(Yudo J. Seggelke)
Wenn
wir uns auf den Weg nach Indien zur Wirkungsstätte Gautama Buddhas am Ganges machen,
könnten wir von Berlin aus nach etwa einem Drittel der Wegstrecke in Ephesus in
der heutigen Türkei Halt machen, wo der griechische Philosoph Heraklit etwas mehr als 500 vor der
Zeitenwende lebte und wirkte. Er ist also ein Zeitgenosse Gautama Buddhas und im Übrigen auch vom chinesischen Weisen Laotse. Wir treffen in dieser Zeit auf
drei Genies in drei verschiedenen Kulturbereichen, dem antiken Griechenland,
Indien und China.
Heraklit
und Buddha sprachen und dachten in einer sehr ähnlichen Sprache, nämlich der
indo-europäischen Sprachfamilie, die damals den gesamten Kulturkreis von
England bis nach Indien umfasste. Die Indo-Europäer stammen nach heutiger
Forschung aus dem südlichen Russland, nördlich des Kaukasus, in der Nähe des
Schwarzen Meeres. Sie wanderten etwa in der Zeit von 1800 bis 1200 vor der
Zeitenwende in die verschiedenen Himmelsrichtungen aus. Der gleiche Ursprung
der sich daraus entwickelnden Sprachen und deren Grammatik ist noch heute für
Sprachwissenschaftler eindeutig erkennbar und nicht zu bezweifeln.
Ich
vermute, dass Gautama Buddha sich noch mit Heraklit hätte verständigen können:
Der Unterschied der Mundart könnte etwa so ähnlich gewesen sein, als wenn ein
Bayer sich mit einem Holländer oder einem Norddeutschen auf Plattdeutsch
unterhält. Vokabeln, Grammatik, Sprachaufbau waren sehr ähnlich. Wir haben es
also mit dem großen Bereich indo-europäischer Kultur und deren Sprachwurzeln zu
tun: der alten indischen Sprache Sanskrit und der etwas später gesprochenen
Sprache Pali. Buddha ist also keineswegs für uns ein ganz fremder exotischer
Denker gewesen, wie vielleicht manche vermuten: Er benutzte die leistungsfähige
und komplexe indo-europäische Sprache des Sanskrit und beherrschte sie sicher
in hohem Maße. Aber er überschritt m. E. dessen manchmal rigiden Grenzen des
Denkens, der Sprache und der Weltanschauung, auch durch die Vereinigung mit den
bereits hoch entwickelten Kulturen Indiens vor der Ankunft der Indo-Europäer.
Diese waren nach unserer Kenntnis ausgesprochen pazifistische Kulturen und
hatten u. a. das Yoga als leistungsfähige Meditation entwickelt: den Zugang zum
spirituellen und psychischen Gleichgewicht, zur Lebensfreude und zur Stärkung
des Immunsystems (!) durch körperliche
Übungen.
Heraklit
ist ein eigenständiger und, wie viele sagen, nicht leicht zu verstehender
Philosoph der Zeit der Vor-Sokratiker, also vor Sokrates, Platon und Aristoteles.
Er blieb in der griechisch-europäischen Philosophie ein besonderer Denker und
gründete keine Schule, die zum Beispiel eine direkte Verbindung zum Idealismus
Platons und zur Pragmatik und Naturwissenschaft von Aristoteles führte. Heraklit
galt sogar als "dunkler" und
trauriger Philososph, der manchmal sogar weinend dargestellt wurde. Allerdings
haben sich hervorragende westliche Philosophen in neuerer Zeit intensiv mit
Heraklit beschäftigt, vor allem Nietzsche und Hegel, aber auch Heidegger hat
eine tiefgründige Schrift über ihn verfasst. Das ist wirklich spannend. Warum ist Heraklit heute so aktuell?
Was
ist nun das Besondere an diesem alten griechischen Philosophen? Berühmt ist ein
Ausspruch, der ihm zugeschrieben wird: „Alles
fließt“. Daraus wird deutlich, dass es ihm um die Veränderungen und
Entwicklungen der Menschen und der Natur ging und ihn die Suche nach der
Wahrheit in dieser Welt im Einklang mit präzisen Beobachtungen antrieb. Was
später die Frage nach dem ewigen unveränderlichen
Sein in der klassischen Philosophie wurde, war ihm eher fremd.
Heraklits Schriften sind nur in Fragmenten überliefert und bilden daher keine
zusammenhängende Lehre. Er kritisierte die selbst
erfundenen Weltanschauungen von Menschen, die sich naiv oder borniert als Super-Zentrum dieser Welt sehen und sich
insofern für etwas ganz Besonderes halten, sie wollen nicht das Ganze sehen. Er
sagt, alle Zitate nach Hans-Georg Gadamer:
„Drum tut es Not, dem gemeinsamen Geiste zu folgen.
Obwohl der Sinn der Rede der des gemeinsamen Geistes ist, leben die Vielen doch,
als hätte jeder seine eigene Vernunft“.
Daraus
wird deutlich, dass Heraklit einen oberflächlichen Individualismus ablehnt und
das Gemeinsame der Menschen aber auch des ganzen Kosmos als wesentlich ansieht.
Wir wissen heute, dass ein derartiger geistiger
Egoismus und eine Ich-zentrierte Weltanschauung zwangsläufig in
Schwierigkeiten führen muss, das Leiden erzeugt und es geradezu anzieht. Aber wir
sollten nicht dem Irrtum verfallen, voreilig an ein System von absoluten ewigen Ideen zu glauben, denen
Idealisten häufig anhängen, sich damit nur allzu schnell von der Wirklichkeit
entfernen und aus der konkreten Welt des Hier und Jetzt verabschieden. Genau
diesem Fehler sind Buddha und die großen Zen-Meister nicht erlegen.
Ich
betrachte Heraklit als wesentliches Bindeglied der griechischen Philosophie zu
Gautama Buddha und möchte dazu zwei weitere Zitate anführen. Zum Fließen sagt Heraklit wörtlich:
„Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
Er teilt sich und geht wieder zusammen. Es kommt heran und es geht wieder weg."
Und
weiter:
„Wenn wir in denselben Strom steigen, so ist es doch
immer Anderes und anderes Wasser, das da heran fließt".
In
einem anderen wichtigen Zitat übersetzt Gadamer:
„In den gleichen Strom steigen wir hinein und steigen
wir nicht hinein. Wir sind und wir sind nicht“.
Das
hat in der Tat große Ähnlichkeiten mit einem Kôan-Ausspruch des Zen-Buddhismus
in China und Japan und fordert unsere Interpretation heraus. Wie deuten Sie diese Sätze?
Zentrale
Aussage Heraklits ist, dass sich der Fluss laufend verändert, aber dass wir uns
auch selbst laufend verändern. Wo
bleibt da das unveränderliche Selbst des Westens oder der dauerhafte Ich-Kern
des Atman im alten Indien der vor-buddhistischen Zeit, den Buddha so eindeutig
ablehnte?
In
manchen Interpretationen wird ein festes dauerhaftes Ufer des Flusses als
Gegensatz zum fließenden Wasser herausgestellt. Dies halte ich nicht für
richtig. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass Heraklit nicht weit von dem
Fluss des Mäander lebte, der nur wenige Kilometer von seiner Heimatstadt
Ephesus entfernt lag. Dieser Fluss gab dem Mäander-Zeichen und Symbol die
charakteristische Form, die von den Griechen häufig als Randverzierung
verwendet wurde.
In
seinem breiten fruchtbaren Tal fließt der Mäander in großen Schleifen von Ost
nach West der Ägäis zu. Dabei verändert er dauernd sein Bachbett, denn gerade
dadurch entstehen die ausladenden Flussschleifen, die sich manchmal auch wieder
schließen, weil sie an der engsten Stelle durchbrechen und dadurch eine direkte
Verbindung für den Fluss schaffen. Der Mäander ist also sicher unbestritten das
Symbol für einen Flusslauf, der sich laufend verändert und laufend an seinen
Böschungen und seinem Flussbett arbeitet.
Es
erscheint mir ausgeschlossen, dass Heraklit dies nicht in seine Überlegungen
einbezog, das heißt, dass sowohl der Fluss wandert als auch das Wasser sich
laufend in Bewegung befindet und in dem sich verändernden Flussbett nach Westen
fließt. Wir haben es also hier mit mindesten zwei Veränderungen zu tun, die nur
zeitlich unterschiedliche Werte haben.
Als
Zwanzigjähriger bin ich Anfang der 60iger Jahre in einem alten VW-Käfer von
Ephesus in das Mäander Tal gefahren. Es war Frühling, alles war saftig und grün
und in dem weiten Mäander Tal, das von Hügeln begrenzt ist, schimmerte das
gewundene Band dieses wunderbaren Flusses. Eine ganz besondere Landschaft, die
sich mir tief eingeprägt hat und die ich noch nach vielen Jahrzehnten als
genaues Bild vor dem geistigen Auge habe. Dies ist die Umgebung, in der
Heraklit seine tiefgehenden philosophischen Untersuchungen anstellte.
Aber
auch der Mensch wandelt sich und verändert sich laufend, wie Heraklit sagt.
Wenn jemand in einen Fluss steigt und wieder herauskommt, ist er schon ein
anderer. Er ist zwar sich selbst ähnlich aber er ist niemals genau der selbe von
vorher. Eine Interpretation, die in den Mittelpunkt stellt, dass gerade die
Individualität des Menschen in dem sich verändernden Fluss identisch und unveränderlich sei, ist daher meines Erachtens unsinnig. Dies wird allerdings von
westlichen Denkern manchmal etwas naiv behauptet: Der Mensch als Konstante und
das Wasser als die veränderliche Umgebung.
Heraklit
ist dagegen ein genauer Beobachter: er spricht davon, dass der Fluss sich auch
besonders dort ändert und teilt, wo der Mensch sich aufhält, wenn er in den
Fluss steigt, und dass der Fluss sich wieder zusammenbewegt, wenn der Mensch
heraus gestiegen ist, also den Raum wieder ausfüllt, in dem vorher der Mensch
war.
Auch
diese Beschreibung zeigt, dass sich Heraklit hauptsächlich mit den
Veränderungen beim Menschen und in der Natur beschäftigt. Nicht zuletzt geht es
ihm um die menschliche Gesellschaft und um deren laufenden Veränderungen; wie auch
Buddha lehrt: wer diese Veränderungen leugnet und verdrängt, sich ihnen also
nicht stellt, wird kein gutes Leben haben. Sicher haben viele Sehnsucht nach
etwas Dauerhaftem und Ewigem, so wie es philosophisch mit dem Begriff des Seins
gekennzeichnet wird.
Aber
ein genauer Beobachter stellt fest, dass sich die Welt laufend verändert, dass
die Natur in stetem Wandel ist und dass auch wir Menschen niemals dieselben
sind, wenn sich die Zeit bewegt, wir also von einem Augenblick in den nächsten
gelangen. Bei Dôgen stehen daher die Wirklichkeit und Wahrheit des Augenblicks im Mittelpunkt seiner
Philosophie, das Jetzt in der Veränderung.
Die lineare Zeit können wir nicht aufhalten, ganz gleich welche gewaltigen
psychischen Energien wir aufbringen. Diese Energien verpuffen ohne brauchbare
Wirkungen für unser Leben.
Typisch
für den Philosophen Heraklit ist m. E. weiterhin, dass er Gegensätze und
Unterschiede akzeptiert und nicht als unvereinbar betrachtet, sondern gerade
deren Beziehung zueinander bedenkt: Das Ganze
braucht die Einzelheiten und die
Einzelheiten brauchen das Ganze. Auf der Sprachebene gibt es in solchen Fällen
viele Begriffspaare, wie hell und dunkel, hoch und tief, hart und weich, usw.,
sie beziehen sich aufeinander und bilden insofern auf einer höheren Ebene eine
Einheit.
