Die Klöster Chinas lagen meist in den Bergen, wo es im Winter besonders bei Nordwind bitterkalt war und der Schnee oft einen Meter hoch lag. An warmen Tagen im Vorfrühling öffneten sich dann die ersten Knospen der Pflaumenblüten und verkündeten den kommenden milden Frühling oder besser gesagt, diese Blüten sind der Frühling selbst. Pflaumenblüten sind meist von weißer Reinheit und tragen gelbe Staubgefäße, aber auch in rötlichen Tönen kommen sie vor. Sie erscheinen auf den oft knorrigen Ästen, noch bevor die Blätter grünen. Wir können uns sehr gut vorstellen, wie die Schar der Mönche nach einem schweren kalten Winter die ersten Pflaumenblüten begrüßte und die Natur sich am Anfang des Jahres frisch und neu entfaltete. Das neue Jahr begann im chinesischen Kalender später als bei uns und manchmal blühten dann tatsächlich schon die Pflaumenbäume in der ersten warmen Tagen.
Meister
Dôgen liebte die Pflaumenblüten
außerordentlich. In diesem Kapitel kreisen seine Worte und sein Geist um ihre
Wirklichkeit, Schönheit und tiefe Wahrheit. Er beschreibt die verschiedenen
Bilder und die buddhistische Bedeutung. Am Anfang zitiert er seinen eigenen
Meister Tendô Nyojô, der auch ein
großer Freund der Pflaumenblüten war, mit diesem Gedicht:
„Tendôs erste Worte in der Mitte des
Winters,
Der knorrige alte Pflaumenbaum.
Plötzlich treibt er Knospen – eine Blüte, zwei Blüten,
Drei Blüten, vier, fünf Blüten – unzählige Blüten.
Sie können sich ihrer Reinheit nicht rühmen,
Und nicht stolz sein auf ihren Duft.
Sie erschaffen das Gesicht des Frühlings,
Und weben duftend durch die Gräser und Bäume.“
In
der zweiten Strophe des Gedichts wird geschildert, dass sich der Schnee nach
den Winterstürmen wie ein mit Drachen besticktes, schönes weißes Gewand auf die
Landschaft legt. Die Erde bedeckt sich mit Schnee: „Überall nur Schnee.“ In diesem Gedicht werden also der Schnee und
die Kälte des Winters dichterisch geschildert, aber es werdern auch und gerade die
zarten und reinen Pflaumenblüten besungen. Dôgens
Meister, der als Maler ein großer Könner des Pinsels war, schuf zu diesem Thema
wunderbare und kräftige Bilder. Hier wird die lebendige Einheit und Wechselwirkung der winterlichen Schneelandschaft mit den weißen
Blüten des Pflaumenbaums verkündet. Dôgen
sagt hierzu:
„Der Pflaumenbaum treibt plötzlich
Knospen und trägt dann seine Früchte, manchmal macht er den Frühling und
manchmal den Winter.“ Und weiter: „Seine geheimnisvolle plötzliche Verwandlung und seine unerklärlichen
Wunder kann niemand ermessen.“
Im
Buddha-Darma bedeuten die sich öffnenden Blüten häufig die sich entfaltende
Lehre und Praxis. Oft ist von den sich öffnenden fünf Blütenblättern die Rede
und auch die Pflaumenblüten besitzen fünf Blütenblätter. Gerade der die
natürliche Einheit und der Gegensatz eines alten knorrigen Pflaumenbaums mit
seinen zarten Blüten, die in großer Zahl aufgehen und blühen, ist von
bewegender Poesie. Sie bilden auch eine lebendige Einheit mit dem Leben der
Mönche in den Klöstern, also mit der menschlichen
Welt, mit dem Himmel und mit den Gebäuden des Klosters. Wenn die Knospen
auf dem Pflaumenbaum erblühen, öffnet sich der Buddha-Weisheit, Gautama Buddha und Meister Bodhidharma sind die Wirklichkeit und
Wahrheit in der Welt.
Dôgen zitiert ein weiteres Gedicht von Tendô
Nyojô:
„Gautama verliert seine (bisherigen)
Augen.
Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.
Noch sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen.
Und doch lachen die tanzenden Blüten im Wind des Frühlings.“
Der
Zen-Buddhismus möchte nicht in romantische Träume abgleiten, und schildert
daher auch die Dornen, als Probleme und Schwierigkeiten des Lebens, die nun
einmal im Leben auftreten. Das ist die Wirklichkeit. Auch in diesem Gedicht ist
daher von den Dornen die Rede. Damit wird von den zarten Blüten, dem knorrigen
Baum bis zu den Dornen ein großer Bogen gespannt, der das reale Leben umfasst
und widerspiegelt. Wenn man seine bisherigen Augen verliert, wie es in dem
Gedicht heißt, bedeutet dies, dass man die allzu gewöhnliche Sichtweise und das
bisher als wesentlich Erachtete hinter sich lässt. Dann öffnet sich die Welt
mit neuen erwachten Augen und Sinnen. Diese neuen Augen sind wie Pflaumenblüten
im Schnee vorher war nur Winter. Das ist Erleuchtung und Erwachen. Dôgen
spricht vom Dharma-Rad der Welt und des Lebensbezeichnet. Wir können die Blüten
als Dharma-Blüten tief und wirklich verstehen. Dôgen sagt dazu:
„Sogar der Himmel, die Erde, die Länder
und die Nationen sind voller Kraft und Lebendigkeit, weil sie durch dieses
Dharma-Rad bewegt werden.“
Er bedauert, dass es nur wenigen Menschen vergönnt war, seinen Lehrer Tendô Nyojô direkt zu erleben und ihn in
seiner Kraft von Angesicht zu Angesicht zu hören. Oder wie es im Zen heißt: Mit
den Augen zu hören. Leider starb er
bald, nachdem Dôgen aus China nach
Japan zurückgekehrt war. Dôgen
versteht es als außerordentliches Glück, dass er ihn persönlich kannte und es
ihm auch vergönnt war, jederzeit Zugang zu ihm zu haben. Zu jeder Tageszeit und
in der Nacht. Er hatte diese Freiheit, obgleich er doch aus dem fernen Land Japan
und nicht aus China gekommen sei. Er bedauerte, dass es nach dem Tod seines Meisters
im Reich der Song „noch finsterer
geworden sei als in einer mondlosen Nacht“.
Er
bezeichnet die Pflaumenblüte vor allem als das „Buddha-Auge“ und als „Schatzkammer
des wahren Dharma-Auges“. In seiner dichterischen Sprache gelingt es ihm,
poetische Bilder von großer Klarheit und Kraft in unserem Geist entstehen zu
lassen, so wie sein eigener Meister wunderbare Bilder mit dem Pinsel malte. Dôgen formuliert wie folgt:
„Deshalb gehören die unzähligen Blumen
alle zur Familie der Pflaumenblüten im Schnee: die himmlischen Blumen im Himmel
über uns, die himmlischen Blumen der Menschenwelt und die vielen anderen Blumen
in den grenzenlosen Ländern des ganzen Universums. Alle diese Blumen blühen,
weil ihnen die Güte und Wohltaten der Pflaumenblüten zukommen.“
Auch
in unserer Sprache sind der weiße Schnee und eine verschneite Berglandschaft in
ihrer Reinheit und Klarheit wirklich Poesie von tiefer ruhiger Kraft. Der
unberührte Schnee weckt in uns Menschen große und tief gehende Gefühle und
öffnet den Geist. Dies geht über das Empfinden der äußeren Form und Farbe
hinaus. Ein solch umfassendes Erleben der Schneelandschaft übersteigt
romantische, schwärmerische Bilder, die Dôgen
hier als „verschneiten Palast“
bezeichnet. Er setzt die Schneelandschaft mit den Augen Buddhas gleich. Die vielen tausend Augen des Bodhisattva des großen Mitgefühls (Avalokiteshvara) und sein tätiges Handeln für andere werden dabei
eingebunden. Eine nur materielle, an die äußere Form gebundene Schönheit ist gerade
nicht gemeint. Durch das ethische Handeln des Bodhisattva wird die höchste buddhistische Lebensphilosophie
einbezogen. Die Schneelandschaft ist Gautama Buddha und Gautama Buddha ist die
Schneelandschaft. Dôgen greift dann
die Formulierung „Überall nur Schnee“
aus dem eingangs zitierten Gedicht wieder auf und vertieft:
„Wenn es nicht ‚überall nur Schnee’
gäbe, könnte es im ganzen Universum keine Erde geben. Die harmonische
Vereinigung von innerer Tiefe und äußerer Form in diesem ‚überall nur Schnee’
ist das Auge des alten Gautama.“
Er
spricht vom wirklichen Augenblick im Hier und Jetzt. Dann kann man sagen, dass
die Blumen einfach hier im Jetzt so voll da sind, wie sie sind. Man kann nicht
