Samstag, 1. Oktober 2022

Die Buddha-Augen im Zen

In diesem Kapitel des Shōbōgenzō („Ganzei“) beschreibt Meister Dōgen mit eindrucksvoller Klarheit das buddhistische Verständnis der Augen und des Sehens.[i] Der Begriff ganzei kommt im Shōbōgenzō häufiger vor und meint unsere körperlichen Augen, mit denen wir sehen.

Wir wissen heute, dass sehr viele Funktionen des Systems Auge-Gehirn „automatisch“ und intuitiv ablaufen und uns nicht bewusst sind. Das Gehirn leistet besonders viel, wenn wir uns bewegen, sich also die gesehenen Objekte in Perspektive und Größe verändern. Dann wird weitgehend automatisch im neuronalen Netz eine „Rückrechnung“ auf einen „statischen Zustand“ der Dinge und Umgebung durchgeführt, während wir uns selbst und die äußeren Gegenstände sich fortlaufend verändern. Das Gehirn berechnet sozusagen aus den Daten der veränderlichen Wahrnehmung ein stehendes Bild, das wir scheinbar sehen. Es entsteht aber in Wirklichkeit nur in unserer Vorstellung und gibt nur scheinbar die konkrete Situation korrekt wieder. Wenn wir uns dessen jedoch bewusst werden, sehen wir mehr: wirkliche Prozesse, das Leben dieser Welt.

Viele Vorgänge bei der Wahrnehmung haben wir also im Laufe des Lebens erlernt, vor allem in der Kindheit. Dabei sind auch psychische Prozesse ausgesprochen aktiv, oft sogar dominant, zum Beispiel wird aus der komplexen Vielfalt nach Wichtigem und Unwichtigem ausgewählt. Weiterhin wird emotional nach angenehm, neutral oder unangenehm bewertet. Vor allem haben wir einen ausgeprägten Sinn für Schönes und Harmonisches. Nicht zuletzt wird die Wahrnehmung durch Vorurteile und Doktrinen verzerrt und je nach Interessen „verbogen“. Selbstverständlich spielt auch die Gier nach Vorteil, Genuss, Macht, Sex und Profit beim gewöhnlichen, noch nicht befreiten Sehen eine große Rolle. Der Wirklichkeit wird also etwas scheinbar Wesentliches hinzugefügt oder weggenommen. Es ist nicht die Wirklichkeit selbst, die wir als Wahrnehmungen im Bewusstsein „sehen“.

Dōgen erläutert in diesem Kapitel, wie wir wirklichkeitsnäher und unverzerrt sehen können, wenn wir mit erwachten Augen sehen, was über die nur physischen und physikalischen Dimensionen hinausgeht. Gerade die Wahrnehmung mit den Augen legt häufig das dualistische Sehen und Verstehen der Welt nahe, so als ob die Dinge außerhalb von uns selbst und getrennt von uns objektiv vorhanden wären. Aber das ist eine oft fatale Verengung der Wirklichkeit. Der Buddhismus lehrt, dass eine solche dualistische Sichtweise zwar für einige Lebensbereiche und Situationen durchaus brauchbar sein kann, tiefer gehende psychische und spirituelle Bereiche damit jedoch nicht erreicht werden können.

Die dualistische Wahrnehmung sowie die unbewusst mitlaufenden Bewertungen und Ideen können die volle Komplexität der Wirklichkeit nur annäherungsweise erfassen und stellen nur Ausschnitte und Teilwahrheiten dar. Wie Gautama Buddha lehrt, ist dies eine wesentliche Ursache für das Leiden in unserem Leben. Durch seine Lehre und Praxis können wir erwachen, also die erste und zweite Erleuchtung nach Nishijima Roshi erlangen und weiter zur Wirklichkeit vordringen. Auch bei den Mystikern im Westen ergibt gerade die Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt die umfassende Einheitserfahrung mit dem Göttlichen, das heißt dem Nicht-Sagbaren.

Wenn wir auf dem Weg des Buddha-Dharma vorangehen oder sogar erwachen, bedeutet dies nach Dōgen, dass wir die „alten“, begrenzten und verzerrenden Augen verlieren und sich die „neuen“, erwachten öffnen. Dazu müssen wir uns von verzerrenden Affekten und Emotionen, unbewusst gesteuerten Sichtweisen und Vorurteilen sowie lieb gewordenen „Denknestern“ trennen, um zu einer neuen Freiheit des Sehens, Handelns und Denkens zu kommen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein solches Erwachen nicht mithilfe des unterscheidenden dualistischen Denkens allein möglich ist, da gerade die verzerrende Trennung von Subjekt und Objekt in diesem Denken verankert ist. Durch absolutistische Verzerrungen kommen weitere Probleme hinzu. Oder anders ausgedrückt, können wir auf diese Weise unseren eigenen blinden Fleck nicht selbst sehen.

