Neue Interpretation nach Meister Dôgen, Nagarjuna und Nishijima
Nishijina Roshi fasst die zentrale Botschaft des Lotos-Sutra
zusammen: "Wie wunderbar ist das Universum, in dem wir jetzt leben!"
Das ist auch die Sicht von Meister Dôgen im Shobogenzo.
Der
japanische Titel des Kapitels vom Lotos-Sûtra lautet Hokke-ten-hokke: Dabei bedeutet
Ho „Dharma“ oder „Gesetz des Universums“, und damit ist das Universum
selbst gemeint. Ke heißt „Blumen“,
sodass man hokke mit der Formulierung
„das Universum, das wie Blumen ist“ übersetzen kann. Gemeint ist hier die
Lotosblume, die aus dem schlammigen Untergrund emporwächst und ihre Blätter und
Blüten in großer Schönheit und Reinheit über dem schlammigen Wasser entfaltet.
Sie wird oft als poetisches Symbol für den großartigen Dharma, also die
buddhistische Wahrheit und Wirklichkeit, verwendet. Wie diese Blume kann sich
der Mensch aus Dumpfheit und Unkenntnis zur strahlenden Klarheit und Reinheit
wandeln, wenn er nach der buddhistischen Lehre lebt. Diese Klarheit des
Erwachens und der Erleuchtung ist nach tiefem buddhistischen Verständnis der
wahre Natur des Menschen und der Welt, die sich durch den buddhistischen Lernprozess
in Theorie und Praxis im Augenblick verwirklicht. Der japanische Begriff ten bedeutet „drehen“ oder „bewegen“.
Daran wird deutlich, dass für Dôgen der wundervolle Dharma kein statischer oder
gar starrer Zustand ist, sondern sich in Bewegung befindet, sich dreht und
verändert. Dies ist die Bedeutung des Entstehens in Wechselwirkung pratitya samutpada, als die fundmentale
Erkenntnis von Buddha und Nagartjuna. zusammen mit dem menschlichen Handeln
sind das die tiefen Kernaussagen und das tiefe Wissen des Buddhismus. Leiden
sind diese grundlegenden Weisheiten in der Tradition auch verwässert oder sogar
vergessen worden.
Das
buddhistische Erwachen ist also durch Lebendigkeit und Kreativität
gekennzeichnet sowie von Lebensfreude und Optimismus geprägt.[i] Eine
solche Lebensphilosophie und Lebenswirklichkeit beschreibt das Lotos-Sûtra auf
mehreren Ebenen und in vielen Gleichnissen. Gefühle und Emotionen werden nicht
unterdrückt oder gar abgetötet, sondern entwickeln erst im Gleichgewicht ihre
volle Kraft und Energie. Moderne psychologische Forschungen haben ergeben, dass
negativ eingestellte und pessimistische Menschen weniger Lebensenergie
empfinden als optimistische und positiv gestimmte. Lebensfreude erzeugt also
Energie und Kraft in unserem Leben. Dies wird verstärkt durch die Weissagung,
dass jeder von uns ein Buddha wird.[ii] Durch
Negativität und Pessimismus wird unser Immunsystem nachweislich geschwächt und
umgekehrt durch Lebensfreude und Optimismus gestärkt. Das erscheint mir
besonders für Deutschland sehr wichtig im Hinblick auf die Überwindung der
„German Angst“.
In
diesem Sinne ist auch die Mitfreude der Himmlischen Verweilungen zu verstehen,
die sich selbst verstärkt und nicht zuletzt anderen Menschen hilft und sie
unterstützt. Resignation, Jammern und Klagen sind dem Lotos-Sûtra fremd; sie sind
negative Kräfte des Leidens, das durch den Achtfachen
Pfad der Vier Edlen Wahrheiten überwunden werden kann.[iii] Eine
solche Lebensfreude basiert nicht auf Illusionen, falschen Erwartungen,
romantisierenden Erinnerungen und auf der Flucht aus der Wirklichkeit. Im
Gegenteil: Sie ist die Wirklichkeit des Lebens und des Universums selbst, die
durch die Lotosblüte symbolisiert wird.
Dôgen
wählt für dieses Kapitel nicht den historisch überlieferten Titel, „Das Sûtra
der Lotosblume des wundervollen Dharma“, sondern er nennt es Hokke-ten-hokke.
Das bedeutet wörtlich:
„Die Blume des Dharma dreht die Blume des Dharma“.
Damit
drückt er aus, dass die Dharma-Blume der Wahrheit die Dharma-Blume der Welt und
des Lebens dreht. Er unterscheidet dabei, ob sich ein Mensch in Täuschung
befindet oder nicht. Diese Drehung der Dharma-Wahrheit kann man auch als
selbstverstärkenden Prozess und vor allem als Vernetzung verstehen, die sich natürlich
in unserem erwachten Lebens und der Wirklichkeit der Welt bewegen. Eine solche
Gesetzmäßigkeit kommt den neurobiologischen Forschungen des Wissenschaftlers
und Buddhisten FranciscoVarela sehr
nahe, dessen zusammen mit Humberto Maturana erarbeitetes Werk den bezeichnenden
Titel „Der Baum der Erkenntnis“ trägt. Es beschreibt den sich verfeinernden
Prozess der wahren Erkenntnis von Lebewesen und insbesondere des Menschen.[iv] Dieser
Ansatz wurde mit dem Buddhismus von beiden direkt verknüpft.[v]
Nishijima
Roshi und Chodo Cross übersetzen Dôgens Titel folgendermaßen: „Das wundervolle Universum, das wie Blumen
ist, bewegt das wundervolle Universum, das selbst wie Blumen ist.“[vi]
Dies
sei die buddhistische Sichtweise des Universums und Meister Dôgens Verständnis.
Die zentrale Botschaft des Lotos-Sûtra lautet demnach: „Wie wundervoll ist das
Universum, in dem wir jetzt leben!“ Und in dieser wundervollen Welt leben
wir und steuern sie und uns in
Wechselwirkung mit Buddhas Wahrheit. Wann ergibt sich diese heilsame Steuerung?
Antwort: Wenn wir im Einklang mit Buddhas Lehre und Praxis leben und handeln.
Laut
Nishijima Roshi wird im ersten Teil des Kapitels das Universum als die
Buddha-Länder materiell – also ganz konkret – geschildert. In diesem
Zusammenhang spricht Dôgen häufig von den zehn Himmelsrichtungen – genauer von
acht waagerechten Richtungen und zwei senkrechten – und beschreibt damit
präzise den Raum in seinen Dimensionen:
„In den Buddha-Ländern der zehn Richtungen gibt es
nur der Dharma eines Fahrzeugs; es gibt weder einen zweiten noch einen dritten
(Dharma).“[vii]
Aber
der Dharma hat eine dreifache Bedeutung: die Wirklichkeit des Universums, die
Gesetzmäßigkeit des Universums und die buddhistische Lehre, die identisch ist
mit der Wirklichkeit und von einem Menschen erkannt und erfahren wird, der die
große Klarheit erlangt hat. Laut Lotos-Sûtra lehrt Gautama Buddha die große wechselwirkende
Einheit des Dharma, die keine künstlichen intellektuellen Unterscheidungen und
Spitzfindigkeiten enthält. Diese Lehre sei für viele Menschen schwer zu
begreifen. Selbst wenn lebende Buddhas in der Welt sind, würden die Menschen
sie oft nicht erkennen. Besonders schwierig sei es, den Dharma zu lehren und
anderen nahezubringen.[viii] Die
Suche nach dem Dharma wird mit der Suche nach Grundwasser verglichen:
„Wenn Menschen Durst haben und Wasser suchen, graben
sie zum Beispiel auf einer Ebene, die trocken und ausgedörrt erscheint. Wenn
sie Ausdauer haben und tiefer kommen, entdecken sie feuchte Erde und wissen,
dass sie auf dem richtigen Wege sind und das Wasser nicht mehr weit entfernt
ist. Wer dann ausdauernd weiter gräbt, stößt mit Sicherheit auf feuchte Erde
(und das Grundwasser).“[ix]
Dieses
Handeln wird im Lotos-Sûtra mit den Bodhisattvas auf dem Buddha-Weg verglichen:
Wenn sie das Sûtra hören, es sich zu Herzen nehmen und danach handeln, öffnet
es die Türen zur Klarheit und zum Erwachen und gibt ihnen gleichzeitig die richtigen und notwendigen
Fähigkeiten, den Dharma zu lehren. Nishijima und Cross erläutern hierzu, das
Lotos-Sûtra lehre, dass es gleiche ist, darin zu lesen oder das wirkliche
Universum zu realisieren.[x] Dies
wird gleichnishaft mit den Worten ausgedrückt, dass es das selbe sei, das auf Pergament-Rollen
geschriebene Lotos-Sûtra zu drehen, um es zu lesen, und das Universum zu
bewegen.
Wer
fortlaufend praktiziert und nicht damit aufhört, fällt nicht zurück und weicht
nicht vom Buddha-Weg ab. Das Lotos-Sûtra sagt, dass Gautama Buddha selbst nach
diesem Prinzip vorging. Er hörte also nicht auf zu praktizieren, obgleich er
die große Buddha-Wahrheit und Klarheit über das Leben und die Welt erlangt
hatte. Dôgen verweist dazu auf ein berühmtes Zitat im Lotos-Sûtra[xi], in dem
Buddha davon spricht, dass er seit langer Zeit den Zustand des Buddha
verwirklicht habe.Seine Lebensspanne sei jedoch nicht beendet, und er würde weiterhin
im Sinne des Bodhisattva handeln.
„Die Weisheit der Buddhas ist tiefgründig und nicht
auszuloten. Es ist der ruhige und klare Zustand des Samâdhi, der schwer zu
verstehen und nicht leicht zu erlangen ist.“
Diese
dualistisch-intellektuell nicht fassbare
Wahrheit muss tiefgründig und vollkommen praktiziert
werden. Es sei schwierig, diese Wahrheit zu lehren, vor Allem deshalb, weil sie
schwer zu verstehen sei. Dies sagt eindeutig, wer im Buddhismus lehren sollte:
Nur mit fundierter Kenntnis und langjähriger eigener Praxis sei es überhaupt
möglich und vertretbar kompetent zu lehren. Immer wieder gibt es allerdings
selbst ernannte Lehrer, die ohne gründliche langjährige Ausbildung und ohne
authentische Praxis andere lehren und beeinflussen wollen und damit nicht
selten großes Unheil anrichten. Dôgen sagt, dass es besser sei, überhaupt
keinen Lehrer zu haben als einen schlechten, weil viele Schäden nicht wieder
gutzumachen seien.[xii] Wer
also das Lotos-Sûtra in der Interpretation von Dôgen kennt und inhaltlich
versteht, kann den buddhistischen Weg auch für andere lehren. Diese Aussage ist
gerade für die Gegenwart hoch aktuell, denn der Buddhismus besitzt in weiten
Teilen der Bevölkerung hohes Ansehen und hohe Glaubwürdigkeit. Umso
verantwortungsvoller sollen authentische Lehrer den wahren Dharma übermitteln. Das
stellt erhebliche Anforderungen an die Lehrer und Leiter der buddhistischen
Zentren.
Wenn
man die Wahrheit erlangt habe, sei dieser Zustand „die Form der Buddhas genau
so, wie sie ist, zusammen mit den Buddhas. Die Form ist der große Ozean oder
das Buddha-Land“, erklärt Dôgen. Hier wird also nicht zwischen Form und Inhalt
der buddhistischen Lehre unterschieden, sondern die wechselwirkende Einheit
steht im Mittelpunkt. Die Formulierung „die Form wie sie ist“ verwendet Dôgen
im Shôbôgenzô häufiger; sie bedeutet, dass es keine fälschlichen Zusätze, keine
Verzerrungen und kein Weglassen bei der Wirklichkeit geben kann. Die
Wirklichkeit sei zudem ohne die Form überhaupt keine Wirklichkeit mehr. Ein
reiner Idealismus und eine gedachte Theorie, die sich von der Form und dem
Materiellen abgelöst hat, können damit niemals die wahre buddhistische Lehre
sein. Im Lotos-Sûtra heißt es:
„Was alle Dharmas genannt wird, ist die Form wie sie ist, die Natur wie sie ist, der Körper wie er
ist, die Energie wie sie ist, das Handeln wie es ist, die Ursachen wie sie
sind, die Bedingungen wie sie sind, die Wirkungen wie sie sind, die Ergebnisse
wie sie sind und der höchste Zustand des Gleichgewichts, des wesentlichen
Inhaltes wie er ist und das Detail wie es ist.“[xiii]
Nach
meinem Verständnis ist damit die buddhistische Leerheit sehr genau beschrieben, die leider oft missverstanden
wird. Die aufgezählten Bestandteile des Dharma – Form, Natur, Körper, Energie,
Handeln, Ursache und Wirkung usw. – sind frei und damit entleert von Verzerrungen, Übertreibungen, fehlerhaften Zusätzen,
Täuschungen und Illusionen. Ebenso ist dann der Geist frei also leer von
Täuschungen, besonders von der Vorstellung, dass es einen ewigen
unveränderlichen Âtman-Kern gebe, an den man in der vor-buddhistischen Religion
glaubte. Genauso falsch ist es, an ewige unveränderlich Dinge und Phänomene,
Dharmas, zu glauben. Das wäre die Ideologie von Pseudo-Substanzen, die
Nagarjuna mit großer Präzision falsifiziert hat. Diese Wahrheit ist die große
buddhistische Klarheit des Erwachens, die das Lotos-Sûtra schildert. Dôgen
verwendet dafür die Formulierung „wie es ist“.
Den Dharma erkennen: Wahrheit und die authentische
buddhistische Lehre
Im
Lotos-Sûtra wird betont, dass der Dharma nicht durch dualistisches Denken und Unterscheidungen
verstanden werden kann.[xiv] Nur
die Buddhas, also klare und erwachte Menschen, sind in der Lage, den Dharma
vollständig zu verstehen, zu erkennen und genau so zu leben und zu handeln.
Dies hat wesentlich mit den wahren Aufgaben der Buddhas zu tun und ist der
Grund, warum sie in der Welt erscheinen. Ihre große Bestimmung besteht akso
darin, dass sie den klaren Wunsch haben, anderen Lebewesen zu helfen und auf
sie einzuwirken, damit diese ihrerseits die Weisheit Buddhas entdecken und
verwirklichen. Dadurch können die Buddhas rein werden:
„(Die Buddhas) erscheinen in der Welt, weil sie
intensiv Menschen und andere Lebewesen dazu bringen, dass sie in den Zustand
der Wahrheit eingehen, welche die Weisheit Buddhas ist.“
Dabei
lehren die Buddhas die Dharma-Weisheit wirkungsvoll mit den für die jeweiligen
Menschen richtigen pädagogischen und spirituellen Mitteln.[xv]
Über
Gautama Buddha wird im Lotos-Sûtra an dieser Stelle gesagt, dass er die
konkrete Form der Welt und des Lebens kenne. Das Gleiche gelte für die Buddhas
der zehn Himmelsrichtungen, die ebenfalls Ausdruck der materiellen Welt sind.
Dies
ist eine klare Absage an buddhistische Strömungen, die keine materielle
Wirklichkeit anerkennen und lehren, dass sich alles nur im isolierten Geist
widerspiegelt, ohne Realität zu sein. Eine Ablehnung der materiellen Form wäre
Nihilismus. Aber die materielle Sichtweise ist nur eine Teil-Sicht der
Wirklichkeit.
Nach
Nishijima Roshi ist die Leerheit keine Eigenschaft der Materie sowie der Dinge
und Phänomene, sondern eine Erfahrung der höchsten Stufe des Gleichgewichts und
der Erleuchtung. Das heißt, der Geist ist in diesem Zustand entleert von schädlichen
ideologischern Objekten und unheilsamen Emotionen. Das Lotos-Sûtra unterstützt
eindeutig dieses Verständnis von Dôgen und Nishijima Roshi; es erteilt dem
verkappten materiellen Nihilismus eine klare Absage. Wer ihn vertritt, gerät
zwangsläufig in schwerwiegende Widersprüche und absurde Lebensphilosophien. Es
ist nicht sinnvoll, der materiellen Welt abzusprechen, dass sie die Qualität
der Realität besitzt. Maßgeblich ist jedoch, dass eine materielle Weltsicht
eindimensional ist und erst in der Verbindung mit der höchsten
Lebensphilosophie des Buddha-Dharma die Qualität der Wahrheit erlangt.
Im höchsten Zustand der
Bodhi-Wahrheit (anuttara-samyak-sambodhi) sind laut Lotos-Sûtra diejenige Zeit und derjenige
Augenblick, wenn die Erde die Blumen, Sträucher sowie große und kleine Bäume
erzeugt und der „Regen in der Lage ist, sie zu wässern“. Das sind sehr konkrete
Angaben zur Wirklichkeit der Pflanzen, denn ihr Gedeihen hängt entscheidend
davon ab, ob Regen in ausreichender Menge fällt.
Im
Lotos-Sûtra heißt es, dass die sich drehende Dharma-Blume die intuitive
umfassende Weisheit von Körper-und-Geist beim Handeln bedeute. Eine solche
Weisheit ist mit dem Gleichgewicht in der Zazen-Praxis unauflösbar verbunden
und kann durch intellektuelle Tätigkeit allein niemals erfasst werden. Dôgen
greift eine Formulierung aus dem Lotos-Sûtra[xvi] auf
und erklärt, dass die Dharma-Blume, die sich dreht, gut am Anfang, in der Mitte
und am Ende ist.
„Deshalb hat sich (der Buddha) in der Wirklichkeit
verwirklicht und bezeichnet das Vertrauen auf das eine Fahrzeug als ‚die eine
große Angelegenheit‘.“
Diese
Worte stellen die wechselwirkende Einheit der buddhistischen Lehre und Praxis
klar heraus und lehnen alle Unterteilungen in verschiedene buddhistische Linien oder Fahrzeuge ab. Die
einzelnen Übertragungslinien mögen unterschiedliche Schwerpunkte und
pädagogische Hilfsmittel entwickelt und bereitgestellt haben, aber es geht
immer um die eine große Lehre des Buddhismus, die nicht in voneinander
isolierte Schulen aufgesplittert werden darf. Dies hat Dôgen in einem eigenen
Kapitel besonders herausgearbeitet.[xvii] Im
Tibetischen Buddhismus wird für diese Einheit der Begriff Ri-me verwendet, der die einheitliche buddhistische Basis betont
und einen fruchtbaren Dialog der verschiedenen buddhistischen Wege beschreibt
und einfordert.[xviii]
Ein
solcher innerbuddhistischer Dialog ist in der heutigen Zeit einfacher zu führen
als früher, da inzwischen alle buddhistischen Linien und Traditionen nicht
zuletzt aufgrund des technischen Fortschritts und der gestiegenen Mobilität
miteinander kommunizieren können und gerade im Westen aufeinandertreffen. Das
gemeinsame Vertrauen auf den Dharma basiert darauf, dass dieser nicht
dualistisch durch Denken und Unterscheidung verstanden werden kann, die Buddhas
jedoch direkt in der Lage sind, ihn zu erkennen.
Dôgen
zitiert dann die folgende berühmte Aussage aus dem Lotos-Sûtra:
„Die Buddhas allein zusammen mit Buddhas können genau
vollständig verwirklichen, dass alle Dharmas wirkliche Formen sind.“[xix]
Im
Lotos-Sûtra heißt es außerdem, dass die Weisheit des Tathâgata „weit, groß,
profund und nicht endet“ ist. Anschließend wird genauer erklärt, was mit
„wirklicher Form“ gemeint ist – nämlich „alle Dharmas“ in ihrer Soheit, also
die Dinge und Phänomene genauso wie sie sind. Als Beispiele für die ganze
Bandbreite des Lebens hier und jetzt werden im Lotos-Sûtra neben der Form auch
die Natur, der Körper, die Energie, das Handeln, die Ursachen, die Bedingungen,
die Wirkungen und die Ergebnisse aufgezählt. Der höchste Zustand sei das
Gleichgewicht der umfassenden wesentlichen Essenz der Ganzheit des Dharma und
der Einzelheiten, also der oben genannten Dharmas. Es geht um die Teile – die
Dharmas – und das Ganze – den Dharma –, die immer eine Einheit bilden.
Auch
Nishijima Roshi vertritt in aller Klarheit, dass mit der Form der Dharmas und
der Ganzheit des Dharma die Wirklichkeit beschrieben wird, die keine Einbildung
des Geistes sei, sondern real in unserer Welt existiert. Das Lotos-Sûtra sagt
darüber hinaus, dass diese Wirklichkeit klar, strahlend und schön wie eine
Blume ist. Es ist also nicht auf Leiden, Negativität, Defizite und Fehler
konzentriert, sondern betont das Schöne und die strahlende Klarheit unseres
Lebens und Universums. Dabei werden negative und leidvolle Bereiche allerdings
nicht verschwiegen. Es ist in jedem Fall ganz falsch, die Details und
Einzelheiten der Welt zu vernachlässigen oder gar zu verachten, sich nur auf
das Ganze zu konzentrieren und ein wunderbares Erlebnis des Eins-Seins
herbeizusehnen. Dies gilt auch und gerade für die Begrenztheit unseres Lebens.[xx]
Schon
als jungen Mönch bewegte Dôgen die zentrale Frage, warum es überhaupt nötig
sei, zu praktizieren und sich anzustrengen, wenn wir schon von Natur aus Buddha
sind, wie es das Lotos-Sûtra in wunderbarer Poesie beschreibt. Da er selbst bei
den größten Meistern der Tendai-Schule auf diese bohrende Frage keine Antwort
erhielt, ging er mit Zustimmung seines japanischen Meisters nach China, um im
Zen-Buddhismus die Antwort zu suchen. Durch die Begegnung mit Tendô Nyojô (Tiantong
Rujing), der schließlich sein Lehrer wurde, erkannte Dôgen, dass sich diese Frage nicht theoretisch durch Denken
und Philosophieren und auch nicht durch Gespräche mit klugen buddhistischen
Mönchen klären ließ, sondern nur in der direkten Erfahrung der Zazen-Praxis.
Über
diese intensive Praxis sagte Tendô Nyojô: „Zazen ist das Fallenlassen von
Körper und Geist.“ Das heißt, dass in aller Klarheit, die weit über das
bewusste Denken hinausgeht, erfahren wird, dass die Begrenzungen von Körper und
Geist wegfallen müssen, damit die große buddhistische Wahrheit je im Augenblick
verwirklicht werden kann. Erst wenn diese Begrenzungen, Täuschungen und
Illusionen von Körper und Geist verschwunden sind, kann der wahre
Körper-und-Geist Realität werden. Das Gleiche gilt für die oben aufgezählten
Dharmas wie Form, Natur, Energie, Handeln, Ursachen, Bedingungen, Wirkungen
usw. Nishijima Roshi bezeichnet diese Dharmas daher als „Dinge und Phänomene“
und bezieht ausdrücklich psychische, physische und geistige Phänomene ein.
Dôgen
legt großen Wert darauf, dass sich die Buddha-Wahrheit genau an diesem Ort und
in dieser Welt manifestiert. Die Aussagen im Lotos-Sûtra sind immer sehr
konkret und schweifen nicht in spekulative Welten ab. Auch in dieser Hinsicht
ist die Zazen-Praxis von zentraler Bedeutung, da sie das unterscheidende Denken
und Theoretisieren genauso wie das Auswendiglernen der buddhistischen Lehren
überschreitet.
Nishijima
Roshi hat überzeugend nachgewiesen, dass die allmähliche Erleuchtung (Zengo)
und die plötzliche Erleuchtung (Tongo) keine Gegensätze sind; beide Komponenten
gehören auf dem Buddha-Weg zusammen.[xxi] Es ist
unbestritten, dass diese Übertragungslinien auf den jeweiligen authentischen
Meistern aufbauen, und solange eine Linie verlässlich den wahren Buddhismus
lehrt und praktiziert, ist sie lebendig
Interessant
ist, dass Dôgen im Zusammenhang mit dem Lotos-Sûtra und der Schönheit der Welt
poetische Gleichnisse des Raumes, des großen Ozeans und der großen Erde in
ihrer wahren Existenz erwähnt. Damit erweitert sich die Dimension des
wirklichen Lebens, und die geistige Verengung wird überschritten. Der Raum ist
in der indischen Lehre ein materielles Element und wird im Shôbôgenzô in einem gesonderten Kapitel[xxii]
ausführlich behandelt. Darin warnt Dôgen vor spekulativen Vorstellungen und
Fantasien über den Raum und schildert ein berühmtes Kôan-Gespräch, in dem ein
Meister seinen fortgeschrittenen Schüler vorzuführen bittet, was der Raum sei.
Dôgen
spricht die weiteren fundamentalen Eckpunkte des Lotos-Sûtra kurz an: Die
Weisheit Buddhas sei die wirkliche Form und die Realität, genauso wie sie ist.[xxiii] Dies
könne nur von den Buddhas, also den erwachten Menschen, zusammen mit den
Buddhas vollkommen verwirklicht und erfahren werden. Das heißt, dass dafür das
gewöhnliche unterscheidende Denken sowie angesammeltes theoretisches Wissen
auch der buddhistischen Lehre nicht ausreichen, denn in der Form manifestiert
sich die Wahrheit Buddhas. Eine von der Form losgelöste, allein geistige
Wahrheit gibt es daher nicht. Dôgen weist auf Textstellen im zweiten Kapitel
des Lotos-Sûtra hin, in denen die buddhistische Lehrmethode dargelegt und die
Weisheit der Buddhas beschrieben wird. Ihre Weisheit sei tiefgründig, fundiert
und könne nicht ausgelotet werden. Buddha habe die unfassbare Wahrheit und
Wirklichkeit vollkommen und in beispielloser Vollendung praktiziert. Seine Lehre
habe eine tiefe Bedeutung, „die schwer zu verstehen ist“.
Anschließend
zitiert Dôgen eine Stelle aus dem Lotos-Sûtra, die besagt, dass unser Handeln
keine Dauerhaftigkeit und Konstanz hat, also augenblicklich entsteht und
vergeht. Im Sûtra wird hierzu die große Vielfalt der Zustände im Samâdhi
hervorgehoben.[xxiv]
Sie seien so unzählbar wie die Sandkörner der Ganga. Zum Beispiel sei der
Samâdhi das reine Leuchten, der reine Schatz, ein einzigartiger Zustand und die
Funktion der Sonne; er sei die leuchtende Fackel der Weisheit und die
Ansammlung von Tugenden. Im Kapitel Udonge
über die Udumbara-Blume betont Dôgen, dass die Zazen-Praxis – also die
gegenstandslose Vertiefung – „der König der Samâdhis“ sei.[xxv] Im
Achtfachen Pfad der Vier Edlen Wahrheiten zur Überwindung des Leidens wird die
Zazen-Praxis als die vierte Vertiefung des Samâdhi bezeichnet, bei der
vordergründiges Glück und Leiden verschwinden sowie Gedanken und Emotionen
abfallen.[xxvi]
Zazen entspricht niemals dem gewöhnlichen unterscheidenden Denken des Dualismus,
der eine Trennung vom Ich als denkendem Subjekt und den Gedanken als Objekten
beinhaltet. Mit dem dualistischen Denken kann man die umfassende Weisheit
Gautama Buddhas überhaupt nicht erfassen und ausloten.
Der
Samâdhi sei die Blume der Dharma-Wahrheit, also Shâkyamuni Buddha selbst. Er
drehe die Blume des Dharma und sei gleichzeitig die Blume des Dharma, die sich
dreht. Der Samâdhi sei außerdem der Schatz des wahren Dharma-Auges und der
feine Geist des Nirvâna.
Dôgen
verweist auf die Bodhisattvas und ihr Handeln als Helfer in der Welt, das sich
immer an die jeweilige Situation der Menschen anpasst. Wenn zum Beispiel jemand
Schmerzen hat, körperlich leidet und durch den Körper gerettet werden kann,
manifestieren sich die Bodhisattvas in dem jeweils geeigneten Körper. Diese
richtige Wahl der Hilfsmittel und Manifestationen gilt laut Lotos-Sûtra[xxvii]
gleichermaßen für reiche oder arme Menschen, für verschiedenste Berufsstände,
für Mönche, Nonnen und Laien, Frauen und Männer. Dabei benutzen die Bodhisattvas
„alle Arten der Formen und wandern durch viele Länder, um die Lebewesen zu
retten“. Der Bodhisattva sei „inmitten von Furcht und Verzweiflung (...) in der
Lage, Furchtlosigkeit zu geben. Aus diesem Grund nennen alle diesen
(Bodhisattva) in dieser Saha-Welt ‚Geber der Furchtlosigkeit‘“.
Das
Lotos-Sûtra gibt auch die Bestätigung Gautama Buddhas wieder, dass seine
Schüler alle selbst Buddhas werden.[xxviii]
Diese Aussage ist zentral für die buddhistische Lehre und Praxis, denn durch
sie verwirklicht sich die Buddha-Natur und manifestiert sich ganz konkret im
Handeln dieser Welt.
Wir
können sicher davon ausgehen, dass das Lotos-Sûtra in Ostasien, also vor allem
in China, Japan, Korea und Vietnam, zu Dôgens
Zeit allgemein bekannt war und er selbst hervorragende Kenntnisse dieses Sûtra
besaß. Wenn er einzelne Begriffe und Textstellen ansprach, war seinen Zuhörern
also präsent, was im Lotos-Sûtra jeweils gelehrt wurde; es handelte sich um den
damaligen Wissensstand. Doch durch die geniale Verknüpfung des Lotos-Sûtra mit
dem Zen-Buddhismus, in den Dôgen durch seinen chinesischen Lehrer Tendô Nyojô
eingeführt wurde, verhalf er dem Verständnis des Lotos-Sûtra zu einer neuen und
bis dahin unerreichten Tiefe. Davon wird im nächsten Abschnitt ausführlicher
die Rede sein.
Die wahre Bedeutung des Lotos-Sûtra
Die
außerordentlich wichtige Darstellung der fundamentalen und tiefen Ebene des Lotos-Sûtra eröffnet Dôgen
mit der Wiedergabe eines berühmten Dialogs zwischen Meister Daikan Enô (Dajian Huineng)
und dem Mönch Hôtatsu (Foda).
Hôtatsu.
Dieser war schon mit sieben Jahren Mönch geworden und sich ganz dem Studium des
Lotos-Sûtra und dessen Rezitation gewidmet hatte Er besuchte Daikan Enô. Nicht
ohne Stolz sagte er zu ihm: „Ich habe das Lotos-Sûtra schon dreitausendmal
rezitiert.“
Der große Meister Daika Eno sagte ihm jedoch: „Selbst
(wenn du es) zehntausendmal (rezitierst), wirst du nicht einmal in der Lage
sein, (deine eigenen) Fehler zu erkennen, wenn du das Sutrâ selbst nicht
verstehst.“
Der
Mönch Hôtatsu war sehr erschüttert, aber er vertraute dem alten Meister.
Schließlich wurde ihm klar, dass er mit dem Sûtra wohl nur oberflächlich
vertraut gewesen sei:
„Bis jetzt habe ich nur laut die Buchstaben (des
Sûtra) gelesen. Wie konnte ich hoffen, Klarheit über dessen Bedeutung zu gewinnen?“
Sie
einigten sich, dass Hôtatsu das Lotos-Sûtra vortragen sollte, bis Daikan Enô
ihn unterbrechen würde, um das die zentrale Weisheit zu erklären und dem Mönch
die wahre Bedeutung dieses großartigen Sûtra zu eröffnen.
Hôtatsu
begann also mit der Rezitation und kam schließlich zum zweiten Kapitel, das die
sogenannten geschickten Mittel der
Bodhisattvas beschreibt. Sie wählen nämlich diejenigen Hilfsmittel für die
Menschen aus, die im konkreten Fall am besten für die Hilfe und Befreiung von
den Problemen und Leiden geeignet sind. Dabei darf ein Helfer allerdings nicht
egozentrisch handeln und sein Ich-Stolz darf nicht dominant sein, sonst würde
es sich um ein Phänomen handeln, das in neuerer Zeit in der Psychologie als Helfersyndrom bekannt geworden ist. In
einem solchen Fall ist die richtige Wahl der wirkungsvollen Hilfsmittel und
Methoden kaum möglich, und die vielleicht ursprünglich gut gemeinte Hilfe kann
sogar ins Gegenteil umschlagen und schaden; dann dient der Helfer eher sich
selbst als dem anderen.
Auch
wenn die Verbesserung des eigenen Karmas des Helfers im Vordergrund steht, ist
das keine wahre Hilfe mehr für den anderen. Diese Problematik ist ein zentraler
Punkt der Karmalehre und wird auch im Zen-Buddhismus eingehend behandelt. Dôgen
setzt sich damit im Shôbôgenzô im
Kapitel über die Bodhisattvas auseinander.[xxix]
Daikan
Enô bat nun Hôtatsu, mit dem Rezitieren aufzuhören: „Stopp, der fundamentale
Punkt dieses Sûtra ist der Grund, dass (die Buddhas) in dieser Welt
erscheinen“, nämlich um zu helfen und die Menschen zu befreien. Die Bedeutung
des hier von Dôgen verwendeten japanischen Begriffs der Buddha-Weisheit umfasst
sowohl innere als auch äußere Bereiche des Handelns der Buddhas, die
miteinander im Zusammenhang stehen und zudem eine Einheit mit der jeweiligen
Situation bilden. Keinesfalls haben sie vordergründige ichbezogene Absichten,
sondern es geht den Buddhas ausschließlich darum, den Menschen mit ihren vielen
Problemen und Leiden, ihrer Verzweiflung und Aussichtslosigkeit zu helfen und ihnen
Mut zu machen. Indem die Buddhas sich in der Welt manifestieren und körperlich
als Menschen leben und handeln, dienen sie genau dieser Aufgabe und nichts
anderem. Dabei kommt der Lehre und Praxis des Buddhismus natürlich eine
zentrale Bedeutung zu.
Im
Lotos-Sûtra heißt es dazu, dass der Dharma, also die buddhistische Lehre, durch
Denken und dualistische Unterscheidungen nicht verstanden werden kann.[xxx] Ein
dualistischer Ansatz, der von einem handelnden Subjekt und einem davon
getrennten Objekt ausgeht, kann demnach niemals dazu führen, den Sinn des
Lotos-Sûtra zu erfassen. Die Buddhas als erleuchtete Menschen haben die
Dualität der gewöhnlichen Menschen überwunden. Deshalb haben sie ein direktes,
nicht durch dualistisches Denken erzeugtes Verständnis, und sie verwirklichen
den Kern der Lehre dieses Sûtra. Genau deshalb erscheinen sie in dieser Welt
und manifestieren sich direkt im Hier und Jetzt. Sie streben mit aller Kraft
und Ausdauer danach, die große Weisheit und Wahrheit für die Menschen zu enthüllen und freizulegen, damit diese
sie in ihrem Leben verwirklichen.
Eine solche Buddha-Weisheit befähigt die Menschen zur Reinheit. Die Buddhas
wollen, dass die Menschen in die Wahrheit eingehen, denn sie entspricht ihrem
ursprünglichen wahren Wesen und Selbst: Das ist die Verwirklichung der
Buddha-Natur.
Der
Buddhismus ist eine fundamental optimistische und positive Lebensphilosophie,
Sie beinhaltet gerade nicht, dass der Mensch streng diszipliniert und bestraft
werden muss, damit er das Rechte tut und das Falsche lässt. Denn je näher er
seinem Verständnis seine wahren Selbst – der Buddha-Natur – kommt, desto natürlicher
ist sein Handeln, das von der umfassenden und tiefen Ethik der Menschen nicht zu tzrennen ist.
Diese
Tatsache ist auch historisch betrachtet von größter Bedeutung: Indien befand
sich zur Zeit Gautama Buddhas moralisch und politisch im Niedergang und in
einem Auflösungsprozess, der noch zu Lebzeiten Buddhas dazu führte, dass die
bis dahin bestehenden verhältnismäßig friedlichen kleinen Königreiche durch
gewaltsame kriegerische Überfälle erobert und zerstört wurden, sodass sich
machtorientierte Großreiche entwickelten.[xxxi] Im
gleichen Zeitalter waren die Religionen der Griechen und der anderen
indogermanischen westlichen Völker sowie das Alte Testament stark auf
Bestrafung, Rache und Vergeltung ausgerichtet. Die christliche Lehre der
Nächstenliebe, die das Neue Testament darlegt, entstand bekanntlich erst etwa
550 Jahre nach Buddha. Ich folge daher Nishijima Roshi, der die Kernlehre des
Buddhismus als wahren Humanismus bezeichnet.[xxxii]
Doch
zurück zum Gespräch zwischen Daikan Enô und Hôtatsu. Daikan Enô erklärte, dass
die beschriebene Bestimmung der Buddhas den Kern des Lotos-Sûtra ausmache, auch
wenn es außerdem viele Gleichnisse und poetische Beschreibungen enthalte: „(Das
eine große Anliegen) ist (ganz) natürlich: die Weisheit des Buddha. Und jemand,
der mit dieser Weisheit ausgestattet ist, ist schon ein Buddha.“ Dann wandte
sich Daikan Enô ohne Umschweife an den Mönch: „Du musst jetzt tief darauf
vertrauen, dass Buddhas Weisheit einfach dein
eigener natürlicher Zustand des
Geistes ist.“ Den Lernprozess auf dem buddhistischen Weg macht daher nicht die
Übernahme einer aufgezwungenen ethischen Forderung aus, die dem Wesen des
Menschen eigentlich fremd ist, sondern die Enthüllung und Kräftigung des
eigenen Wesens, der Buddha-Natur. Dies ist laut Gautama Buddha mit dem großen
Anliegen identisch, anderen zu helfen, durch die Erleuchtung die Weisheit im
eigenen Leben zu verwirklichen.
Symbol
für diese buddhistische Weisheit und den Frieden mit sich und der Welt ist das
weiße Ochsengespann. Dieses spielt auch im dritten Kapitel des Lotos-Sûtra eine
wichtige Rolle in der berühmten Parabel, in der ein sorgender Vater seine
Kinder aus einem brennenden Haus rettet. Die Kinder sind vollständig in ihr
Spiel vertieft und bemerken nicht die lebensbedrohende Gefahr des Brandes. Erst
als der Vater ihnen verspricht, dass draußen Gespanne auf sie warten, die viel
schöner sind als ihr Spiel, gelingt es ihm, die Kinder davon zu überzeugen, das
Haus zu verlassen. Sie erkennen erst beim Hinausgehen, in welch großer Gefahr
sie gewesen sind, und das wunderbare Gespann übertrifft ihre Erwartungen bei
Weitem. Und „(des Vaters) Geist ist glücklich und frei, und er hüpft vor
Freude“[xxxiii],
als seine Kinder sicher und wohlbehalten auf dem offenen Feld sitzen, erzählt
das Sûtra.
Dieses
Gleichnis steht für die Rettung und Hilfe durch Gautama Buddha, der uns aus dem
bereits gefährlich brennenden Haus unseres Lebens und Handelns hinaus in die
Freiheit führt. Das weiße Ochsengespann ist keine Einbildung oder Illusion,
sondern ganz wirklich – und schöner, als wir es uns vorher vorstellen konnten.
Die guten Hilfsmittel der buddhistischen Lehre und Praxis entsprechen genau der
Befreiung, die der Buddhismus anbietet.
In
der Parabel ist von drei verschiedenen Gespannen die Rede: solche für Ziegen,
Die
verschiedenen Gespanne sind auch als Symbole für die unterschiedlichen
buddhistischen Wege zu verstehen, aber sie alle sind nur Hilfsmittel für den einen umfassenden Buddhismus. Die
verschiedenen buddhistischen Übertragungslinien, die sich in Asien entwickelt
haben und nunmehr im Westen präsent sind, kann man daher als „geschickte
Mittel“ im Sinne des Lotos-Sûtra bezeichnen. Sie dienen nur dem besseren
Verständnis für die jeweiligen Menschen oder Gruppen. Eine Abgrenzung der Wege
gegeneinander ist daher überflüssig oder sogar schädlich.
Dôgen
gibt dann das Gedicht wieder, das Daikan Enô dem Mönch Hôtatsu sagte. Es
arbeitet die fulminanten Eckpunkte des Zen-Buddhismus heraus, die dem
Lotos-Sûtra eine ganz neue Dimension geben:
„Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma.
Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehst du die Blume des Dharma.
Wenn wir nicht Klarheit von uns selbst haben, wird (das
Lotos-Sūtra) wegen seiner (tiefgründigen) Bedeutungen zu (unserem) Feind
werden, ganz gleich, wie häufig wir es rezitieren.
Ohne (selbstsüchtige) Absicht ist der Geist richtig.
Mit (selbstsüchtiger) Absicht ist der Geist falsch.
Wenn wir ‚mit und ohne‘ (Absicht) beides überschreiten,
fahren wir ewig in dem weißen Ochsengespann (der
Buddha-Weisheit).“
Im
Buddhismus geht es für uns und das ganze Universum um Bewegung und Veränderung
– die Vergänglichkeit des Leidens und die Befreiung zum Erwachen.[xxxiv]
Bevor
Dôgen das Gedicht Zeile für Zeile kommentiert, führt er jedoch die Geschichte
des Mönchs Hôtatsu noch weiter aus. Dieser war zunächst nicht in der Lage, den
tiefen Sinn und die große Weisheit des Gedichts zu erfassen; er wandte sich
deshalb fragend und zweifelnd an den Meister. Hôtatsu meinte, dass das
Lotos-Sûtra wohl nicht mit dem dualistischen Denken erfasst werden könne,
sodass selbst viele Buddhisten, die einen sehr hohen Stand der Weisheit
erreicht hätten, es nicht begreifen könnten. Auch sie „könnten Buddhas Weisheit
nicht ausloten“, sagte er zu Daikan Enô. Es seien ganz ungewöhnliche
Fähigkeiten und Eigenschaften notwendig, um Zweifel an der buddhistischen Lehre
überwinden zu können. Außerdem werde im Sûtra von drei verschiedenen Gespannen
des Buddha-Wegs gesprochen, und er frage sich, welches davon das richtige sei.[xxxv]
Hôtatsu
war also der Ansicht, dass es für gewöhnliche Menschen trotz enormer
Anstrengung gar nicht möglich ist, diese große Buddha-Weisheit zu erlangen und
Zugang zur Erleuchtung zu finden. Das bedeutet, dass er den Zustand der
Erleuchtung als etwas verstand, das vom normalen Menschen getrennt ist und auch
nicht dessen natürlichem Wesen entspricht, sondern etwas Übernatürliches und
fast Göttliches ist. Auch das zeigt, dass er
die wahre Bedeutung des Lotos-Sûtra nicht erfasst hat. Seine Frage nach dem
Unterschied der drei verschiedenen Gespanne lässt zudem eine Spur von Ich-Stolz
und Überheblichkeit erkennen. Solche Fragen sind häufig Denk- und
Redekonstrukte, die sich von der unmittelbaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt
abgelöst haben.
Diese
unmittelbare Wirklichkeit ist auch und gerade für die Zen-Kunst des japanischen
Bogenschießens von existenzieller Bedeutung. In einem japanischen Gedicht heißt
es:
„Beim
Schießen mit dem Pfeil,
während des
vollen Auszugs,
kannst Du
erwachen.
Im
Augenblick des Lösens
gibt es
weder Denken noch Vorstellungen.“ [xxxvi]
Über
die Weisheit Buddhas sagt das Lotos-Sûtra in ähnlicher Weise, dass sie so
überaus reich sei wie Hanf, Reis, Bambus und Schilf. Das klingt in unseren
Ohren allerdings eigenartig, weil es sich hierbei um ganz einfache, natürliche
Produkte des täglichen Lebens im damaligen Indien und China handelt. Aber
gerade darin liegt die große poetische Kraft des Lotos-Sûtra, dass es
schildert, wie die selbstverständlichen Dinge und Phänomene des Lebens als überaus reich und schön wahrgenommen
werden, wenn die Weisheit Buddhas vom Menschen erfasst und verwirklicht wird.
Die
folgenden Ausführungen Daikan Enôs sind für das Verständnis des Lotos-Sûtra im
Sinne des Zen-Buddhismus von größter Bedeutung. Durch den direkten Bezug zu den
entsprechenden Textstellen des Sûtra wird der Kern der zen-buddhistischen Lehre
dieses großen und äußerst einflussreichen Meisters sichtbar. Daikan Enô setzt
bei den noch bestehenden Unsicherheiten des Mönchs Hôtatsu an und erklärt ihm:
„Du irrst eigenmächtig ab und wendest dich gegen (das Lotos-Sûtra).“ Damit
verdeutlicht er dem Mönch, dass dieser sich vom Sinn und der Bedeutung des
Sûtra bereits ziemlich weit entfernt hat und dass er durch seinen
intellektuellen Dualismus sogar den Kern des Sûtra verfälscht. Und Daikan Enô
betont:
„Wenn die Menschen der drei Fahrzeuge Buddhas
Weisheit nicht ausloten können, liegt das Grundübel in ihrer verzerrenden Vorstellung
selbst. Auch wenn sie zusammen ihr dualistisches Denken ganz ausschöpfen, um (Buddhas
Weisheit) zu verstehen, werden sie sich gerade dadurch weiter und weiter (von
seiner Wahrheit) entfernen.“
Im
Lotos-Sûtra wird fast wortgleich formuliert.[xxxvii]
Dort heißt es sogar, dass die Menschen mit einer solchen dualistischen Vorgehensweise das Sûtra auch dann nicht umfassend
verstehen könnten, wenn sie die Klugheit des großen Shariputra hätten, denn der
Dharma sei ohne Unterscheidung.[xxxviii]
Gautama Buddha lehrte jedoch gerade für diese Menschen, die noch im trennenden
Denken verhaftet und den Emotionen verfallen sind. Wer schon die Einheit
erfährt, die ohne Unterscheidung ist, und sich im Gleichgewicht befindet, der
ist nicht der eigentliche Empfänger von Buddhas Lehre, denn er lebt unmittelbar
in der Soheit. Einige Menschen der drei Fahrzeuge seien allerdings noch nicht
aufnahmebereit für die Lehre, sie würden auch nicht verstehen, dass es nur
einen einzigen Dharma und eine einzige Wahrheit gibt.
Daikan
Enô kommt dann auf den zentralen Punkt der drei Fahrzeuge – in diesem Fall der
drei unterschiedlichen Gespanne – zu sprechen:
„Die drei (von dir genannten) Wagen sind nicht
wirklich, denn sie gehören der Vergangenheit an. Das eine Fahrzeug ist (aber) real, denn es existiert in der Gegenwart.“
Daikan
Enô sagt damit zu Hôtatsu ganz deutlich, dass er ihn von seinen Überlegungen
und Ideen wegbringen möchte, damit er gewissermaßen durch die Texte und Worte
hindurch zur Wirklichkeit der Formulierungen des Lotos-Sûtra fortschreiten
kann. Die große Wahrheit ist eben dieses eine Fahrzeug, das die Menschen auf
den heilsamen Weg bringt. Auch dieses beschreibt nach Dôgen die Wirklichkeit in
Gleichnissen, Worten und Sätzen, aber es ist nicht die Wirklichkeit selbst:
„Wenn wir zur Wirklichkeit zurückgelangen, ist die Wirklichkeit
gerade kein Begriff.“
Das
ist eine klare Aufforderung an uns, den „heiligen Texten“ nicht blind zu
glauben. Oft sind die Formulierungen zudem nicht wörtlich gemeint, sondern im
Sinne des Lotos-Sûtra nur geschickte Mittel, um die Schüler bei ihrem
Lernprozess und der Befreiung zu unterstützen. Es kommt deshalb darauf an, die
tradierten Beschreibungen aus der Vergangenheit zu überschreiten und zur
Wirklichkeit des Hier und Jetzt zu kommen, also zum eigenen Erleben und zur
eigenen klaren Erfahrung.
Im
Lotos-Sûtra heißt es, dass wir den Buddha-Dharma der Wirklichkeit hören, dass
wir ihm aber nur selten direkt begegnen und dass wir diese Begegnung nicht
erzwingen können.[xxxix] Seine unmessbar großen Schätze erlangen wir, ohne
sie verspannt zu suchen. Sie sind wertvolle Geschenke für uns und geben uns
eine tiefe Freude. Es ist wie ein Wunder, dass sie uns vollkommen gehören: „Wie
du sie empfängst und benutzt, liegt allein an dir.“
Daikan
Enô hebt also hervor, dass es sich bei der Realität des Lotos-Sûtra auf keinen
Fall nur um Ideen und Vorstellungen handelt. Es erzählt also keine schönen
Geschichten aus der Vergangenheit, sondern es geht allein darum, dass die
Wirklichkeit mit den Menschen hier und jetzt eine unauflösbare wechselwirkende Einheit
bildet. Diese Wirklichkeit sei in allen Zeitaltern mit uns, sie erfüllt unsere
ganze Erde und ist genau das Lotos-Sûtra: „Es gibt keine Zeit, in der wir
(dieses Sûtra) nicht lesen“, hält Daikan Enô fest. Hôtatsu war tief durch diese
Worten berührt und sprang vor Freude in die Höhe. Er verfasste folgendes
Gedicht:
„Dreitausend Mal das Sûtra rezitiert; mit einem Satz
von Daikan Enô vergessen!
Bevor wir Klarheit über die Bedeutung von (Buddhas)
Erscheinen in der Welt gewonnen haben: Wie können wir die sich wiederholenden
Leben des Unsinns verhindern?
(Das Sûtra) erklärt (die Gespanne) der Ziegen,
Hirsche und Ochsen als Hilfsmittel.
(Es) verkündet, dass der Beginn, die Mitte und das
Ende gut sind.
Wer weiß, dass wir im brennenden Haus ursprünglich
Könige im Dharma sind.“
Daraufhin
bestätigte Daikan Enô, dass der Mönch Hôtatsu zur Wahrheit des Buddhismus
gelangt war, indem er zu ihm sagte: „Von jetzt an sollst du der Sûtra lesende Mönch genannt werden.“
Ich
möchte die wichtigsten Punkte kurz zusammenfassen: Der Mönch Hôtatsu hatte sich
schon als Junge ganz dem Lotos-Sûtra gewidmet und es auswendig gelernt unzählige
Male rezitiert. Durch das Zusammentreffen mit dem großen Meister Daikan Enô
wurde ihm jedoch nach anfänglichem Zögern klar, dass er bisher die tiefe
Weisheit des Sûtra überhaupt nicht erfasst hatte – nämlich die wirkliche
lebende Anwesenheit der Buddhas in der Welt. Sie manifestieren sich, um anderen
Menschen die große Wahrheit des Dharma zu lehren, damit diese aus den quälenden
Kreislaufprozessen ihres Lebens endlich herausfinden. Als Gleichnis dafür steht
im Lotos-Sûtra ein brennendes Haus. Dabei ist das Feuer ein Symbol für Gier,
Hass und Verblendung, also besonders unheilsame Ideologien. Daikan Enô betont,
dass wir uns von den scheinbar schönen und heiligen Geschichten aus der
Historie des Buddhismus lösen müssen. Wir müssen genau in der Gegenwart leben,
also und in der Wirklichkeit des Augenblicks,. Die in den Lehrgeschichten
verwendeten Bilder und Gleichnisse dienen dabei als pädagogische Hilfsmittel
für den Lern- und Befreiungsprozess der Menschen. Man darf sie also nicht substanzhaft
verstehen, denn es geht um die einfache direkte Wahrheit des Hier und Jetzt und
nicht um Ideen und schöne Formulierungen. Das Rezitieren allein kann also nur
begrenzt dazu beitragen, zum Sinn und der verwandelnden Bedeutung des Sûtra
vorzudringen. Denn es handelt sich dabei nur um Sprechakte, die häufig die
Wirklichkeit eher verdecken als zu ihr hinführen.
In
der folgenden Zeit nach Daikan Enô sei die Bedeutung des Lotos-Sûtra anders als
früher verstanden worden, erklärt Dôgen: „Als Blume des Dharma (die uns) dreht
und als das Drehen der Dharma-Blume.“[xl] Im
konkreten Fall des Mönchs Hôtatsu bedeutet das, dass er passiv von der Wahrheit
des Dharma gedreht wurde, als er das Sûtra lediglich mit Worten zitierte. Erst
als er durch Daikan Enô in der Lage war, die zentrale Aussage tiefgreifend
selbst zu erfahren, konnte er die wunderbare Wahrheit dieser Welt selbst
gestalten. Es geht darum, dass die Wirklichkeit wunderbar ist wie eine sich
drehende Lotosblume, und wie es hier heißt, sie
selbst drehen. Am Beispiel dieses Mönchs verdeutlicht Dôgen, wie wichtig es
ist, den Dharma durch einen wahren Meister wie Daikan Enô zu erlernen. Denn
ohne die Wechselwirkung mit ihm hätte der Mönch das Sûtra sicher noch viele
Tausend Mal rezitiert, ohne Zugang zum sinn und zur Bedeutung zu finden. Das nur
wörtliche Zitieren ist laut Dôgen wie das nutzlose Zählen von Sand und Kieseln.
Andere Menschen den wahren Dharma zu lehren, um sie aus ihrem Leiden zu befreien, ist das große
Anliegen der wahren buddhistischen Meister.
Die Parabel des brennenden Hauses
Dôgen
analysiert die Parabel des brennenden Hauses genauer. Es steht für die
Täuschung und Verblendung, während das offene Feld, auf dem sich die geretteten
Kinder am Schluss befinden, den Zustand der Verwirklichung und Wahrheit
symbolisiert. Das Tor des Hauses steht damit für den Klärungsprozess, der von
der Täuschung zur Verwirklichung, Befreiung und zum Erwachen führt. Die
Gespanne bedeuten die Methoden der buddhistischen Praxis. Vor Allem das weiße
Gespann symbolisiert die Zazen-Praxis im klaren Zustand der buddhistischen
Weisheit.
Dôgen
arbeitet heraus, dass alle diese symbolischen Darstellungen noch nicht die
Wirklichkeit selbst sind, sondern nur deren Beschreibungen und die Vorstellungen
der Menschen. Daher könne es vorkommen, dass ein Mensch zwar selbst fest daran
glaubt, er habe das offene Feld der Verwirklichung und Erleuchtung erreicht. Aber
dass könne nur ein mentaler Irrtum sei, der mit der Wirklichkeit des Menschen
nicht übereinstimmt. In diesem Sinne hatte auch der Mönch Hôtatsu das
Lotos-Sûtra rezitiert, ohne dessen Wirklichkeit zu erfahren und praktiziert zu
haben.
Dôgen
betont, dass die Täuschung derjenigen, die sich im brennenden Haus befinden,
gar keine wirkliche und vollständige Täuschung sein muss, wenn sie sich dressen
bewusst sind. Dies lässt sich folgendermaßen erklären: Wer sich selbst darüber
klar ist, wann er Illusionen und den ausgedachten Geschichten verhaftet ist,
lebt nicht in vollständiger Täuschung, denn er ist sich des Unterschieds zur
Wirklichkeit bewusst. Nishijima und Cross erläutern hierzu, dass Menschen im
Zustand der buddhistischen Weisheit die Wirklichkeit dadurch genau erfahren
können, dass sie ihre Gedanken, Ideen und Vorstellungen sowie die damit
verbundenen Gefühle als solche erkennen
und nicht für die Wirklichkeit halten.[xli]
Besonders wichtig ist es, die eingebildete
und vorgestellte Erleuchtung von der Wirklichkeit klar zu unterscheiden und
nicht beides zu vermischen. Das heißt auch, dass aus der Idee des weißen
Gespanns die Verwirklichung des weißen Gespanns werden kann, aber beides muss
klar unterschieden werden. Dôgen sieht das brennende Haus als Symbol für die
Wirklichkeit eines nicht idealen Zustandes. Aber in diesem Zustand gibt es die
Wirklichkeit der sich drehenden Blume und Wahrheit des Dharma. Das ist die
Ursache für uns, „das brennende Haus zu enthüllen, aufzuzeigen, zu
verwirklichen und in es einzugehen“. Auf dem
offenen freien Feld als Symbol der Erleuchtung ist gebe es das idealistische
und daher einseitig verstandene Drehen der Dharma-Blume. Das sei die Ursache
dafür, dass wir das brennende Haus betreten, also in die Täuschung eingehen.
Mit
diesen Ausführungen erläutert Dôgen, wie er Daikan Enôs Aussage versteht, dass
die Dharma-Blume uns dreht und wir also
von ihr gedreht werden. Ich interpretiere das so, dass Dôgen damit nicht die
Dharma-Blume der buddhistischen Wahrheit meint, sondern nur eine idealistische
Vorstellung von ihr, die eben nicht die Wirklichkeit ist.
Wie
die Täuschung den Mönch Hôtatsu bewegte und drehte, so dreht und bewegt eine
unwahre Lehre des Buddhismus den Menschen, wenn er die Realität und
buddhistische Wahrheit nicht erkannt und erfahren hat. Es handelt sich daher um
eine keine wahreDharma-Blume, die den
Menschen dann umtreibt. Er wird auch und gerade von seiner eigenen Täuschung
gedreht und hat keinen Zugang zur Wirklichkeit der Dharma-Blume des Buddhismus.
Aus
meiner Sicht sagt Dôgen damit gleichzeitig, dass sich die wahre Dharma-Blume
unabhängig von dem Menschen dreht, der sich in Täuschung und Selbstgerechtigkeit
befindet. er hat keine lebendige Wechselwirkung mit der Wahrheit, weil er durch
seine eigenen Ideologien eingesperrt ist und keine Offenheit für die
buddhistische Wirklichkeit hat. Seine Buddha-Natur hat er nicht verwirklich und
dieser Schatz ist ihm dann selbst nicht zugänglich. Sie verwirklicht sich dabei
vor allem durch die Zazen-Praxis und das Bodhisattva-Handeln.
Hokke ten – der erste Teil von Daikan Enôs berühmter Aussage –
hat nach meinem Verständnis daher zwei hermeneutische Ebenen: Im ersten Fall
handelt es sich nicht um die wahre Dharma-Blume der buddhistischen Wahrheit,
sondern um eine vorgetäuschte und idealistisch gedachte Schein-Wahrheit, die
wie eine Ideologie den Menschen bewegt und umtreibt. Als wesentliche
Triebkräfte in diesem Zusammenhang nennt der Buddhismus die drei Gifte Gier,
Hass und Verblendung. Wer zum Beispiel gierig nach Ruhm ist, der versteht das
Lotos-Sûtra falsch und wird von der Gier und von falschen Vorstellungen in
seinem Leben gesteuert und beherrscht. Er mag die Worte des Sûtra auswendig
können und sie dualistisch und substanzhaft analysieren, aber die wirkliche
Bedeutung bleiben ihm verborgen. Ähnliches gilt für ein romantisierendes Verständnis
des Lotos-Sutrâ, das im Volks-Buddhismus anzutreffen ist.
Die
zweite hermeneutische Ebene ergibt sich dadurch, dass die Wahrheit in der Welt in
Wechselwirkung mit den erwachten Menschen ist. Denn sie ist die wahre Natur des
Universums und des Menschen. Wenn sich jemand davon durch Täuschungen,
Illusionen und Idealisierungen abtrennt, kann er an der Kraft dieser Wahrheit
nicht teilhaben und irrt richtungslos umher. Sein Leben wird er dann als
sinnentleert empfinden. Für die moderne Zeit ist typisch, dass materialistische
Ideen den größten Einfluss auf die meisten Menschen gewonnen haben und sie
daher in materialistischen Ideologien gefangen sind. Dann ist aber nach
Nishijima Roshi wahres Handeln im Augenblick mit ethischer Verantwortung und
Klarheit nicht oder4 nur eingeengt möglich. Der wunderbare Zustand der
Erleuchtung – also des Lebens in der Wirklichkeit – kann sich nicht entwickeln.
Aus der Täuschung zur Verwirklichung
der buddhistischen Wahrheit
In
diesem Abschnitt untersucht Dôgen eingehend den Fall, dass sich ein Mensch in
Täuschung verfangen hat und sich deshalb von der Wahrheit und Wirklichkeit weit
entfernt hat. Laut Daikan Enô dreht sich dann die Dharma-Blume eigenständig,
ganz unabhängig davon, ob die Menschen an dieser Dharma-Wahrheit teilhaben oder
nicht. Im Zustand der Täuschung bleibt den Menschen die wahre Bedeutung des
Lotos-Sûtra selbst verborgen, und zwar unabhängig davon, wie gut er es
wortgenau kenntz und rezitieren kann.
„Es gibt Fälle, in denen das Drehen (Folgendes) verwirklich:
die Enthüllung, Darstellung, Verwirklichung und das Gehen durch das umfassende
Tor, und zwar als Tor hier und jetzt.“
Nishijima
und Cross erläutern, dass damit der gesamte buddhistische Befreiungsprozess
gemeint ist, der sich je im Augenblick verwirklicht.[xlii] Nicht
die Zeitstrecke des Prozesses oder das fixierte Ziel der späteren Erleuchtung
ist maßgebend. Im Augenblick selbst wird die Abstraktion der Zeitstrecke
aufgelöst, und die Erleuchtung verwirklicht sich im momentanen Erfahren und
Erleben. Weil sich die große Wahrheit des Dharma immer bewegt und „dreht“,
erreicht sie den Menschen in Wechselwirkung und aktiviert in ihm Energien der
Spiritualität und Wirklichkeit. Dies kann ein spirituelles Einheitserlebnis sein oder wie „ein einzelnes
Tor“ ganz konkret ein einzelnes Erlebnis und eine einzelne Erfahrung. Dabei
kann es sich um einen einzelnen Menschen handeln, der an der universellen
buddhistischen Wahrheit teilhat, die durch die sich drehende Dharma-Blume
symbolisiert wird. Damit wird das Handeln der Bodhisattvas charakterisiert, die
jeweils einem ganz bestimmten Menschen helfen.
Dôgen
bezieht sich auf eine berühmte Aussage im Lotos-Sûtra über den Bodhisattva, der
die Schmerzensrufe und Klagen der Welt hört und sich in Form eines bestimmten
Körpers manifestiert, um ohne Zögern unmittelbar zu helfen.[xliii] Zum
Beispiel nimmt er den Körper eines reichen Mannes an, um den Dharma für den
reichen Mann zu lehren, oder den Körper eines Mönchs oder eines Kindes, um
ihnene zu helfen.
Die
Buddha-Wahrheit wird jeweils genau dem Augenblick der Enthüllung, Darstellung,
Verwirklichung und des Eingehens in das Tor der Wahrheit realisiert, sodass wir
nicht von einem zeitlichen linearen Prozess ausgehen sollten. Es kommt auf den
Augenblick an, in dem die Wahrheit Gautama Buddhas uns erfasst, befreit und
erfüllt. Dies ist sogar im Zustand der Täuschung und Verdunklung des Körper und
Geistes möglich und verändert die Wirklichkeit. Dôgen sagt, dass sich die Kraft
der drehenden Dharma-Blume innerhalb des Tores oder außerhalb des Tores der
Befreiung verwirklicht. Nishijima und Cross erklären hierzu, dass die große
buddhistische Weisheit spontan und unvermittelt beim Menschen entstehen kann,
auch schon bevor der buddhistische Lernprozess weiter vorangeschritten ist.[xliv] Die
Wahrheit der sich drehenden wechselwirkende Dharma-Blume kann uns also in jedem
Augenblick erreichen und durchdringen. Andererseits lässt sich dafür kein bestimmter
Zeitpunkt festlegen. Die buddhistische Weisheit kann sich auch erst nach der
langer Zeit des buddhistischen Lernprozesses verwirklichen. Dôgen fasst seine
Aussagen folgendermaßen zusammen:
„Es gibt Fälle der Enthüllung, Darstellung,
Verwirklichung und des Betretens des offenen Grundes (der Wahrheit) innerhalb
des brennenden Hauses.“
Das
heißt, dass wir manchmal den ausgeglichenen Zustand des Friedens und der Freude
mitten in leidvollen und emotional schlimmen Zuständen erleben.[xlv] Dôgen
lehnt also eine dogmatische Schrittfolge beim Erleuchtungsprozess ab. Gerade in
Augenblicken größter existenzieller Schwierigkeiten kann es zu tiefen
spirituellen Zuständen der Wahrheit und des Gleichgewichts von Körper-und-Geist
kommen. Wer sich allerdings in seinem Leid und in seinem Schmerz verhärtet,
wird eine solche Befreiung vermutlich nicht erfahren.
Was
ist also die Bedeutung des brennenden Hauses?: Für die buddhistische
Wirklichkeit ist letztlich das Bild eines materiellen Tores, durch das man zur
Erleuchtung hindurchgeht, ungeeignet. Dôgen hebt hervor, dass das Erwachen, das
mit dem weißen Ochsengespann symbolisiert wird, trotz größter Anstrengung nicht
verwirklicht werden kann, wenn wir die Praxis des Zazen und das Ziel des
Erwachens trennen. Wenn man in abstrakten fixierten Lehren gefangen bleibt, ist
es nach seinem Verständnis unmöglich, aus dem brennenden Haus das Tor des
Erwachens und der Freiheit zu erreichen. Dôgen unterstreicht hier also die
Grenzen dieses Gleichnisses, geht darüber hinaus und wendet sich der
Wirklichkeit zu.
„Wenn wir den (weißen) Wagen vom brennenden Haus aus
suchen: Wie viele Male muss das Rad sich drehen?“
Das
drehende Rad bezieht sich hier auf das Drehen der dreifachen Welt als
theoretisches Wissen, bis wir die volle Wirklichkeit als das Drehen der
Dharma-Wahrheit ganz konkret verstehen. Zwischen dem offenen Feld, also dem
Erwachen und der Befreiung, und dem brennenden Haus als Symbol für den dualistisch
denkenden und fühlenden Geist und der Täuschung besteht eine große Distanz. Die
Buddhas haben einen solchen Abstand zwischen einer Lehre und der Wirklichkeit
aufgehoben. Daher heißt es im Lotos-Sûtra, dass nur die Buddhas zusammen mit
den Buddhas direkt verwirklichen können, dass alle Dharmas der Wahrheit
wirkliche und Form sind.[xlvi] Das
Lotos-Sûtra nennt für die Dharmas eine vielfältige Wirklichkeit: die Form, die
Natur, den Körper, die Energie, das Handeln, die Ursachen, die Bedingungen, die
Wirkungen, die Ergebnisse und den besonderen Zustand des Gleichgewichts des
Gesamten und der Einzelheiten. Alle diese Dharmas sind Wirklichkeit, so wie sie
sind, und werden damit von den Gedanken und Emotionen im Geist unterschieden.
Eine
andere wichtige Textstelle des Lotos-Sûtra besagt, dass Gautama Buddha mit
seiner großen Energie und Kraft immer anwesend ist und die große Wahrheit des
Dharma lehrt.[xlvii]
Dies seien die wahren mystischen Kräfte und keineswegs übernatürliche Wunder,
die häufig in Legenden und Geschichten beschrieben werden und naive Geister
beeindrucken mögen. Verwirrte Menschen, die durch sich selbst oder andere
getäuscht werden, können Gautama Buddha jedoch nicht sehen, obgleich er so nahe
ist. Sie meinen, dass er als historische Persönlichkeit längst gestorben ist
und nur noch als Geschichte und Erinnerung existiert. Es nütze auch wenig, den
Reliquien zu opfern und sie anzubeten. Die Sehnsucht nach einer romantischen,
spirituell verklärten Welt sei unzureichend und entferne sich von der Wahrheit,
anstatt sich ihr zu nähern. Aber Lebewesen, die einen beweglichen Geist haben
und mit ganzem Herzen Buddha begegnen wollen, erscheinen an der wirklichen
Stätte seines Wirkens. Sie setzen ihren eigenen Körper und ihr Leben für diese
Wirklichkeit ein.
Dôgen
fragt uns ohne Umschweife, ob wir tatsächlich in der Praxis realisieren, dass
es um uns selbst geht, wenn wir mit ganzem Herzen Buddha begegnen wollen. Und
es sei genauso wichtig, dass wir auf dem Buddha-Weg für andere vorangehen. Laut
Lotos-Sûtra gibt es individuelle Buddhas, die von dem Weltgeehrten direkt
abstammen.[xlviii]
Für sie sollten wir Niederwerfungen machen und ihnen mit Gaben dienen. Dôgen
verweist auch auf den umfassenden Körper von Gautama Buddha, der durch eine
Stûpa verwirklicht sei. Eine solche Stûpa sollte groß, weit und geschmückt
sein, aber, und das ist beachtlich, in ihr sollten keine Knochen und Reliquien
aufbewahrt werden. Jede Art von Schmuck wie Blumen, Räucherstäbchen, Perlen,
Schnüre und Flaggen, Musik und Gesänge zum Lobpreis für Buddha seien dagegen
sinnvoll. In dieser Stûpa sei man dem Zustand von anuttara-samyak-sambodhi nahe, also dem erwachten Zustand. Dann
könnten wir in unserem Leben und in der Welt den Dharma lehren und mit
geschickten Methoden das Nirvâna manifestieren.
Dôgen
schildert den Zustand, in dem wir eigentlich Buddha nahe sind, ihn aber nicht
sehen und erfahren können. Dies ist der Zustand, in dem sich die Dharma-Blume
der Wahrheit ohne uns dreht; sie ist das Symbol für Gautama Buddha, aber wir
haben keinen Zugang und sind keine wechselwirkende Einheit mit ihm. Dôgen
formuliert dies in seiner typischen Art so:
„Wer könnte nicht darauf vertrauen, dass wir das Nicht-Verstehen
spirituell verstehen, mit ganzem Herzen (als Ein-Geist).“
Diese
Formulierung erinnert an die Worte von Daikan Enô und Bodhidharma, dass die
Wirklichkeit des Buddha-Dharma nicht mit dem unterscheidenden dualen Verstand
begriffen werden kann.
Die wahre Wechselwirkung mit Buddhas
großer Wahrheit
Im
Folgenden untersucht Dôgen den zweiten Satz aus Daikan Enôs Gedicht:
„Wenn der Geist in Verwirklichung ist, drehst du die Blume des Dharma.“
Laut
Dôgen bedeutet das, dass der wahre Dharma, die Dharma-Blume, realisiert wird, nachdem
er die Energie der Welt und des Lebens vollständig verwirklicht hat. Dann ist
die Energie, welche die Dharma-Blume dreht, genauso wie sie ist – die ganze
Wirklichkeit, ohne Störungen durch Denken, Emotionen und geistige Gifte. Diese
wahre Energie ist der natürliche, reine Augenblick, bei dem die Dharma-Blume
der Wahrheit nicht mehr von uns getrennt ist. Ihre Energie ist dann wechselwirkend
eins mit uns selbst und gibt uns dadurch die Freiheit des wahren Handelns und
Lebens. In der deutschen Fassung des Shôbôgenzô
heißt es:
„Wenn die Blume des Dharma sich dreht‘, stellt (dies) die universelle Gesetzmäßigkeit der Welt
dar, in der wir leben. ‚Wenn ihr die
Blume des Dharma dreht‘, beschreibt (dies) die menschliche Fähigkeit, diese
Gesetzmäßigkeit zu nutzen, um unser Leben und die Welt zu gestalten und zu
verändern.“
Kurz,
die kraftvollen Energien des Universums fließen und wirken durch uns. Und wir
benutzen sie, um unsere eigenen zu engen Grenzen der gewöhnlichen Ideen und
Emotionen zu überschreiten.[xlix]
Diese
tiefen Aussagen sind der Kern von Dôgens Kapitel über das Lotos-Sûtra. Ich
verstehe sie wie folgt: Wenn alle Störungen, Begrenzungen und Verzerrungen
unseres Körper-und-Geistes überwunden sind, als solche erkannt sind und damit
nicht mehr ungehindert wirken können, sind wir in einem natürlichen Zustand wie
er ist. Das bedeutet der Begriff Soheit, von
dem im Lotos-Sûtra die Rede ist.
Die
Dharmas, wie zum Beispiel Form, Natur, Körper, Energie und Handlung, sind die
unverfälschte Wirklichkeit und Wahrheit unseres Lebens und der Welt. Im Zustand
der Erleuchtung und des Erwachens können die Buddhas direkt verstehen und
verwirklichen, dass alle Dharmas wirklich und Form sind. Nach buddhistischer
Semantik sind die Dharmas die Dinge, Einzelheiten und Phänomene unseres Lebens.
Im Zustand der Erleuchtung haben sie ihren natürlichen Zustand und ihre
Wechselwirkung, so Dôgen, und sie sind genau so, wie sie sind.
Einige
buddhistische Linien bezweifeln oder schließen sogar aus, dass es überhaupt
eine Wirklichkeit der Form, der Soheit sowie der Dinge und Phänomene gibt. Demgegenüber
sagt Dôgen, dass die Buddhas erkennen können, dass die Dharmas wirkliche Formen
sind. Das heißt nichts anderes, als dass sie wirklich vorhanden sind. Dies
entzieht einer nur idealistischen Interpretation des Buddhismus den Boden.
Gleichzeitig lehnt Dôgen das falsche Verständnis der Leerheit ab, das
behauptet, dass die Dinge und Phänomene überhaupt nicht wirklich existieren,
sondern dass es sich dabei nur um Spiegelungen und Wellen im Geist handeln
würde.
Aus
meiner Sicht hat dies eine zentrale Bedeutung für die Gestaltung unseres eigenen
Lebens. Wir können also nicht argumentieren, dass es zum Beispiel überhaupt
keine Schmerzen geben würde, weil sich alles nur im Geist abspielen würde und
es den Körper eigentlich gar nicht gibt. Es geht vielmehr einerseits um die
erfahrbare wechselwirkende Einheit des
Lebens und der Welt und andererseits um die Soheit und konkrete Wirklichkeit
der Dinge und Phänomene. Sowohl die
große Ganzheit als auch die einzelnen Realitäten sind also maßgeblich für unser
Leben und die Überwindung des Leidens. Demnach kann das einseitige Training des
Geistes nur eine begrenzte Wirksamkeit haben, wenn dabei der Körper und die
Dinge und Phänomene vernachlässigt werden. Daran zeigt sich sehr klar die
konkrete Pragmatik des Zen-Buddhismus, die Dôgen hier bei seiner Untersuchung
des Lotos-Sûtra herausarbeitet.
Das
Drehen der Dharma-Blume der Wahrheit war nie unterbrochen, auch nicht, als wir
uns im Zustand der Unklarheit und Täuschung befanden. Im Zustand des Erwachens
drehen wir selbst die Dharma-Blume – das ist die wahre Energie des Lebens, des
Alltags und der Welt.
Dôgen
verwendet für diesen Zustand die folgende gleichnishafte Formulierung, die auf
den Alltag in China Bezug nimmt: „Obgleich wir das Eselgeschäft nicht beendet
haben, wird das Pferdegeschäft hereinkommen.“ Diese Aussage ist einem berühmten
Kôan-Gespräch zwischen Meister Chokei
Eryu und Meister Reiun Shigon (Lingyun Zhiqin) entnommen und wird in der Kôan-Sammlung Shinji Shôbôgenzô genauer erläutert.[l]
Meister
Reiun Shigon wurde gefragt: „Was ist das Grundprinzip von Gautama Buddhas
Lehren?“ Er antwortete mit dem oben zitierten Satz über die Tätigkeiten des
Esels und Pferdes. Meister Chokei Eryu war damals Schüler und versuchte 20
Jahre lang vergeblich, den Sinn dieser Aussage zu entschlüsseln. Aber eines
Tages zog er den Bambusvorhang seines Raumes hoch, als er plötzlich die große
Klarheit erlangte und in der Wahrheit angekommen war. Daraufhin verfasste er
folgendes Gedicht:
„Wie wunderbar, wie wunderbar!
Ich zog den Bambusvorhang hoch und erblickte die
ganze Welt.
Wenn mich irgendjemand fragt, welcher Schule ich
angehöre, werde ich einen Hossu (Fliegenwedel)[li]
ergreifen und ihn genau in dem Augenblick schlagen, wenn er seinen Mund öffnet.“
Zwei
andere große Meister, Seppô und Gensa, waren sich zunächst noch nicht
schlüssig, ob Chokei Eryu das Ziel seines Weges erreicht hatte. Als Prüfung
baten sie ihn deshalb, vor den versammelten Mönchen seine ganz eigene Erfahrung
vorzutragen. Er tat dies wieder in Form eines Gedichts mit den entscheidenden
Zeilen:
„Unter den vielen Phänomenen manifestiere ich allein
meinen Körper.
Wenn ein Mensch sich selbst sicher ist, dann ist sein
Zustand leicht und glücklich, mit der Wirklichkeit.“
Er
fügte noch hinzu, dass er in der Vergangenheit viele Fehler gemacht habe, die
aber jetzt dahinschmelzen würden wie „Eis im Feuer“. Daraufhin bestätigten ihm
die beiden Meister, dass er nicht an Ideen und Beschreibungen haftete, sondern
direkt in der Wirklichkeit lebte.
Nishijima
Roshi betont in diesem Zusammenhang, dass es von zentraler Bedeutung sei, seine
eigene wirkliche Wirklichkeit in aller Klarheit bestätigen zu können. Wichtig
ist, dass man mit allen Dingen und Phänomenen leicht und glückhaft umgeht und
dass alle bisherigen Zweifel ausgeräumt sind. Dann fällt es auch leicht,
frühere Fehler zu erkennen und zu bedauern.
In
dem folgenden Kôan-Gespräch geht es um die Frage, wann und wie man die
Wirklichkeit erreicht: „Bei der Wirklichkeit anzukommen, bedeutet nicht, irgendetwas
Substanzhaftes zu erlangen – es bedeutet nur, die Wirklichkeit selbst zu
realisieren und vollständig im gegenwärtigen Augenblick zu leben“, erklärt
Dôgen. Dies sei der Zustand, wenn wir selbst die Dharma-Blume der Wahrheit
drehen, also mit ihr eine wechselwirkende Einheit bilden und nicht von ihr
getrennt sind. Die Wirklichkeit beruht dann
allein auf der großen Aufgabe unseres Lebens „als wirkliche Erscheinung an
diesem Ort“. Gleichnishaft erscheinen die Bodhisattvas dieser Welt, „sie
springen aus der Erde“, indem sie sich selbst bewegen und drehen. Sie vereinen
gleichzeitig die Gegebenheiten und Umstände mit sich selbst: Der Dualismus ist
dann zu Ende.
Wir
sollten allerdings nicht zu sehr auf das Gleichnis fixiert sein, mahnt Dôgen.
Wir sollten es nicht wörtlich nehmen, dass die Bodhisattvas aus der Erde
hervorspringen, denn sie seien gleichzeitig mit dem Himmel verbunden: Das Unten
und Oben des Lebens ist verbunden und in Wechselwirkung. Das heißt, die Erde
und der Himmel werden nicht nur als isolierte Materie oder als Idee betrachtet,
sondern als die Blume der Dharma-Wahrheit selbst: Das ist die Wirklichkeit.
Dôgen
zitiert dann einen eigenartigen Satz aus dem Lotos-Sûtra: „Wir sollten nur
lernen, dass der Sohn alt und der Vater jung ist.“[lii] Dieser
bezieht sich auf die Stelle im Sûtra, in der es heißt, dass Gautama Buddha jung
ist im Verhältnis zu den Bodhisattvas, die seit langen Zeiten praktizieren, um
zur Wirklichkeit selbst zu gelangen. Sie seien fest in ihrem Willen und
unerschrocken in der Praxis des Bodhisattva-Weges seit langen Zeitaltern. Aber
Buddha habe die große Wahrheit erst seit Kurzem verwirklicht, als Buddha sei er
jung.
Dôgen
warnt uns, „dass wir nicht an diesen Wahrheiten zweifeln sollten und nicht in
der Verblüffung stecken bleiben“. Wenn wir die Dharma-Blume der Wahrheit
drehen, verwirklichen wir die Zeit, in der Buddha wirklich lebt. Buddha ist kraftvolle Gegenwart. Es geht
also nicht um schöne Erinnerungen von erlernte buddhistische Texte oder das
auswendige Rezitieren des Lotos-Sûtra, sondern um die direkte unmittelbare
Erfahrung der Wirklichkeit. Sie ist gleichzeitig der Durchbruch zur Klarheit
des eigenen Lebens und des Du und Ich in der Welt. Eine solche fundamentale
Erfahrung ist sowohl auf Einzelheiten bezogen, also auf die Dinge und Phänomene
dieser Welt, als auch umfassend auf das Ganze.
„Zu dieser Zeit dieses Drehens der Dharma-Blume gibt
es die mentale Verwirklichung als Blume des Dharma, und die Blume des Dharma
gibt es als mentale Verwirklichung.“
Die Wechselwirkung des Erwachens und der befreite
Augenblick
Dôgen
formuliert symbolisch wie das Lotos-Sutra: Wenn wir im erwachten Zustand die
Blume des Dharma handelnd drehen und damit die Wirklichkeit der Welt gestalten,
gleicht diese Wahrheit der Wirkung Gautama Buddhas in Indien. Die konkreten
Buddha-Länder der zehn Himmelsrichtungen versammeln sich dann als buddhistische
Orden im Raum. Sie sind gleichzeitig der individuelle Körper eines Buddhas, der
die Blume des Dharma dreht. Ich verstehe diese Aussagen als Versuch, den
erleuchteten Zustand des Menschen dichterisch und gleichnishaft zu beschreiben.
Diese Worte überschreiten gewiss unsere übliche Sprachlogik, aber sie sind
nicht gegen die Vernunft, wie manche Zen-Buddhisten diese Stelle deuten. Sie
folgen einer höheren ganzheitlichen Vernunft der unmittelbaren Intuition, die sich
oft am besten und nur dichterisch ausdrücken lässt. Denn Zen-Buddhismus ist
niemals paradox und gegen die Vernunft – daran lässt Dôgen keinen Zweifel.[liii] Die
erwähnten Länder der zehn Himmelsrichtungen umfassen alles in der Welt, ganz
konkret, ohne dass irgendetwas fehlt oder hinzugesetzt werden müsste. „Es gibt
(dort) keinen Ort, in den ein (isoliertes) Atom hineinpassen könnte“, erklärt
er, denn selbst das kleinste (isolierte) Atom wäre ganz und gar überflüssig.
„Die Dharma-Blume zu drehen, bedeutet: ‚Materielles
und Ideelles sind nicht isoliert‘. Beides ist jenseits von (dualem)
Verschwinden und Erscheinen.“
Der
erste Teil dieser Aussage bezieht sich auf das Herz-Sûtra[liv], das
den dualistischen Unterschied von Materie und Idellem aufhebt und eine
oberflächliche materialistische Sichtweise überwindet. Es beschreibt das
Höchste als umfassende Wirklichkeit im umfassenden Augenblick, die unabhängig
von dualen Theorien und Abstraktionen ist. Dieses Höchste wird im Mahâyâna als Leerheit von Ideologien und von den
Giften Gier, Hass und Verblendung bezeichn. Die Leerheit bedeutet nach
Nagarjuna, dass es genau diese Wirklichkeit und Wechselwirkung ist, ohne
gedankliche Verzerrungen, ohne Zusatz und ohne Weglassen. Diese Wirklichkeit
erfährt man im Gleichgewicht des Zazen, aber auch im Fluss, flow, des Alltags.
Die Wirklichkeit ist so entleert von Täuschungen, Störungen, dem Haften am
Materiellen oder von zwanghaftem aktionistischem Handeln. Die Gier nach Macht und
Reichtum verhindert Leerheit und dann kann Befreiung nicht erlangt werden. Das
heißt, wir sind dann frei und leer von drei Giften Gier, Hass und Verblendung,
wenn wir sie überwinden.
Der
zweite Teil des Zitats bezieht sich auf das Lotos-Sûtra, in dem geschildert
wird, dass der Buddha Tathâgata alles genauso sieht, wie es wirklich ist – auch
die dreifache Welt der gewöhnlichen Menschen.[lv] Dabei
gibt es keine dualistischen Bewertungen und Emotionen, die von der klaren
Wirklichkeit abweichen. So sind Erscheinen und Vergehen Tätigkeiten des
Verstandes, die in Wechselwirkung mit der Wahrnehmung sind. Und dies genau im
Augenblick der Wirklichkeit. Eine gedachte Zeitstrecke ist nicht die erfahrenen
Wirklichkeit des Augenblick. Ähnliches gilt für die Begriffe „Existenz“ und substanzhaftes
„Auslöschen“, denn sie sind nicht die Wirklichkeit, sondern eben Begriffe.
Dôgen beschreibt also den Augenblick, in dem wir selbst die Dharma-Blume drehen,
mit ihr in Wechselwirkung sind. Dann erfahren wir höchsten Zustand des Menschen.
Das sei die wunderbare Wirkung des Lotos-Sutras, mithilfe von Hinweisen auf das
Herz-Sûtra.
Dôgen
untertsucht die berühmte Geschichte aus dem Lotos-Sûtra: Darin wird ein armer
Mensch beschrieben, der in das Haus eines guten Freundes kommt, dessen Familie
wohlhabend ist und ihn mit feinem Essen üppig bewirtet.[lvi] In der
Kleidung dieses armen Freundes befestigt der Freund eine Perle von sehr hohem,
ja unmessbaren Wert. Damit ist die große buddhistische Weisheit des Erwachens
gemeint, die wir in uns tragen und anderen geben können, ohne uns dessen bewusst
zu sein. Wir benötigen die Perle dringend, wenn wir in einem armen leidvollen
Leben gefangen sind. Über die wahre Freundschaft sagt Dôgen: „Wir dürfen nicht
vergessen, uns vor dem Freund tief zu verbeugen und für ihn als einem engen
Freund zu arbeiten.“ Genau in dem Augenblick, in dem wir dem Freund mit offenem
Herzen eine wertvolle Perle geben, sind wir von der Weisheit Buddhas erfüllt. Wir
sollten sorgsam genau im Augenblick handeln.
Die
Perle wird auch in einem anderen Kapitel des Lotos-Sûtra erwähnt.[lvii] Darin
wird von einem König berichtet, der seinen Haar-Knoten öffnet und einem mutigen
Menschen eine wunderbare leuchtende Perle schenkt. Dieser hatte für das
Königreich schwierigste Aufgaben übernommen und tatkräftig gemeistert. Die
Perle ist auch ein Symbol für das Lotos-Sûtra selbst. Laut Dôgen sei es das
Höchste aller Sûtras. Gautama Buddha habe dieses Sûtra immer mit besonderer
Sorgfalt vor Missbrauch und falscher Interpretation geschützt und den Menschen
bewusst nähergebracht. Weiter heißt es bei Dôgen: „Jetzt ist genau die Zeit, um
das Lotos-Sutra euch allen zu lehren.“ Er unterstreicht damit seine eigene tief
verstandene Interpretation.
Dann
greift er das überlieferte Gleichnis der Bodhisattvas auf, die aus der Erde
„hervorspringen“ oder in der Erde weilen. Es bedeute, dass wir die Blume des
Dharma wechselwirkend drehen. In diesem Zustand „ist der Geist offen und ohne
Begrenzung, und die offen und Materie ist ohne Begrenzung“, erklärt er und fügt
hinzu, dass die Blume des Dharma aus dem „Himmel herab springt“. Damit hebt er die
Begrenzung von Himmel und Erde auf. Diese Grenzen werden durch einengende und
verzerrende verbale Beschreibungen verursacht.
Mit
diesen Formulierungen sind nach Dôgen die Verwirklichungen konkreter Phänomene
gemeint, die nicht in abstrakte Illusionen und Täuschungen abgleiten. Vor Allem
müssen dualistische Verzerrungen und Täuschungen überwunden werden. Laut
Nishijima und Cross gibt es die Verwirklichungen oder Erleuchtung, die ganz
konkret ist und auf konkreten Grundlagen beruhen.[lviii] Sie
werden als offene unbegrenzte Verwirklichungen bezeichnet. Außerdem gebe es
eine Verwirklichung, die auf mentalen, also
gedachten und wahrgenommenen Phänomenen beruhe. Sie sei die Verwirklichung, die
durch die Augen und den Körper – also die Wahrnehmung und die Form – gesteuert
ist. Folgender verblüffender Satz findet sich dann bei Dôgen:
„Die Schatz-Stûpa ist eine Schatz-Stûpa im Raum, und
Raum gibt Raum für die Schatz-Stûpa.“
Darin
kommt die Wechselwirkung von Raum und Stupa zum Ausdruck. Weder der Raum noch
die spirituelle Stupa sind Wirklichkeit, wenn sie isoliert gedacht werden.
Gegen
Ende des Kapitels knüpft Dôgen an das Gleichnis des brennenden Hauses an. Die
spielenden Kinder nehmen die drohende Gefahr nicht wahr. Hierfür benutzt er die
Formulierung, dass die Blume des Dharma nicht wahrgenommen und erkannt wird,
auch wenn sie ganz genau die Blume des Dharma ist. Die große Wahrheit des
Dharma sei gleichzeitig „jenseits des (angelernten) Wissens und jenseits des
(intellektuellen) Verstehens“ des unterscheidenden, dualistischen Verstandes.
Die Blume des Dharma sei mit zeitlichen Maßstäben von Weltaltern nicht zu
messen, denn sie ist jetzt wirklich im Augenblick[lix], das
ist die Lebensdauer Buddhas.
Dôgen
schätzt diese Interpretation des Lotos-Sûtra von Daikan Enô in höchstem Maße
und betont, dass es eine so tiefgründige Erkenntnis dieses Sûtra zuvor noch
nicht gegeben habe: „Sehr viele Menschen hier und dort haben Kommentare und
Interpretationen (des Lotos-Sûtra) verfasst (...), aber niemand hat das
Wesentliche der sich drehenden Blume des Dharma erkannt. Niemand hat den Punkt
gemeistert, dass (wir) die Blume des Dharma drehen,“ wie es der ewige Buddha
vom Berg Sokei, Daikan Enô, getan habe. Dieses wechselseitige Drehen geht
direkt auf Buddha und Nagarjuna zurück und ist das wundezbare Prinzip des
gemeinsamen Entstehens in
Wechselwirkung, pratitya samutpada.
Meister
Dôgens Erläuterungen sind nicht leicht zu verstehen. Viel buddhistisches Wissen
über sein Werk und das Lotos-Sûtra selbst sind erforderlich, damit man
überhaupt den Sinn seiner Ausführungen im Einzelnen nachvollziehen kann. Vor
Allem sind praktische Erfahrungen der Zazen-Meditation und des Handelns von
zentraler Bedeutung. Ich halte sein Kapitel über das Lotos-Sûtra neben dem über
die Buddha-Natur[lx]
für einen der tiefgründigsten und wertvollsten Texte im ganzen Shôbôgenzô, das immerhin 95 Kapitel
umfasst. Ich habe selbst immer wieder daran gearbeitet und Nishijima Roshi dazu
befragt.
Indem
wir den Erläuterungen Daikan Enôs begegnet sind, sind wir einem ewigen Buddha
begegnet, stellt Dôgen fest. Wer sie „verstanden“ habe, könne selbst als Buddha
bezeichnet werden, der die große Wahrheit der Dharma-Blume, die er dreht und
Augenblick für Augenblick erfährt: „Welch große Freude ist dies! Von Zeitalter
zu Zeitalter verwirklich sich die Blume des Dharma, und vom Mittag bis zur
Nacht ist die Blume des Dharma wirklich.“ Das sei auch die große Wahrheit
unseres Körper-und-Geistes, ganz gleich, ob sie einmal stärker oder schwächer
seien.
Dôgen
betont, dass die Wirklichkeit genauso da ist wie sie ist, und sie sei „der
große Schatz, das große Leuchten und ein Sitz der Wahrheit“. Sie sei „weit,
groß, tiefgründig und ohne Ende“.
Am
Ende wiederholt er das tiefgründige Gedicht Daikan Enôs. Er verändert dabei den
letzten Satz, um den Inhalt seiner Interpretation klarer herauzuarbeiten:
„Wenn der Geist im Zustand der Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma.
Wenn der Geist im Zustand der Verwirklichung ist, drehen wir die Blume des Dharma.
Wenn die vollständige Verwirklichung und Erleuchtung
so sein kann, dreht die Blume des Dharma die Blume des Dharma.“
Der
letzte Satzteil gibt also den Titel von Dôgens Kapitel über das Lotos-Sûtra und
die Dharma-Blume direkt wieder. Es ist wirklich die Dharma-Blume, wenn wir ihr
Gaben schenken, sie verehren und preisen. „Dann ist die Dharma-Blume (wirklich)
die Dharma-Blume“, schließt Dôgen.
Er
hat das Kapitel im Jahr 1241 verfasst und an Etatsu, einen seiner Schüler, übergeben.
In einem Hinweis am Schluss ist vermerkt, dass es dann im Jahre 1305 kopiert
wurde, also 60 Jahre, nachdem Dôgen es selbst niedergeschrieben hatte. Er
äußerte große Freude darüber, dass Etatsu Mönch werden wollte und das
gewöhnliche Leben zugunsten des direkten Buddha-Weges aufgab:
„Den Kopf zu rasieren und den Kopf wieder zu
rasieren: Dies bedeutet, ein wahres Kind (des Buddha) zu sein und das
Familienleben zu überschreiten, um ein wahrer Mönch zu werden.“
Dôgen
nimmt Bezug auf die Bedeutung des Lotos-Sûtra und erklärt, dass der Eintritt in
ein Kloster die Wirkung, die Ergebnisse und die Energie von diesem Sûtra auf
diejenigen seien, welche die Dharma-Blume bis jetzt gedreht haben. Dies würde
ohne Zweifel Früchte tragen.
Es
würde sich nicht nur um eine persönliche Angelegenheit von Gautama Buddha
handeln, sondern die Dharma-Blume gibt es unabhängig und eigenständig als
Wahrheit der Welt und direkt in den Menschen. Gautama Buddha habe sie entdeckt
und an seinen Nachfolger weitergegeben. Die Form sei genauso wie sie ist und
wir dürften sie nicht nur materiell und dualistisch verstehen. Sonst könne sie
weder wahrgenommen noch erkannt werden. Er
wiederholt einen zentralen Satz des Kapitels:
„Aber die Blume des Dharma manifestiert sich jetzt
selbst in Frische und in einem Zustand jenseits des (dualistische) Wissens und
jenseits des (verengten) Verstehens.“
Damit
ist zweifellos die Zazen-Praxis gemeint, die ein „Denken ohne (dualistische) Denken“
ist. Wir atmen in unserem Leben ein und aus, wir leben und handeln in unserer
Lebenszeit, immer genau in der Gegenwart und im Augenblick.
Dôgen
fasst zusammen: Auf das Lotos-Sûtra sollten wir vertrauen – „als Blume des
Dharma, die zu fein ist, um über sie (verengt) zu denken“,.
[i] Tanahashi, Kazuaki: The Heart Sutra
[ii] Kap. 32, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 71ff.: „Die
Bestätigung und Freude, dass jeder ein Buddha wird (Juki)“
[iii] Gäng, Peter (Hrsg.):
Meditationstexte des Pali-Buddhismus I
[iv] Maturana, Humberto R.; Varela,
Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis
[v] Varela, Francisco J.; Thomson, Evan; Rosch, Eleanor: Der Mittlere Weg der Erkenntnis
[vi] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, S. 203
[vii] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra: LS 1.106
[viii] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra: LS 1.128
[ix] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra: LS 2.156
[x] Shobogenzo,
englische Fassung, Bd. 1, Fußnote 6, S. 203
[xi] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 3.18 – 20
[xii] Shobogenzo,
deutsche Fassung, Bd. 1, S. 28
[xiii] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra: LS 1.68
[xiv] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra: LS 1.88 – 90, 297
[xv] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra: LS 1.98 – 90
[xvi] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 1.68; Borsig, Margareta von (Übersetzerin): Lotos-Sûtra, S. 47
[xvii] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 3, S. 97ff.
[xviii] Tulku, Ringu: The RI-ME Philosophy; „Buddhismus
aktuell“, Heft 2, 2012
[xix] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS
1.68
[xx] Kap. 92, ZEN-Schatzkammer, Bd. 3, S. 293ff.: „Die
Befreiung von Leben und Tod im Buddhismus (Shôji)“
[xxi] Nishijima,
Gudo Wafu: Aus meinem Leben, S. 48f.
[xxii] Kap. 77,
ZEN-Schatzkammer, Bd. 3, S. 162ff.: „Die
Wirklichkeit des Raumes (Kokû)“
[xxiii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS
1.68
[xxiv] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS
3.214
[xxv] Kap. 68,
ZEN-Schatzkammer, Bd. 3, S. 81ff.: „Das Symbol der seltenen
Udumbara-Blume (Udonge)“
[xxvi] Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I
[xxvii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS
3.214
[xxviii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS
1.322
[xxix] Shobogenzo,
deutsche Fassung, Bd. 2, S. 244ff.
[xxx] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS
1.88 bis 90
[xxxi] Schumann,
Hans Wolfgang: Der historische Buddha, S. 47ff.
[xxxii] Nishijima, Gudo Wafu: Aus meinem Leben, S. 107ff.
[xxxiii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 1.166
[xxxiv] Kap. 41, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 143ff.: „Das
Universum ist dynamisches Handeln (Zenki)“
[xxxv] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 1.72
[xxxvi] Hoff, Feliks F.:
Kyudo. Die Kunst des japanischen Bogenschießens, S. 95
[xxxvii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS. 1.72
[xxxviii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 1.128
[xxxix] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 1.224
[xl] Kap. 74, ZEN-Schatzkammer, Bd. 3, S. 127 ff.: „Das
Drehen des Dharma-Rades und den wahren Buddhismus lehren (Tenbôrin)“
[xli] Shobogenzo,
englische Fassung, Bd. 1, S. 211, Fußnote 93
[xlii] Shobogenzo,
englische Fassung, Bd. 1, S. 212, Fußnote 100
[xliii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 3.252
[xliv] Shobogenzo,
englische Fassung, Bd. 1, S. 212, Fußnoten 103 und 104
[xlv] Shobogenzo,
englische Fassung, Bd. 1, S. 212, Fußnote 105
[xlvi] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 1.68
[xlvii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 3.30
[xlviii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 2.176
[xlix] Shobogenzo,
englische Fassung, Bd. 1, S. 247, Fußnote 90
[l] Shinji
Shôbôgenzô, Bd. 2, Nr. 56
[li] Der
Fliegenwedel, Hossu, wird im Zen vom Meister für Zeremonien verwendet.
[lii] vgl. Anhang, Lotos-Sûtra: LS 2.318
[liii] Kap. 9, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 90ff.: „Die Stimmen des Tales und die Form der Berge (Keisei sanshiki)“
[liv] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 1, Kap. 2, S.
50ff.: „Das Paramita der großen Weisheit“; Nishijima, Gudo Wafu; Seggelke, Yudo
J.: Das Herz des ZEN-Buddhismus
[lv] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra:
LS 3.18
[lvi] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra:
LS 2.118
[lvii] vgl. Anhang,
Lotos-Sûtra:
LS 2.276
[lviii] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, S. 217,
Fußnote 165
[lix] Kap. 11, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 110ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[lx] Kap. 22, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 192ff.: „Das Geheimnis der Buddha-Natur (Busshō)“