(Yudo J. Seggelke)
Dôgen verwendet den für das Herz-Sutra und den Mahayana-Buddhismus zentralen Begriff der Leerheit nur im zweiten Kapitel und im Laufe der weiteren 93 Kapitel des Shôbôgenzô nicht mehr. Das ist erstaunlich! Warum geht er so vor?
In diesem
fulminanten Gesamtwerk spielt der Begriff der Leerheit also keine herausragende
Rolle, wie man eigentlich annehmen sollte. Meine Interpretation dazu:
Dôgen setzt die höchste Weisheit, prajñā-pāramitā, die das lineare bewertende Denken überschreitet, mit der
Leerheit gleich und gewinnt damit radikal an Konkretheit und Aussagenkraft für
unser Leben hier und jetzt.
Denn
zweifellos ist schwer zu verstehen, was im Mahayana mit dem Begriff der Leerheit
bezeichnet wurde, weil die Leerheit all zu leicht mit Nihilismus und der Leugnung jeglicher Realität verwechselt wird. Und eine solche Verwirrung ist wegen der
häufigen Negationen tatsächlich in verschiedenen Traditionen des Buddhismus zu
beobachten. Aber derartigen nihilistischen Negationen wären dem japanischen Zen und chinesischen Chan in der Tat völlig fremd und stünden
der Suche nach dem wirklichen Hier-und-Jetzt diametral entgegen.
Im originalen Sanskrit-Text
des Herz-Sûtra heißt es:
Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
beruhen auf der höchsten Weisheit, die das lineare Denken überschreitet, prajñā-pāramitā,
und daher wird diese Weisheit als leer
bezeichnet.
Das zweite
Kapitel des Shôbôgenzô zum Herz-Sutra verstehe ich als zentrales Verbindungsstück zwischen dem im
Mahâyâna viel verwendeten Begriff der Leerheit
und dem gesamten Werk des Shôbôgenzô.
Oder verkürzt ausgedrückt: Herz-Sutra und Shôbôgenzô beschreiben dieselbe höchste
buddhistische Realität, sie sind semantisch identisch. In den folgenden Kapitel
des Shôbôgenzô entwickelt Dôgen sein umfassendes Verständnis aufgrund der
tiefen Erfahrungen des Buddhismus, die er in Japan, vor allem aber in China
erlebt hatte.
Diese Kapitel
sind daher insgesamt die konkreten und zugleich tiefgründigen Bereiche dessen,
was im Buddhismus als Leerheit bezeichnet wird. Dôgen hat eine solche tiefe
Erleuchtung erst in China durch die Verbindung mit der Zen-Meditation erlangen
können: In Japanisch Shikantaza,
nichts als Sitzen, Körper und Geist fallen lassen.
Dôgens Schriften
sind m. E. von einzigartiger Kraft der Sprache für tiefste Erfahrungen des
Menschen, die sprachlich eigentlich nicht mehr erfasst werden können. Es geht
um die Wirklichkeit und Wahrheit sowie die drei Lebens-Philosophien des
Idealismus, Materialismus und des Handelns, die Nishijima Roshi an anderer
Stelle eingehend beschrieben hat.
Die weiteren
Kapitel des Shôbôgenzô geben also ein umfassendes
Bild der buddhistischen Lehre, sie sind identisch mit den verschiedenen
Aspekten der Leerheit oder der höchsten
Weisheit, die das vergleichende Denken und Bewerten überschreitet. Dazu
werden von Dôgen zum Beispiel folgende Themen tiefgründig erläutert, um hier
nur einige Beispiele zu nennen:
Die
Wirklichkeit dieser Welt als strahlende Perle[1],
konkrete Regeln für die Meditations-Halle[2],
zentrale Aussagen zum Geist und zur Einheit von Körper-und-Geist[3],
mehrere großartige Kapitel über die Natur[4]
und die fundamentalen Aussagen der Sein-Zeit als Wirklichkeit im Augenblick und
im Hier und Jetzt[5].
Weiterhin gibt er tiefgründige Beschreibungen und Interpretationen des
Lotus-Sûtra[6],
des umfassenden intuitiven Wissens, der Buddha-Natur[7]
und des wahren und reinen Handelns der Buddhas[8].
Zwei wichtige Kapitel zum großen Erwachen oder der Erleuchtung[9]
und die Aussagen der Bodhidsattvas des großen Mitgefühls und Helfens[10]
zeugen von seiner außergewöhnlichen Erfahrung und Klarheit. Es würde an dieser
Stelle zu weit gehen, alle Kapitel vollständig aufzuzählen.
Ich verstehe
das Kapitel zum Herz-Sûtra als großartiges Verbindungsstück und Scharnier zwischen der Bedeutung der Leerheit im Mahâyâna-Buddhismus des Mittleren Weges, auch des indischen
Meisters Nâgârjuna, und dem gesamten
Werk des Shôbôgenzô.
Nun möchte ich
eine kurze Interpretation des im Original erhaltenen Sanskrit-Textes des
Herz-Sutra geben:
Wir können und
müssen die Teil-Wirklichkeiten des
Materiellen und Immateriellen, also zum Beispiel der Ideen und Gedanken im
Idealismus, unterscheiden, solange wir in der Trennung von Subjekt und Objekt gefangen sind, die uns im normalen
Leben geläufig ist. Da im Buddhismus dieser Dualismus in der höchsten Weisheit
und in der Leerheit überschritten wird, gibt es eine solche eigentlich
künstliche Trennung vom Materiellen und Immateriellen nicht. Sie bilden
sozusagen auf der "höheren Ebene" der buddhistischen Weisheit von
Körper-und-Geist eine Einheit, ohne dass sie jedoch als Teil-Wirklichkeiten
verschwinden.
Im Mahâyâna-Buddhismus
wird in aller Klarheit betont, dass wir uns die Welt und uns selbst nicht als
getrennte und von einander unabhängige
Entitäten wie isolierte Dinge vorstellen dürfen. Das gewaltige lebende
Netzwerk dieser Welt, das in Sanskrit pratityasamutpada genannt wird und sich laufend kreativ entwickelt, ist mit der
Vorstellung unveränderlicher Entitäten, die als dauerhaft und existent gedacht
werden, nicht vereinbar. Daher dürfen die Komponenten des Menschen, Skandhas,
die nach Buddha den Menschen ausmachen, nicht als eigenständige Entitäten
verstanden werden. Die fünf Skandhas sind: Form, Gefühl, Wahrnehmung, formende
Kräfte/Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten des Menschen sind also in
ihrer Wirklichkeit miteinander vernetzt und bilden ein lebendiges
Wirkungsgefüge; nur in der Vernetzung sind sie lebensfähig. Sie sind daher leer
von einer isolierten und fiktiven Eigen-Existenz als Entität.
In gleicher
Weise macht es keinen Sinn, die Organe und Tätigkeiten der sinnlichen
Wahrnehmung, also Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Denkorgan wie unabhängige Entitäten zu verstehen. Ganz
falsch wäre es, sie nur materiell und
körperlich, also dinghaft zu denken: Das wäre naiver Materialismus. Die
Sinnesorgane sind wie die gesamte Wirklichkeit vernetzt, wirken dauernd auf
einander ein, sie bilden jeweils dynamische Gleichgewichte,
genau das ist Leben. Es gibt daher keine unabhängigen materiellen Entitäten. Es
ist sinnlos, Bereiche und Teile eines Netzes zu verdinglichen und zu isolieren.
Zudem gibt es im lebenden Netz immer die Einheit von Materiellem und
Immateriellem.
In der Lehre
des Mittleren Weges des großen indischen Meisters Nâgârjuna heißt es, dass die zentralen Begriffe der buddhistischen Lehre ebenfalls nicht
dinghaft als Entitäten verstanden werden sollen: Begriffe sind wie Ideen und
Gedanken keine selbständigen Entitäten. Nâgârjuna sagt, dass sie ebenfalls
keine unabhängige Eigenexistenz
haben, denn die Wirklichkeit existiert nur als das Netzwerk mit seinen
Wechselwirkungen und dynamischen Gleichgewichten des Immateriellen und
Materiellen.
Im Herz-Sûtra
werden in gleicher Weise die buddhistischen Begriffe und Vorstellungen von Unwissenheit, Altern, Tod, Leiden,
Ansammlung, Aufhören oder Weg aufgezählt und betont, dass man sie nicht wie
Dinge, feste Entitäten oder Ideen etwa im Sinne der Idealisten verstehen darf. Diese
Begriffe sind daher als solche zu negieren. Aus meiner Sicht war eine solche
Richtigstellung etwa 500 Jahre nach dem Wirken Gautama Buddhas notwendig
geworden, weil sich die Lehrinhalte verselbständigt und verhärtet hatten und
das Wesentliche des praktischen Weges zum Erwachen und der Vernetzung von pratitya samutpada in den Hintergrund
gerückt war. Es ist spannend, dass auch der Westen erst seit einigen
Jahrzehnten die Wirklichkeit von vernetzten Systemen vertieft untersucht hat,
wie zum Beispiel bei den nunmehr stark gefährdeten Öko-Systemen.
Mit der
weiteren Aufzählung im Herz-Sutra, dass es keine
Entitäten wie Weisheit, Erlangen oder Nicht-Erlangen gibt, werden
Ähnlichkeiten zu den scheinbaren Paradoxien der Kôans deutlich, die etwa 700 Jahre später in China im Rahmen des
Chan-Buddhismus entwickelt wurden und die auch Dôgen als Kernaussagen des
Buddhismus in seinen Texten verwendet und interpretiert.
Im folgenden
Teil des Originaltextes des Herz-Sutra wird zur höchsten Weisheit prajñā-pāramitā übergeleitet,
die das lineare und bewertende Denken überschreitet. Die gewöhnlichen
Hindernisse des Denkens und Fühlens werden in diesem Zustand außer Kraft
gesetzt: verschiedene vielfältige Widerstände, Probleme und Blockaden unseres
Körper-und-Geistes. Diese Befreiung wird folgerichtig als höchster Zustand des Nirwana bezeichnet. Nirwana ist nicht etwas
Jenseitiges, sondern kann im jetzigen Leben verwirklicht werden. Damit ist die
Grundlage und zentrale Aussage Gautama Buddhas herausgearbeitet, dass jeder von
uns die Buddha-Natur verwirklichen und zur höchsten Realität erwachen kann.
Gegen Ende des
von Nishijima/Cross übersetzten originalen Textes des Herz-Sutras wird der
unvergleichliche Zustand des Gleichgewichts und dieses Mantras beschrieben:
„Es kann alle Leiden wegnehmen. Es ist wirklich und nicht
leer“.
Hier wird der
Begriff leer als Gegensatz zum falschen Verständnis des Nichts im Nihilismus verwendet und dabei
auf die große Gefahr hingewiesen, dass auch der Begriff und die Vorstellung der Leerheit sich verselbständigen und
verdinglichen kann. Nâgârjuna spricht sogar davon, dass die Leerheit wie eine giftige Schlange gefasst werden muss,
damit sie die Menschen nicht vergiften und sogar töten kann. Er will damit
sagen, dass der Begriff der Leerheit
große Gefahren in sich birgt, wenn er falsch verstanden und verdinglicht wird.
Dies sei gefährlicher, als wenn man Leerheit überhaupt nicht erwähnt.
Am Ende des
Herz-Sûtras wird das Gleichnis der Überquerung eines Flusses angesprochen: Wenn
wir den Buddha-Weg gehen, gelangen wir auf die andere Seite an das Ufer des
Erwachens und der höchsten Weisheit, die das dualistische Denken überschreitet,
prajñā-pāramitā. Dies ist die
höchste Dimension des wahren Handelns und von Körper-und-Geist.
Das ist das Herz des Zen-Buddhismus.
[1] Vgl. Kap. 4, ZEN-Schatzkammer, Bd.
1, S. 54 ff.: "Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle (Ikka no myōju)„"
[2] Vgl. Kap. 5, ZEN-Schatzkammer, Bd.
1, S. 65 ff.: „Wichtige Regeln für die Zazen-Halle der schweren Wolke (Jû-undô shiki) "
[3] Vgl. Kap. 6, ZEN-Schatzkammer, Bd.
1, S. 72 ff.: „Geist hier und jetzt ist Buddha (Soko shin ze butsu))"
[4] Z. B. Vgl. Kap. 9, ZEN-Schatzkammer,
Bd. 1, S. 50 ff.: "Die Stimmen des Tales und die Form der Berge (Keisei
sanshiki)"
[5] Vgl. Kap. 11, ZEN-Schatzkammer, Bd.
1, S. 110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji))"
[6] Vgl. Kap. 17, ZEN-Schatzkammer, Bd.
1, S. 152 ff.: „Lotos-Sûtra: Die
Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke))"
[7] Vgl. Kap. 22, ZEN-Schatzkammer, Bd.
1, S. 192 ff.: „Das Geheimnis der Buddha-Natur (Busshō)"
[8] Vgl. Kap. 23, ZEN-Schatzkammer, Bd.
1, S. 202 ff.: „und reines Handeln der Buddhas (Gyōbutsu yuigi) "
[9] Vgl. Kap. 26, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 231 ff.:
„Was ist das große Erwachen oder die Erleuchtung? (Daigo); Kap. 28, ZEN-Schatzkammer, Bd.
[10] Vgl. Kap. 33, ZEN-Schatzkammer, Bd.
2, S. 80 ff.: „. Der Bodhisattva des großen Mitgefühls und des Helfens (Kannon) "