Dōgen regt an, dass wir einerseits die konkreten Dinge unserer Umwelt sehr genau betrachten sollen, genauso wie sie sind, aber dass unser Sehen über die äußere Form hinausgehen muss, denn nur dann können wir die buddhistische, umfassende Wirklichkeit erkennen. In diesem Zusammenhang zitiert er seinen Meister Tendō Nyojō (Tiantong Rujing):

„Der Herbstwind ist rein und frisch, und der Herbstmond ist klar und hell.

Die Erde, die Berge und Flüsse leuchten klar im Auge.

Tendō sieht sie, und sie begegnen sich neu und frisch.

Sie laufen mit Stöcken rufend umher und prüfen mich, den Flickenmönch.“

 

Dōgen erklärt das Gedicht folgendermaßen: „Den Flickenmönch zu prüfen, bedeutet festzustellen, ob Tendō Nyojō ein wahrer Buddha ist. Das Wesentliche ist hier, dass (die Erde, die Berge und die Flüsse) mit Stöcken und Katsu-Schreien umherrennen, und dies nennt man, sie in jedem Augenblick neu und frisch zu sehen. Das ist das kraftvolle Wirken des Buddha-Auges.“

In der ersten Zeile des Gedichts geht es um die Wahrnehmung des Windes und Mondes im Herbst. Diese Jahreszeit ist in China und Japan besonders beliebt, weil die Hitze und Schwüle des Sommers dann vorbei sind, die Nächte wieder kühl und klar werden und die Chrysanthemen blühen. Das Laub färbt sich in vielfältigen wunderbaren Farbtönen. Das Gedicht von Tendō Nyojō reicht also über eine äußerliche, durch die Form und Materie festgelegte Beschreibung hinaus und vermittelt uns eine große poetische und spirituelle Kraft.

Dōgen spricht von der Begegnung der klaren Erde, Berge und Flüsse mit dem Mönch. Dabei wird deutlich, dass eine Trennung in ein Subjekt, das sieht, und die Natur als Objekt, das gesehen wird, unsinnig ist oder zumindest eine eindimensionale verengte Sichtweise darstellt. In der letzten Zeile wird auf das Erwachen des Meisters verwiesen, der von der Natur geprüft und getestet wird. Das heißt, dass die Natur in besonderer Weise unseren psychischen und geistigen Zustand an uns selbst zurückmelden kann und damit die Wahrheit des Buddha-Dharma lehrt. Wer nach Dōgens Überzeugung in lebendiger Wechselwirkung mit der Natur das große Erwachen erfährt, zum Beispiel durch blühende Pfirsichbäume im Frühling oder den Wind und Mond im Herbst, ist besonders sicher im Gleichgewicht verankert und „fällt nicht in Ideologien und Statik zurück“.

Die Klarheit und Frische des Herbstwindes erfahren und erleben wir genau im Augenblick mit allen Sinnen, wenn wir offen für die Natur und nicht durch eigene Gedanken und Emotionen besetzt oder auch nur abgelenkt sind. Wir alle kennen das tiefe Gefühl der Einheit mit der Natur und die heilende Kraft, die von solchen Augenblicken ausgeht. Dann kann man in der Tat nicht mehr zwischen Außen und Innen unterscheiden, sondern erfährt den einzigartigen Augenblick der Einheit und des Göttlichen. Dōgen führt weiter aus: „Ein solcher Flickenmönch liebt weder das große Erwachen noch das Nicht-Erwachen, sondern er ist selbst das Buddha-Auge.“

Demnach sind also Begriffe wie „Erwachen“ oder „Nicht-Erwachen“ überflüssig und stören die unmittelbare Verbindung. Man benötigt sie überhaupt nicht mehr, denn es geht um das direkte Erfahren und Erleben der Wirklichkeit. Dafür lassen sich zwar Bezeichnungen erfinden, erlernen und verwenden – und diese sind durchaus nützlich für die Kommunikation und die Lehre des Buddha-Dharma –, aber sie sind nicht die Wirklichkeit selbst. Sie sind wie der Finger, der auf den Mond zeigt, aber dieses Zeigen ist nicht die Wirklichkeit des Mondes.

