Wir wissen heute, dass sehr viele Funktionen des
Systems Auge-Gehirn „automatisch“ und intuitiv
ablaufen und uns nicht bewusst sind. Das Gehirn leistet besonders viel, wenn
wir uns bewegen, sich also die gesehenen Objekte in Perspektive und Größe
verändern. Dann wird weitgehend automatisch im neuronalen Netz eine „Rückrechnung“ auf einen „statischen Zustand“
der Dinge und Umgebung durchgeführt, während wir uns selbst und die äußeren
Gegenstände sich fortlaufend verändern. Das Gehirn berechnet sozusagen aus den
Daten der veränderlichen Wahrnehmung ein stehendes Bild, das wir scheinbar
sehen. Es entsteht aber in Wirklichkeit nur in unserer Vorstellung und gibt nur
scheinbar die konkrete Situation korrekt wieder. Wenn wir uns dessen jedoch
bewusst werden, sehen wir mehr: wirkliche Prozesse, das Leben dieser Welt.
Viele Vorgänge bei der Wahrnehmung haben wir also im
Laufe des Lebens erlernt, vor allem in der Kindheit. Dabei sind auch psychische
Prozesse ausgesprochen aktiv, oft sogar dominant, zum Beispiel wird aus der
komplexen Vielfalt nach Wichtigem und Unwichtigem ausgewählt. Weiterhin wird
emotional nach angenehm, neutral oder unangenehm bewertet. Vor allem haben wir
einen ausgeprägten Sinn für Schönes und Harmonisches.
Nicht zuletzt wird die Wahrnehmung durch Vorurteile und Doktrinen
verzerrt und je nach Interessen „verbogen“. Selbstverständlich spielt auch die
Gier nach Vorteil, Genuss, Macht, Sex und Profit beim gewöhnlichen, noch nicht
befreiten Sehen eine große Rolle. Der Wirklichkeit wird also etwas scheinbar
Wesentliches hinzugefügt oder weggenommen. Es ist nicht die Wirklichkeit
selbst, die wir als Wahrnehmungen im Bewusstsein „sehen“.
Dōgen erläutert in diesem Kapitel, wie wir
wirklichkeitsnäher und unverzerrt sehen können, wenn wir mit erwachten Augen
sehen, was über die nur physischen und physikalischen Dimensionen hinausgeht.
Gerade die Wahrnehmung mit den Augen legt häufig das dualistische Sehen und
Verstehen der Welt nahe, so als ob die Dinge außerhalb von uns selbst und
getrennt von uns objektiv vorhanden wären. Aber das ist eine oft fatale
Verengung der Wirklichkeit. Der Buddhismus lehrt, dass eine solche dualistische
Sichtweise zwar für einige Lebensbereiche und Situationen durchaus brauchbar
sein kann, tiefer gehende psychische und spirituelle Bereiche damit jedoch
nicht erreicht werden können.
Die dualistische Wahrnehmung sowie die unbewusst
mitlaufenden Bewertungen und Ideen können die volle Komplexität der
Wirklichkeit nur annäherungsweise erfassen und stellen nur Ausschnitte und
Teilwahrheiten dar. Wie Gautama Buddha lehrt, ist dies eine wesentliche Ursache für das Leiden in unserem Leben.
Durch seine Lehre und Praxis können wir erwachen, also die erste und zweite
Erleuchtung nach Nishijima Roshi erlangen und weiter zur Wirklichkeit
vordringen. Auch bei den Mystikern im Westen ergibt gerade die Aufhebung der
Trennung von Subjekt und Objekt die umfassende Einheitserfahrung mit dem
Göttlichen, das heißt dem Nicht-Sagbaren.
Wenn wir auf dem Weg des Buddha-Dharma vorangehen
oder sogar erwachen, bedeutet dies nach Dōgen, dass wir die „alten“, begrenzten
und verzerrenden Augen verlieren und sich die „neuen“, erwachten öffnen. Dazu müssen wir uns von verzerrenden
Affekten und Emotionen, unbewusst gesteuerten Sichtweisen und Vorurteilen sowie
lieb gewordenen „Denknestern“ trennen, um zu einer neuen Freiheit des Sehens,
Handelns und Denkens zu kommen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein solches
Erwachen nicht mithilfe des unterscheidenden dualistischen Denkens allein
möglich ist, da gerade die verzerrende Trennung von Subjekt und Objekt in
diesem Denken verankert ist. Durch absolutistische Verzerrungen kommen weitere
Probleme hinzu. Oder anders ausgedrückt, können wir auf diese Weise unseren
eigenen blinden Fleck nicht selbst sehen.
Dōgen regt an, dass wir einerseits die konkreten
Dinge unserer Umwelt sehr genau betrachten sollen, genauso wie sie sind, aber
dass unser Sehen über die äußere Form hinausgehen muss, denn nur dann können
wir die buddhistische, umfassende Wirklichkeit erkennen. In diesem Zusammenhang
zitiert er seinen Meister Tendō Nyojō (Tiantong Rujing):
„Der Herbstwind ist rein und frisch, und der
Herbstmond ist klar und hell.
Die Erde, die Berge und Flüsse leuchten klar im Auge.
Tendō sieht sie, und sie begegnen sich neu und
frisch.
Sie laufen mit Stöcken rufend umher und prüfen mich,
den Flickenmönch.“
Dōgen erklärt das Gedicht folgendermaßen: „Den
Flickenmönch zu prüfen, bedeutet festzustellen, ob Tendō Nyojō ein wahrer
Buddha ist. Das Wesentliche ist hier, dass (die Erde, die Berge und die Flüsse)
mit Stöcken und Katsu-Schreien umherrennen, und dies nennt man, sie in jedem
Augenblick neu und frisch zu sehen. Das ist das kraftvolle Wirken des
Buddha-Auges.“
In der ersten Zeile des Gedichts geht es um die
Wahrnehmung des Windes und Mondes im Herbst. Diese Jahreszeit ist in China und
Japan besonders beliebt, weil die Hitze und Schwüle des Sommers dann vorbei
sind, die Nächte wieder kühl und klar werden und die Chrysanthemen blühen. Das
Laub färbt sich in vielfältigen wunderbaren Farbtönen. Das Gedicht von Tendō
Nyojō reicht also über eine äußerliche, durch die Form und Materie festgelegte
Beschreibung hinaus und vermittelt uns eine große poetische und spirituelle
Kraft.
Dōgen spricht von der Begegnung der klaren Erde, Berge
und Flüsse mit dem Mönch. Dabei wird deutlich, dass eine Trennung in ein
Subjekt, das sieht, und die Natur als Objekt, das gesehen wird, unsinnig ist
oder zumindest eine eindimensionale verengte Sichtweise darstellt. In der
letzten Zeile wird auf das Erwachen des Meisters verwiesen, der von der Natur
geprüft und getestet wird. Das heißt, dass die Natur in besonderer Weise
unseren psychischen und geistigen Zustand an uns selbst zurückmelden kann und
damit die Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Wer nach Dōgens Überzeugung in
lebendiger Wechselwirkung mit der Natur das große Erwachen erfährt, zum
Beispiel durch blühende Pfirsichbäume im Frühling oder den Wind und Mond im
Herbst, ist besonders sicher im Gleichgewicht verankert und „fällt nicht in
Ideologien und Statik zurück“.
Die Klarheit und Frische des Herbstwindes erfahren
und erleben wir genau im Augenblick mit allen Sinnen, wenn wir offen für die
Natur und nicht durch eigene Gedanken und Emotionen besetzt oder auch nur
abgelenkt sind. Wir alle kennen das tiefe Gefühl der Einheit mit der Natur und
die heilende Kraft, die von solchen Augenblicken ausgeht. Dann kann man in der
Tat nicht mehr zwischen Außen und Innen unterscheiden, sondern erfährt den
einzigartigen Augenblick der Einheit und des Göttlichen. Dōgen führt weiter
aus: „Ein solcher Flickenmönch liebt weder das große Erwachen noch das
Nicht-Erwachen, sondern er ist selbst das Buddha-Auge.“
Demnach sind also Begriffe wie „Erwachen“ oder
„Nicht-Erwachen“ überflüssig und stören die unmittelbare Verbindung. Man
benötigt sie überhaupt nicht mehr, denn es geht um das direkte Erfahren und
Erleben der Wirklichkeit. Dafür lassen sich zwar Bezeichnungen erfinden,
erlernen und verwenden – und diese sind durchaus nützlich für die Kommunikation
und die Lehre des Buddha-Dharma –, aber sie sind nicht die Wirklichkeit selbst.
Sie sind wie der Finger, der auf den Mond zeigt, aber dieses Zeigen ist nicht
die Wirklichkeit des Mondes.
Dōgen erläutert dann, dass quantitative und
materielle Begriffe wie groß und klein für die Buddha-Augen nicht angemessen
sind. So sei es zum Beispiel nicht sinnvoll, zu sagen, dass der Körper groß und
die Augen klein sind. Die physische, materielle Dimension des Auges ist für die
hier untersuchten Buddha-Augen wenig geeignet. Dōgen zitiert ein Kōan-Gespräch
zwischen dem noch jungen Meister Tōzan
(Dongshan
Liangjie) und dem älteren Meister Ungan (Yunyan
Tansheng), das zunächst schwer
verständlich erscheint:
Tōzan sagte: „Ich bitte euch um das Auge, Meister.“
Ungan fragte: „Wem hast du deines gegeben?“
Tōzan antwortete: „Ich habe keines.“
Darauf erwiderte Ungan: „Du hast (bereits) das
(Buddha-)Auge. Wohin blickst du?“
Der junge Tōzan beantwortete diese Frage nicht.
Stattdessen sagte Ungan: „Das Auge zu erbitten, ist selbst schon das Auge, oder
trifft dies nicht zu?“
Tōzan entgegnete: „Es ist nicht das Auge.“
Ich möchte nun versuchen, dieses schwierige Kōan zum
Sehen und zur Wahrnehmung zu entschlüsseln. Zu Beginn bittet Tōzan „um das
Auge“. Das bedeutet, dass er die Lehre für das Erwachen oder zum Buddha-Dharma
erbittet. Sein Lehrer, Meister Ungan, fragt ihn daraufhin, wem er sein Auge
gegeben habe, wenn er nun ein neues haben wolle. Dies hört sich so an, als ob
das erwachte Auge ein Objekt sein kann, das man jemand anderem gibt, aber das
trifft nicht zu, denn beim Buddha-Auge gibt es keine Unterscheidung zwischen
Subjekt und Objekt. Deshalb erwidert Tōzan auch: „Ich habe keines.“ Diese
Aussage kann ähnlich verstanden werden wie die Frage, ob man die Buddha-Natur
hat oder nicht. Eine solche Frage kann aber nicht einfach mit Ja oder Nein
beantwortet werden, denn die Aussage würde auf der materiellen Ebene der
Objekte bleiben und könnte die Lebensphilosophie und -Wirklichkeit des
Erwachens nicht beschreiben. Dōgen erläutert hierzu:
„Wenn Tōzan sagt, er habe kein (Auge), so ist das
Wesentliche dabei, dass das Nicht-Haben in seinen Worten besagt, dass er das
(wahre) Auge (tatsächlich) hat und damit in irgendeine Richtung blickt.“
Er bittet uns dann, uns intensiv mit diesem Dialog zu
beschäftigen und nicht voreilig zu denken, wir hätten alles verstanden. Zum
Beispiel fragt er uns, was es bedeutet, wenn man mit erwachten Augen in eine
bestimmte Richtung blickt. Auch diese Frage kann nicht konkretistisch durch
Denken oder materiell durch Wahrnehmung beantwortet werden. Dōgen erklärt,
damit sei gemeint, dass man das Buddha-Auge verwirklichen könne. Im obigen Kōan-Gespräch
bleibt Tōzan an einer Stelle die Antwort schuldig. Dies geschieht aber sicher
nicht aus Unhöflichkeit, sondern er möchte wohl damit andeuten, dass er das
Wesentliche mit Worten nicht ausdrücken kann. Dōgen bemerkt hierzu:
„Das heißt nicht, dass er verwirrt gewesen wäre,
sondern sein Schweigen zeigt die Qualität seines karmischen Geistes, der
unabhängig und selbstständig war.“ Und er ergänzt: „Hier blitzt das Buddha-Auge
plötzlich auf, dieses kraftvolle, lebendige Auge, das (die gewöhnliche Art zu
sehen) zerspringen lässt.“
Die letzte Bemerkung von Tōzan, „Es ist nicht das
Auge“, bezeichnet Dōgen als das wahre Buddha-Auge, „das sich mit lauter Stimme
selbst bekundet“. Wenn wir die gewöhnlichen Augen nicht mehr haben und im
Buddha-Dharma vorangeschritten sind, dann begegnen wir nach Dōgen „dem
kraftvollen Buddha-Auge, das sich selbst offenbart“. Am Ende seines Kommentars
zu diesem Kōan-Gespräch erklärt er:
„Letztlich erfahrt und erforscht ihr das Höchste,
wenn ihr direkt in das Buddha-Auge hineinspringt. Dies bedeutet, dass ihr den
Bodhi-Geist erweckt, euch schult und die große Wahrheit erfahrt. Dieses
Buddha-Auge war von Anfang an weder subjektiv noch objektiv. Da es nirgends
auch nur das geringste Hindernis gibt, gibt es auch hierbei überhaupt kein
Hindernis.“
Damit macht er deutlich, dass Vorurteile, Doktrinen
wie der Substantialismus und festgefügte Meinungen genauso wie ungesteuerte
emotionale Anziehung oder Ablehnung auf dem Weg des Buddha-Dharma und vor allem
bei der buddhistischen Praxis aufgelöst und überwunden werden. Erst dann kann
man mit seinen Augen die unverstellte Wirklichkeit sehen, die über äußere
Formen, das Materielle und Ideologien hinausgeht.
Denn die Buddha-Wahrheit ist nichts Ausgedachtes, ist keine Doktrin und keine
Ideologie, sondern die Wirklichkeit. Dagegen sehen wir mit den gewöhnlichen
Augen nur einen Teil dieser Wirklichkeit oder
sogar zusätzliche Fantasiegebilde oder
Vorspiegelungen. Dies ist dasselbe wie eine Fata Morgana in der Hitze der
Wüste, die uns Wasser und eine Oase vorgaukelt, die es aber in der Realität
nicht gibt. Wenn man einer Fata Morgana entgegengeht und ihr näher kommt, löst
sie sich immer auf, weil uns die Augen vorher getäuscht haben. Diesen Vorgang
kann man durchaus mit der heutigen medialen und digitalen Scheinwelt von Film,
Fernsehen und den sogenannten sozialen Netzen vergleichen, die meist einen sehr
geringen Wirklichkeitswert hat und noch nicht einmal dem Finger gleicht, der
auf die Wahrheit des Mondes zeigt. Denn oft geht es in den Medien um die Gier
der Akteure nach Ruhm und Profit, und dabei verlieren die Zuschauer wertvolle
Zeit ihres kurzen Lebens. Ihr Bewusstsein wird von Scheinwirklichkeiten,
flüchtigen Emotionen und Scheinbildern überschwemmt und frakturiert. Nicht
zuletzt wird der Geist dumpf und die Kreativität verschwindet. Der
Gehirnforscher Manfred Spitzer nennt das „digitale Demenz“[ii].
Dōgen berichtet auch von seinem eigenen Meister Tendō
Nyojō, der seine Schüler durch „Bodhidharmas Auge“ zu wirklichen Menschen
gemacht habe. Die Abbildungen des indischen Meisters Bodhidharma zeigen ihn meist mit sehr großen Augen, was einerseits
wiedergibt, dass seine Augen größer als die der meisten Chinesen waren, aber
darüber hinaus soll dies sicher bedeuten, dass er die Buddha-Augen besaß, weil
er erwacht war. Dōgen sagt, dass „jeder Mensch (bei der Zazen-Meditation) mit
den Buddha-Augen sitzt“. Der von ihm verwendete japanische Ausdruck enthält das
Wort taza und bildet damit die Brücke
zu der wahren Zazen-Praxis Shikantaza,
was „einfach nur sitzen“ bedeutet. Das heißt im Rahmen dieses Kapitels, mit
Buddha-Augen zu sitzen. Dōgen sagt hierzu: „Dies ist nichts anderes als das
kraftvolle Handeln, das die Menschen in der Zazen-Halle schult.“ Dann folgt ein
Gedicht von Tendō Nyojō:
„Gautama verliert seine (bisherigen) Augen.
Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.
Jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen.
Und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind.“
Dieses Gedicht sagt aus, dass Gautama Buddha seine
alten, gewöhnlichen Augen durch das Erwachen verloren hatte. Er sah deshalb die
Welt und Wirklichkeit mit ganz neuen Augen, die über die herkömmliche sinnliche
Wahrnehmung hinausführen. Aber die Wirklichkeit der Welt besteht nicht nur aus
schönen Blüten, wie hier aus denen des Pflaumenbaums, sondern sie hält auch
Dornen und Beschwerlichkeiten bereit. Diese werfen uns aber nicht um, wenn wir
uns im Gleichgewicht befinden und die Buddha-Augen erlangt haben. Abschließend
werden noch weitere Gedichte von Tendō Nyojō
zitiert, darunter dieses:
„Die Sonne im Süden entfernt sich langsam.
Das Licht der Klarheit strahlt in den Augen.
Der Atem strömt durch die Nasenlöcher.“
Mit
dem Atem und den Nasenlöchern ist das pulsierende wahre Leben gemeint. Zum
Schluss betont Dōgen, dass sich die Kraft und Lebendigkeit des Buddha-Auges je im konkreten Augenblick
verwirklichen. Die Augen „springen heraus“ in den Augenblick, wir geben alles,
und „dies ist der erste Tag“. Er sagt damit nichts anderes, als dass wir jeden
Augenblick frisch und neu wahrnehmen, erfahren und erleben können und dass dies
die Kraft der Buddha-Augen darstellt.
Ich bin überzeugt, dass Nāgārjuna eine solche Befreiung des Sehens meint, wenn er eindringlich vor falschen Doktrinen warnt.