Sonntag, 28. September 2014

Mittlerer Weg, Gehirnforschung und Evolution der Menschheit

(Yudo J. Seggelke)

Mittlerer Weg
Nâgârjuna ist der große indische Philosoph des Mittleren Weges, er wird häufig als wichtigster Denker zur Philosophie der Leerheit angesehen. In seinem großen Werk in Form eines Lehr-Gedichtes "Weisheit des Mittleren Weges" (MMK) von 27 Kapiteln stellt er zwei tiefgründige Basis-Verse voran, die immer wieder zu Diskussionen und grundsätzlichen Fragen des Mâhâyâna-Buddhismus Anlass geben. Warum?:

Im ersten Vers werden wir aufgefordert, die fest gefahrenen Bedeutungen der im Buddhismus gebräuchlichen Begriffe und Vorstellungen beiseite zu lassen. Nâgârjuna will offensichtlich ganz neu ansetzen und in einer Zeit, in der sich der Buddhismus bereits in verschiedene z. T. eigenartige Linien und Lehr-Meinungen aufgespalten hatte, eine feste Grundlage geben. Einige Übertragungslinien bekämpften sich sogar recht drastisch untereinander. Er wollte sicher die Lehre Gautama Buddhas auf die wesentlichen Kernpunkte zurückführen und Fehlentwicklungen und Fehlinterpretationen eine radikale Absage erteilen. Dabei sollten die validen Ausdifferenzierungen durch den Mâhâyâna beibehalten werden. Dieser Grundansatz ist in der buddhistischen Forschung auch weitgehend unbestritten.

Nagarjuna negiert (!) im ersten Vers die folgenden buddhistischen Begriffs-Paare :
Vergehen und Entstehen, Abbrechen und Andauern, Einheit und Vielheit, Erscheinen und Verschwinden.

Er formuliert daher: " Nicht-Vergehen und Nicht-Entstehen " usw..
Bei oberflächlicher Betrachtung muss es verwundern, dass er diese zentralen Begriffe der buddhistischen Lehre ablehnt und die ´normalen´ Buddhisten damit vor den Kopf stoßen muss. Aber offensichtlich ist das kein Nihilismus und keine undifferenzierte Negation. Er will uns damit zweifellos auffordern, diese Grund-Begriffen neu zu durchdenken und praktisch zu realisieren: wir sollen gemeinsam mit ihm für die buddhistischen Grundlagen ganz von vorn bei Null anfangen und nicht einfache das Überkommene ohne gründliche Reflexion übernehmen. Die buddhistischen Begriffe und Vorstellungen hatten sich z. T. verselbständigt und von der Lebenswirklichkeit abgekoppelt. Sie hatten ein unwirkliches Eigenleben, eine unwirkliche Eigen-Existenz, entwickelt und waren daher inhaltsleer geworden: leere isolierte Worthülsen, die intelligent hin und her geschoben wurden; ein hoch intellektuelles Glasperlenspiel weniger Experten.

Nâgârjuna fragte beim Mittleren Weg dagegen: Was ist wirkliches Entstehen im Netz der Welt und der Mensch? Das übersteigt jeden Begriff und jede übernommene Vorstellung. Es war ja nicht mehr zu übersehen, dass sich vielfältige falsche Vorstellungen, Dogmen und damit verbunden nicht-buddhistische Weltanschauungen eingenistet hatten, die er richtig stellen wollte, um die Kraft und Frische der buddhistischen Lehre und Praxis neu zu beleben. Auf einer abgehobenen und illusionären Weltanschauung kann kein solider Befreiungsweg aufgebaut werden

Im zweiten Vers präzisiert er daher die buddhistische Lehre von der Wirklichkeit und Wahrheit der Welt und des Kosmos :

Alles entwickelt sich andauernd in Wechselwirkung, nichts ist isoliert und kann für sich allein nicht existieren. Das ist das kosmische gewaltige Netzwerk, in dem wir leben, lernen, uns entwickeln und in dem wir unser Leben gestalten.

Fehlentwicklungen führen zu menschlichem Leiden, das nach wie vor in der Welt und bei den Menschen da ist. Gautama Buddha hat mit seinen Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad einen sicheren Weg ausgewiesen, wie wir diesem Leiden entkommen, gewissermaßen aus ihm heraus-wachsen können. In Sanskrit wird diese vernetzte kreative Wirklichkeit des Lebens und der Welt pratitya samutpada genannt. Die großen westlichen Buddhisten Joanna Macy und Francisco Varela haben dieser lernenden Vernetzung der Welt und der Menschen ebenfalls zentrale Bedeutung gegeben; wie ich meine zu Recht. Denn diese Wirklichkeit ermöglicht nicht nur die Überwindung des Leidens, sondern eröffnet die Lebenswelt zur Freude, Befriedung und des Glücks, also zum Erwachen und zur Erleuchtung.

Nishijima Roshi und auch der Dalai Lama haben unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die buddhistische Lehre niemals im Gegensatz zu gesicherten Fakten der Wissenschaft stehen könne. Der Dalai Lama fügt sogar hinzu, dass die buddhistische Lehre entsprechend geändert und angepasst werden müsste, selbst wenn die tibetische Überlieferung etwas anderes sagt. Wir sind daher aufgefordert, die zentralen buddhistischen Aussagen Nâgârjunas auch mit fundierten Ergebnissen der Wissenschaft und Forschung anzugehen, zu begründen oder aber zu ändern oder abzulehnen. Welche Bereiche sind nun von besonderer Bedeutung für das wechsel-wirkende Netzwerk pratitya samutpada und die zentralen Aussagen Nâgârjunas, die er in den folgenden 27 Kapiteln im Einzelnen behandelt. Ich möchte dazu die Bereiche der Evolutionsforschung und Gehirnforschung ansprechen und hier kurz darstellen, soweit ich sie kenne.

Evolutionsforschung
Es gilt nunmehr als gesichert, dass die Erde etwa 6 Milliarden Jahre alt ist und etwa vor 3 Milliarden Jahren das Leben in allerersten Anfängen unter schwierigen Bedingungen entstand. Wir schätzen, dass die Dino-Saurier als hoch entwickelte Lebewesen mit den bekanntlich großen Ausmaßen etwa vor 250 Millionen Jahren auftauchten und etwa vor 65 Millionen Jahren verschwanden. In der Zeit der Dino-Saurier gab es bereits eine üppige Biosphäre, eine lebensnotwendige Atmosphäre mit Sauerstoff, sodass viele Pflanzen und Tierarten in 3 Milliarden Jahren entstanden waren. Die Tiere und Pflanzen bildeten bereits ein hoch vernetztes Biosystem, das durch dauernde Veränderungen und zugleich relativ stabile Gleichgewichtszustände gekennzeichnet war. Durch massive Natur-Katastrophen ergaben sich immer wieder tiefgreifende Erschütterungen der vernetzten Gleichgewichte, die aber danach wieder zu neuer Vielfalt und Vielfältigkeit führten. So wird heute angenommen, dass vor 65 Millionen Jahren ein großer Meteorit auf der Erde einschlug und die Biosphäre grundlegend erschütterte, sodass die Saurier in ihren hoch spezialisierten, vernetzten Lebens- und Sozialsystemen nicht mehr lebensfähig waren. Danach haben sich bekanntlich die Säugetiere aus kleinen Anfängen von der Größe etwa einer Maus bis in die heutige Zeit entwickelt.

Ein markantes Beispiel der Co-Evolution ist die Entwicklung der Farben auf der Erde vor etwa 120 Millionen Jahren. Sie wurde parallel, gekoppelt und vernetzt von den Pflanzen mit ihren Blüten und Früchten einerseits und den Tieren und deren farbfähige Augen andererseits entwickelt. Unsere Welt ist in der Tat ohne Farben heute nicht mehr vorstellbar: das Ergebnis einer vernetzten, co-evolutiven Entwicklung, des Entstehens in Wechselwirkung, pratitya samutpada.

Die ersten Menschen sind je nach dem wie man sie wissenschaftlich definiert vor etwa 500 Tausend Jahren aufgetaucht und haben in der Jung-Steinzeit von Zentralafrika aus die Erde besiedelt, wie wissenschaftlich ziemlich sicher anzunehmen ist. Der Forscher Gerald Hüther geht davon aus, dass sich unser Gehirn seit etwa Einhundert Tausend Jahren nicht wesentlich verändert hat, sondern dass die „Hardware“ unseres Gehirns im Wesentlichen gleich geblieben ist. Das heißt, dass sich die heutigen kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auf der Grundlage des neuronalen Netzes unserer Vorfahren ausgebildet und entwickelt haben und von Generation zu Generation übermittelt wurden.

Was ist das Resumée der Evolutionsforschung? Aus sehr primitiven Anfängen hat sich eine gewaltige Vielfalt von Vernetzungen der Tiere, Pflanzen, der Biosphäre, Atmosphäre und uns Menschen entwickelt. Parallel dazu haben sich hoch komplexe Moleküle, wie zum Beispiel Eiweiß entwickelt, die wesentliche Grundlage des Lebens sind. Dieses hoch komplexe Netzwerk der Erde hat sich laufend weiterentwickelt, vergrößert; es hat selbst schwere Erschütterungen nach einer gewissen Zeit ausgeglichen und zu neuer Evolutionskraft geführt.

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, das Gautama Buddha und Nâgârjuna ein intuitives Verständnis dieses evolutiven vernetzten Prozesses hatten und dass sie daraus die Grundlage der buddhistischen Philosophie, pratitya samutpada , geschaffen haben. Ich vermute weiterhin, dass diese tiefgreifende Kenntnis der hoch vernetzten Wirklichkeit in der Zeit Nâgârjunas bereits bei vielen Buddhisten nicht mehr in vollem Umfang bekannt war.

Gehirnforschung
Wir wissen heute, dass unser Gehirn aus einer sehr großen Zahl von Neuronen Zellen besteht, die miteinander vernetzt sind und dass es im Groben etwa 100 Module oder Teilsysteme gibt, die jeweils eine gewissen Spezialisierung für bestimmte Funktionen unseres Lebens haben. Der Gehirnforschen Manfred Spitzer spricht von einem modularen Aufbau unseres neuronalen Netzes, z. B. des Seh-Systems , das etwas 1/3 der Leistung des Gehirns umfasst, und des motorischen Bewegungs-Systems mit der Steuerung der Arme und Beine usw. in der gleichen Größenordnung. Hinzu kommen die weiteren anderen Gehirn-Leistungen: verbale Fähigkeiten, mathematische Fähigkeiten, ethische Steuerung und gewaltige gespeicherte Informationen. Und alle die Fähigkeiten sind eng und unauflösbar mit Emotionen gekoppelt. Das neuronale Netz umfasst etwa Einhundert Milliarden Neuronen-Zellen, mit etwa Zehntausend Vernetzungen je Zelle. Die Vernetzungs-Schnittstellen werden Synapsen genannt, sie haben biochemische und elektrische Funktionen für die Informations-Übermittelung. Dadurch ergeben sich neben unvorstellbaren Informations-Leistungen eine kaum glaubliche Lernfähigkeit: Unser neuronales Netz besitzt Modularität und Plastizität.

Dieses neuronale Netz steht selbstverständlich in permanenter lebender Wechselwirkung mit allen anderen Organen und Funktionen unseres Körpers und auch sowohl biologisch als auch sozial in dauernder Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Unsere Sprache können wir z. B. nicht allein lernen sondern nur im sozialen Kontakt mit anderen Menschen - und ohne Sprache sind wir eigentlich keine Menschen. Vereinfacht gesagt: ohne soziales Lernen sind wir keine Menschen.

Wenn wir uns fragen, wo ein Ich-Kern lokalisiert sein könnte, finden wir kein derartiges Zentrum im neuronalen Netz, das als ein solches Ich bezeichnet werden kann. Sondern wir müssen sagen: das gesamte neuronale Netz ist in Wechselwirkung mit dem Körper und der Umwelt das Ich. Etwas anders mit Nâgârjuna ausgedrückt: es gibt keine unabhängige zentrale Entität im Menschen oder im Gehirn, die als Ich bezeichnet werden kann. Das Ich ist also eine Benennung des gesamten Netzwerkes mit allen Spezifika, die bekanntlich bei den einzelnen Menschen sehr unterschiedlich sind. Es gibt Individualitäten des Menschen, deren Grundlage aber wohlgemerkt immer ein Netzwerk ist.

Das neuronale Netz ist dauernd aktiv, und es ist lebendig, leistungsfähig und lernt genau so, wie es benutzt wird, und wie es handelt, am besten in der Einheit von Körper und Geist. Neuere Forschungen haben ergeben, dass sich bei intensiven körperlichen Aktivitäten sogar neue Gehirnzellen bilden können und dass sich beim Lernen grundsätzlich neue Vernetzungen im neuronalen Verbund bilden. Bei der Übung vorhandener Fähigkeiten werden bereits vorhandene Leitungs-Verbindungen des Netzes aktiviert und verbessert. Was beim Menschen nicht benutzt wird, verliert seine Funktionsfähigkeit, sodass man sagen kann, das Gehirn ist genau das, was es macht. Das Netzwerk hat also "keine feste Verdrahtung", die wir aus der Elektronik kennen, sondern ist ein biologisch lebendes Netzwerk, das bei Benutzung funktionsfähig ist und bleibt. Es kann sich ein ganzes Leben lang verbessern und erweitern, wenn entsprechende Lernprozesse und Um-Lernprozesse stattfinden.

Wenn wir also in unserem Leben eine radikale Neuausrichtung angehen, um unnötiges Leiden zu vermeiden und neue Lebensfreude und Lebenssicherheit zu gewinnen, ist es notwendig alte eingefahrene negative Verbindungen im neuronalen Netz auslaufen zu lassen und neue bessere aufzubauen.

Der große Zen-Meister Dôgen sagt in diesem Sinne im dritten Kapitel des Shôbôgenzô zur Verwirklichung des Lebens und Universums beim Dharma-Weg:

„Buddhas Wahrheit zu erlernen bedeutet, uns selbst zu erlernen. Uns selbst zu erlernen bedeutet, uns zu vergessen. Uns zu vergessen bedeutet, von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden. Von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden bedeutet, unseren eigenen Körper und (denkenden) Geist und den Körper und Geist der äußeren Welt fallen zu lassen.“

Wenn wir von den vielen "Dharmas erfahren werden", bedeutet das nichts anderes, als dass wir uns für die unverstellte Wirklichkeit der Welt öffnen und die eigenen Fixierungen und Verengungen aufgeben, die uns bisher blockiert haben.

Es gibt in unserem Gehirn und in unserem gesamten Körper keinen unveränderlichen dauerhaften zentralen Ich-Kern, der von der Geburt bis zum Tod konstant bleibt, sich nicht verändert und unsere Individualität dauerhaft ausmacht. Für die Lehre der Reinkarnation der Upanishaden im alten Indien vor Gautama Buddha galt das Gegenteil: es gebe einen Ich-Kern, den die Inder Atman nannten, der als konstante Entität im Leben unverändert bleibt und durch verschiedene Wiedergeburten wandert. Im Lichte der modernen Gehirnforschung ist die Annahme eines solchen Ich-Kerns ausgeschlossen. Unsere wahre Existenz ist also kein dauerhafter unveränderlicher Ich-Kern, sondern ein lebendes vernetztes Ganzes, das sich dauernd verändert und entwickelt, erstaunlich lernfähig ist und durch Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt gekennzeichnet ist. Das ist so, obgleich wir vielleicht an ein unveränderliches Ich glauben. Aber dieser Glaube entspricht nicht der Wirklichkeit.

Entstehung in Wechselwirkung
Die Lebensphilosophie der lernenden Vernetzung, also des Entstehens in Wechselwirkung, wird damit durch die Evolutionsforschung und Gehirnforschung voll bestätigt: pratitya samutpada ist die Wirklichkeit selbst, genau so wie es Nâgârjuna sagt. Sie besteht nicht aus menschlichen Ich-Kernen, Atman, die unabhängig voneinander konstant und dauerhaft von Leben zu Leben wandern, sondern die Menschen sind Teil eines großen Netzwerkes, im Innen- und im Außenverhältnis.

Es geht für uns Menschen darum, innerhalb dieses Netzwerkes ein sinnvolles Leben zu führen und einen guten Lebensweg zu finden. Aus meiner Sicht ist das die Essenz der buddhistischen Lehre und Praxis, die von Gautama Buddha vor etwa 2500 Jahren selbst erfahren, erkannt, erprobt und entwickelt wurde.

Aus meiner Sicht ist der Buddhismus eine ausgesprochen optimistische und positive Weltanschauung und wenn man so will einer Religion. Es geht um Entwickeln, Lernen, Weiterentwickeln und Entstehen: in Kooperation und Wechselwirkung mit anderen Menschen und der Umwelt. Einseitige Abhängigkeiten reduzieren die Lebenschancen und die Lebensfreude ganz erheblich und führen zu Leiden, sei es Abhängigkeiten von uns selbst, wie Gier, Hass, Neid, Angst usw. oder sei es von anderen Menschen oder Umständen. Dann kann nicht viel Neues entstehen, es gibt keinen Lebensoptimismus, sondern das Leben wird immer mehr verengt und gerät in immer größere Abhängigkeit, zum Beispiel von den obigen buddhistischen Giften, aber auch von falschen Gurus, Politikern und charismatischen machtgierigen und verführerischen Menschen:  moderne psychische Wölfe in Schafspelzen. Und es gibt auch spirituelle Wölfe in Schafspelzen!

Dann reduziert sich die Wechselwirkung des Netzwerkes auf eine unidirektionale lineare Abhängigkeit: das ist das abhängige Entstehen oder bedingte Entstehen, das aus meiner Sicht recht ungenau als zentrale Aussage des Buddhismus aufgefasst wird. Nicht das Vergehen, Absterben und die Abhängigkeit sind zentrale Aussage des Buddhismus, sondern das Entstehen, die Wechselwirkung, das Lernen und die Evolution zu größerer Vielfalt und auch Schönheit. Das ist gerade der Befreiungs-Weg zum Erwachen und zur Erleuchtung. Das Lotus-Sûtra spricht in diesem Sinne davon, dass wir unsere Buddha-Welt mit Schönheit schmücken sollen, um ein gutes und glückliches Leben zu führen. Das ist eine wichtige Aussage, die mich überzeugt. Das positive Entstehen, die Weiterentwicklung und vielfältige Lernprozesse sind die zentrale Essenz des Sanskrit-Begriffes pratitya samutpada.

Zusammenfassung
Wir können die beiden ersten Verse von Nâgârjunas Mittleren Weg (MMK) wie folgt zusammenfassen: vergesst eure bisherigen eingefahrenen Vorstellungen und Begriffe, die auf der falschen Weltanschauung eines unveränderlichen Ich-Kerns und isolierter Dinge und Entitäten basieren. Die wahre Existenz des Menschen ist ein offenes, vernetztes Selbst, das dauernd in Entwicklung ist und in dem dauernd etwas Neues entsteht. Jedes Fortschreiten von einem Augenblick zum nächsten ergibt Neuerungen und Entstehungsprozesse. Diese Veränderungen im kreativen evolutiven Netz sind unsere wahre Existenz, nicht irgendetwas Unveränderliches, Dauerhaftes, Festgelegtes und Dogmatisches, auch nicht nach einem buddhistischen Dogma.

Bei einem unveränderlichen Ich-Kern gibt es kein Entstehen sondern nur bei einem offenen lernenden Selbst, dass sich nicht isoliert, sondern im sozialen Netz und in der sozialen Verantwortung tätig ist und handelt. Verkürzt könnte man sagen: das verantwortungsvolle Handeln in der Vernetzung mit Anderen und der Umwelt ist unsere wahre Existenz. Aus meiner Sicht ist dies genau die Lebensphilosophie des Bodhisattva, die im Mahâyâna-Buddhismus zu hoher Blüte gebracht wurde und nicht zuletzt im Zen-Buddhismus bis heute existiert.

Einen unveränderlichen isolierten Ich-Kern gibt es weder geistig noch biologisch und auch nicht materiell.: Der Starke ist am schwächsten allein, er ist allerdings nicht einmal lebensfähig. Maßgeblich ist es, wie wir handeln: Wir sind, was wir machen und wir sind nicht, was wir nicht machen.
Im Zen-Buddhismus heißt es bei Dôgen:

„Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen“ und
„in der Zen-Meditation empfängt das Selbst das (wahre) Selbst“.

Dôgen hat diese zentrale Lehre und Praxis vor allem in den fulminanten Kapiteln zur Verwirklichung im Leben und Universum, zum Herz-Sûtra, zum Lotus-Sûtra und zur Buddha-Natur behandelt. Sie stimmen genau mit Buddhas und Nâgârjunas zentraler Aussage pratitya samtupada überein.

Und Buddhismus ist eine umfassende im Grundsatz positive Religion. Sie kann nicht durch den Satz „Alles ist Leiden" gekennzeichnet werden. Es gibt zweifellos die Wirklichkeit des Leidens, das wir mit dem Achtfachen Pfad überwinden können; oder anders formuliert:

Alles Leiden ist zwar Leiden", aber es kann überwunden und verlernt werden.