Dōgen erläutert dann, dass quantitative und materielle Begriffe wie groß und klein für die Buddha-Augen nicht angemessen sind. So sei es zum Beispiel nicht sinnvoll, zu sagen, dass der Körper groß und die Augen klein sind. Die physische, materielle Dimension des Auges ist für die hier untersuchten Buddha-Augen wenig geeignet. Dōgen zitiert ein Kōan-Gespräch zwischen dem noch jungen Meister Tōzan (Dongshan Liangjie) und dem älteren Meister Ungan (Yunyan Tansheng), das zunächst schwer verständlich erscheint:

Tōzan sagte: „Ich bitte euch um das Auge, Meister.“

Ungan fragte: „Wem hast du deines gegeben?“

Tōzan antwortete: „Ich habe keines.“

Darauf erwiderte Ungan: „Du hast (bereits) das (Buddha-)Auge. Wohin blickst du?“

Der junge Tōzan beantwortete diese Frage nicht. Stattdessen sagte Ungan: „Das Auge zu erbitten, ist selbst schon das Auge, oder trifft dies nicht zu?“

Tōzan entgegnete: „Es ist nicht das Auge.“

Ich möchte nun versuchen, dieses schwierige Kōan zum Sehen und zur Wahrnehmung zu entschlüsseln. Zu Beginn bittet Tōzan „um das Auge“. Das bedeutet, dass er die Lehre für das Erwachen oder zum Buddha-Dharma erbittet. Sein Lehrer, Meister Ungan, fragt ihn daraufhin, wem er sein Auge gegeben habe, wenn er nun ein neues haben wolle. Dies hört sich so an, als ob das erwachte Auge ein Objekt sein kann, das man jemand anderem gibt, aber das trifft nicht zu, denn beim Buddha-Auge gibt es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt. Deshalb erwidert Tōzan auch: „Ich habe keines.“ Diese Aussage kann ähnlich verstanden werden wie die Frage, ob man die Buddha-Natur hat oder nicht. Eine solche Frage kann aber nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden, denn die Aussage würde auf der materiellen Ebene der Objekte bleiben und könnte die Lebensphilosophie und -Wirklichkeit des Erwachens nicht beschreiben. Dōgen erläutert hierzu:

„Wenn Tōzan sagt, er habe kein (Auge), so ist das Wesentliche dabei, dass das Nicht-Haben in seinen Worten besagt, dass er das (wahre) Auge (tatsächlich) hat und damit in irgendeine Richtung blickt.“

Er bittet uns dann, uns intensiv mit diesem Dialog zu beschäftigen und nicht voreilig zu denken, wir hätten alles verstanden. Zum Beispiel fragt er uns, was es bedeutet, wenn man mit erwachten Augen in eine bestimmte Richtung blickt. Auch diese Frage kann nicht konkretistisch durch Denken oder materiell durch Wahrnehmung beantwortet werden. Dōgen erklärt, damit sei gemeint, dass man das Buddha-Auge verwirklichen könne. Im obigen Kōan-Gespräch bleibt Tōzan an einer Stelle die Antwort schuldig. Dies geschieht aber sicher nicht aus Unhöflichkeit, sondern er möchte wohl damit andeuten, dass er das Wesentliche mit Worten nicht ausdrücken kann. Dōgen bemerkt hierzu:

„Das heißt nicht, dass er verwirrt gewesen wäre, sondern sein Schweigen zeigt die Qualität seines karmischen Geistes, der unabhängig und selbstständig war.“ Und er ergänzt: „Hier blitzt das Buddha-Auge plötzlich auf, dieses kraftvolle, lebendige Auge, das (die gewöhnliche Art zu sehen) zerspringen lässt.“

Die letzte Bemerkung von Tōzan, „Es ist nicht das Auge“, bezeichnet Dōgen als das wahre Buddha-Auge, „das sich mit lauter Stimme selbst bekundet“. Wenn wir die gewöhnlichen Augen nicht mehr haben und im Buddha-Dharma vorangeschritten sind, dann begegnen wir nach Dōgen „dem kraftvollen Buddha-Auge, das sich selbst offenbart“. Am Ende seines Kommentars zu diesem Kōan-Gespräch erklärt er:

„Letztlich erfahrt und erforscht ihr das Höchste, wenn ihr direkt in das Buddha-Auge hineinspringt. Dies bedeutet, dass ihr den Bodhi-Geist erweckt, euch schult und die große Wahrheit erfahrt. Dieses Buddha-Auge war von Anfang an weder subjektiv noch objektiv. Da es nirgends auch nur das geringste Hindernis gibt, gibt es auch hierbei überhaupt kein Hindernis.“

