Dienstag, 30. August 2022

Das verwirklichte Leben und Universum im Zen

Was sagt nun Zen-Meister Dōgen über die Wirklichkeit und die fundamentalen Eckpunkte der buddhistischen Lehre und Praxis? Wie beschreibt er den wahren Befreiungsweg? In der Fachwelt wird das Kapitel Genjō-kōan, das dritte im Shōbōgenzō, mit seinen Kernaussagen zur Verwirklichung eines erfüllten und befreiten Lebens hoch geschätzt.[i] Ich folge dieser Ansicht und möchte es daher dem ersten Kapitel des MMK gegenüberstellen.

Die wörtliche Übersetzung des japanischen Titels Genjō-kōan lautet „das verwirklichte Gesetz der Welt oder des Universums“, was Buddha-Lehre oder Buddha-Dharma bedeutet. Durch die Verwirklichung kommt es zu einer Ganzheit von diesem Gesetz und dem wahren Leben in dieser Welt, sodass sich die ganze Wirklichkeit voll entfaltet.

Was sagt uns Dōgen, im Einklang mit Buddha  in der vollen Tiefe der Bedeutung von Genjō-kōan? Antwort: Dies ist das wahre Gesetz des Menschen,  des Lebens und der Natur! Und wie lautet dieses Gesetz? Die Natur und unser Leben werden geprägt durch das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, ohne Extreme! Wo wurde dieses Lebens-Gesetz von uns in neuer Zeit nachhaltig verletzt? Bei den Ökosysteme unsere Erde mit der Folge der Klima-Katstrophen, der Ausbeutung der Natur und der Isolation des Menschen. Wodurch kam das?  Durch das aus dem Ruder geratene Ego, durch Machtgier, Geldgier, Ruhmgier, Hass und den völlig übertriebenen Individualismus! Das musste in die soziale Isolation für viele Menschen führen. Wir hätten rechtzeitig auf Buddha hören sollen! 

Wie funktionieren Geist und Gehirn wirklich?  Mit Modularität und Plastizität, also veränderlich, lernfähig und im Gleichgewicht. Wie von Buddha und Dōgen gelehrt. Das westlicher Menschenbild war zu statisch und dogmatisch, wie Buddha wusste und die Gehirnforschung heute weiß. Wir sollten umlernen und unser Leben aus einer stabilen Mitte heraus umgestalten! Dann werden wir mit mehr innerer Sicherheit, größerem Glück und mit mehr Freude leben.

Auf dem Buddha-Weg ist es wichtig, dass wir uns sowohl der Vielfalt der Welt als auch der umfassenden Lehre des Dharma anvertrauen und nicht durch unnötigen Aktionismus versuchen, die Erleuchtung und Verwirklichung der Wahrheit mit Gewalt und zum eigenen egoistischen Vorteil zu erreichen. Dies geht auch aus Buddhas Ausführungen über die Hemmnisse des Erwachens hervor. Aber ohne stete Bemühung geht es natürlich nicht. Die Täuschungen, die im ersten Satz des folgenden Dōgen-Zitates angesprochen werden, sollten wir so klar wie möglich erkennen und sie nicht selbst weiter verstärken und fortsetzen. Dadurch würden wir uns immer weiter vom Dharma, also von dem wahren Gesetz der Welt, entfernen, denn es geht im Buddhismus um die Transformation der menschlichen Persönlichkeit.

Auch Nāgārjunas großes Anliegen ist es, solche Täuschungen und Ideologien auszuschalten. Selbst mit äußerst geschärften Sinnen, also dem ganzen Sein von Körper und Geist, ist es unmöglich, die Wirklichkeit und Wahrheit dieser Welt vollständig zu erkennen. Eine darauf sich stützende Erfahrung offenbart immer nur eine begrenzte Sicht, ist blind für andere Seiten und führt leider oft zu Ideologien und sogar Fanatismus.

Im Folgenden möchte ich den ersten zentralen Absatz von Dōgens Kapitel genauer untersuchen. Dabei wende ich die von Nishijima Roshi entwickelte Interpretation des Inhalts an, die meines Erachtens sehr stimmig ist. Denn sonst besteht die Gefahr, sich in Widersprüche zu verstricken. Widersprüchlichkeit lehnte Dōgen selbst entschieden ab. Er sagte, dass die Lehre des Buddhismus gerade im Zen niemals unlogisch, paradox und gegen die Vernunft sei – wer das behaupte, habe den Zen-Buddhismus überhaupt nicht verstanden.