Spannend
ist dabei im Übrigen, dass die neue Gehirnforschung festgestellt hat, dass
derartige Begriffspaare nahe beieinander im Gehirn gespeichert sind, und daher
in enger Wechselwirkung bewusst und nicht bewusst erlebt werden. Wenn man den
einen Begriff im Bewusstsein hat, taucht im allgemeinen sehr schnell der andere
auf. Es handelt sich also um gut vernetzte assoziative Verbindungen im
neuronalen Netz, die in enger Wechselwirkung miteinander gespeichert, erinnert
und erfahren werden, die also keineswegs logisch völlig unabhängig von einander
gespeichert sind.
Ganz
im Gegenteil: Wenn der eine Begriff oder der eine Gedanke auftaucht, ist der andere
meistens schnell zur Stelle und schwingt als dazugehörig mit. Der
Gehirnforscher Manfred Spitzer
empfiehlt daher, sich derartiger Gedächtnisstützen zu bedienen, wenn uns ein
Begriff mit aller Gewalt nicht einfallen will. Das Gehirn speichert also
überwiegend assoziativ und nicht formal logisch nach ja und nein im Sinne des
Exklusiven Oder: Denken Sie jetzt sofort an keinen
rosa Elefanten! Das ist kaum zu schaffen, schon ist der rosa Elefant in unserem
Geist.
Derartige
Gegensätze, die in der Logik als unvereinbar definiert sind, haben also geistig
und psychologisch eine ganz enge Beziehung und verweisen aufeinander. Das kann
man vereinfacht als die Einheit von
Unterscheidungen bezeichnen, die zum Beispiel auch in der neuen Philosophie
wieder aufgegriffen wurde und intensiv bearbeitet wird (z. B. George
Spencer-Brown). Es wäre also völlig falsch, Heraklit als irrational und dunklen
Mystiker zu bezeichnen, der sich in unverstehbaren Paradoxien ergeht, die der
menschlichen Vernunft nicht zugänglich sind. Er sagt selbst ganz im Gegenteil:
„Vernünftig Denken ist die höchste aller Tugenden, und
Weisheit ist es, das Wahre zu sagen und im Handeln auf die Natur der Sache zu
hören"
Daraus
wird deutlich, dass er mit dem Begriff Logos
etwas viel Umfassenderes versteht, als was wir in der heutigen Zeit meistens
mit Logik bezeichnen. Wir sind es gewohnt als selbstverständlich anzunehmen,
dass eine Aussage entweder richtig oder falsch ist und dass eine Situation eindeutig
hell oder dunkel ist. Das ist aber sehr abstrakt und nicht die Realität. Etwas
sich Wandelndes und Vermischtes wird dabei meistens ausgeschlossen und die Welt
auf Ja-Nein-Aussagen reduziert. Dies mag für dogmatisches und auch bestimmtes naturwissenschaftliches
und technisches Denken nützlich sein, ist aber für psychologische und
spirituelle Bereiche wenig leistungsfähig.
Heraklit
hat m. E. ein Verständnis der Vernunft und des Logos, das die wahre Wirklichkeit der Natur, des Menschen und des
Kosmos mit guter Komplexität erfasst. Er bewertet die Theorie und Philosophie nicht höher als die Wirklichkeit dieser Welt; er sagt aber auch, dass die Vernunft, die
er als Logos bezeichnet, in der Welt
und im Kosmos wirksam ist.
Für
mich sind damit große Ähnlichkeiten zur Erfahrung und Lehre Buddhas erkennbar:
Das Leben und die Welt als Zusammen-Entstehen
in Wechselwirkung, pratitya samutpada. Auf dieser Grundlage der Weisheit
und des Handelns kann m. E. eine tragfähige realistische Lehre des menschlichen
Glücks und der Überwindung des vermeidbaren Leidens entwickelt werden: Die Vier
Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad. Und es kann zum Flow ohne
Blockaden kommen, ein Ansatz, der in der heutigen Psychologie erhebliche
Bedeutung erlangt hat. Auch dabei ist Heraklit
von ganz neuer Aktualität.