Damit macht er deutlich, dass Vorurteile, Doktrinen wie der Substantialismus und festgefügte Meinungen genauso wie ungesteuerte emotionale Anziehung oder Ablehnung auf dem Weg des Buddha-Dharma und vor allem bei der buddhistischen Praxis aufgelöst und überwunden werden. Erst dann kann man mit seinen Augen die unverstellte Wirklichkeit sehen, die über äußere Formen, das Materielle und Ideologien hinausgeht. Denn die Buddha-Wahrheit ist nichts Ausgedachtes, ist keine Doktrin und keine Ideologie, sondern die Wirklichkeit. Dagegen sehen wir mit den gewöhnlichen Augen nur einen Teil dieser Wirklichkeit oder sogar zusätzliche Fantasiegebilde oder Vorspiegelungen. Dies ist dasselbe wie eine Fata Morgana in der Hitze der Wüste, die uns Wasser und eine Oase vorgaukelt, die es aber in der Realität nicht gibt. Wenn man einer Fata Morgana entgegengeht und ihr näher kommt, löst sie sich immer auf, weil uns die Augen vorher getäuscht haben. Diesen Vorgang kann man durchaus mit der heutigen medialen und digitalen Scheinwelt von Film, Fernsehen und den sogenannten sozialen Netzen vergleichen, die meist einen sehr geringen Wirklichkeitswert hat und noch nicht einmal dem Finger gleicht, der auf die Wahrheit des Mondes zeigt. Denn oft geht es in den Medien um die Gier der Akteure nach Ruhm und Profit, und dabei verlieren die Zuschauer wertvolle Zeit ihres kurzen Lebens. Ihr Bewusstsein wird von Scheinwirklichkeiten, flüchtigen Emotionen und Scheinbildern überschwemmt und frakturiert. Nicht zuletzt wird der Geist dumpf und die Kreativität verschwindet. Der Gehirnforscher Manfred Spitzer nennt das „digitale Demenz“[ii].

Dōgen berichtet auch von seinem eigenen Meister Tendō Nyojō, der seine Schüler durch „Bodhidharmas Auge“ zu wirklichen Menschen gemacht habe. Die Abbildungen des indischen Meisters Bodhidharma zeigen ihn meist mit sehr großen Augen, was einerseits wiedergibt, dass seine Augen größer als die der meisten Chinesen waren, aber darüber hinaus soll dies sicher bedeuten, dass er die Buddha-Augen besaß, weil er erwacht war. Dōgen sagt, dass „jeder Mensch (bei der Zazen-Meditation) mit den Buddha-Augen sitzt“. Der von ihm verwendete japanische Ausdruck enthält das Wort taza und bildet damit die Brücke zu der wahren Zazen-Praxis Shikantaza, was „einfach nur sitzen“ bedeutet. Das heißt im Rahmen dieses Kapitels, mit Buddha-Augen zu sitzen. Dōgen sagt hierzu: „Dies ist nichts anderes als das kraftvolle Handeln, das die Menschen in der Zazen-Halle schult.“ Dann folgt ein Gedicht von Tendō Nyojō:

„Gautama verliert seine (bisherigen) Augen.

Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.

Jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen.

Und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind.“

 

Dieses Gedicht sagt aus, dass Gautama Buddha seine alten, gewöhnlichen Augen durch das Erwachen verloren hatte. Er sah deshalb die Welt und Wirklichkeit mit ganz neuen Augen, die über die herkömmliche sinnliche Wahrnehmung hinausführen. Aber die Wirklichkeit der Welt besteht nicht nur aus schönen Blüten, wie hier aus denen des Pflaumenbaums, sondern sie hält auch Dornen und Beschwerlichkeiten bereit. Diese werfen uns aber nicht um, wenn wir uns im Gleichgewicht befinden und die Buddha-Augen erlangt haben. Abschließend werden noch weitere Gedichte von Tendō Nyojō zitiert, darunter dieses:

„Die Sonne im Süden entfernt sich langsam.

Das Licht der Klarheit strahlt in den Augen.

Der Atem strömt durch die Nasenlöcher.“

 

Mit dem Atem und den Nasenlöchern ist das pulsierende wahre Leben gemeint. Zum Schluss betont Dōgen, dass sich die Kraft und Lebendigkeit des Buddha-Auges je im konkreten Augenblick verwirklichen. Die Augen „springen heraus“ in den Augenblick, wir geben alles, und „dies ist der erste Tag“. Er sagt damit nichts anderes, als dass wir jeden Augenblick frisch und neu wahrnehmen, erfahren und erleben können und dass dies die Kraft der Buddha-Augen darstellt.

Ich bin überzeugt, dass Nāgārjuna eine solche Befreiung des Sehens meint, wenn er eindringlich vor falschen Doktrinen warnt.


[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 3, S. 266ff.

[ii] Spitzer, Manfred: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen