenommen, selektiert oder psychisch verdrängt. Diese Wechselwirkung
wird im Buddhismus mit einem klaren Spiegel verglichen, der alles reflektiert,
was vor ihm erscheint, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Es ist sicher
kein Geheimnis, dass die Flucht der Menschen vor der Wirklichkeit und Wahrheit
die Ursache vieler geistiger und psychischer Leiden ist. Wir erleben und beobachten
diese Täuschungen und Illusionen in der heutigen Zeit leider mindestens so viel
wie früher. Gautama Buddhas Lehre führt auch heute aus dem Kreislauf des
Leidens hinaus und öffnet uns für die ein heilsames Leben in der umfassende
Wirklichkeit.
Den
befreiten Buddha-Geist können wir daher nicht allein durch theoretisches Denken
erfassen, vor Allem nicht durch Dualismus, Pseudo-Ich, aufgeblasenem Ego und
nicht durch irreale Substanzen. Wie müssen ihn handelnd erfahren und
analysieren. Dabei führt uns das Streben nach der Wahrheit wie mit einem
Kompass auf den richtigen Weg. Dieser Geist ist viel mehr als das
intellektuelle Denken, denn er umfasst nach Dōgen auch die Wirklichkeit des
Bambus, der Berge, Flüsse, der Erde, der Sonne, des Mondes und der Sterne. Das
sind gerade Dinge und Phänomene, die wir meist nur als äußere Form und aus
materialistischer Sicht betrachten und verstehen. Aber das ist zu wenig. Der
Zen-Buddhismus lehrt ganz klar, dass wir lernen müssen, unsere dualen Vorstellungen,
Ideen und unser intellektuelles Denken von der Wirklichkeit des Geistes zu
unterscheiden und beides nicht zu verwechseln. Dōgen sagt daher:
„Wenn wir den Willen
(zur Wahrheit) niemals erweckt, das Praxis-Training niemals durchlaufen, den
Bodhi-Geist niemals (verwirklicht) und Nirvana niemals (erfahren) haben, dann
gibt es keinen Wahrheit vom ´Geist hier und jetzt ist Buddha´“.
Dieser Wille zur Wahrheit
muss nach Dogen in einem einzigen Augenblick oder in einem einzigen Atom des
Körpers da sein, damit er wirksam ist und sich der wahre Buddha-Geist voll
verwirklicht. Dieser ist also viel umfassender als die „Geist-Essenz“ des
Brahmanen Senika und die ähnlichen Lehrmeinungen der damaligen sogenannten
Meister im Süden von China.
Zusammengefasst: Der wahre Geist wird durch Handeln mit dem Willen zur Wahrheit und in lebendiger Wechselwirkung mit der Welt sowie mit heilsamer Ethik verwirklicht.
[i] Kap. 47, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 185 ff.: „Die
drei Welten der Ideen, der Formen und des Handelns sind der umfassende Geist (Sangai yuishin)“
[ii] Kap. 11, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“; Seggelke, Yudo J.:
Strahlende Zeit zum Handeln, S. 15 ff.
[iii] Kap. 17, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 152 ff.: „Die
Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke)“