sagen, dass sie wie Objekte entstehen und vergehen und getrennt von uns
aufblühen und verwelken, denn dies ist nicht das lebendige Erfahren und Erleben
im gegenwärtigen Augenblick. Es wäre Dualismus und damit leer von Wirklichkeit, Erleuchtung und Wahrheit. Das falsch verstandene Entstehen und Vergehen würde sich zudem in der
theoretischen linearen Zeit vollziehen, die gedacht und nicht unmittelbar
erfahren wird. Das ist pervertierte Wechselwirkung. Dôgen spricht in diesem Sinne von der
einzigartigen und unübertrefflichen Wahrheit des „Nicht-Erscheinens“ getrennter Objekte und Dinge des Dualismus. Er spricht also von Befreiung und tiefer Wahrheit. Tendô Nyojô sagt dazu schlicht:„Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.“
Genau
und je im Augenblick gibt es die Wirklichkeit und Wahrheit, die durch die
Pflaumenblüten im Schnee poetisch beschrieben
werden. Das ganze Universum und das konkrete Hier und Jetzt der Pflaumenblüten
sind die Wahrheit, und dies sind die Augen von Gautama Buddha. Es ist also die Wirklichkeit jenseits des verengten
unterscheidenden dualen Denkens und jenseits der vordergründigen Wahrnehmung,
die von Dôgen durch die berühmten
Worte Bodhidharmas beschrieben wird:
„Ursprünglich kam ich in dieses Land,
Um den Dharma weiterzugeben und alle
Lebewesen von Ihren Täuschungen zu befreien.
Eine Blüte öffnet ihre fünf
Blütenblätter.
Und ihre Früchte reifen von selbst auf
natürliche Weise.“
Hier
gibt es eine direkte Verbindung mit den Pflaumenblüten, weil diese ebenfalls
fünf Blütenblätter haben. Wir können uns in der Tat viele fantasievolle,
romantische Gedanken und Vorstellungen darüber ausdenken, warum Bodhidharma von Indien nach China ging.
In der Zen-Literatur heißt es, „warum er
aus dem Westen kam“ und in den Osten nach China ging. Unabhängig von
solchen theoretischen Fantasien sind die Pflaumenblüten im Hier und Jetzt die
ganze Wirklichkeit. Durch die wahre Buddha-Lehre, die Bodhidharma mit der Zazen-Praxis nach China brachte, war es
möglich, die Natur unverfälscht und ohne spekulative Übertreibungen zu erleben
und zu erfahren. Dies bezeichnet Dôgen
als
„Hier-Wahrheit der Pflaumenblüten, die
ins Jetzt gekommen ist. Da das Jetzt in dieser Weise wirklich ist, spricht
(Tendô) von einem Ort, der beschwerlich und voller Dornen ist.“
Durch
die Erwähnung der Dornen und der Beschwerlichkeiten des Lebens wird der direkte
Bezug zur Wirklichkeit hergestellt, die wir keineswegs ohne Schwierigkeiten und
Hindernisse erleben. Süßliche Romantik ist dem Zen völlig fremd. Ein
Pflaumenbaum hat knorrige alte Äste und frische junge Triebe, wie das Leben
selbst. Die Pflaumenblüten haben also eine innere tief-spirituelle Wahrheit und
eine äußere Form. Wenn man einen einzelnen Pflaumenzweig wirklich sieht, so
gibt es nur diesen einen Zweig, also diese wunderbare Einheit. Eine theoretische
Verallgemeinerung auf alle Pflaumenzweige, auf die jeweilige Landschaft und der
Bezug zum Buddha-Dharma sind etwas anderes als das konkrete Hier-Sein dieses
einen Zweiges. Dies ist die konkrete Betrachtung der Form. Aber eine solche
Hier-und-Jetzt Wahrheit ist mehr als nur die äußere Form der materiellen
Sichtweise, denn sie offenbart die Wirklichkeit selbst in ihrer ganzen
Schönheit, so wie sie ist. Sie ist wunderbar und ein Kunstwerk.
Dies
ist die Lebensphilosophie der Wirklichkeit und Wahrheit, die seit Gautama Buddha von einem authentischen
Meister zum anderen übertragen wurde. Der Buddha-Darma hat sich in China
entfaltet – wie die fünf sich öffnenden Blätter der Pflaumenblüte. Dôgen mahnt uns jedoch, die fünf
Blütenblätter nicht zu vordergründig als die fünf großen Vorfahren im Dharma nur
von China selbst zu verstehen. Dies sei deswegen nicht möglich, weil sich die
fünf Blütenblätter nicht nur auf diese fünf Meister beziehen können, sondern
die ganze Welt und das ganze Universum umfassen. Er zitiert dazu seinen eigenen
Meister:
„Ein Neujahrsmorgen ist der Anfang des Glücks.
Die zehntausend Dinge sind alle neu und
frisch.
Sehr verehrte anwesende Mönche.
Der Pflaumenbaum ist der erste
Frühling.“
Dieses
Gedicht bedeutet die Befreiung des Menschen durch die Buddha-Weisheit. Der
blühende Pflaumenzweig beschreibt die klare Schönheit und Frische des ganz
neuen Lebens, das uns dadurch wirklich eröffnet wird. Dôgen klärt, wie wir dem Buddha
wirklich begegnen können und in lebendige Wechselwirkung des Erwachens hinein
wachsen. Diese Begegnung wird poetisch durch die Pflaumenblüten beschrieben und
spiegelt sich in einer Zeile des Gedichts von Meister Tendô Nyojô wider: „Der
Frühling ist in den Pflaumenzweigen, bedeckt von der Kälte des Schnees.“
In
jedem Menschen lebt trotz der äußeren Kälte der wahre Frühling, der die
wunderbare Schönheit und Reinheit einer Pflaumenblüte hat. Das ganzheitliche
Erleben mit Körper und Geist eröffnet den Zugang zu dieser feinen Schönheit und
Befreiung. Der wahre Buddha-Dharma wird in der direkten Begegnung von einem
Meister auf den anderen, also von Angesicht zu Angesicht, ganzheitlich übertragen.
In einer solchen Begegnung „sieht man
Buddha nicht nur mit den Augen“, sondern erfährt, erforscht und erlebt die
Begegnung direkt und unmittelbar. Der Frühling ist in den Pflaumenblüten und „der Frühling ist jenseits der Welt (der
gewöhnlichen) Menschen“.
Dôgen preist die große Fähigkeit seines Meisters, den Zweig der
Pflaumenblüten in einem Bild von großer Tiefe und Klarheit zu malen:
„Der Frühling ist in den
Pflaumenblüten,
Und er ist in das Bild gegangen.“
Die
Formulierung „in das Bild gegangen“
wiederholt Dôgen auch an anderer
Stelle im Shôbôgenzô und meint damit,
dass Bild und Wirklichkeit zusammen sind
und eine untrennbare Einheit bilden. So spricht er auch davon, dass der „Bambus in das Bild“ gekommen ist. Im
wahren Kunstwerk lebt daher die große Wirklichkeit, es ist nicht nur seine Form
und Farbe. Wenn die wunderbare Wirklichkeit in das Bild geht, ist dieses vollkommen
und es muss nichts mehr hinzugesetzt werden und es kann nichts weggenommen
werden. Dôgen sagt sein Meister mit
der Poesie des Pflaumenzweiges den Kern und die Fülle der Lehre Gautama Buddhas erfasst und erfahren hat und dass er die große „Klarheit durch die Pflaumenblüten erlangt“
habe.
Man
kann aber die Wirklichkeit und Schönheit der Pflaumenblüten nicht erfahren,
wenn man von den Dämonen des eigenen Ich
beherrscht wird. Man muss sich dann unbedingt aus diesen Klauen befreien und
sich mit den Pflaumenblüten verbinden. Ihre Reinheit und Schönheit bewirken
dann die Befreiung vom Egoismus und von den Dämonen des Ich-Stolzes. Die
Pflaumenblüten sind die Augen Gautama
Buddhas und damit die tiefen Lehre
und Praxis des Buddha-Wahrheit.
Dôgen zitiert einen alten Mönch und Meister:
„Ich erinnere mich an meine Zeit vor
dem Erwachen.
Damals klang jeder Ton des großen
bemalten Horns so traurig.
Jetzt habe ich keine sinnlosen Träume
mehr auf meinem Kissen
Und überlasse die Pflaumenblüten den
schwachen oder starken Winden.“
Damit wird die Harmonie, das Gleichgewicht und zusammenwirken des Menschen mit der Natur poetisch und kraftvoll ausgedrückt. Kein egoistisches Bestreben und keine Gier belastetmuns und verengt unser Leben. Die Pflaumenblüten bedeuten die umfassende reine und schöne Natur, der man ohne Trennung von dem Selbst begegnet und mit der man eine lebende Einheit ist. Das große Erwachen wird genau durch die Pflaumenblüten beschrieben. Es gibt keine Trennung von Subjekt und Objekt. Die starken oder schwachen Winde des Lebens wehen bei uns, ohne zu stören und ohne uns Angst machen. Wir lassen dann die Pflaumenblüten im starken oder schwachen Wind tanzen, so wie es kommt. So wie sie tanzen!