„(1) Wenn alle Dharmas (also Dinge und Phänomene, nur) als Buddha-Lehre (Idealismus) verstanden werden, dann gibt es Täuschung und Verwirklichung, gibt es Praxis, gibt es Leben und Tod und gibt es Buddhas und gewöhnliche Wesen.

(2) Wenn die unzähligen Dharmas nicht vom Selbst (Materialismus, ohne denkendes Subjekt) sind, gibt es keine Täuschung und keine Verwirklichung, keine Buddhas, keine (gewöhnlichen) Wesen und kein Leben und keinen Tod (Materie gibt es jedoch immer).

(3) Die Wahrheit des Buddhas übersteigt aber ursprünglich Überfluss und Knappheit (Bewertungen), und daher gibt es (wirklich) Leben und Tod, gibt es Täuschung und Verwirklichung, und daher gibt es (gewöhnliche) Wesen und Buddhas.

(4) Und obgleich dies so ist, fallen nur die Blüten, während sie geliebt werden, und gedeiht das Unkraut, während es ungeliebt ist (und bekämpft wird).“

Aber der Erwachte lebt sein Leben im Gleichgewicht hier und jetzt, er hat das Leiden überwunden und erfährt tiefes Glück.

Zweifellos gehören diese Sätze zum Kern der zenbuddhistischen Lehre, werden aber nicht selten missverstanden oder als unverständlich beiseitegeschoben. Beim genauen Lesen können wir erkennen, dass in diesem Abschnitt verschiedene Sichtweisen oder besser gesagt Lebensphilosophien dargestellt werden.

Im ersten Satz wird ausgedrückt, dass zwischen Täuschung und Verwirklichung, zwischen Praxis und Handeln, zwischen Leben und Tod und zwischen Buddhas und gewöhnlichen Menschen unterschieden wird, wenn die Welt und das Leben auf der Grundlage einer vorgestellten idealistischen Methode des Denkens verstanden werden. Zu diesem Denken und diesen Ideen gehören auch die Theorie und Lehre des Buddha-Dharma. Dem liegt meistens die Vorstellung eines isolierten, denkenden Ich zugrunde. Ich möchte hier an den ersten und dritten Vers des MMK erinnern, in denen ein isoliertes unveränderliches Ich klar falsifiziert wird.

Im zweiten Satz wird dagegen eine ganz andere Grundlage und Methode des Denkens gewählt. Es handelt sich hier um den materialistischen Standpunkt, der durch die Formulierung „wenn die unzähligen Dharmas alle nicht vom Selbst sind“ gekennzeichnet ist. Das heißt, dass kein subjektives Denken besteht und scheinbar die objektive Welt erkannt wird. Dann gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Täuschung und Verwirklichung, Buddhas und gewöhnlichen Menschen oder Leben und Tod. Mit anderen Worten: Die Bedeutungen dieser Begriffe und Gedanken können dann gar nicht erkannt und verstanden werden, denn aus materialistischer Sicht kann man zum Beispiel nicht von Täuschung oder Verwirklichung und von Buddhas oder gewöhnlichen Menschen sprechen. Die materielle Sicht erkennt nur das wahrgenommene Äußere an und kennt keine spirituellen oder geistigen Inhalte.

Die materielle Sichtweise entspricht weitgehend dem Verständnis der westlichen Naturwissenschaft und Technik. Allerdings ist bekannt, dass Albert Einstein, der wohl größte Physiker des vergangenen Jahrhunderts, ein religiöser Mensch war und die Grenzen eines materiellen Verständnisses der Welt klar erkannt, formuliert und überwunden hat. Für die ebenfalls überragenden Physiker, Max Planck und Werner Heisenberg, gilt Ähnliches. Wir können daher feststellen, dass ein rein materialistisches Weltbild auch in der modernen Naturwissenschaft seit mehr als einem Jahrhundert überholt ist. Naturwissenschaft kann immer nur eine Teilwirklichkeit erforschen. Auch der Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann erklärte, dass die Welt von unendlicher Komplexität sei und mahnt uns damit zur geistigen Bescheidenheit. Ein rein materielles Weltbild muss daher in der Tat als naiv und oberflächlich bezeichnet werden. Ein glückliches Leben ist im Materialismus nicht zu erreichen.

Der erste und zweite Satz im obigen Zitat geben demnach die Weltanschauungen und Sichtweisen des subjektbezogenen Idealismus und des objektbezogenen Materialismus wieder. Beide fallen in die Gruppe intellektueller, verstandesmäßiger Philosophien der Teilwahrheiten und werden auch von Nāgārjuna eindeutig abgelehnt. Sie sind etwas grundsätzlich anderes als die praktischen, unmittelbaren und daher wahren Dimensionen der Wirklichkeit, die Gegenstand des dritten und vierten Satzes sind.

Im dritten Satz wird die umfassende Buddha-Wahrheit beschrieben und die Lebenspraxis dargestellt, die über Theorie, intellektuelles Denken und Bewertungen hinausgeht. Sie ist die wahre Wirklichkeit, die uns Befreiung geben kann.

Im vierten Satz sagt Dōgen, dass wir nicht in einer idealen Welt wie in einem Paradies oder im Nirvāna leben, sondern dass wir es mit fallenden Blüten und wucherndem Unkraut zu tun haben, aber dass wir uns davon nicht entmutigen lassen sollen, da wir im Besitz der Buddha-Wahrheit und der Übungspraxis sind. An den Blüten können wir uns erfreuen, solange sie blühen: im Hier und Jetzt. Und Unkraut müssen wir bekämpfen, um nicht Hunger zu leiden.

Mit diesen Formulierungen werden keine starren Ding-Einheiten oder Entitäten, sondern Abläufe, Vorgänge und Prozesse beschrieben, so wie sie in der Wirklichkeit geschehen. Dōgen betont an anderer Stelle, dass insbesondere unsere Vorstellungen und vor allem unsere Bewertungen oft statisch und dauerhaft sind und dass wir diese häufig mit der Wirklichkeit verwechseln. Wenn wir das erkennen und im Leben verwirklichen, erwachen wir im Sinne von Gautama Buddha.

Dann geht Dōgen auf das für ihn so wichtige Handeln des Menschen ein und erklärt, dass wir uns bei Zielen, die dem Eigennutz dienen, selbst in Täuschungen und Illusionen verfangen. Wenn dagegen die zehntausend Dharmas dieser Welt uns aktiv und in Wechselwirkung zum Tun und Handeln bringen, wir also ohne Gier nach Ruhm oder Profit und ohne Neid so handeln, wie es die Situation erfordert, ist dies Erwachen. Dies sind auch Kernaussagen zur richtigen Zazen-Praxis, die nicht mit der Gier nach Erleuchtung, also fragwürdigen Konzepten und Ideologien, belastet und verzerrt werden darf. Anschließend erläutert Dōgen den Weg der Wahrheit wie folgt:

„Buddhas Wahrheit zu erlernen bedeutet, uns selbst zu erlernen. Uns selbst zu erlernen bedeutet, uns zu vergessen. Uns zu vergessen bedeutet, von den vielen, vielen Dharmas der Wahrheit erfahren zu werden. Von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden bedeutet, unseren eigenen Körper und (denkenden) Geist und den Körper und Geist der äußeren Welt fallen zu lassen.“

Wir müssen uns also auf dem Buddha-Weg von vorgefassten, eingefahrenen und erstarrten Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen befreien, um offen für eine neue Entwicklung und Wahrheit zu sein. Dabei ist es notwendig, sich für die Vielfalt der Welt zu öffnen und sie zu erfahren. Weiterhin ist es wesentlich, sich von der Fixierung auf den subjektiven Körper und den subjektiv denkenden Geist, also dem vorgestellten Ich, zu befreien und, wie Dōgen sagt, „Körper und (denkenden) Geist fallen zu lassen“. Wir können uns also nur dann wirklich selbst erkennen, wenn wir unser altes Ich vergessen: „Zen-Geist ist Anfänger-Geist“, nannte das Meister Shunryu Suzuki.

Wir müssen auch die sogenannte objektive Welt des Äußeren und des Körpers sowie den eigenen ruhelosen Geist „fallen lassen“. Im Sinne von Nishijima Roshi bedeutet dies nichts anderes, als sich von den Lebensphilosophien und Lebensdimensionen des einseitigen Idealismus oder Materialismus zu trennen und sich von den damit verbundenen beengten Vorstellungen und erstarrten Gedankenkonstrukten zu befreien. Solche Erstarrungen der buddhistischen Lehre möchte auch Nāgārjuna im MMK identifizieren und falsifizieren.

Die meisten Menschen haben eine mehr oder minder feste Vorstellung von einem unveränderlichen eigenen Ich oder Selbst, das sich zwar im Lauf des Lebens in gewissem Umfang äußerlich verändert und vielleicht auch weiterentwickelt, das aber doch einen konstanten Ich-Kern besitzt. Gautama Buddha hat in aller Klarheit darauf hingewiesen, dass dies ein Irrtum und eine uns vielleicht lieb gewordene Illusion ist und unsere Weiterentwicklung und Befreiung verhindert.

Dōgen erläutert diesen Zusammenhang durch ein Gleichnis: Wenn man in einem Boot sitzt, auf dem Meer fährt und dabei nur das ferne Ufer und Land beobachtet, denkt man, dass man selbst unverändert an einer Stelle auf dem Meer sitzt und sich das Land, also die Außenwelt, bewegt. In diesem Sinne glauben wir an ein feststehendes und dauerhaftes Ich. Wenn wir im Boot jedoch nach unten schauen, also die Bootskante und direkt das durchfahrene Wasser ansehen, stellen wir fest, dass wir uns selbst bewegen und das Land und die Küste ruhig daliegen. In ähnlicher Weise ist es Meister Dōgen zufolge ein grundsätzliches Missverständnis, dass der Körper und denkende Geist, also das Ich, dauerhaft und unvergänglich sind und sich nur die Umgebung verändert oder – zum Beispiel aus ideologischer Perspektive – verändern muss. Wenn wir dagegen die Illusion eines statischen und „dinghaften“ Ich aufgeben und das Handeln im Augenblick in den Mittelpunkt unseres Lebens stellen, können wir unmittelbar in der Wirklichkeit und Wahrheit leben. Darin sind sich Buddha, Nāgārjuna und Dōgen einig.

In einem weiteren Gleichnis bittet uns Dōgen, unter Berücksichtigung der Wechselwirkung die verschiedenen Dinge, Phänomene und Zustände in dieser Welt ganz genau und im Detail zu beobachten: Wenn das Feuerholz zu Asche verbrannt ist, sind Feuerholz und Asche zwei verschiedene Zustände, die im Hier und Jetzt jeweils unabhängig voneinander da sind, obgleich wir sie durch unser Denkvermögen meistens unbemerkt und automatisch verbinden. Diese Verbindung darf unseren Geist aber nicht blind für die Gegenwart machen, denn sie ist in der jetzigen Wirklichkeit nicht zu beobachten, sondern nur in der Vorstellung vorhanden. Dies ergibt wiederum die Anfälligkeit für Ideologien und Scheinursachen. In der Wirklichkeit kann sich die Asche niemals wieder zurück in das Feuerholz verwandeln. Das Feuerholz und die Asche haben damit je ihren eigenen Platz in der Welt und im Dharma. Sie sind nicht total gleich und nicht total verschieden.

Ähnlich ist es beim Menschen: Das Leben und der Tod sind jeweils eigenständig, und nach dem Tod kann sich das Leben nicht wieder in sich zurückverwandeln. In der wahren Sichtweise des kurzen Augenblicks bei Prozessen der Gegenwart gibt es damit eigentlich kein Entstehen und Vergehen, aber es gibt den so wichtigen Impuls zu Veränderungen, zur Suche nach der Wahrheit und zur Freiheit. Die Umstände existieren je für sich und offenbaren dann den wahren Dharma und die Wahrheit. Für einen solchen Zustand der Wahrheit oder Erleuchtung verwendet Dōgen das im Buddhismus häufige Bild des Mondes:

„Ein Mensch, der Verwirklichung erlangt, ist wie der Mond, der sich im Wasser spiegelt und verweilt: Der Mond wird nicht nass, und das Wasser wird nicht zerteilt. Obgleich das Licht (des Mondes) weit und groß ist, verweilt es in einer (kleinen) Fläche von einem Fuß oder einigen Zentimetern (der Breite und Länge). Der ganze Mond und der ganze Himmel verweilen sich in einem Tautropfen auf einem Grashalm und in einem einzigen Wassertropfen.“

Dieses poetische Bild des sich spiegelnden und verweilenden Mondes macht deutlich, dass es in der Wirklichkeit keine gegenseitigen Behinderungen, Einengungen oder Verkrampfungen gibt, sondern wahre Wechselwirkungen.

Am Beispiel der Fische im Wasser und der Vögel in der Luft erläutert Dōgen dann, dass jedes Lebewesen seinen eigenen Platz, seinen Lebensraum, sein Handeln, seine Verwirklichung und seine Wahrheit in der Welt hat. Wenn ein Fisch das Wasser verlässt, also falsch handelt, muss er sterben, und wenn ein Vogel vom Himmel auf die Erde herunterfällt, stirbt er ebenfalls. Wenn der Fisch und der Vogel in ihrem angestammten Element leben und handeln, haben sie ihren richtigen Platz in der Welt und im Dharma.

Schon Gautama Buddha wies darauf hin, wie vielfältig die jeweiligen Sichtweisen in der Welt sind: Der Ozean ist für die Fische ein Palast, für die Götter eine Perlenkette. Der Buddha-Weg bedeutet, dass wir aus dem Staub und Dunst des sogenannten normalen Lebens hinaustreten, sodass die üblichen räumlichen oder psychischen Grenzen und Hindernisse nicht mehr bestehen. Dōgen sagt weiter:

„So können wir das Wasser als Leben verstehen und den Himmel als Leben verstehen. Vögel sind Leben, und Fische sind Leben. Es mag wohl sein, dass Vögel und Fische Leben sind. Und jenseits dessen mag es immer noch eine Weiterentwicklung geben. Genau so ist es mit unserer Praxis-und-Erfahrung, mit (unserer) Lebenszeit und unserem Leben.“

Wenn wir so unseren Platz finden, ist dieses Handeln ohne jeden Zweifel die Welt und das Universum selbst. Weiter heißt es:

„Wenn ein Mensch in diesem Zustand Buddhas Wahrheit praktiziert und erfährt, erlangt er einen Dharma und durchdringt einen Dharma, und er begegnet dem Handeln und vollzieht das Handeln. In diesem Zustand existiert der Ort und wird der Weg gemeistert, und daher ist der zu erkennende Bereich nicht (unbedingt für den verengten Verstand) offensichtlich.“

Am Ende dieses wichtigen Kapitels gibt Dōgen eine Kōan-Geschichte wieder: Ein Meister fächelt sich zur Kühlung Luft zu, weil es heiß ist, als ein Mönch vorbeikommt und offensichtlich eine intelligente Bemerkung anbringen will: Er sagt, die Luft habe die allgemeine Eigenschaft, überall anwesend zu sein. Das ist philosophisch betrachtet eine ontologische Aussage. Aber welche Relevanz hat sie in dieser konkreten Situation? Dem Meister ist sofort klar, dass der Mönch abstrakten allgemeinen Gedankengängen verhaftet und nicht offen für das praktische und konkrete Hier und Jetzt ist. Er ist sicher tief von seiner eigenen großartigen Intelligenz und seinem Wissen über die Buddha-Lehre überzeugt und glaubt, dass sein Denken und Reden ihn schon nahe an die wunderbaren Früchte der Erleuchtung herangeführt hätten, die Früchte, die er schon fast greifen könnte. Dazu sucht er die Bestätigung durch den Meister. Aber er unterliegt einem großen Irrtum. Auf die folgende Frage dieses Mönchs, warum sich der Meister denn die Luft zufächle, antwortet dieser daher einfach, es gebe in der Tat keinen Ort in der Welt, an dem keine Luft vorhanden sei – inhaltlich also genau die gleiche ontologische Aussage, die der Mönch vorher verkündet hatte. Durch diese eigentlich logisch überflüssige Wiederholung wird dem Mönch jedoch schlagartig klar, dass allgemeine theoretische Kenntnisse auch der Buddha-Lehre und angelernte sogenannte Weisheiten etwas ganz anderes als die Wirklichkeit selbst sind, die man unmittelbar erlebt und erfährt. Wenn einem zu heiß ist, kann man sich durch den Fächer direkt Kühlung verschaffen und erfährt direkt die kühlende Luft, und das genau ist die Wirklichkeit. Daher setzt der Meister die Unterhaltung mit dem Mönch nicht fort, sondern fächelt sich einfach weiter die kühlende Luft zu. Durch dieses Handeln des Meisters gelangt der Mönch von allgemeinen und abstrakten Ideen und seinem angelernten Wissen unmittelbar zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt, es fällt ihm wie Schuppen von den Augen und vom Geist: Sein Körper-und-Geist erfahren eine ganz neue, frische Kraft. Dies ist das verwirklichte Leben und Universum – über Ideen, Ideologien und materielle Dinge hinaus.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 57ff.

Montag, 1. August 2022

Die acht Wahrheiten eines wirklich großen Menschen

Für Zen-Meister Dōgen ist der Wille zur Wahrheit im menschlichen Leben von zentraler Bedeutung für den Weg aus dem Leiden zur Klarheit und zum Erwachen. Es geht in seinem fulminanten Werk Shōbōgenzō dabei um eine klare und ganz praktische Wahrheit im Gegensatz zu Täuschung und Dumpfheit, aber nicht um abstrakte und metaphysische Theorien der absoluten Wahrheit. Es werden auch kein extremer Idealismus und keine unerfüllbaren ethischen Forderungen beschrieben: Dōgen schöpft aus seiner umfassenden Lebenserfahrung, die er auch auf seiner Chinareise sammeln und für die Nachwelt übermitteln konnte. Dabei gibt es eine Beziehung zu den Themen der Präambel zum Mittleren Weges, MMK. Wie er diese aufgreift und weiterführt, soll im Folgenden anhand von Dōgens Kapitel „Die acht Wahrheiten eines wirklich großen Menschen“ aufgezeigt werden. Das MMK steht vor allem für Nāgārjunas unverrückbaren Willen, den authentischen Buddhismus wieder aus sektiererischen Fehlentwicklungen herauszuarbeiten. Das ist auch Dōgens zentrales Anliegen etwa eintausend Jahre später im Zen-Buddhismus Japans. Es geht vor allem darum, übertriebenen und sogar extremen Idealismus zu überwinden, weil er von den Leiden und der Befreiung der Wirklichkeit hier und jetzt wegführt und in philosophische Höhen abgleitet. Diese Höhen sind dann nur noch von Spezialisten zu verstehen.

Nach der Überlieferung lehrte Gautama Buddha kurz vor seinem Tod die acht Wahrheiten eines wirklich großen Menschen, also eines Buddhas oder eines Bodhisattva. Sie sind eine Zusammenfassung der Weisheit des Mittleren Weges. Im letzten Kapitel des Shōbōgenzō, das Dōgen niederschrieb, als er schon schwerkrank und vom Tode gezeichnet war, sind die acht Wahrheiten ebenfalls das Thema.

Diese letzte Lehrrede („Hachi-dainingaku“) fasst die wichtigsten Regeln für ein wahres buddhistisches Leben recht einfach und praxisorientiert zusammen.[i] Die Regeln sind keine Dogmen, sondern ähnlich wie die Bodhisattva-Gelöbnisse als Hilfe für unser tägliches Leben zu verstehen. Sie zeugen vom Realitätssinn des Mittleren Weges und von der konsequenten Vermeidung von idealisierten und dogmatisierten Übertreibungen und Extremen im Zen. Sie beinhalten keine Extrem-Aussagen und moralisch überzogenen Forderungen, die auch manchen Traditionen des Buddhismus leider nicht fremd sind, aber bei Buddha nicht vorkommen. Mit solchen Doktrinen kann man das Leiden nicht überwinden und keine Erleuchtung erlangen, sondern hemmt durch Angst und Negativität die eigene Entwicklung und Emanzipation.

Dōgen schreibt am Anfang seines Kapitels, dass man den ruhigen und ausgeglichenen Lebenszustand erreicht, wenn man diese acht Wahrheiten verwirklicht. Dabei verwendet er wie Nāgārjuna den Ausdruck „zur Ruhe kommen“. Er spricht davon, dass man in das Nirvāna eingeht und meint damit vor allem den Zustand des Gleichgewichts und der Befreiung im Hier und Jetzt. Im Folgenden werden die acht Wahrheiten dargestellt und kurz erläutert.

Geringe Begierde haben: Diese Regel beinhaltet, dass wir nicht Dingen nachjagen sollen, die wir noch nicht besitzen, aber unbedingt haben wollen. Dazu gehören vor allem die Objekte der Begierden, die durch die Wahrnehmung mit den fünf Sinnesorganen – den Augen, Ohren, der Nase, Zunge und Haut – hervorgerufen und angestachelt werden. Dōgen zitiert hierzu Buddha, der warnte, dass das Leiden grenzenlos ist, wenn wir diesen Begierden hemmungslos, extrem und unkontrolliert nachgeben. Hat man sie jedoch „im Griff“, kann sie steuern und hält sie klein, befreit man sich von ihrer Dominanz und damit auch vom Leiden. Solche Menschen schmeicheln auch nicht um des eigenen Vorteils willen und kriechen nicht vor denjenigen, von denen sie die Objekte der Begierden erhalten möchten. Nur auf diese Weise seien wir ohne Sorgen und Furcht, haben umfassende Freiheit und großen Spielraum im eigenen Leben und sind zufrieden. Allerdings sagt Dōgen nicht, dass wir alles Wollen und Wünschen asketisch unterdrücken sollen, denn das würde dem Mittleren Weg widersprechen und nicht zur Erleuchtung führen, wie Buddha selbst erfahren hatte.

Erkennen der Zufriedenheit mit dem, was man hat :Hier wird vor allem die Fähigkeit angesprochen, mit den Dingen, die wir besitzen, und unseren Lebensumständen zufrieden zu sein und nicht immer Extremen nachzujagen. Wenn wir eine solche Zufriedenheit klar erkennen, dann überwinden wir die verschiedenartigen Leiden in unserem Leben und erleben einen Ort des Reichtums, der Freude und des Friedens. Kennen wir eine solche Zufriedenheit jedoch nicht, könnten wir sogar an einem himmlischen Ort leben und wären trotzdem ständig unzufrieden, frustriert und wollten immer noch mehr. Neid und Missgunst sind die Feinde der Zufriedenheit und schaden uns selbst am meisten. Dōgen zitiert dazu Buddha: „Jene Menschen, die die Zufriedenheit nicht kennen, sind arm, selbst wenn sie reich sind, und jene, die die Zufriedenheit kennen, sind reich, selbst wenn sie arm sind. Jene, die die Zufriedenheit nicht kennen, werden ununterbrochen von den fünf Begierden gesteuert.“

Freude an der Stille haben: Wir sollten uns von lärmenden, unruhigen Gruppen und Veranstaltungen fernhalten und einen ruhigen Ort suchen. Das ist in der heutigen hektischen Zeit – auch angesichts des extremen Unterhaltungsangebots der Massenmedien – besonders wichtig. Viele empfinden in der Abgeschiedenheit große Langeweile, aber der dauernde exaltierte Trubel ist sicher der falsche Weg für ein Leben im Gleichgewicht. Buddha vergleicht diese Situation mit einem Schwarm von Vögeln, die auf einem Baum sitzen und ständig in großen Sorgen und Ängsten sind, dass dieser zusammenbricht und umfällt, obgleich er leicht die auf ihm sitzenden Vögel tragen kann. Außerdem sagt er: „(Jene), die an die Welt gefesselt sind und ihr anhaften, versinken in verschiedenartiges Leiden, wie ein alter Elefant, der im Sumpf versinkt und selbst nicht in der Lage ist, wieder herauszukommen. Dies wird genannt ‚sich fernzuhalten’.“

Mit Fleiß und Ausdauer praktizieren: Dabei kommt es darauf an, ausdauernd zu praktizieren und nicht in seinen Bemühungen zu erlahmen. Laut Buddha wird dann überhaupt nichts schwierig und unüberwindbar sein: Wir sollten Fleiß und Ausdauer praktizieren wie „ein steter Tropfen Wasser, der andauernd niederfällt und wirklich in der Lage ist, einen Felsen zu durchbohren“, erklärt er.

Das Gegenteil davon sei ein hektischer oder träger Mensch ohne Ausdauer, der Feuer durch schnelles Reiben zweier Hölzer aneinander erzeugen will, aber leider aufhört, kurz bevor die Hölzer heiß genug sind und das Feuer sich tatsächlich entzündet. Extreme sowie hektisch und ohne Ausdauer verfolgte Ziele führen häufig zu schweren Rückschlägen und unterminieren die Kraft, etwas Sinnvolles zu tun. Das ist das Gegenteil von Selbstwirksamkeit.

Nicht die rechte Achtsamkeit verlieren: Hier geht es vor allem um die wahre Achtsamkeit für andere und nicht um den sentimentalen Selbstbezug und das Selbstmitleid, die heute häufig festzustellen sind. Der Begriff der Achtsamkeit ist also nach Dōgen umfassend zu verstehen. Wenn man dauernd um sich selbst kreist, sich krampfhaft beobachtet und interpretiert, entspricht das bestimmt nicht der sinnvollen Achtsamkeit. Dōgen setzt dabei vor allem auf gute Lehrer, denen wir uns anvertrauen und unter deren Anleitung wir auf dem Mittleren Weg Buddhas weiterlernen. Gestärkt durch eine solche Achtsamkeit können uns „die Banditen der Not“ nicht erobern und wir bleiben im Gleichgewicht. Wir sollten deshalb unsere Gedanken und Gefühle steuern, vor Extremen bewahren und sie im richtigen Ort des Geistes halten. Wer seine Achtsamkeit verliert, verliert seine Tugend und Lebensfreude. Durch die Achtsamkeit seien wir im Kampf des Lebens wie durch einen Panzer geschützt.

Das Gleichgewicht der Zen-Meditation verwirklichen: Dies bedeutet, dass wir ohne Störung im Gleichgewicht der Meditation und im Buddha-Dharma verweilen. Nishijima Roshi betont, dass es ohne die Meditation, zum Beispiel des Zazen, keinen Buddhismus gibt, und Gautama Buddha erklärt, dass durch die Steuerung des Geistes der Zustand der inneren und äußeren Balance eintritt. Dann zerstreut sich unser Geist nicht, sondern ist gesammelt. Buddha vergleicht ihn mit einem Leitungssystem für Trinkwasser, das kein Leck hat und dicht ist, sodass kein Wasser unnütz versickert und verloren geht.

Weisheit verwirklichen: Zu dieser Regel erläutert Buddha: „Wenn ihr Mönche Weisheit habt, dann werdet ihr ohne Gier und Anhaftung sein.“ Es sei wichtig, dass wir uns sorgfältig beobachten und darüber reflektieren, wie wir denken, fühlen und handeln, was sich also in unserem Geist und unserer Psyche ereignet und ob wir durch extreme Gefühle und Gedanken hin und her geworfen werden. Wir sollten möglichst schnell durchschauen, wenn wir von der Gier nach Ruhm und Profit oder von Übelwollen getrieben werden. Dadurch verweilen wir in der Wahrheit des Dharma und erreichen die Befreiung und Emanzipation. Ist dies nicht der Fall, dann unterscheiden wir uns grundsätzlich von den Menschen der Wahrheit, seien es Nonnen, Mönche oder Laien. Die Weisheit sei wie ein stabiles Schiff, mit dem wir den Ozean des Alterns, der Krankheit und des Todes überqueren wollen und können. Sie sei ein großartiges Licht für die Dunkelheit der Unwissenheit und eine gute Medizin für kranke Menschen. „Wenn ein Mensch das Licht der Weisheit besitzt, ist er auch mit den körperlichen Augen jemand mit klarer Sichtweise. Dies wird ‚Weisheit’ genannt“, stellt Buddha fest.

Sich nicht in müßigen Diskussionen engagieren: Indem wir uns von exaltierten Unterscheidungen, einseitigen Abwertungen anderer und fundamentalistischen Streitereien fernhalten, verwirklichen wir die reale Form und Wirklichkeit des Lebens. Aufgebrachte affektive Diskussionen mit extremen und ideologischen Haltungen verwirren dagegen laut Buddha den Geist. Wir können uns dann nicht von diesen Verwirrungen befreien, selbst wenn wir in ein Kloster eingetreten sind. In der Tat sind derartig hitzige, oft aggressiv geführte Streitgespräche wenig geeignet, um auch nur ein Stück Wahrheit zu finden und zu befördern.

Dann zitiert Dōgen noch einmal Buddha: „Ihr Mönche solltet euch dauerhaft anstrengen, mit ungeteiltem Geist die Wahrheit der Befreiung anzustreben. Alle Dharmas dieser Welt, die sich bewegen oder bewegungslos sind, vergehen ohne Ausnahme und haben keine statische Form. Ihr solltet jetzt für eine Weile innehalten und nicht mehr reden. Die Zeit muss weitergehen und ich schicke mich an, zu sterben. Dies ist meine letzte Unterweisung.“

Dōgen bedauerte, dass zu seiner Zeit viele Menschen die acht Wahrheiten des Mittleren Weges nicht kannten und auch nicht erlernen wollten. Wer jedoch Zugang zu ihnen habe, könne sich glücklich schätzen, weil er auf diese Weise gute Wurzeln für sein eigenes Leben besitze. Er bezeichnet seine eigene Zeit als heimtückisch und dekadent und mahnt uns: „Solange der wahre Dharma des Tathāgata die tausendfache (Welt) durchdringt und solange die reine Lehre noch nicht verschwunden ist, sollten wir sie ohne Verzug erlernen. Seid nicht träge oder nachlässig.

Das ist der wahre Weg der Mitte und Lebens-Energie.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 291ff.